E850/2016 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
II. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
III. Der Bund (Bundesministerium für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.400,80 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Die Beschwerdeführer reisten am 20. Dezember 2015 über Polen, wo sie erkennungsdienstlich behandelt wurden und jeweils einen Asylantrag stellten, illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 22. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Der Erstbeschwerdeführer ist der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin. Der Drittbeschwerdeführer, der Viertbeschwerdeführer, der Fünftbeschwerdeführer und der Sechstbeschwerdeführer sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder.
3. Am 10. Februar 2016 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer an, dass sein Sohn, der Viertbeschwerdeführer, seit einem Verkehrsunfall vor eineinhalb Jahren Hände und Füße nicht bewegen könne und beatmet werden müsse. Er sei etwa sechs Monate lang in einem Krankenhaus in Sankt Petersburg behandelt worden. Danach hätten die Ärzte empfohlen, den Viertbeschwerdeführer im Ausland behandeln zu lassen. Die Beschwerdeführer seien mit einem Auto bis nach Weißrussland gereist und hätten den Viertbeschwerdeführer mit einem Beatmungsgerät unterstützt, das man mit der Hand bedienen könne.
In Österreich lebe ein Cousin des Erstbeschwerdeführers, zu dem jedoch kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis bestehe.
Der Erstbeschwerdeführer legte Arztbriefe des Landesklinikums Baden-Mödling vor, aus denen ersichtlich ist, dass beim Viertbeschwerdeführer (geboren am 24. September 2005) auf Grund seines Zustandes nach einem Verkehrsunfall mit geschlossenem Schädel-Hirntrauma, Rückenmarkprellung, Spastische Tetraparese, Tracheostoma, invasive Beatmung, Status post Nephrektomie rechts und Leberteilresektion, chronische Schmerzen, psychomotorische Entwicklungsverzögerung, Angstzustände/Panikattacken und reaktive Depression von 22. Dezember 2015 bis 3. Februar 2016 eine stationäre Krankenbehandlung erfolgt sei. Es wurde ein Beatmungsgerät verordnet und es wurden ein Absauggerät, Rehabilitation und Schmerztherapie empfohlen.
Die Zweitbeschwerdeführerin machte im Wesentlichen übereinstimmende Angaben.
4. Das Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen richtete am 11. Jänner 2016 ein Wiederaufnahmeersuchen an Polen, welchem die polnischen Behörden mit Schreiben vom 14. Jänner 2016 gemäß Art18 Abs1 litc Dublin III-VO ausdrücklich zustimmten.
5. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24. März 2016 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz, jeweils ohne in die Sache einzutreten, gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und wurde ausgesprochen, dass Polen für die Prüfung des Antrages gemäß Art18 Abs1 litc Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Beschwerdeführer gemäß §61 Abs1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Polen gemäß §61 Abs2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Im Rahmen der Entscheidungsbegründung wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgeführt, dass beim Viertbeschwerdeführer auf Grund seines psychischen und physischen Zustandes nicht davon ausgegangen werden könne, dass er sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befinde und sich der Zustand durch eine Außerlandesbringung nicht verschlechtern würde.
6. Gegen diese Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden mit gleichlautenden Schriftsätzen vom 5. April 2016 fristgerecht Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht in vollem Umfang erhoben, da die Beschwerdeführer in Polen während der Antragstellung keine Hilfeleistung für den schwer kranken Viertbeschwerdeführer erhalten hätten.
7. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerden mit Erkenntnis vom 13. April 2016 gemäß §5 AsylG 2005 und §61 FPG als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und erklärte die Revision gemäß Art133 Abs4 B VG für nicht zulässig. Das Bundesverwaltungsgericht führte mit Blick auf den Gesundheitszustand des Viertbeschwerdeführers Folgendes aus:
7.1. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Viertbeschwerdeführers seien in Österreich behandelt worden und es seien keine weiteren unaufschiebbaren ärztlichen Behandlungen erforderlich. Die Beeinträchtigungen seien zwar als beträchtlich anzusehen und es bedürfe der Pflege und Betreuung durch seine Eltern. Die durch einen Verkehrsunfall vor etwas mehr als eineinhalb Jahren ausgelöste Erkrankung führe jedoch nicht im Falle einer Überstellung zu dem realen Risiko, dass der Viertbeschwerdeführer unter qualvollen Umständen sterben müsse.
7.2. Die hohe Schwelle, die für das Vorliegen eines Eingriffes in die durch Art3 EMRK geschützte Rechtsposition gelte, werde nicht erreicht. Dies werde auch daraus abgeleitet, dass es den Eltern des Viertbeschwerdeführers während der Reise nach Österreich möglich war, den Viertbeschwerdeführer in einer Weise zu betreuen, die nicht zu einer Gefährdung des Lebens geführt habe. Auch der Umstand, dass die Eltern des Viertbeschwerdeführers nach eigenen Angaben in Polen nicht um Unterstützung bei der medizinischen Versorgung des Viertbeschwerdeführers ersucht hätten, lässt erkennen, dass die Erkrankung des Viertbeschwerdeführers nicht durch das Vorliegen einer außergewöhnlichen Schwere gekennzeichnet sei.
7.3. Die weiteren Beschwerdeführer seien nach eigenen Angaben gesund. Nach den Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides sei im zuständigen Mitgliedstaat der Zugang zur Gesundheitsversorgung gesichert, sodass davon ausgegangen werden könne, dass für den Fall, dass die beschwerdeführenden Parteien im Zielstaat eine Behandlung benötigen sollten, eine solche gewährleistet wäre.
7.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Erkenntnis darauf hingewiesen, dass die Fremdenpolizeibehörde bei der Durchführung der Abschiebung im Falle von Erkrankungen diesen durch geeignete Maßnahmen Rechnung tragen könne. Anlässlich einer Abschiebung würden von der Fremdenpolizei der aktuelle Gesundheitszustand und insbesondere die Transportfähigkeit beurteilt sowie gegebenenfalls bei gesundheitlichen Problemen entsprechende Maßnahmen gesetzt.
7.5. Dem Bundesverwaltungsgericht zufolge führe eine Außerlandesbringung zu keiner Verletzung von Art7 GRC bzw. Art8 EMRK. Zwar lebe ein Cousin des Erstbeschwerdeführers in Österreich, die familiäre Beziehung der Beschwerdeführer zu diesem Verwandten habe jedoch nur eine geringe Intensität. Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet sei zudem nur von kurzer Dauer gewesen. Die privaten und familiären Interessen der Beschwerdeführer an einem Verbleib im Bundesgebiet hätten daher nur sehr geringes Gewicht und treten fallbezogen gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung in den Hintergrund.
8. In der gegen dieses Erkenntnis nach Art144 B VG erhobenen Beschwerde wird die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, keiner Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht sowie die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt.
Die Beschwerde führt aus, dass in Polen überhaupt keine Bezugspunkte familiärer Natur vorhanden seien, allerdings in Österreich ein Cousin leben würde. Überdies liege beim Viertbeschwerdeführer eine erhebliche medizinische Indikation vor, die eine Reisetätigkeit unmöglich machen würde, ohne dessen Leben aufs Spiel zu setzen. Daraus ergebe sich eine Grundrechtsverletzung gemäß Art3 EMRK, da eine Außerlandesbringung nur mit akuter Lebensgefahr für den gesundheitlich stark beeinträchtigten Beschwerdeführer einhergehen würde.
9. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor, sah aber von der Erstattung einer Gegenschrift ab und verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1.1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung im Hinblick auf den Viertbeschwerdeführer unterlaufen:
2.1. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt im angefochtenen Erkenntnis eine hinreichende Auseinandersetzung mit der gesundheitlichen Situation des Viertbeschwerdeführers im Hinblick auf eine durch die Rückführung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hervorgerufene mögliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSd Art3 EMRK.
2.2. Auf Grund des Gesundheitszustandes des Viertbeschwerdeführers hätte sich das Bundesverwaltungsgericht eingehender mit diesem auseinandersetzen müssen. Aus dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes ist nicht ersichtlich, inwieweit nähere Ermittlungen zu dem Gesundheitszustand des Viertbeschwerdeführers durchgeführt wurden. Ein dem Bundesverwaltungsgericht vorliegender Befund des Landesklinikums Baden-Mödling vom 28. Jänner 2016 weist darauf hin, dass ein Transport des Viertbeschwerdeführers zu diesem Zeitpunkt lebensgefährlich sein hätte können.
2.3. Vor diesem Hintergrund wäre das Bundesverwaltungsgericht zumindest gehalten gewesen, ein aktuelles fachärztliches Gutachten von Amts wegen einzuholen, um entscheiden zu können, ob eine dauerhafte Reiseunfähigkeit vorliegt, die zum Selbsteintritt verpflichtet (vgl. VfGH 19.6.2015, E294/2015).
2.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher hinsichtlich des Viertbeschwerdeführers ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren unterlassen bzw. den konkreten Sachverhalt außer Acht gelassen und damit Willkür iSd ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes geübt. Dieser Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidung betreffend die übrigen Beschwerdeführer durch (s. VfSlg 19.855/2014), weshalb diese hinsichtlich aller Beschwerdeführer aufzuheben ist.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 566,80 enthalten. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen.