B998/2013 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Die Rechtsanwaltskammer Niederösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer war Rechtsanwalt in Baden und ist derzeit Rechtsanwalt in Wien. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 9. Juli 2012 wurde der Beschwerdeführer hinsichtlich eines näher bezeichneten Zeitraumes wegen jeweils näher umschriebener Pflichtverletzungen der Begehung des Disziplinarvergehens der Berufspflichtenverletzung schuldig erkannt. Am 22. Oktober 2012 wurde der Kostenbestimmungsbeschluss vom 10. Oktober 2012 an den Beschwerdeführer zugestellt.
2. Gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung gegen das Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 9. Juli 2012 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und erhob gleichzeitig Berufung.
3. Mit Beschluss der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission (im Folgenden: OBDK) vom 21. Juni 2013 wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass für die Wiedereinsetzung gemäß §77 Abs2 Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsan waltsanwärter, BGBl 474/1990 idF BGBl I 71/1999 (im Folgenden: DSt), die Bestimmungen der Strafprozessordnung sinngemäß anzuwenden seien. Demnach sei die OBDK für die Entscheidung über den vorliegenden Antrag zuständig. Da das Hindernis, nämlich die Unkenntnis, dass nicht fristgerecht Berufung er hoben wurde, spätestens mit Zustellung des Kostenbestimmungsbeschlusses am 22. Oktober 2012 weggefallen sei, sei der Wiedereinsetzungsantrag vom 22. November 2012 verspätet.
4. Gegen diesen Bescheid der OBDK richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG in der mit 1. Jänner 2014 in Kraft getretenen Fassung iVm Art151 Abs51 Z9 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art83 Abs2 B-VG sowie eventualiter die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet wird. Die Beschwerde führt begründend aus, dass §77 Abs2 DSt zwar die sinngemäße Anwendung der Strafprozessordnung anordne, der zweite Satz des Abs2 leg.cit. aber eine von der Strafprozessordnung abweichende Regelung vorsehe, wonach über einen Antrag auf Wiedereinsetzung die Disziplinarbehörde entscheidet, bei der die ver säumte Prozesshandlung vorzunehmen war. Auf Grund dieser – im Gegensatz zur früheren Rechtslage bestehenden – ausdrücklichen Regelung über die Zuständigkeit zur Entscheidung über Wiedereinsetzungsanträge im DSt sei kein Raum mehr für die sinngemäße Anwendung der Zuständigkeitsregel des §364 Abs3 Strafprozessordnung, BGBl 631/1975 idF BGBl I 93/2007 (im Folgenden: StPO), gegeben. Sollte dieser Auffassung nicht gefolgt werden, würden die einander widersprechenden Regelungen des §77 Abs2 zweiter Satz DSt und §364 Abs3 StPO eine derart komplizierte Auslegung nach sich ziehen, sodass davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber den aus Art18 Abs1 iVm Art83 Abs2 B-VG erfließenden Verpflichtungen nicht nachgekommen sei.
5. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt.
II. Rechtslage
1. §77 DSt, BGBl 474/1990 idF BGBl I 71/1999, lautet:
"Sinngemäße Anwendung von Bestimmungen der Strafprozeßordnung
§77. (1) Für die Berechnung von Fristen, die Beratung und Abstimmung sowie die Wiederaufnahme des Verfahrens gelten sinngemäß die Bestimmungen der Strafprozeßordnung.
(2) Für die Wiedereinsetzung gelten sinngemäß die Bestimmungen der Strafpro zeßordnung mit der Maßgabe, daß die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung aller Fristen - ausgenommen die Wiedereinsetzungsfrist und die im §33 Abs2 genannte Frist - zulässig ist. Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet die Disziplinarbehörde, bei der die versäumte Prozeßhandlung vorzunehmen war.
(3) Im übrigen sind die Bestimmungen der Strafprozeßordnung im Disziplinarverfahren auch insoweit sinngemäß anzuwenden, als sich aus diesem Bundesgesetz nichts anderes ergibt und die Anwendung der Bestimmungen der Strafprozeßordnung mit den Grundsätzen und Eigenheiten des Disziplinarverfahrens verein bar ist."
2. §48 DSt, BGBl 474/1990, lautet auszugsweise:
"§48. (1) Die Berufung oder die Beschwerde ist binnen vier Wochen nach Zustellung der Entscheidung bei dem Disziplinarrat, der sie gefällt hat, schriftlich in dreifacher Ausfertigung einzubringen.
(2) – (3) […]"
3. §364 StPO, BGBl 631/1975 idF BGBl I 93/2007, lautet auszugsweise:
"III. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
§364. (1) […]
(2) Über die Wiedereinsetzung entscheidet:
1. (Anm.: aufgehoben durch BGBl I Nr 93/2007)
2. im Falle des Einspruchs gegen das Abwesenheitsurteil eines Bezirksgerichts das Bezirksgericht;
3. in allen anderen Fällen das Gericht, dem die Entscheidung über das Rechtsmittel oder den Rechtsbehelf zusteht.
(3) Der Antrag ist bei dem Gericht einzubringen, bei dem die Verfahrenshandlung versäumt wurde. Das Gericht stellt ihn dem Gegner zur Äußerung binnen vierzehn Tagen zu und legt die Akten, sofern es nicht selbst zur Entscheidung be rufen ist, nach Ablauf dieser Frist dem zuständigen Gericht vor.
(4) – (6) […]"
4. §71 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, BGBl 51/1991 idF BGBl I 158/1998 (im Folgenden: AVG), lautet auszugsweise:
"Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
§71. (1) – (3) […]
(4) Zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist die Behörde be rufen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war oder die die versäumte Verhandlung angeordnet oder die unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt hat.
(5) – (7) […]"
III. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Der Beschwerdeführer behauptet eine Verletzung in Rechten wegen der Anwendung des als verfassungswidrig erachteten §77 Abs2 zweiter Satz DSt. Diese Bestimmung und §364 Abs3 StPO stünden in einem Widerspruch und würden eine derart komplizierte Auslegung nach sich ziehen, weshalb der Gesetzgeber seinen aus Art18 Abs1 iVm Art83 Abs2 B-VG erfließenden Ver pflichtungen nicht nachgekommen sei.
Ein solcher Widerspruch kann seitens des Verfassungsgerichtshofes nicht erkannt werden. Der Verfassungsgerichtshof hegt grundsätzlich keine Bedenken gegen die Anordnung einer sinngemäßen Anwendung verwandter Rechtsvorschriften, die zudem durch präzisierende Maßgaben ergänzt wird (vgl. VfSlg 16.557/2002).
Der Beschwerdeführer wurde daher durch den angefochtenen Bescheid nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes verletzt der Bescheid einer Verwaltungsbehörde das durch Art83 Abs2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).
2.1. Gemäß §77 Abs2 DSt gelten für die Wiedereinsetzung sinngemäß die Be stimmungen der Strafprozessordnung mit der Maßgabe, dass die Wiedereinset zung gegen die Versäumung aller Fristen – ausgenommen die Wiedereinset zungsfrist und die in §33 Abs2 DSt genannte Frist – zulässig ist. Zur Frage der Zuständigkeit zur Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung sieht §77 Abs2 zweiter Satz DSt vor, dass über einen Antrag auf Wiedereinsetzung die Disziplinarbehörde entscheidet, bei der die versäumte Prozesshandlung vor zunehmen war. Die Frage der Zuständigkeit in Angelegenheiten der Wiederein setzung wird durch §77 Abs2 zweiter Satz DSt gesondert und abschließend ge regelt, sodass eine sinngemäße Anwendung der Strafprozessordnung in diesem Zusammenhang ausgeschlossen ist. Aus diesem Grund ist die Rechtsprechung der OBDK und des Obersten Gerichtshofes zu der von §77 Abs2 zweiter Satz DSt abweichenden Regelung des §364 Abs3 StPO, wonach über die Wiedereinsetzung jenes Gericht zu entscheiden hat, das zur Entscheidung über das versäumte Rechtsmittel selbst berufen ist (RIS-Justiz RS0101250), nicht maßgeblich.
2.2. Aus §77 Abs2 zweiter Satz DSt ergibt sich, dass über einen Wiedereinsetzungsantrag jene Disziplinarbehörde zu entscheiden hat, bei der die versäumte Prozesshandlung vorzunehmen war. Bei der "versäumten Prozesshandlung" han delt es sich um die Erhebung der Berufung gegen das Erkenntnis des Disziplinar rates der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 9. Juli 2012. Nach §48 Abs1 DSt ist die Berufung oder die Beschwerde binnen vier Wochen nach Zustellung der Entscheidung bei dem Disziplinarrat, der sie gefällt hat, schriftlich in dreifacher Ausfertigung einzubringen. Da die Berufung beim Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich einzubringen war, hätte auch diese Be hörde über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist entscheiden müssen (siehe zur fast gleichlautenden Zuständigkeitsregel des §71 Abs4 AVG VfSlg 16.860/2003).
Da stattdessen in erster (und letzter) Instanz die belangte Behörde als unzuständige Behörde über das Wiedereinsetzungsbegehren entschieden hat, verletzt der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.
IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Der Beschwerdeführer ist somit im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art83 Abs2 B-VG verletzt.
Der Bescheid ist daher aufzuheben.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne münd liche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.