JudikaturVfGH

E2263/2015, V149/2015 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
10. Juni 2016

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Beschluss im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II. Das Land Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

III. Der Antrag wird zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist praktizierende Ärztin und Mitglied der Ärztekammer für Wien. Sie wurde im Mai 2012 von der Vollversammlung der Ärztekammer für Wien iSd §73 Abs2 zweiter Satz des Ärztegesetzes 1998 (im Folgenden: ÄrzteG 1998), BGBl 169, idF BGBl I 80/2013, zur zusätzlichen Vizepräsidentin für fünf Jahre gewählt.

In ihrer Sitzung vom 16. Juni 2015 beschloss die Vollversammlung der Ärztekammer für Wien (mit Zwei-Drittel-Mehrheit) eine Änderung der Satzung der Ärztekammer für Wien (im Folgenden: Satzung), mit der die Bestimmungen, die 2012 die rechtliche Grundlage der Bestellung einer zusätzlichen Vizepräsidentin vorsahen, gestrichen wurden. Diese Satzungsänderung wurde am 17. Juni 2015 kundgemacht und trat mit 18. Juni 2015 in Kraft.

2. Mit Schreiben vom 29. Juni 2015 teilte die Ärztekammer für Wien der Beschwerdeführerin mit, dass auf Grund der oben erwähnten Satzungsänderung die Funktion einer von der Vollversammlung gewählten Vizepräsidentin nicht mehr bestehe und die Beschwerdeführerin daher diese Funktion nicht weiter ausüben könne. Infolge dessen erfolge auch eine Einstellung der Funktionsgebühren. Das Schreiben weist das Siegel der Ärztekammer für Wien auf und wurde von deren Präsidenten unterzeichnet; eine Rechtsmittelbelehrung enthält es nicht.

3. Gegen dieses Schreiben erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien. Mit Beschluss vom 28. September 2015 wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde mit der Begründung zurück, dass das Schreiben des Präsidenten der Ärztekammer für Wien nicht als Bescheid anzusehen sei.

4. Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, u.a. dem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, sowie in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt wird.

Wörtlich führt die Beschwerdeführerin u.a. wie folgt aus:

"Das Schreiben der Ärztekammer Wien vom 29.06.2015 stellt entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtes Wien einen Bescheid dar. Das Fehlen der ausdrücklichen Bezeichnung als Bescheid hindert die Bescheidqualität einer Erledigung dann nicht, wenn sich diese schon allein aus dem Inhalt ergibt. Das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung ist für den Bescheidcharakter einer behördlichen Erledigung ebenso wenig entscheidend wie eine Gliederung dieser Erledigung nach Spruch und Begründung […]. Die Unterlassung der sprachlichen Trennung zwischen Spruch und Begründung ändert dort nichts am Bescheid-charakter einer Erledigung, wo aus ihrem Inhalt der Wille der Behörde deutlich wird, über eine Angelegenheit obrigkeitlicher Verwaltung in förmlicher und der Rechtskraft fähigen Weise abzusprechen […]. Für den Bescheidcharakter einer behördlichen Willenserklärung ist in erster Linie maßgebend, ob sie einen die zur Entscheidung stehende Rechtssache bindend regelnden Spruch enthält, der in Rechtskraft erwachsen kann […]."

5. Gleichzeitig mit der Beschwerdeerhebung brachte die Beschwerdeführerin einen ausdrücklich auf Art139 B VG gestützten Antrag auf Prüfung der Satzung zur Gänze bzw. der Satzungsbestimmungen ein, welche die Funktion des zusätzlichen Vizepräsidenten nicht mehr vorsehen.

6. Die Ärztekammer für Wien hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie den Äußerungen der Beschwerdeführerin u.a. wie folgt entgegentritt:

"Der d[…]em Schreiben zugrundeliegende Beschluss der Vollversammlung der Ärztekammer für Wien […] richtet sich […] nicht gegen die Beschwerdeführerin; sein Regelungsinhalt bezieht sich auf eine generelle Norm, nämlich auf eine Satzungsbestimmung der Ärztekammer für Wien.

[…] Das Essentiale eines Bescheides, nämlich sein Spruch, wonach über die in Verhandlung stehende Angelegenheit, also die Verwaltungssache gegenüber der Partei abzusprechen ist, kann — wie es die Beschwerdeführerin versucht — in das Schreiben der Ärztekammer für Wien vom 29.06.2015 nicht hineininterpretiert werden.

[…] Dieses Schreiben des Präsidenten der Ärztekammer für Wien enthält lediglich eine Information mit der Erklärung an die Beschwerdeführerin, nicht aber deren Abberufung samt erforderlicher Begründung und entspricht sohin auch nicht der für einen Bescheid gesetzlich erforderlichen Begründungspflicht. Eine solche verlangt die Zusammenfassung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage. Ein derartiges Begründungserfordernis kann der Beschlussinhalt zur Satzungsänderung der Vollversammlung vom 16.06.2015 nicht beinhalten.

[…]

[…] Der Beschwerdeführerin mangelt es an der Antragslegitimation:

Für ein Organ eines Rechtsträgers kann die Legitimation zur Beschwerdeführung vor dem VfGH gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde (der hier ohnedies nicht vorliegt) mangels Möglichkeit der Verletzung eines subjektiven Rechts nicht aus Artikel 144 B VG hergeleitet werden. Es besteht aber auch sonst keine Verfassungsnorm, die dem Organ eines Rechtsträgers unmittelbar die Legitimation zur Erhebung einer Beschwerde an den VfGH einräumt, oder dem einfachen (Materien-)Gesetzgeber hiezu die Ermächtigung erteilt […]."

7. Das Verwaltungsgericht Wien hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und mitgeteilt, von der Abgabe einer Gegenschrift abzusehen.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

1.1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

1.2. Ein solcher Fehler ist dem Verwaltungsgericht Wien unterlaufen:

1.2.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist eine Erledigung dann als Bescheid zu qualifizieren, wenn sie von einer Verwaltungsbehörde gegenüber individuell bestimmten Personen erlassen wird und eine konkrete Verwaltungsangelegenheit in einer der Rechtskraft fähigen Weise normativ regelt, wenn sie also für den Einzelfall bindend die Gestaltung oder Feststellung von Rechtsverhältnissen zum Inhalt hat, ob sie nun unter Einhaltung der von den Verwaltungsvorschriften für die Bescheiderlassung aufgestellten Voraussetzungen erlassen worden ist oder nicht (vgl. zB VfSlg 19.622/2012 mwN).

Aus der Erledigung muss deutlich der objektiv erkennbare Wille hervorgehen, gegenüber einer individuell bestimmten Person die normative Regelung einer konkreten Verwaltungsangelegenheit zu treffen (vgl. zB VfSlg 18.218/2007). Ob aus einer Erledigung deutlich ein objektiv erkennbarer Bescheidwille hervorgeht, kann sich auch daraus ergeben, dass die Behörde von Rechts wegen verpflichtet war, einen Bescheid zu erlassen (vgl. zB VfSlg 13.750/1994) oder dass eine hoheitliche Deutung aus Rechtsschutzgründen geboten ist (vgl. zB VfSlg 19.823/2013, 13.223/1992).

1.2.2. Ausgehend von dieser Rechtsprechung besteht an der Bescheidqualität der in Rede stehenden Erledigung kein Zweifel. Sie wurde vom Präsidenten der Ärztekammer für Wien, mithin von einer Verwaltungsbehörde (vgl. §83 Abs1 ÄrzteG 1998), gegenüber der Beschwerdeführerin als individuell bestimmte Person erlassen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Funktionsverlust bereits ex lege eingetreten ist, enthält das "Schreiben des Präsidenten" doch die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin ihre Funktion zu einem bestimmten Zeitpunkt verloren hat (vgl. VfSlg 13.543/1993 mwH).

Im Übrigen erfolgt ein Eingriff in die subjektive Rechtssphäre jedenfalls insoferne, als die Funktionsgebühren eingestellt werden.

1.2.3. Wenn die Ärztekammer für Wien nun der Auffassung ist, dass die Erledigung deshalb nicht als Bescheid zu qualifizieren sei, da sie gesetzlich vorgeschriebene Elemente nicht enthalte, ist ihr auch hier die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes entgegen zu halten, wonach bei Vorliegen eines objektiv erkennbaren Bescheidwillens unerheblich ist, dass die Erledigung nicht die gesetzlich gebotene äußere Form eines Bescheides aufweist (vgl. VfGH 2.10.2013, B879/2013). Andernfalls könnte die zur bescheidmäßigen Entscheidung verpflichtete Behörde den Rechtsschutz des Betroffenen durch rechtswidriges Verhalten vereiteln.

2. Der Antrag ist unzulässig.

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat seit dem Beschluss VfSlg 8058/1977 unter Hinweis auf VfSlg 8009/1977 in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt vertreten, die Antragslegitimation nach Art139 Abs1 Z3 B VG setze voraus, dass durch die bekämpfte Bestimmung die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt werden müssen und dass der durch Art139 Abs1 Z3 B VG dem Einzelnen eingeräumte Rechtsbehelf dazu bestimmt ist, Rechtsschutz gegen rechtswidrige generelle Normen nur insoweit zu gewähren, als ein anderer zumutbarer Weg hiefür nicht zur Verfügung steht (zB VfSlg 11.684/1988, 14.297/1995, 15.349/1998, 16.345/2001 und 16.836/2003).

Ein zumutbarer Weg ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes u.a. dann gegeben, wenn bereits ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren läuft, das dem Betroffenen Gelegenheit bietet, die Bedenken selbst an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen oder zu einer amtswegigen Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof anzuregen (VfSlg 13.871/1994 mwN).

2.2. Der Antragstellerin stand ein solcher zumutbarer Weg zur Geltendmachung der behaupteten Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Satzung zur Verfügung, den sie mit gleichzeitiger Beschwerdeerhebung an den Verfassungsgerichtshof in demselben Schriftsatz auch beschritten hat. Bei dieser prozessualen Situation würde eine Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes eintreten, welche mit dem Grundsatz der Subsidiarität von Individualanträgen nach den Art139 und 140 B VG nicht in Einklang stünde (VfSlg 19.108/2010; s. auch VfSlg 19.064/2010, 19.674/2012).

2.3. Der Antragstellerin bleibt es unbenommen, im weiteren Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Wien eine amtswegige Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof zur Prüfung der entsprechenden Satzungsbestimmungen anzuregen oder ihre Bedenken im Wege einer weiteren auf Art144 B VG gestützten Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen. Wenngleich über diese Bedenken im vorliegenden Verfahren nicht abzusprechen ist, ist dennoch herauszustellen, dass der Verfassungsgerichtshof keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit von Bestimmungen hegt, auf Grund derer ein gesetzlich lediglich fakultativ vorgesehenes Organ eines (Selbst-) Verwaltungskörpers in einem rechtmäßigen Normerzeugungsverfahren auch innerhalb der Funktionsperiode des gewählten Organs wieder abgeschafft wird.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Beschluss ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw. §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung und in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 iVm §88a VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.

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