G187/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Leitsatz
Kein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) durch eine Bestimmung der StPO betreffend die "bedingt obligatorische Festnahme" bei Verdacht eines Verbrechens mit mindestens zehnjähriger Freiheitsstrafe; Festnahme verhindert als "erster" Akt nach der Straftat eine weitere Tatbegehung und sichert den staatlichen Strafanspruch; unterschiedliche Voraussetzungen für die Festnahme als "ersten" Akt des Freiheitsentzugs (mangels Möglichkeit einer umfassenden Einzelfallprüfung) sowie für die Anordnung der Untersuchungshaft im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers; Verhältnismäßigkeit der engen zeitlichen Begrenzung der Festnahme hinsichtlich der Fristen für die Entscheidungen über die Festnahme, Einlieferung in die Justizanstalt sowie die Einzelfallprüfung über die weitere Anhaltung in Untersuchungshaft
Abweisung eines Antrags des Oberlandesgerichts Innsbruck auf Aufhebung des §170 Abs2 StPO idF BGBl I 19/2004.
Die Erwägungen im Erkenntnis vom 01.12.2022, G53/2022, zur (sogenannten bedingt obligatorischen) Untersuchungshaft gemäß §173 Abs6 StPO sind nicht auf die Festnahme gemäß §170 Abs2 StPO übertragbar.
Zum Zeitpunkt der Festnahme kann eine Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalles, insbesondere auch eine Prüfung des Vorliegens der einzelnen Haftgründe in vielen Fällen noch nicht in derselben umfassenden Art und Weise erfolgen, wie dies im Zusammenhang mit der Verhängung oder Verlängerung der Untersuchungshaft gemäß §173 StPO möglich (und auch gefordert) ist.
Die Festnahme ist gleichsam der erste Akt, um einer Tatbegehungsgefahr entgegenzuwirken bzw den staatlichen Strafanspruch zu sichern. Es ist dem Gesetzgeber nicht entgegen zu treten, wenn er in §170 Abs2 StPO beim Verdacht eines Verbrechens, bei dem nach dem Gesetz auf mindestens zehnjährige Freiheitsstrafe zu erkennen ist, generell die Anordnung der Festnahme vorsieht, es sei denn, dass auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, das Vorliegen aller in §170 Abs1 Z2 bis 4 StPO angeführten Haftgründen sei auszuschließen. Der Gesetzgeber geht damit offenkundig von der Wertung aus, dass bei einem Beschuldigten, der im Verdacht steht, ein Verbrechen begangen zu haben, bei dem nach dem Gesetz mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe zu verhängen ist, grundsätzlich anzunehmen ist, dass die Haftgründe iSd §170 Abs1 StPO vorliegen. Diese dem §170 Abs2 StPO offenkundig zugrunde liegende Wertung ist im Lichte des PersFrSchG nicht zu beanstanden.
Bereits aus diesem Grund erweist sich, dass die Festnahmeregelung des §170 Abs2 StPO nach anderen Kriterien zu beurteilen ist als die Untersuchungshaft gemäß §173 (Abs6) StPO. Dass die Voraussetzungen für die Festnahme (als "ersten" Akt des Freiheitszentzugs) aus verfassungsrechtlicher Sicht anders als die Voraussetzungen für die nachfolgende (möglicherweise länger dauernde) Anhaltung zu sehen sind, wird insbesondere auch daraus deutlich, dass das PersFrSchG in den Art4, 5 und 6 klar zwischen der Festnahme und der (nachfolgenden) Anhaltung unterscheidet.
Nach der Festnahme ist der Beschuldigte ohne unnötigen Aufschub, längstens binnen 48 Stunden, in die Justizanstalt des zuständigen Gerichts einzuliefern. Nach Einlieferung in die Justizanstalt ist jeder Festgenommene unverzüglich vom Gericht zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu vernehmen. Spätestens 48 Stunden nach der Einlieferung hat das Gericht über die Verhängung der Untersuchungshaft zu entscheiden. Das zeigt, dass eine Festnahme iSd §170 (Abs2) StPO in jedem Fall zeitlich eng begrenzt ist.
Nicht zuletzt angesichts dieser engen zeitlichen Beschränkung der zulässigen Haftdauer (Anhaltung) bei der sogenannten bedingt obligatorischen Festnahme ist die angefochtene Regelung des §170 Abs2 StPO verhältnismäßig und entspricht somit Art1 Abs3 iVm Art2 Abs1 PersFrSchG.