E967/2020 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Hazara angehört. Während er zunächst angab, sich zum schiitisch muslimischen Glauben zu bekennen, bezeichnete er sich in weiterer Folge als keiner Konfession zugehörig. Er ist im Iran geboren und aufgewachsen, wo er sich bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 durchgehend aufhielt. Seine Familienangehörigen leben im Iran. Am 16. Juli 2015 stellte er im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid vom 28. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine 14 tägige Frist zur freiwilligen Ausreise.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 11. Februar 2020 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht schließt eine asylrelevante Verfolgung aus. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten damit, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul und Mazar e Sharif zur Verfügung stehe. Diesbezüglich führt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung aus, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen arbeitsfähigen Mann im erwerbsfähigen Alter mit Lese- und Schreibkenntnissen und Berufserfahrung als Schneider handle. Er habe den Großteil seines Lebens im Iran verbracht, wo er in einem afghanisch geprägten Umfeld sozialisiert wurde, weshalb er weitgehend mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und der Sprache vertraut sei. Zudem gehöre er keinem Personenkreis an, von dem anzunehmen sei, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstelle als die übrige Bevölkerung. Er habe zwar noch nie in Kabul bzw Mazar e Sharif gelebt und verfüge dort über keine sozialen bzw familiären Anknüpfungspunkte, jedoch könne ihm seine im Iran aufhältige Familie – wenn auch im geringen Ausmaß – finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Seine Existenz könne er mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei ihm seine Berufserfahrung im Schneidergewerbe zu Gute komme. Somit sei es dem Beschwerdeführer selbst ohne bestehendes soziales bzw familiäres Unterstützungsnetzwerk in Kabul bzw Mazar e Sharif möglich, sich dort eine Existenz aufzubauen, diese zu sichern sowie eine Unterkunft zu finden.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird. Insbesondere wird darin bemängelt, dass das Bundesverwaltungsgericht eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Beschwerdeführer niemals in Afghanistan gewesen sei, keinerlei Kenntnis über das Land besitze und über keine Familienangehörigen in Afghanistan verfüge, unterlassen habe. Aus diesem Grund käme ihm bei einer Rückkehr weder Schutz noch Unterstützung zu.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
II. Erwägungen
A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und der Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:
2.1. Das Bundesverwaltungsgericht verweist im Rahmen seiner Feststellungen zunächst auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29. Juni 2018, das zuletzt am 4. Juni 2019 aktualisiert wurde, und in der Beweiswürdigung und rechtlichen Beurteilung ergänzend auf die Country Guidance: Afghanistan, Juni 2018, des EASO und die "Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018" des UNHCR.
Aus der "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO (Stand Juni 2019; Vergleichbares ergibt sich bereits aus der im Juni 2018 veröffentlichten Fassung) geht hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019).
Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019, jeweils mwN; vgl auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 ua). Das bedeutet insbesondere, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers, auseinanderzusetzen hat.
2.2. Das Bundesverwaltungsgericht lässt im Rahmen der rechtlichen Beurteilung, ob eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig ist, sowohl die in der EASO-Country Guidance enthaltene spezifische Berichtslage als auch den Umstand unberücksichtigt, dass der Beschwerdeführer noch nie in Afghanistan aufhältig war, sondern sein gesamtes Leben bis zur Ausreise nach Österreich im Iran verbracht hat. Es verkennt damit, dass nach den Ausführungen der EASO Country Guidance hinsichtlich jener Rückkehrer, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, qualifizierte Umstände erforderlich sind, insbesondere im Hinblick auf Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person sowie Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans, um von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können.
Indem das Bundesverwaltungsgericht von einer zumutbaren Rückkehrsituation ausgeht, dabei die aktuellen Länderberichte in Bezug auf das spezifische Personenprofil des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt und sich damit mit dessen konkreter Situation nicht auseinandersetzt, hat es in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen und damit sein Erkenntnis – soweit es sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht – mit Willkür belastet (vgl VfGH 6.10.2020, E1728/2020; 26.11.2020, E1385/2020; 26.11.2020, E2292/2020).
B. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.