JudikaturVfGH

E2798/2021 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
01. März 2022

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er ist in der Provinz Nangarhar im Distrikt Batikot geboren und aufgewachsen.

2. Am 6. Februar 2016 stellte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 29. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine 14 tägige Frist zur freiwilligen Ausreise.

3. Die gegen diese Entscheidung erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. Juni 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können. Insbesondere drohe dem Beschwerdeführer keine Verfolgung durch die Taliban oder sonstigen regierungsfeindlichen Gruppierungen.

Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben. Auf Grund der volatilen Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz Nangarhar könne der Beschwerdeführer zwar nicht in diese zurückkehren, jedoch stehe ihm in den Städten Herat und Mazar e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Auf Grund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers, die das Bundesverwaltungsgericht näher darlegt, sei ihm eine Neuansiedlung in diesen Städten zumutbar. Auch die Sicherheitslage in den beiden Städten stehe im Entscheidungszeitpunkt einer Rückkehr nicht entgegen. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle seien in beiden Städten relativ gering und die Städte könnten sicher erreicht werden. Das Bundesverwaltungsgericht berief sich dabei auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16. Dezember 2020 in der am "02.04.2021" aktualisierten Fassung (womit wohl die Fassung vom 1. April 2021 gemeint ist) und fügte hinzu, dass sich die in den Länderberichten angeführten Umstände unter Berücksichtigung anderer, dem Bundesverwaltungsgericht vorliegender Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert hätten.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan und der Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

Das Bundesverwaltungsgericht legt seiner Entscheidung vom 16. Juni 2021 das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der am 1. April 2021 aktualisierten Fassung zugrunde und führt aus, dass die im Länderbericht dargestellte Sicherheitslage einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan nicht entgegenstehe.

Dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht jedoch, dass im Entscheidungszeitpunkt aktuellere Informationen zu Afghanistan, wie insbesondere das Länderinformationsblatt in der Fassung vom 11. Juni 2021, vorgelegen sind und verkennt damit seine aus Art2 und 3 EMRK folgende Verpflichtung auf Grund aktueller Länderberichte (siehe dazu VfGH 6.10.2021, E3037/2021; 29.9.2021, E1703/2020, jeweils mwN) zu beurteilen, ob für den Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung der genannten Grundrechte, insbesondere eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes bestehen würde (vgl VfGH 5.10.2021, E2996/2021, E2831/2021, E3318/2021).

Aus den im Entscheidungszeitpunkt verfügbaren Länderberichten vom 11. Juni 2021 war für das Bundesverwaltungsgericht erkennbar, dass auf Grund aktueller Entwicklungen in Afghanistan die Gefahr einer das ganze Land betreffenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und Regierungstruppen und damit eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts für Angehörige der Zivilbevölkerung wie dem Beschwerdeführer gegeben war. So wird etwa im Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach erfolgtem Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert hat (vgl dazu im Einzelnen VfGH 24.9.2021, E3047/2021 mwN).

Auch auf Grund der breiten medialen Berichterstattung über die Entwicklungen in Afghanistan, die für das Bundesverwaltungsgericht als notorisch gelten können (vgl VfGH 23.2.2015, E882/2014), musste das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan als extrem volatil einzustufen ist (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).

Bei dieser massiven Verschlechterung der Sicherheitslage handelt es sich entgegen der Feststellung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass sich die Situation "unter Berücksichtigung von anderen dem B[undesverwaltungsgericht] von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums […] nicht wesentlich geändert habe[…]", sehr wohl um eine wesentliche Änderung der maßgeblichen Lage im Herkunftsstaat (vgl VfGH 6.10.2021, E3037/2021).

Indem das Bundesverwaltungsgericht von einer zumutbaren Rückkehrsituation ausgeht, dabei die aktuellen Länderberichte nicht berücksichtigt und es unterlässt, sich mit der rasch ändernden, durch intensivierende kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und afghanischer Regierungstruppen gekennzeichneten Sicherheitslage auseinanderzusetzen, hat es sein Erkenntnis – soweit es sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht – mit Willkür belastet.

B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.

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