WI2/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung des Verfahrens der engeren Wahl des Bürgermeisters der Gemeinde Forchtenstein vom 23.10.2022 ab dem Zeitpunkt vor der Kundmachung der engeren Wahl gemäß §73 Abs1 Bgld GemWO 1992.
Eine Ausnahme von der Notwendigkeit des §76 Abs1 Bgld GemWO 1992, Rechtswidrigkeiten bereits im Einspruch — in ausreichend substantiierter Weise — aufzugreifen, besteht für jene Rechtswidrigkeitsbehauptungen, die sich auf Fehler beziehen, die sich erst nach Einbringung des Einspruches ereignet haben. Für solche Rechtswidrigkeiten ist eine erstmalige Geltendmachung in einer Anfechtung gemäß Art141 B‑VG zulässig. Das ist für den vorliegenden Fall insofern von Relevanz, als in der Anfechtung behauptet wird die Wahlleiterin habe nach Einlangen des Einspruches (ohne hiezu berechtigt zu sein) die Wahlakten geöffnet und diese in unzulässiger Weise selbst an die Bezirkswahlbehörde übermittelt.
Eine Öffnung der verschlossenen Wahlakten kann nur anlässlich der Durchführung einer wahlgesetzlich vorgesehenen Amtshandlung durch die Gemeindewahlbehörde erfolgen (Geltung des Gebots der sicheren Verwahrung von Wahlakten im administrativen Einspruchsverfahrens sowie im verfassungsgerichtlichen Anfechtungsverfahren). Eine Öffnung der Wahlakten allein durch den Wahlleiter ist nur bei Vorliegen der in §15 Bgld GemWO 1992 genannten Voraussetzungen zulässig. Im vorliegenden Fall scheidet eine Anwendung des §15 Abs1 Bgld GemWO 1992 schon deshalb aus, weil die Gemeindewahlbehörde nach der Verlautbarung des Wahlergebnisses nicht mehr einberufen wurde. Eine wahlgesetzlich der Wahlleiterin eingeräumte Befugnis, den Gemeindewahlakt bzw die diesem zugehörigen Sprengelwahlakten zu öffnen, besteht nicht, weil die Wahlbehörde nach §76 Abs3 Bgld GemWO 1992 für die Vorlage der Wahlakten zuständig ist. Dennoch ist die Vorlage des Einspruches an die Bezirkswahlbehörde und in der Folge an die Landeswahlbehörde angesichts der kurzen Frist von drei Tagen für die Vornahme der Amtshandlung als unaufschiebbar gemäß §15 Abs2 Bgld GemWO 1992 zu qualifizieren. Selbst unaufschiebbare Amtshandlungen darf der Wahlleiter aber nur selbständig durchführen, wenn er zur Vornahme durch die Wahlbehörde ausdrücklich ermächtigt wurde. Eine solche Ermächtigung zugunsten der Wahlleiterin hat die Gemeindewahlbehörde nicht beschlossen.
Die Wahlleiterin ist in der Phase zwischen Einbringung des Einspruches und dessen Vorlage an die Bezirkswahlbehörde zu keiner selbständigen Durchführung von Amtshandlungen berechtigt, weil hiefür weder die Bgld GemWO 1992 eine Befugnis einräumt noch von der Gemeindewahlbehörde – auf Grundlage des §15 Abs2 Bgld GemWO 1992 – eine entsprechende Ermächtigung beschlossen wurde. Der Anwesenheit von zwei Gemeindebediensteten und dem Zweck der Öffnung, die Wahlakten um das Abstimmungsverzeichnis und das Wählerverzeichnis des Wahlsprengels 1 zu ergänzen, kommt keine Bedeutung zu. Die Öffnung und Ergänzung der Wahlakten durch die Wahlleiterin war sohin rechtswidrig. Durch die unrechtmäßige Öffnung der Wahlakten wurde das Gebot der sicheren Verwahrung der Wahlakten verletzt.
Das Vorliegen der Voraussetzung, dass die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte, ist nach der stRsp des VfGH bereits dann zu bejahen, wenn eine Vorschrift der Wahlordnung verletzt wurde, die die Möglichkeit von Manipulationen und Missbräuchen im Wahlverfahren ausschließen will, und zwar ohne dass es des Nachweises einer konkreten – das Wahlergebnis tatsächlich verändernden – Manipulation bedürfte. Mit dem Vorbringen, dass eine Möglichkeit zur Manipulation eröffnet worden sei, ist die anfechtungswerbende Partei jedenfalls insofern im Recht, als eine Verletzung des Gebotes der sicheren Verwahrung der Wahlakten festgestellt werden konnte. Dieses Gebot ist als Vorschrift anzusehen, die eine einwandfreie Prüfung der Stimmenzählung sichern soll. Bei Verletzung jener Vorschriften der Wahlordnung, die eine einwandfreie Prüfung der Stimmenzählung sichern sollen, ist die Möglichkeit von Missbräuchen, die das Gesetz unbedingt ausschließen will, jedenfalls gegeben, ohne dass es des Nachweises einer konkreten – das Wahlergebnis tatsächlich verändernden – Manipulation bedarf. Die rechtswidrige Öffnung der Wahlakten durch die Wahlleiterin der Gemeindewahlbehörde konnte sohin auf das Wahlergebnis von Einfluss sein.
Durch die rechtswidrige Öffnung des Wahlaktes wurde dessen gesamter objektiver Beweiswert vernichtet. Die Wahlakten ermöglichen dem VfGH im vorliegenden Fall keine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Wahl anhand von unbedenklichen Unterlagen über den Wahlvorgang. Die Gemeindewahlbehörde hat die engere Wahl neuerlich iSd §73 Abs1 Bgld GemWO 1992 kundzumachen und in dieser Kundmachung unter anderem den Tag (der Wiederholung) der engeren Wahl festzulegen. Eine Beschränkung auf den Wahlsprengel 2 scheidet schon deshalb aus, weil durch die rechtwidrige Öffnung des Wahlaktes die Integrität der Wahlakten aller drei Sprengel beeinträchtigt ist.