7Rs33/25m – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richterin Mag. Derbolav Arztmann, den Richter Mag. Zechmeister sowie die fachkundigen Laienrichter Kammerrätin Anneliese Schippani und Ing. Mag. Michael Burger in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am B*, **gasse **, ** C*, vertreten durch Ing.Mag.Dr. Roland Hansely, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei D* , E* C*, ** Straße **, ** C*, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 18. Dezember 2024, **33, gemäß §§ 2 ASGG, 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Voranzustellen ist, dass das Berufungsgericht die Rechtsmittelausführungen nicht, hingegen die damit bekämpften Entscheidungsgründe des Erstgerichts für überzeugend hält, sodass mit einer kurzen Begründung das Auslangen gefunden werden kann (§ 500a ZPO).
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 1.5.2023 gerichtete Klagebegehren ab und sprach aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten nicht vorliege, weshalb kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bzw medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
Seiner Entscheidung legte das Erstgericht den auf den Urteilsseiten 2 bis 4 wiedergegebenen Sachverhalt zugrunde, auf den verwiesen und aus dem als für das Berufungsverfahren besonders wesentlich hervorgehoben wird:
„Der am B* geborene Kläger hat in Österreich keinen Lehrberuf erlernt. Innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1.5.2008 bis 30.4.2023) arbeitete er als Reinigungskraft. [...]
Mit seinem Leistungskalkül kann der Kläger noch Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben, insbesondere als Tagportier, oder einfache Aufsichtstätigkeiten im Liefereingangsbereich von beispielsweise Produktionsstätten. Diese Berufe kommen auf dem Arbeitsmarkt in großer Zahl (mehr als 100) vor.“
Rechtlichfolgerte das Erstgericht, dass ein Versicherter, der innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag nicht in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit in einem erlernten Beruf ausgeübt habe, gemäß § 255 Abs 3 ASVG als invalid gelte, wenn er infolge eines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr im Stande sei, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet werde und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden könne, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein geistig und körperlich gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflege. Es sei nicht erforderlich, dass der Verweisungsberuf in einer inneren Beziehung zum bisherigen Beruf stehe. Die Möglichkeit zur Verrichtung einer einzigen Verweisungstätigkeit stehe bereits der Gewährung einer Invaliditätspension entgegen.
Für die Anwendung der Härtefallregel des § 273 Abs 2 ASVG iVm § 255 Abs 3a ASVG fehle es an Beitrags- und Versicherungsmonaten in ausreichender Zahl.
Da der Kläger derzeit nicht invalid sei, sei das Klagebegehren abzuweisen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen rechtlichen Beurteilung sowie der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn der Stattgebung des Begehrens auf Invaliditätspension abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt; überdies wird beantragt, der beklagten Partei die Verfahrenskosten beider Instanzen aufzuerlegen.
Die beklagte Partei beteiligte sich nicht am Berufungsverfahren.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt.
1. Als Mangelhaftigkeit des Verfahrens macht der Rechtsmittelwerber eine verpönte Überraschungsentscheidung geltend.
Das Erstgericht gehe für den Kläger überraschend von einem Anspruch lediglich gemäß § 255 Abs 3 ASVG aus und habe einen Anspruch nach § 255 Abs 1 und 2 nicht geprüft.
Die Tätigkeit einer Reinigungskraft stelle jedoch einen Lehrberuf in Österreich dar, der früher unter dem Begriff des Denkmal , Fassaden und Gebäudereinigers geführt worden sei und nunmehr unter dem Lehrberuf der Reinigungstechnik erlernt werden könne. Diese Tätigkeit erfordere genaue Kenntnisse und Fachwissen, welche Reinigungsmittel für welche Materialien mit welchen Reinigungsgeräten verwendet werden dürfen und sei der Kläger für seine Tätigkeit als Reinigungsfachkraft auch von seinem Arbeitgeber in Österreich, der Firma F*, angelernt worden.
In der Verhandlung sei zwar das medizinische Leistungskalkül erörtert, die Frage der Verweisbarkeit aber nicht behandelt worden, sodass das berufskundliche Sachverständigengutachten durch die bloße Anführung verweisbarer Tätigkeiten faktisch den Schluss ergebe, dass der Kläger aufgrund seiner Einschränkungen am Arbeitsmarkt als Reinigungsfachkraft im angelernten Beruf nicht mehr eingesetzt werden könne. Dadurch, dass das Erstgericht die Tätigkeit des Klägers gar nicht näher hinterfragt habe und auch keine rechtliche Erörterung darüber stattgefunden habe, ob eine Verweisbarkeit überhaupt gegeben sei, liege beim bekämpften Urteil eine verpönte Überraschungsentscheidung vor.
Wäre erörtert worden, ob Verweisbarkeit vorliege oder nicht, hätte der Klagevertreter vorgebracht, dass die angelernte Tätigkeit des Klägers über 18 Jahre als Reinigungskraft bei diversen Reinigungsunternehmen, wo er Innen- und Außenflächen von Gebäuden und Maschinen wie Zügen (G*) oder am H* C* mit verschiedenen Mitteln und Geräten oft in Nachtschichten gereinigt habe, dem Lehrberuf Reinigungstechnik gleich komme und daher ein Rechtsanspruch auf Invaliditätspension nach § 255 Abs 1 und 2 ASGG vorliege, weil der Kläger als Reinigungskraft nicht mehr eingesetzt werden könne.
Das Berufungsgericht hat dazu erwogen:
Der Kläger hat lediglich in der Klage angeführt, dass er überwiegend in einem angelernten Beruf, über ca 20 Jahre als Reinigungskraft bei den G* tätig gewesen sei.
Die beklagte Partei führte in ihrer Klagebeantwortung (ON 3) aus, dass das bei ihr durchgeführte Verfahren ergeben habe, dass der Kläger im Beobachtungszeitraum gemäß § 255 Abs 2 ASVG nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig gewesen sei.
Das Gericht ist nach herrschender Rechtsprechung nicht zur Erörterung eines Vorbringens verpflichtet, dessen Schwächen bereits der Prozessgegner aufgezeigt hat (3 Ob 18/08f; 3 Ob 207/10b; 8 Ob 103/11x; 9 ObA 89/12x ua). Weiteres Vorbringen zu einer „Anlernung“ hat der Kläger nicht erstattet.
Insbesondere wurde das berufskundliche Gutachten (ON 23), in dem der Sachverständige von einer Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ausging und er die bei der Wiedergabe der erstgerichtlichen Feststellungen angeführten Verweisungstätigkeiten als mit dem Leistungskalkül des Klägers für zumutbar erachtete, in der mündlichen Streitverhandlung vom 18.12.2024 (Seite 4 f in ON 30) erörtert. Trotz ausführlicher Stellungnahme des Sachverständigen zu den Verweisungstätigkeiten wie etwa Schrankenwärter, wurde vom Kläger in keiner Weise erwähnt, dass seiner Ansicht nach - entgegen der Auffassung der beklagten Partei, die sich im berufskundlichen Gutachten und dessen Erörterung widerspiegelt - von einer Anlernung im Beruf des Denkmal , Fassaden und Gebäudereinigers auszugehen wäre.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass auch die Rechtserheblichkeit des behaupteten Mangels vom Rechtsmittelwerber nicht hinreichend dargelegt wird. Die in der Berufung erhobene Behauptung, dass der Kläger Innen und Außenfläche von Gebäuden und Maschinen wie Zügen oder am H* C* mit verschiedenen Mitteln und Geräten oft in Nachtschichten reinigte, was dem Beruf Reinigungstechniker gleichkomme, ist schon im Ansatz nicht geeignet, daraus die rechtliche Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Kläger einen angelernten Beruf ausgeübt hätte.
Die gerügte Mangelhaftigkeit liegt somit nicht vor.
So weit der Rechtsmittelwerber die Unterlassung seiner Parteieneinvernahme zu dem Umstand, dass er auf die Tätigkeit als Reinigungsfachkraft umfangreich eingeschult worden sei und daher ein angelernter Beruf vorgelegen habe, der auch als Lehrberuf des Denkmal , Fassaden und Gebäudereinigers habe erlernt werden können, als Verfahrensmangel rügt, ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen.
Wieso das Erstgericht bei einer „diesbezüglichen ausführlichen Begründung erkannt hätte“, dass es sich um einen angelernten Beruf des Reinigungstechnikers gehandelt habe und keine Verweisbarkeit vorliege, erschließt sich - auch im Hinblick auf die obigen Ausführungen - dem Berufungsgericht nicht.
2. Als unrichtige rechtliche Beurteilung bekämpft der Rechtsmittelwerber die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts mit dem Argument, dass der Kläger aufgrund seines eingeschränkten Leistungskalküls nicht mehr in der Lage sei, in seinem in Österreich angelernten Beruf als Reinigungstechniker einen gleichwertigen Arbeitsplatz zu finden.
Ob ein angelernter Beruf vorliege, sei eine Rechtsfrage.
Gemäß der (in der Berufung zitierten) Rechtsprechung sei der Kläger eindeutig im Berufszweig der Denkmal , Fassaden und Gebäudereiniger tätig gewesen, was nunmehr als Lehrberuf des Reinigungstechnikers geführt werde.
Dem Rechtsmittelwerber ist insofern beizupflichten, dass die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, eine Rechtsfrage darstellt. Diese kann allerdings nur auf der Grundlage entsprechender Feststellungen getroffen werden. So stellen sich Reinigungstätigkeiten weit überwiegend als ungelernte Tätigkeiten dar, weshalb zur Annahme von Berufsschutz Anhaltspunkte vorliegen müssen, die sich zu entsprechenden Feststellungen verdichten, aus denen Rückschlüsse auf das Vorliegen der Anlernung eines Lehrberufs gezogen werden können. Solche Feststellungen liegen hier nicht vor, weshalb der Rechtsmittelwerber mit seinen Ausführungen vom Wunschsachverhalt ausgeht. Damit ist allerdings die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt.
So weit der Rechtsmittelwerber für seinen Standpunkt ins Treffen führen will, dass der berufskundige Sachverständige ebenso wie das Erstgericht von keiner Tätigkeit im Reinigungssektor mehr ausgegangen wären, übergeht er, dass das Erstgericht ausdrücklich Verweisungstätigkeiten festgestellt hat, die der Kläger mit seinem Leistungskalkül noch ausüben kann, sodass Invalidität nicht vorliegt. Die weiteren im Rahmen der Rechtsrüge gemachten Berufungsausführungen (Seite 7 bis 10) gehen nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, weshalb dem Berufungsgericht ein Eingehen darauf verwehrt ist.
Auch die abschließend geltend gemachte sekundäre Mangelhaftigkeit liegt nicht vor.
Hat das Erstgericht Feststellungen getroffen, mögen diese auch nicht den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers entsprechen, liegt keinesfalls ein Feststellungsmangel vor.
3. Unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung bekämpft der Rechtsmittelwerber die Feststellung:
„Diese Berufe kommen auf dem Arbeitsmarkt in großer Zahl (mehr als 100) vor.“ Ersatzweise wird die Feststellung begehrt: “Diese Berufe kommen auf dem Arbeitsmarkt regional mit 30 Stellen vor, österreichweit mit ca 100. Dabei handelt es sich um Schon Arbeitsplätze, die im Wesentlichen auf betriebsintern mit verdienten Mitarbeitern, um sie bis zur Pension zu bringen, besetzt werden. Diese Stellen, die dieses Minimalanforderungsprofil abdecken, sind nicht so einfach jetzt anzutreffen.“
Um eine Tatsachen- und Beweisrüge gesetzmäßig auszuführen, ist erforderlich anzugeben, a) welche konkrete Feststellung bekämpft wird, b) aufgrund welcher unrichtigen Beweiswürdigung diese getroffen wurde, c) welche (ersatzweise) Feststellung begehrt wird und d) aufgrund welcher Beweisergebnisse und Erwägungen das Erstgericht zu treffen gehabt hätte ( Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 471 Rz 15 mwN). Weiters ist erforderlich, dass die gerügte mit der ersatzweise begehrten Feststellung in einem begrifflichen Gegensatz stehe, die eine also nicht neben der anderen bestehen kann.
Einerseits deckt sich die begehrte Feststellung weitgehend mit der gerügten; andererseits können der zweite und der dritte Satz der begehrten Feststellungen grundsätzlich problemlos neben der gerügten Feststellung bestehen.
Lediglich der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass es bei der Frage der Verweisbarkeit nur auf die Anzahl der verfügbaren Arbeitsplätze ankommt. Ob diese allerdings frei oder besetzt sind, ist unerheblich.
Der in allen Punkten unberechtigten Berufung war daher der Erfolg zu versagen.
Ein Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG kommt nicht in Betracht, weil Billigkeitsgründe weder vorgebracht wurden, noch sich aus dem Akteninhalt ergeben.
Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil eine in der Berufung nicht oder nicht gesetzmäßig erhobene Rechtsrüge in der Revision nicht nachgeholt werden kann.