JudikaturOGH

10ObS38/25y – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. September 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hargassner als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und die Hofrätin Dr. Wallner Friedl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Sebastian Lenz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Versorgungsanstalt des österreichischen Notariates, 1080 Wien, Florianigasse 2, vertreten durch Dr. Riess Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Waisenpension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 30. Jänner 2025, GZ 9 Rs 117/24b 29, mit dem über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 15. Mai 2024, GZ 35 Cgs 187/23f 20, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass es einschließlich der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile insgesamt zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei über den 31. Oktober 2022 hinaus eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu gewähren und bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids ab 1. Mai 2023 eine vorläufige Zahlung in Höhe von 1.000 EUR monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils am Ersten eines Monats im Nachhinein.

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, von der Rückforderung eines Überbezugs an Waisenpension für die Zeit von November 2022 bis April 2023 in Höhe von 6.273,36 EUR netto abzusehen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 502,70 EUR (darin 83,78 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Die am * 1998 geborene Klägerin ist derzeit in den Arbeitsmarkt nicht einordenbar, wobei ihre Erwerbsunfähigkeit bereits vor dem 18. Lebensjahr eingetreten ist. Eine Besserungsmöglichkeit ist durch Fortsetzen und Adaption der gegenwärtigen Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten ab April 2024 möglich.

[2] Mit Bescheid vom 23. Juni 2023 entzog die Beklagte der Klägerin mit Ablauf des Monats Oktober 2022 die seit 1. Oktober 2003 bezogene Waisenpension und verpflichtete sie zur Rückzahlung eines Überbezugs von 6.273,36 EUR an Waisenpension für die Zeit von November 2022 bis April 2023.

[3] Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin fristgerecht Klage.

[4] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt und erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin über den 31. Oktober 2022 hinaus eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu gewähren und von der Rückforderung eines Überbezugs für den Zeitraum November 2022 bis April 2023 in Höhe von 6.273,36 EUR abzusehen.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, die sich ausschließlich gegen die Gewährung der Waisenpension über den 30. April 2025 hinaus richtete, nicht Folge und bestätigte das Urteil mit der Maßgabe (Ergänzung), dass die Beklagte ab 1. November 2022 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung monatlich zu erbringen habe, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils am Ersten eines Monats im Nachhinein.

[6] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage vorliege, ob eine Waisenpension bei künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartendem Wegfall der Erwerbsunfähigkeit des Kindes bloß befristet zu gewähren sei.

[7] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Abänderungsantrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass die Beklagte schuldig sei, 1. der Klägerin über den 31. Oktober 2022 hinaus eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe bis zum 30. April 2025 zu gewähren; 2. ab dem 1. Mai 2023 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids, längstens aber bis zum 30. April 2025 eine vorläufige Zahlung von 1.000 EUR monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils am Monatsersten im Nachhinein; 3. von der Rückforderung des Überbezugs an Waisenpension für die Zeit von 1. November 2022 bis 30. April 2023 in der Höhe von 6.273,36 EUR netto abzusehen.

[8] Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zulässig und teilweise berechtigt.

[11] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist lediglich noch die Frage, ob die Waisenpension nach § 64 NVG befristet bis April 2025 zuzuerkennen ist und ab wann der Beklagten eine vorläufige Zahlung aufzuerlegen ist. Gegen den Zuspruch einer Waisenpension bis zum 30. April 2025 wehrt sich die Beklagte ebenso wenig wie gegen die Auferlegung einer vorläufigen Leistung in Höhe von 1.000 EUR bis zu diesem Zeitpunkt. Auch der erstgerichtliche Ausspruch, dass die Beklagte von der Rückforderung der von November 2022 bis April 2023 ausbezahlten Waisenpension in Höhe von 6.273,36 EUR netto abzusehen hat, ist in Rechtskraft erwachsen.

1. Die gerügte Aktenwidrigkeit liegt – wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO), sondern ist dem Berufungsgericht, wie unter Punkt 4. ausgeführt, eine rechtliche Fehlbeurteilung unterlaufen.

[12]2. Soweit die Revisionswerberin einen vom Berufungsgericht verneinten Verfahrensmangel geltend macht, ist ein solcher auch in Sozialrechtssachen nicht revisibel (RS0043061).

3. Zur Frage der Befristung einer Waisenpension

[13] 3.1. Gemäß § 64 Abs 1 NVG haben nach dem Tod der (ehemalig) in die Vorsorge einbezogenen Person deren Kinder Anspruch auf Waisenpension. Die Kindeseigenschaft besteht gemäß § 64 Abs 3 NVG auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange das Kind sich in einer Schul oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres (Z 1 1. HS) oder das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf des in Z 1 leg cit genannten Zeitraums infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist (Z 2).

[14]3.2. Sind die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine laufende Leistung nicht mehr vorhanden, so ist sie nach § 33 Abs 1 NVG zu entziehen, wenn nicht der Anspruch nach § 34 NFG ohne weiteres Verfahren erlischt. Es bedarf dazu eines weiteren Verwaltungsaktes der Versorgungsanstalt des österreichischen Notariates. Die Regelung des § 33 Abs 1 NVG entspricht jener des § 99 Abs 1 ASVG.

[15] Die Bestimmung des § 34 NVG zählt taxativ die Fälle auf, in denen der Anspruch auf eine laufende Leistung gemäß § 2 Z 9 ipso iure endet, ohne dass es eines konstitutiven Verwaltungsaktes der Versorgungsanstalt des österreichischen Notariates bedarf (vgl Kemetter in Mazal/Proksch/Weigand, NVG 2020 § 34 Rz 1). Diese Fälle sind der Ablauf der Höchstdauer des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitsgeld, der Tod der anspruchsberechtigten Person, Verheiratung oder Begründung einer eingetragenen Partnerschaft der pensionsberechtigten Witwe oder hinterbliebenen eingetragenen Partnerin, des pensionsberechtigten Witwers oder hinterbliebenen eingetragenen Partners bzw des früheren Ehegatten oder des eingetragenen Partners, Wegfall der Voraussetzungen für die Annahme der Verschollenheit und das Ende der Kindeseigenschaft nach § 64 Abs 2 NFG. Der maßgeblichen Änderung der Sachlage wird durch die Einstellung der Leistung Rechnung getragen ( Kemetter in Mazal/Proksch/Weigand, NVG 2020 § 34 Rz 1).

[16]Hingegen ist bei Ende der Kindeseigenschaft nach § 64 Abs 3 NVG kein Erlöschen des Anspruchs iSd § 34 NVG vorgesehen. In diesem Fall kommt nur eine Entziehung der laufenden Leistung nach § 33 Abs 1 NVG in Betracht. § 33 Abs 3 NVG, der für das Wirksamwerden der Entziehung eine differenzierende Anordnung trifft, stellt folglich auf die Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes der anspruchsberechtigten Person ab. Dabei handelt es sich im Gegensatz zu den Erlöschenstatbeständen des § 34 NVG um Umstände, die nicht ohne ein weiteres Verfahren und leicht feststellbar sind, ist doch der Wegfall der Leistungsvoraussetzungen nicht so eindeutig, dass sich ein weiteres Verfahren erübrigen würde (vgl dazu die EBzRV zu §§ 99 f ASVG, 599 BlgNR 7. GP 44; siehe auch Tomandl/Felten , System des österreichischen Sozialversicherungsrechts Punkt 2.1.6.3 [182] zur Krankenversicherung). Ein Erlöschen des Anspruchs auf Waisenpension zu einem (schon im Vorhinein) bestimmten Zeitpunkt kommt somit in den Fällen des § 64 Abs 3 NVG nicht in Frage.

3.3. Die von der Revision behauptete Gesetzeslücke liegt nicht vor:

[17]Eine Befristung einer Waisenpension kennen weder das NVG noch vergleichbare Bestimmungen zur Waisenpension bei Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechen, wie zB § 260 ASVG. Auch aus dem Umstand, dass in anderen Bestimmungen über Pensionsleistungen, wie zB der Witwen (Witwer)pension nach § 258 ASVG oder § 136 Abs 2 GSVG Befristungen vorgesehen sind, ist gerade keine planwidrige Lücke hinsichtlich der Waisenpension nach § 64 NVG (bzw der ähnlich lautenden Bestimmung des § 260 ASVG) abzuleiten, sondern ergibt sich daraus vielmehr, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Waisenpension keine Befristung, sondern lediglich die Möglichkeit des Entziehens oder Erlöschens vorsehen wollte. Im Übrigen sieht auch § 60 NVG keine den Bestimmungen des § 258 ASVG entsprechenden Befristungsmöglichkeit hinsichtlich der Witwen (Witwer )pension vor.

[18] Eine planwidrige Lücke ist zu verneinen.

[19] 3.4. Soweit die Revisionswerberin meint, es stehe fest, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt eine wesentliche Anspruchsvoraussetzung, nämlich das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit wegfallen würde, weshalb auch nur ein befristeter Zuspruch zu erfolgen habe, ist darauf hinzuweisen, dass zwar eine Besserungsmöglichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Fortsetzen der Therapie innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten ab April 2025 festgestellt werden konnte, aus dieser Feststellung kann aber nicht abgeleitet werden, dass ab dem Zeitpunkt Mai 2025 die Klägerin jedenfalls wieder erwerbsfähig sein werde.

[20] 3.5. Die Waisenpension wurde somit zu Recht von den Vorinstanzen unbefristet zugesprochen.

4. Zur Frage der Auftragung einer vorläufigen Leistung

[21]Im Fall einer auf Weitergewährung einer entzogenen Geldleistung gerichteten Klage besteht an sich für ein Grundurteil nach § 89 Abs 2 ASGG kein Raum, weil die Leistungshöhe – für den Fall, dass der Entziehungsgrund verneint wird – ohnehin feststeht. Wird die Verpflichtung zur Weitergewährung der entzogenen Leistung dennoch nur dem Grunde nach ausgesprochen, so ist eine vorläufige Zahlung gemäß § 89 Abs 2 ASGG anzuordnen, um die (vorläufige) Leistungspflicht des beklagten Versicherungsträgers zu aktualisieren (RS0120569 = 10 ObS 188/04a).

[22] Allerdings erwuchsen nicht nur der Zuspruch einer Waisenpension von November 2022 bis April 2025 „in gesetzlicher Höhe“ in Rechtskraft, sondern auch die Maßgabeergänzung des Berufungsgerichts, mit der eine vorläufige Leistung aufgetragen wurde, dies jedenfalls bis 30. April 2025. Es liegt somit ein teilweise rechtskräftiges Grundurteil sowie eine zumindest teilweise in Rechtskraft erwachsene Verpflichtung zur Erbringung einer vorläufigen Leistung vor.

[23] Der Revision kommt teilweise, nämlich hinsichtlich des Beginns der Verpflichtung zur Zahlung einer vorläufigen Leistung, Berechtigung zu. Diese ist aufgrund des Umstands, dass die Klägerin unstrittig bis April 2023 eine Waisenpension in der ihr zustehenden Höhe erhalten hat und die Beklagte von der Rückforderung der bereits ausbezahlten Waisenpension abzusehen hat, erst ab Mai 2023 zuzusprechen, mangels der Möglichkeit einer Befristung der Waisenpension allerdings zeitlich unbegrenzt.

[24]5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a sowie Abs 2 ASGG.