E294/2015 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Nigerias und reiste, nachdem er in Bulgarien am 25. November 2013 erkennungsdienstlich behandelt worden war und am 14. Jänner sowie am 4. Juni 2014 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, Anfang Juli 2014 in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 7. Juli 2014 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz einbrachte. Einem auf Art18 Abs1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestützten Wiederaufnahmeersuchen seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl stimmten die bulgarischen Behörden am 28. Juli 2014 ausdrücklich zu.
2. Mit Bescheid vom 29. Oktober 2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, ohne in die Sache einzutreten, den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §5 Abs1 Asylgesetz 2005, BGBl I 100 idF BGBl I 144/2013 (im Folgenden: AsylG 2005), als unzulässig zurück und sprach aus, dass für die Prüfung der Anträge gemäß Art18 Abs1 litb Dublin III-VO Bulgarien zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig ordnete es die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers gemäß §61 Abs1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I 100 idF BGBl I 144/2013 (im Folgenden: FPG), an und erklärte seine Abschiebung nach Bulgarien gemäß §61 Abs2 FPG für zulässig (Spruchpunkt II.). Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl insbesondere aus, dass aus medizinischer Sicht nichts gegen eine Rücküberstellung des Beschwerdeführers nach Bulgarien spreche. Er leide an einer Anpassungsstörung. Eine posttraumatische Belastungsstörung könne nicht festgestellt werden. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl maß dabei der gutachterlichen Stellungnahme der gerichtlichen Sachverständigen vom 21. August 2014 sowie ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 28. Oktober 2014 mehr Gewicht bei als den vom Beschwerdeführer vorgelegten, anderslautenden fachärztlichen Befunden.
3. In der gutachterlichen Stellungnahme vom 21. August 2014 heißt es u.a. wörtlich:
"Eine akute Suizidalität besteht derzeit nicht."
In der ergänzenden Stellungnahme vom 28. Oktober 2014 findet sich eine durch Unterstreichung hervorgehobene Textpassage, die wörtlich lautet:
"Die Untersuchung stellt naturgemäß eine Momentaufnahme dar. In den Untersuchungen vom 13.8. und 19.8.2014 fanden sich die o.g. Symptome zum Stellen einer [posttraumatischen Belastungsstörung] beide Male nicht."
4. In der gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Oktober 2014 erhobenen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass auf Grund seiner psychischen Erkrankung eine Überstellung nach Bulgarien eine Verletzung des Art3 EMRK darstellen würde. Der Stand des Asylverfahrens in Bulgarien sei nicht erhoben und es sei nicht abgeklärt worden, welche Situation ihn bei einer Überstellung nach Bulgarien erwarte. Zudem belege die aktuelle Berichtslage Missstände im bulgarischen Asylwesen betreffend vulnerable Personen. Die nach der Judikatur des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte(EGMR 4.11.2014, Fall Tarakhel, Appl. 29.217/12) in solchen Fällen erforderliche Einholung individueller Garantien des zuständigen Mitgliedstaates für vulnerable Personen sei unterblieben.
5. Vom 21. bis zum 24. November 2014 befand sich der Beschwerdeführer in stationärer Behandlung, nachdem er ausweislich des Arztbriefes des Landesklinikums Baden-Mödling wegen aggressiven Verhaltens in alkoholisiertem Zustand in Polizeigewahrsam genommen und sich in Selbstverletzungsabsicht eine Rissquetschwunde am Kopf zugezogen hatte. Im Arztbrief des Landesklinikums Baden-Mödling wird der Befund einer posttraumatischen Belastungsstörung bestätigt und chronische Suizidalität diagnostiziert. Aus diesen Gründen werde aus medizinischer Sicht von einer Abschiebung abgeraten. Mit der vorgeschlagenen Therapie – u.a. regelmäßige Kontrollen beim niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie sowie Psychotherapie in der Muttersprache oder in Englisch – habe sich der Beschwerdeführer einverstanden erklärt.
6. Mit Erkenntnis vom 14. Jänner 2015 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Oktober 2014 ab. In der Begründung wurde insbesondere wie folgt ausgeführt:
"Die gutachterliche Stellungnahme einer Ärztin für Allgemeinmedizin sowie psychosomatische und psychotherapeutische Medizin vom 21.08.2014 kam nach einer Untersuchung der beschwerdeführenden Partei am 13.08.2014 und 19.08.2014 sowie unter Einbeziehung der beiden Vorbefunde vom 28.07.2014 bzw. 05.08.2014 zu der Schlussfo[l]gerung, dass dieser unter einer Anpassungsstörung […] leide. Eine posttraumatische Belastungsstörung […] sei zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht feststellbar. Dieses Gutachten stellt am ausführlichsten von allen die Schilderung der subjektiven Beschwerden im Rahmen der Eigenanamnese dar […].
[…]
Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR hindert auch die Selbstmorddrohung einer Person den Vertragsstaat nicht an der Durchsetzung einer beabsichtigten Ausweisung, sofern konkrete Maßnahmen zwecks Verhütung der Ausführung der Drohung ergriffen werden. Dies gilt auch im Fall bereits früher begangener Selbstmordversuche (z. B. EGMR 03.05.2007, 31246/06, Goncharova und Alekseytsev; 04.07.2006, 24171/05, Karim).
Im vorliegenden Fall leidet die beschwerdeführende Partei an einer Anpassungsstörung. [Sie] war vo[m] 21.11.2014 bis 24.11.2014 wegen Selbstmorddrohungen in einem Krankenhaus stationär aufhältig und wurde im Übrigen ambulant behandelt, und zwar medikamentös sowie mit gelegentlicher Psychotherapie. Die gesundheitlichen Probleme der beschwerdeführenden Partei weisen somit keinesfalls jene besondere Schwere auf, die nach der Rechtsprechung zu Art3 EMRK eine Abschiebung als eine unmenschliche Behandlung erscheinen ließe. Es ist insbesondere nicht anzunehmen, dass sich etwa die beschwerdeführende Partei in dauernder stationärer Behandlung befände oder auf Dauer nicht reisefähig wäre.
[…]
Die Beschwerdeausführungen zu verschiedenen Problemen des Asylwesens in Bulgarien sind letztlich nicht geeignet, die Rechtsvermutung des §5 Abs3 AsylG 2005 zu entkräften."
7. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird dazu u.a. ausgeführt:
"Gerade vor dem Hintergrund der im Zuge des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG aufgetretenen weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes des BF, hätte sich das BVwG zwingend näher mit der psychischen Erkrankung des BF auseinandersetzen müssen und von sich aus ein psychiatrisches Gutachten anfordern müssen, sollte es trotz der Bestätigung der Erkrankung durch mehrere unabhängige Ärzte weiterhin Zweifel am Bestehen des Krankheitsbildes gehabt haben.
[…]
Aus der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Tarakhel v. Switzerland, application no. 29217/12 des EGMR vom 04.11.2014 lässt sich im Falle vulnerabler Personen das Erfordernis der Einholung individueller Garantien des zuständigen Mitgliedstaates ableiten, wenn eine Überstellung im Rahmen der Dublin-III-Verordnung beabsichtigt ist.
[…]
Derartige individuelle Zusicherungen liegen im Falle des vulnerablen BF aber nicht vor." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)
8. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- bzw. Gerichtsakten vor, verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht im konkreten Fall unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht sah keinen Grund zur Annahme, dass der Beschwerdeführer auf Dauer nicht reisefähig sei, und stützte sich auf eine – anderen Befunden widersprechende – gutachterliche Stellungnahme vom 21. August 2014 sowie eine ergänzende Stellungnahme der gerichtlichen Sachverständigen vom 28. Oktober 2014. Darin wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine ärztliche Untersuchung naturgemäß eine Momentaufnahme darstelle sowie dass derzeit eine aktuelle Suizidalität des Beschwerdeführers nicht bestehe.
3.2. Sohin übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass sich sowohl die gutachterliche Stellungnahme vom 21. August 2014 als auch die ergänzende Stellungnahme vom 28. Oktober 2014 auf einen Zeitraum beziehen, in dem die Umstände des stationären Aufenthalts des Beschwerdeführers vom 21. bis zum 24. November 2014 nicht berücksichtigt werden konnten. Mit der in diesen späteren Zeitraum fallenden Verletzung des Beschwerdeführers, die er sich offenbar selbst zufügte, seinen Äußerungen hinsichtlich eines beabsichtigten Suizides sowie der Diagnose einer chronischen Suizidalität liegen entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes Anhaltspunkte vor, die die der Entscheidung zugrunde liegende Beurteilung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers ganz erheblich in Zweifel ziehen, da auch eine dauerhafte Behandlungsbedürftigkeit nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. zB VfGH 19.9.2014, U634/2013 ua.). Vor diesem Hintergrund, der dem Bundesverwaltungsgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt war (vgl. auch VfGH 21.11.2014, U2718/2012; 19.2.2015, E1535/2014), wäre das Bundesverwaltungsgericht zumindest gehalten gewesen, ein aktuelles fachärztliches Gutachten von Amts wegen in Auftrag zu geben, um entscheiden zu können, ob gar eine dauerhafte Reiseunfähigkeit vorliegt, die zum Selbsteintritt verpflichtet (vgl. VfSlg 18.407/2008).
4. Folglich ist das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BGBl 390/1973) verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.