JudikaturVfGH

E48/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
13. Juni 2023

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein aus dem palästinensischen Autonomiegebiet des Gazastreifens (im Folgenden: Gaza) stammender staatenloser Palästinenser und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er ist beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East – UNRWA) als palästinensischer Flüchtling in Gaza registriert. Nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet stellte er am 15. November 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 6. Mai 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass eine Abschiebung nach [kein Staat angegeben] zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

2. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 22. November 2022 ab und berichtigte den angefochtenen Bescheid dahingehend, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Palästinensisches Autonomiegebiet Gaza abgewiesen werde und eine Abschiebung dorthin zulässig sei.

2.1. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer bei UNRWA registriert sei; deshalb falle er in den Anwendungsgereich des Art1 Abschnitt D GFK bzw Art12 Abs1 lita Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Status RL), ABl. 2011 L 337, 9. Hieraus folge der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling, solange der Schutz gemäß Art1 Abschnitt D GFK bestehe. Nach Art12 Abs1 lita Status RL genieße der Beschwerdeführer jedoch "ipso facto" den Schutz der Richtlinie, wenn der Schutz oder Beistand gemäß Art1 Abschnitt D GFK aus irgendeinem Grund wegfalle. Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union sei zu prüfen, ob der Betroffene durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gezwungen war, das UNRWA Einsatzgebiet zu verlassen.

2.2. Dies sei hinsichtlich des Beschwerdeführers jedoch nicht der Fall: Weder habe er eine individuelle Verfolgung seiner Person vorgebracht noch sei die von ihm dargelegte Gefahr einer drohenden Zwangsrekrutierung glaubhaft. Auch seien keine stichhaltigen Hinweise hervorgekommen, wonach UNRWA ihre Aufgaben in Gaza wegen eines aktuellen innerstaatlichen Konfliktes nicht mehr ausreichend wahrnehmen oder aus sonstigen Gründen nicht mehr vor Ort agieren würde. Vielmehr habe sich der Beschwerdeführer dem Schutz von UNRWA freiwillig entzogen, weshalb sein Wegzug nicht gerechtfertigt gewesen und er folglich gemäß §6 Abs1 Z1 AsylG 2005 von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ausgeschlossen sei.

2.3. Auch subsidiärer Schutz sei nicht zuzuerkennen, weil im Herkunftsstaat keine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation vorliege, die eine Verletzung der durch Art3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellte. Der Beschwerdeführer sei selbsterhaltungsfähig, weil er über eine gute schulische Ausbildung und Berufserfahrung als Koch sowie Fliesenleger verfüge; zudem lebe seine Familie in Gaza und er könne daher erneut in der Wohnung seiner Eltern Unterkunft finden. Überdies wäre es dem Beschwerdeführer möglich, für seinen Lebensunterhalt zunächst Leistungen von UNRWA zu beziehen. Die Lage in Gaza sei seit den Zusammenstößen zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 zwar weiterhin angespannt, allerdings sei es seither zu keinen weiteren Eskalationen des Konfliktes gekommen. Trotz anhaltender Spannungen sowie einer teils schwierigen allgemeinen Versorgungslage stelle sich die Lage in Gaza daher nicht dergestalt dar, dass jeder dort Lebende mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Verletzung seiner Rechte nach Art2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses sowie die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt werden.

Darin bringt der Beschwerdeführer insbesondere vor, das Bundesverwaltungsgericht hätte sich mit den Richtlinien des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) vom März 2022 auseinandersetzen müssen, in denen sich dieser gegen eine zwangsweise Rückkehr von Palästinensern nach Gaza ausspreche.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. UNRWA ist eine Organisation der Vereinten Nationen im Sinne des Art1 Abschnitt D GFK, auf den sowohl Art12 Abs1 lita Status RL als auch §6 Abs1 Z1 AsylG 2005 Bezug nehmen. Die Rechtsstellung von Asylwerbern, die unter dem Schutz oder Beistand von UNRWA stehen, unterscheidet sich von jener anderer Asylwerber (VfSlg 19.777/2013; VfGH 24.9.2018, E761/2018 ua, mwN):

Gemäß §6 Abs1 Z1 AsylG 2005 (in Umsetzung des Art12 Abs1 lita erster Satz Status RL und dieser wiederum in Entsprechung des Art1 Abschnitt D erster Satz GFK) sind diese Personen von der Anerkennung als Flüchtling zunächst ausgeschlossen. Sie genießen aber – nach der in diesem Punkt im innerstaatlichen Recht nicht umgesetzten und sohin unmittelbar anwendbaren Bestimmung des zweiten Satzes des Art12 Abs1 lita Status RL – dann "ipso facto" den Schutz der Status RL bzw der GFK, wenn der Schutz oder Beistand von UNRWA "aus irgendeinem Grund" nicht länger gewährt wird. Dieser "ipso facto" Schutz bewirkt insofern eine Privilegierung, als für die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten keine Verfolgung aus den in Art1 Abschnitt A GFK genannten Gründen glaubhaft zu machen ist, sondern nur, dass sie erstens unter dem Schutz von UNRWA gestanden sind und zweitens, dass dieser Beistand aus "irgendeinem Grund" weggefallen ist. Die erste Voraussetzung ist mit der Vorlage einer UNRWA-Registrierungskarte erfüllt (EuGH 17.6.2010, C-31/09, Bolbol , Rz 52). Die zweite Voraussetzung erfordert eine Prüfung, "ob der Wegzug des Betroffenen durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen dieses Gebiets zwingen und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen" (EuGH 19.12.2012 [GK], C 364/11, El Kott , Rz 61). Ein Zwang zum Verlassen des Einsatzgebietes einer Organisation im Sinne des Art12 Abs1 lita zweiter Satz Status RL liegt nach dem Gerichtshof der Europäischen Union dann vor, wenn sich die betroffene Person in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es UNRWA unmöglich ist, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe von UNRWA im Einklang stehen (EuGH, El Kott , Rz 65; vgl auch EuGH 25.7.2018, C 585/16, Alheto , Rz 86). Bei dieser Beurteilung ist nach der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union auch festzustellen, ob der Betroffene derzeit daran gehindert ist, Schutz oder Beistand durch UNRWA zu erhalten, weil sich mutmaßlich die Lage im betreffenden Einsatzgebiet aus – nicht von ihm zu kontrollierenden und von seinem Willen unabhängigen Gründen – verschlechtert hat (EuGH 3.3.2022, C 349/20, NB und AB , Rz 57). Zur Feststellung, ob der Schutz oder Beistand durch UNRWA nicht länger gewährt wird, sind im Rahmen einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhaltes alle Operationsgebiete des Einsatzgebietes von UNRWA zu berücksichtigen, in deren Gebiete ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der dieses Einsatzgebiet verlassen hat, eine konkrete Möglichkeit hat, einzureisen und sich dort in Sicherheit aufzuhalten (EuGH 13.1.2021, C 507/19, Bundesrepublik Deutschland , Rz 67). Für die Feststellung, ob der Schutz oder Beistand durch UNRWA nicht länger gewährt wird, sodass eine Person "ipso facto" die "Anerkennung als Flüchtling" im Sinne dieser Bestimmung beanspruchen kann, sind im Rahmen einer individuellen Beurteilung die relevanten Umstände nicht nur zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem diese Person das UNRWA Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen oder die zuständigen Gerichte über den Rechtsbehelf gegen eine die Anerkennung als Flüchtling versagende Entscheidung erkennen (EuGH, NB und AB , Rz 58).

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich im Rahmen seiner Feststellungen zum Herkunftsstaat ua auf die Position des UNHCR zur Rückkehr nach Gaza bezogen. In diesem – zuletzt im März 2022 erneuerten – Dokument mit dem Titel "UNHCR Position on Returns to Gaza" findet sich unter Berufung auf die Volatilität der Situation in Gaza die Aufforderung, Palästinenser – auch wenn sie über eine UNRWA-Registrierung verfügen – nicht zwangsweise zurückzuführen. Diese Position des UNHCR ist als Teil des Länderinformationsblattes in zusammengefasster Form in den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses abgedruckt.

2.3. Dennoch lässt das Bundesverwaltungsgericht dahingehend jegliche inhaltliche Auseinandersetzung vermissen, und zwar sowohl hinsichtlich der genannten Position des UNHCR als auch anderer Inhalte des Länderinformationsblattes, etwa betreffend die andauernde Unterfinanzierung von UNRWA sowie deren Schwierigkeiten, Hilfe zu leisten. Die für die Eigenschaft als Flüchtling im Sinne des Art1 Abschnitt D GFK relevante (Un )Möglichkeit der Rückkehr hat das Bundesverwaltungsgericht somit nicht hinreichend ermittelt. Diese unzureichende Auseinandersetzung mit der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat vermag auch die Berücksichtigung von individuellen Umständen einer allfälligen Rückkehr des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht zu kompensieren.

2.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit seine Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und sein Erkenntnis daher mit Willkür belastet (vgl VfGH 14.6.2022, E761/2022; 20.9.2022, E4601/2021 sowie 14.12.2022, E3069/2022).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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