E4570/2020 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebungen und gegen die Festsetzung von 14 tägigen Fristen für die freiwillige Ausreise abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer, irakische Staatsangehörige schiitischen Glaubens und Angehörige der Volksgruppen der Araber bzw Kurden, stellten am 11. Februar 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Der am 1. Juli 1956 geborene Erstbeschwerdeführer und die am 1. Juli 1961 geborene Zweitbeschwerdeführerin sind miteinander verheiratet.
2. Mit Bescheiden vom 25. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 und hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 wurden nicht erteilt. Gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA VG wurden Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebungen gemäß §46 FPG zulässig seien. Gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG wurden die Fristen für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt.
3. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 23. November 2020 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Begründend stellt das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf den Gesundheitszustand des Erstbeschwerdeführers fest:
"Der BF1 hat Diabetes mellitus und Hypertonie und muss deswegen Medikamente einnehmen. Er ist nicht insulinpflichtig und hat wegen seiner Erkrankungen auch bereits im Irak eine medizinische Versorgung in Form von Tabletten erhalten. Eine Herzerkrankung kann mangels entsprechender Befunde nicht festgestellt werden."
Beweiswürdigend führt das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf den Gesundheitszustand des Erstbeschwerdeführers aus:
"Auch zu den persönlichen Umständen, wie zB Krankheiten, waren die Angaben der BF nicht widerspruchsfrei, was ebenfalls ihre persönliche Glaubwürdigkeit in Frage stellt. So gab der BF1 beispielsweise zu Beginn der Befragung durch das BFA auf die Frage 'Wie geht es Ihnen gesundheitlich?' wörtlich an: 'Alles in Ordnung. Befragt gebe ich an, dass ich nicht in ärztlicher Behandlung bin und keine Medikamente einnehme.' Im weiteren Verlauf der Einvernahme behauptete er hingegen, […] [dass] er zu hohen Blutdruck habe und zuckerkrank sei. Bei Gericht legte der BF1 dann veraltete Befunde aus dem Jahr 2016 vor und behauptete zudem, auch Herzflattern zu haben, was allerdings in den vorgelegten Befunden keine Deckung findet. Zur Behandlung seiner gesundheitlichen Probleme gab der BF1 dem Gericht dann letztlich an, nicht insulinpflichtig zu sein und Medikamente einzunehmen, wobei er allerdings gleichzeitig einräumte, die genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen bereits im Irak gehabt zu haben und dafür dort ebenfalls Medikamente erhalten zu haben."
In Bezug auf die Möglichkeit einer Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat Irak führt das Bundesverwaltungsgericht schließlich auszugsweise aus:
"Weitere, in der Person der BF begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden. Die BF2 ist gesund und die Erkrankungen des BF1 sind auch im Irak medikamentös behandelbar."
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber unter Verweis auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses Abstand genommen.
II. Erwägungen
A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten, die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebungen und die Festsetzung von 14 tägigen Fristen für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie begründet:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
2.2. Der Verfassungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es ein Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt darstellt, wenn Länderberichte zu einer bestimmten (aktuellen) Frage keine Sachverhaltsdarstellung enthalten und keine zusätzlichen Ermittlungen angestellt werden (vgl VfGH 13.12.2017, E2497/2016 ua; 24.9.2018, E1034/2018 ua; 12.6.2019, E1371/2019; 3.10.2019, E1215/2019).
2.3. Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seiner Entscheidung zum maßgeblichen Sachverhalt fest, dass der Erstbeschwerdeführer an Diabetes mellitus und Hypertonie leide und deswegen Medikamente einnehmen müsse, wobei es diese Medikamente nicht näher bezeichnet. Er sei nicht insulinpflichtig und habe bereits im Herkunftsstaat Irak eine medizinische Versorgung in Form von Tabletten erhalten. Seiner Beurteilung legt das Bundesverwaltungsgericht das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit dem Stand 17. März 2020 zugrunde, aus dem unter anderem die grundsätzlich angespannte Situation (auch) in Bezug auf die medizinische Versorgungslage im Irak hervorgeht. Schließlich geht es in einer sehr knapp gehaltenen Begründung pauschal davon aus, dass die Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers auch im Irak medikamentös behandelbar seien und somit insoweit kein Rückkehrhindernis bestehe.
2.4. Feststellungen zu COVID 19 und zur diesbezüglichen Situation im Herkunftsstaat trifft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Da die Erkrankungen des circa 65-jährigen Erstbeschwerdeführers aber zumindest eine gewisse Nähe zu einer COVID 19-Risikogruppe aufweisen, wäre jedenfalls eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Umstand gefordert gewesen. So wäre insbesondere eine Feststellung dahingehend zu treffen gewesen, ob der Erstbeschwerdeführer einer COVID 19-Risikogrupe angehört; bejahendenfalls wären ausgehend davon entsprechende zusätzliche Ermittlungen anzustellen bzw aktuelle Länderfeststellungen in Bezug auf die COVID 19-Situation im Herkunftsstaat zu treffen gewesen. Das Bundesverwaltungsgericht erwähnt die COVID 19-Pandemie in seiner Entscheidung vom 23. November 2020 jedoch mit keinem Wort.
2.5. Da das Bundesverwaltungsgericht es sohin unterlassen hat, sich vollständig mit den von ihm selbst festgestellten Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers und – in diesem Zusammenhang – der aktuellen Lage im Herkunftsstaat, insbesondere mit der möglichen Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufes im Falle einer Infektion mit COVID 19 und den diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten, auseinanderzusetzen, hat es durch seine Entscheidung Willkür geübt (vgl dazu VfGH 24.11.2020, E3285/2020; 9.3.2021, E3791/2020). Dem Verfassungsgerichtshof wiederum ist dadurch eine nachprüfende Kontrolle des angefochtenen Erkenntnisses betreffend die Entscheidung über die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Erstbeschwerdeführer verwehrt. Dieser Mangel schlägt auch auf die Entscheidung betreffend die Zweitbeschwerdeführerin durch, wenngleich das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall kein Familienverfahren gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 geführt hat. Im Übrigen trifft all dies ungeachtet dessen zu, dass die Vollzugsbehörde verpflichtet ist, bei einer allfälligen Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Art3 EMRK gerade auch im Hinblick auf die COVID 19-Situation im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer zu beachten.
3. Soweit sich das angefochtene Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten an die Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebungen und die Festsetzung von 14 tägigen Fristen für die freiwillige Ausreise bezieht, ist es somit mit Willkür belastet und insoweit aufzuheben.
B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten an die Beschwerdeführer richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
2. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
3. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde – soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten an die Beschwerdeführer richtet – abzusehen und sie insoweit gemäß Art144 Abs3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebungen und gegen die Festsetzung von 14 tägigen Fristen für die freiwillige Ausreise abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen Streitgenossenzuschlag von 10 vH des Pauschalsatzes, zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 479,60 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.