JudikaturOGH

12Os80/25v – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. August 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. August 2025 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger als Vorsitzende sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, Dr. SetzHummel LL.M., Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Artner in der Strafsache gegen * S* wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Schöffengericht vom 20. Mai 2025, GZ 23 Hv 81/24w 32, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch und demzufolge auch im Strafausspruch aufgehoben, in diesem Umfang eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Linz verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde– soweit hier relevant – * S* des Vergehens der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs 1 StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat er am 28. Juli 2024 in L* mit * K* und * P* gegen ihren Willen „und nach vorangegangener Einschüchterung“ den Beischlaf und dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen vollzogen, indem er die Wohnungstüre versperrte und befahl sich auszuziehen und sie lautstark aufforderte: „Blasen und ficken“, worauf er abwechselnd mit K* und P* vaginal verkehrte und von beiden abwechselnd einen Oralverkehr an sich vornehmen ließ.

Rechtliche Beurteilung

[3]Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3, 5a und 8 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der Berechtigung zukommt.

[4]Die Verfahrensrüge (Z 3) reklamiert zu Recht einen durch die Verlesung des Protokolls der kriminalpolizeilichen Aussage der Zeugin P* in der Hauptverhandlung am 20. Mai 2025 (ON 31, 2) bewirkten Verstoß gegen § 252 Abs 1 StPO.

[5]Aus Z 3 des § 281 Abs 1 StPO kann allein die unrichtige Entscheidung in der Rechtsfrage geltend gemacht werden. Somit ist eine Verfahrensrüge erfolgreich, wenn der Beschwerdeführer aufzeigt, dass die Lösung der Verfahrensfrage angesichts der tatsächlichen Lage im Entscheidungszeitpunkt rechtlich verfehlt war. Ist sie rechtsrichtig, kann nur deren Sachverhaltsgrundlage nach Maßgabe der in § 281 Abs 1 Z 5 und 5a StPO genannten Kriterien angefochten werden (vgl Ratz , WKStPO § 281 Rz 41 und 49 ff; RISJustiz RS0118977, RS0118016).

[6]Die Geltendmachung einer rechtsfehlerhaften Lösung der Verfahrensfrage (hier) nach dem Bestehen einer Befugnis zur Verlesung der Zeugenaussage nach § 252 Abs 1 Z 1 StPO erfordert somit die Argumentation auf Basis des vom Erst gericht festgestellten Sachverhalts. Ist dieser nicht (ausreichend) erkennbar, sind Bezugspunkt dieser (rechtlichen) Beurteilung die vom Obersten Gerichtshof in freier Beweiswürdigung des Akteninhalts festgestellten prozessualen Tatsachen bezogen auf den Zeitpunkt der bekämpften Verfügung (RISJustiz RS0118977 [T14]; Ratz , WKStPO § 281 Rz 46 und 50 f).

[7]Nach (dem hier maßgeblichen) § 252 Abs 1 Z 1 StPO dürfen Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, nur verlesen oder vorgeführt werden, wenn der Aufenthalt der Vernommenen unbekannt ist oder ihr persönliches Erscheinen wegen „erhebliche[r]“ Gründe füglich nicht bewerkstelligt werden konnte.

[8] Nach den Feststellungen des Erstgerichts ist der Aufenthalt der Zeugin P* unbekannt und konnte [offenkundig gemeint: deshalb] ihr Erscheinen zur Hauptverhandlung seit mehr als drei Monaten nicht bewerkstelligt werden (ON 31, 2).

[9] Das Unbekanntsein des Aufenthalts ist anhand der Bemühungen (rechtlich) zu beurteilen, die zur Ausforschung der genannten Zeugin unternommen wurden (vgl RISJustiz RS0101349). Deren Intensität richtet sich nach der Lage des Einzelfalls und variiert in Abhängigkeit von der Bedeutung des Zeugenbeweises für die Wahrheitsfindung und dem Gewicht des dem Angeklagten zur Last liegenden Vorwurfs (vgl RISJustiz RS0108361).

[10] Da Sachverhaltsannahmen zu den Bemühungen um Ausforschung der Zeugin nicht (ausreichend) erkennbar sind, sah sich der Oberste Gerichtshof dazu veranlasst, diese prozessualen Tatsachen selbst festzustellen:

[11]Die Zeugin P*, die ungarische Staatsangehörige ist, erschien trotz persönlicher Übernahme der Ladung (ON 18, 4) nicht zur Hauptverhandlung am 10. Dezember 2024 (ON 23, 9). Der darauf gefasste Beschluss auf Verhängung einer Ordnungsstrafe (ON 23, 9; ON 24) konnte ihr nicht mehr zugestellt werden, weil sie – nach Auskunft ihrer letzten Unterkunftgeberin – nach Ungarn verzogen ist. Ihr dortiger Aufenthaltsort ist nicht bekannt (ON 25). In der Folge verfügte der Vorsitzende am 17. Februar 2025 die Ausschreibung der Zeugin zur Aufenthaltsermittlung im Inland (ON 1.20; ON 26 und 27). Wegen Erfolglosigkeit der Fahndung wurde sie nicht zur Hauptverhandlung am 20. Mai 2025 geladen (ON 1.22). Dort erfolgte – gestützt auf § 252 Abs 1 Z 1 StPO – die Verlesung ihrer Aussage vor der Kriminalpolizei (ON 2.8; ON 31, 2). Anstrengungen zur Ausforschung ihres Aufenthaltsorts in Ungarn unternahm das Erstgericht keine.

[12]Da es sich bei P* um eine von zwei Zeuginnen handelte, die über unmittelbare Wahrnehmungen zum Tatgeschehen verfügten, dem Angeklagten (bezogen auf den Zeitpunkt der Verlesung) der Vorwurf der Vergewaltigung zur Last lag und das Erstgericht mit Blick auf die Fahndung nach P* bloß im Inland erst gar nicht versuchte, deren Aufenthalt in Ungarn auszuforschen, war – worauf der Beschwerdeführer zutreffend hinweist – ihr Aufenthalt nicht unbekannt iSd § 252 Abs 1 Z 1 StPO (vgl RISJustiz RS0108361 [T6, T10, T16, T20]).

[13]Von anderen „erheblichen“ Gründen iSd § 252 Abs 1 Z 1 StPO, aufgrund deren ein persönliches Erscheinen der Zeugin füglich nicht bewerkstelligt werden konnte, ging das Erstgericht zu Recht nicht aus. Die Voraussetzungen für die Verlesung ihrer Aussage nach § 252 Abs 1 Z 1 StPO lagen demnach nicht vor.

[14]Zudem waren auch andere in § 252 Abs 1 StPO normierte Gründe nicht gegeben, sodass die in Rede stehende Aussage nicht hätte verlesen werden dürfen. Zufolge Verstoßes gegen § 252 Abs 1 StPO ist daher der Nichtigkeitsgrund nach § 281 Abs 1 Z 3 StPO verwirklicht.

[15]Unter dem Aspekt der Relativität des aufgezeigten Verfahrensmangels (§ 281 Abs 3 StPO) kann ein Nachteil für den Beschwerdeführer schon deshalb nicht ausgeschl oss en werden, weil die Tatrichter die dem Schuldspruch zugrunde liegenden Feststellungen im Wesentlichen auch mit der (kriminalpolizeilichen) Aussage der P* begründeten (US 4 ff; vgl Ratz , WKStPO § 281 Rz 734 und 740 f).

[16]Das angefochtene Urteil war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bei der nichtöffentlichen Beratung im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben, eine neue Hauptverhandlung anzuordnen und die Sache an das Erstgericht zu verweisen (§ 285e StPO).

[17] Mit seiner Berufung war der Beschwerdeführer auf diese Entscheidung zu verweisen.