G48/76 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
§ 19 VStG 1950 (Fassung BGBl. 275/1964) wird als verfassungswidrig aufgehoben. Die Frage der (Nicht) Anrechnung von Haftzeiten, die vor Verhängung der Strafe verbüßt wurden, ist von Einfluß auf das Ausmaß der vom Beschuldigten zu erduldenden Strafe. Wenn daher der Gesetzgeber eine ausdrückliche Regelung über die Anrechnung solcher Zeiten nicht trifft, so bestimmt er damit gleichzeitig, daß bei Bemessung der Strafe auf diese Zeiten nicht Bedacht zu nehmen ist.
Insofern stellt sich diese - implizite - Regelung als eine solche der Strafbemessung dar. Daraus folgt, daß die Frage der Anrechnung einer Verwahrungshaft im VStG 1950 - entgegen der Ansicht der Bundesregierung - keineswegs ungeregelt geblieben ist, sondern daß § 19 VStG 1950 die Anordnung enthält, daß Zeiten der Verwahrungshaft auf die Strafe nicht anzurechnen sind. Der gegenteiligen Ansicht der Bundesregierung kann auch deshalb nicht gefolgt werden, weil es sonst schon legistischen Zufälligkeiten anhinge, ob der VfGH in die Lage kommt, eine Gesetzesstelle auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.
Der Gesetzgeber kann nämlich ein und denselben Regelungsinhalt auf verschiedene rechtstechnische Weise zum Ausdruck bringen, etwa indem er für alle in Betracht kommenden (sachlichen, persönlichen, zeitlichen) Anwendungsbereiche verschiedene - positiv oder negativ formulierte - Regelungen nebeneinander erläßt, oder indem er explizit von einer allgemeinen Regel Ausnahmen vorsieht, oder indem er nur für einen bestimmten Anwendungsbereich eine ausdrückliche Regelung trifft und damit implizit für andere gleichartige Bereiche eine gegenteilige Regelung erläßt (daß nämlich für diese anderen Bereiche Freiheit gelassen oder eine Ausnahme von der positiv statuierten Regel begründet wird) . Es ist kein Umstand hervorgekommen, der es sachlich rechtfertigen würde, die durchaus vergleichbaren Zeiten einer Vorhaft im gerichtlichen Strafverfahren und im Verfahren nach dem Finanzstrafgesetz einerseits und im Verfahren nach dem VStG anderseits verschieden zu bewerten. Die diesbezüglich unterschiedliche Regelung ist umso weniger gerechtfertigt, als die Anrechnung auf die vom Gericht verhängten Strafen, die im Durchschnitt wegen schwerwiegender Delikte ausgesprochen werden, zu erfolgen hat, bei den im Durchschnitt weniger schweren Delikten, in einem nach dem VStG 1950 geführten Verfahren geahndet werden, hingegen nicht. Der VfGH übersieht nicht, daß zwischen dem gerichtlichen Strafverfahren und dem Verwaltungsstrafverfahren wesentliche Unterschiede bestehen, die etwa auch aus Gründen der Verwaltungsökonomie die verschiedenartige Regelung einer Frage sachlich zu rechtfertigen vermögen. Die Anrechnung der Verwahrungshaft würde jedoch keinen von den Verwaltungsbehörden nicht mehr zu bewältigenden Aufwand bewirken, so daß auch Gesichtspunkte der Verwaltungsökonomie als sachlicher Differenzierungsgrund hier nicht in Betracht kommen.