2Ob85/25a – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richterin und Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. H,* und 2. H*, beide vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei V*, vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 7.114,48 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Berufungsgericht vom 28. Februar 2025, GZ 13 R 27/25f 41, mit welchem das Urteil des Bezirksgerichts Neusiedl am See vom 2. Dezember 2024, GZ 6 C 966/23d 35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die ihm vom Obersten Gerichtshof am 19. Februar 2025 zu 7 Ob 163/24g (C175/25), am 27. Februar 2025 zu 8 Ob 99/24b (C 182/25) sowie am 18.März 2025 zu 10 Ob 71/24z (C 251/25) und10 Ob 11/25b (C 252/25)gestellten Anträge auf Vorabentscheidung nach Art 267 AEUV unterbrochen.
Nach Vorliegen der Vorabentscheidungen wird das Verfahren über Antrag fortgesetzt.
Text
Begründung:
[1] Die Kläger erwarben im Jahr 2015 bei einem Händler einen Neuwagen der Type VW Caddy Trendline TDI EU 6 zum Preis von 23.714,93 EUR. Im Fahrzeug ist ein Dieselmotor mit der Bezeichnung „EA 288“ verbaut.
[2] Die Kläger begehren 7.114,42 EUR sA. Das Fahrzeug entspreche entgegen der von der Beklagten ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigung nicht den geltenden Zulassungsvorschriften, weil die Abgasrückführung des Fahrzeugs mit einem Thermofenster, einer Höhenabschaltung und einer „Taxifunktion“, welche nach einem Leerlaufbetrieb über mehr als 15 Minuten eingreife, ausgestattet sei. Darüber hinaus würden die Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb nicht eingehalten. Bei Kenntnis dieser Umstände hätten die Kläger einen um 30 % verminderten Kaufpreis bezahlt, was dem tatsächlichen Wert des Fahrzeugs entsprochen hätte.
[3] Die Beklagte bestreitet das Vorhandensein einer unzulässiger Abschalteinrichtung.
[4] Das Erstgericht wies die Klage ab. Eine unzulässige Abschalteinrichtung liege nicht vor, weil das Thermofenster von -29° bis über +65° reiche und daher angesichts der in Europa herrschenden Temperaturen so gut wie nie eingreife. Die Höhenabschaltung sei technisch notwendig, um den Motor vor Schäden zu schützen. Die „Taxifunktion“ des Fahrzeugs, die den Motor nach 15 Minuten im Leerlauf abschalte, danach aber zum Betrieb der Klimaanlage wieder starte, sei zulässig, weil sie nicht das übliche Fahrgeschehen beeinflusse.
[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und führte ergänzend aus, dass es nach den geltenden Zulassungsvorschriften nicht darauf ankomme, ob die Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb eingehalten würden. Ein zulässiges Thermofenster könne auch nicht die Wirksamkeit des Gesamtsystems beeinträchtigen.
[6] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil zum Erfordernis der Einhaltung der Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb und zur Zulässigkeit einer „Taxifunktion“ keine einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
[7] Dagegen richtet sich die Revision der Kläger, mit welcher sie eine Abänderung der Entscheidung dahin anstreben, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Darüber hinaus beantragen die Kläger die Unterbrechung des Revisionsverfahren bis zum Vorliegen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die vom Obersten Gerichtshof zu 7 Ob 163/24g gestellten Fragen.
[8] Die Beklagte beantragt die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Das Revisionsverfahren ist zu unterbrechen.
[10]Der Oberste Gerichtshof hat dem Gerichtshof der Europäischen Union am 19. 2. 2025 zu 7 Ob 163/24g (C175/25) sowie am 18. 3. 2025 zu 10 Ob 71/24z (C251/25) und 10 Ob 11/25b (C252/25) folgende Fragen zur Vorabentscheidung nach Art 267 AEUV vorgelegt:
„1. a) Sind Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Durchführungs-VO 692/2008/EG dahin auszulegen, dass bei einem unter die VO 715/2007/EG fallenden Dieselfahrzeug, in dem Systeme der Abgasrückführung (AGR-System) und Abgasnachbehandlung (SCR-System) verbaut sind, für die Qualifikation als Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG darauf abzustellen ist, ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit (unter Einschluss aller jeweils vorhandener Systeme der Abgasrückführung und -nachbehandlung) verringert wird, oder darauf, ob die Wirksamkeit einzelner Konstruktionsteile (zB 'Thermofenster', SCR-Katalysator) als jeweils eigene Emissionskontrollsysteme verringert wird?
b) Sind Art 3 Nr 10, Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass für die Qualifikation als unzulässige Abschalteinrichtung die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter gewöhnlichen Fahrbedingungen – sei es eines einzelnen Konstruktionsteils, sei es der Gesamtheit des Systems (siehe Frage 1. a) – allein entscheidend ist, oder ist zusätzlich erforderlich, dass (zumindest) einer der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte überschritten wird?
2. Für den Fall, dass auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit abzustellen ist:
a) Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG in Bezug auf die Behauptungslast dahin auszulegen, dass der Erwerber eines Dieselfahrzeugs seiner Behauptungslast zum Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung entspricht, wenn er vorbringt, dass ein Konstruktionsteil (zB 'Thermofenster') vorliegt, das die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter gewöhnlichen Fahrbedingungen verringert, und trifft dann den Hersteller die Behauptungslast dafür, dass das Gesamtsystem insgesamt zu keiner Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems führt, oder muss der Käufer auch vorbringen, dass keine anderen Konstruktionsteile vorliegen, die den nachteiligen Effekt ausgleichen?
b) Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG im Fall der Behauptungslast des Käufers für das Gesamtsystem und der daraus im nationalen Recht resultierenden Beweislast dahin auszulegen, dass selbst eine nationale Regelung, die den Hersteller in diesem Fall zur Mitwirkung an der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet, dennoch nicht dem Unionsrecht, insbesondere dem Effektivitätsgrundsatz, entspricht, sodass deshalb insoweit unionsrechtlich der Hersteller die Beweislast zu tragen hat?
3. Sind Art 3 Nr 10, Art 4 Abs 2, Art 5 Abs 1 und Abs 2 VO 715/2007/EG (iVm Art 3 Durchführungs-VO 692/2008/EG) dahin auszulegen, dass die Bauteile eines Dieselfahrzeugs, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sein müssen, dass die Einhaltung der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte nicht nur bei den vorgeschriebenen Tests im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens (hier: Neuer Europäischer Fahrzyklus-Test), sondern auch unter tatsächlichen Fahrbedingungen bei normaler Nutzung des Fahrzeugs (im Realbetrieb) gewährleistet ist?“
[11]Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union am 27. 2. 2025 zu 8 Ob 99/24b (C182/25) folgende Fragen zur Vorabentscheidung nach Art 267 AEUV vorgelegt:
„1.a. Sind Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Durchführungs-VO 692/2008/EG dahin auszulegen, dass bei einem unter die VO 715/2007/EG fallenden Fahrzeug mit Dieselmotor, in dem
- ein Stickoxidspeicherkatalysator samt Dieselpartikelfilter und weiters
- nur ein (in seiner Steuerung und Wirksamkeit von verschiedenen Faktoren wie Umgebungstemperatur, Leistungsanforderung, Gaspedalstellung, Drehmoment, Seehöhe, Sauerstoffgehalt der Umgebungsluft, Fahrverhalten des Fahrers sowie Temperatur am und im Triebwerk und im Abgasrückführungssystem selbst abhängiges) System der Abgasreduktion (AGR-System) verbaut ist, welches
- ein 'Thermofenster' (eine temperaturabhängige Reduktion der AGR-Rate), bezüglich dessen zwar feststeht, dass die AGR-Rate bei Temperaturen unter -24°C und über +70°C reduziert wird, allerdings nicht feststellbar ist, ob eine Reduktion der AGR-Rate auch innerhalb des Temperaturbereiches von -24°C bis +70°C stattfindet,
- eine 'Höhenschaltung' (eine Reduktion der AGR-Rate in einer Betriebshöhe von über 1.000 Metern über dem Meeresspiegel), und
- eine 'Taxischaltung' (eine Reduktion der AGR-Rate bei einem Betrieb im Leerlauf über einen Zeitraum von mehr als 15 Minuten) aufweist, für die Qualifikation als Abschalteinrichtung im Sinne von Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG darauf abzustellen ist,
i. ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit (unter Einschluss aller jeweils vorhandenen Systeme der Abgasrückführung und -nachbehandlung) verringert wird, oder darauf,
ii. ob die Wirksamkeit einzelner Konstruktionsteile (zB 'Thermofenster', SCR-Katalysator) als jeweils eigene Emissions-kontrollsysteme verringert wird?
1.b. Sind Art 3 Nr 10, Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass
i. es sich bei der Wendung in Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG '… unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind …'
- um einen Teil der Tatbestandsvoraussetzungen für das Vorliegen einer Abschalteinrichtung, oder
- um eine diesbezügliche Ausnahmeregelung vom Bestehen einer Abschalteinrichtung oder Verbotsausnahme, welche erst beim Nachweis des Nichtvorliegens solcher Bedingungen die Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung bewirkt, handelt?
ii. für die Qualifikation als unzulässige Abschalteinrichtung die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems eines Dieselfahrzeuges unter gewöhnlichen Fahrbedingungen – sei es eines einzelnen Konstruktionsteiles, sei es der Gesamtheit des Systems (siehe Frage 1.a.) – allein entscheidend ist, oder ist zusätzlich erforderlich, dass (zumindest) einer der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte überschritten wird?
iii. eine Abschalteinrichtung jedenfalls dann zulässig im Sinne des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ist, wenn unter tatsächlichen Fahrbedingungen bei normaler Nutzung des Fahrzeuges die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems eines Dieselfahrzeuges zwar verringert wird, jedoch die in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden?
2. Für den Fall, dass im Sinne der zu Punkt 1. gestellten Fragen auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit abzustellen ist:
2.a. Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG in Bezug auf die Behauptungslast dahin auszulegen, dass der Erwerber eines Dieselfahrzeuges seiner Behauptungslast zum Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung entspricht, wenn er vorbringt, dass ein Konstruktionsteil (zB 'Thermofenster') vorliegt, das die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter gewöhnlichen Fahrbedingungen verringert, und trifft dann den Fahrzeughersteller die Behauptungslast dafür, dass das Gesamtsystem insgesamt zu keiner Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems führt, oder muss der Käufer auch vorbringen, dass keine anderen Konstruktionsteile vorliegen, die den nachteiligen Effekt ausgleichen?
2.b. Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG in Bezug auf die Beweislast dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung, nach der den klagenden Käufer die Beweislast für das Vorliegen einer Abschalteinrichtung und somit nicht nur dafür trifft, dass ein Konstruktionsteil im Fahrzeug verbaut ist, das die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter gewöhnlichen Fahrbedingungen verringert, sondern auch dafür, dass keine anderen Konstruktionsteile verbaut sind, die diesen nachteiligen Effekt ausgleichen, aber der beklagte Fahrzeughersteller zur Mitwirkung an der Ermittlung des Sachverhaltes verpflichtet ist – wobei die Konsequenz einer Nicht-Mitwirkung nur darin liegt, dass das Gericht diesen Umstand in seine freie Beweiswürdigung einfließen lässt –, gegen Unionsrecht verstößt, sodass bei der Feststellung des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit eine Zuweisung der Beweislast hierfür an den beklagten Fahrzeughersteller unionsrechtlich geboten ist?
2.c. Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass die Behauptungs- und Beweislast für den konkreten Temperaturbereich, in dem eine im Fahrzeugmotor vorhandene Abschalteinrichtung in Form eines Thermofensters nicht aktiv ist, den Fahrzeughersteller trifft?
3.a. Sind Art 3 Nr 10, Art 4 Abs 2, Art 5 Abs 1 und Abs 2 VO 715/2007/EG (in Verbindung mit Art 3 Durchführungs-VO 692/2008/EG) dahin auszulegen, dass die Bauteile eines Dieselfahrzeuges, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sein müssen, dass die Einhaltung der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte nicht nur bei den vorgeschriebenen Tests im Rahmen des jeweils anzuwendenden Typgenehmigungsverfahrens (hier: Neuer Europäischer Fahrzyklus-Test), sondern auch unter tatsächlichen Fahrbedingungen bei normaler Nutzung des Fahrzeuges (im Realbetrieb) gewährleistet ist?
3.b. Falls die Frage 3.a. zu bejahen ist: Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 5 Abs 1 und Art 4 Abs 3 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass nicht der klagende Käufer, sondern der beklagte Fahrzeughersteller die Beweislast für die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb trägt?“
[12] Die an den Europäischen Gerichtshof herangetragenen Vorlagefragen hinsichtlich der Einhaltung der Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb und hinsichtlich der Zulässigkeit einer Taxifunktion sind auch im vorliegenden Revisionsverfahren entscheidungsrelevant.
[13]Der Oberste Gerichtshof hat von der allgemeinen Wirkung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs auszugehen und eine solche auch für andere Fälle als den unmittelbaren Anlassfall anzuwenden. Aus prozessökonomischen Gründen ist das Verfahren daher zu unterbrechen (RS0110583). Die Fortsetzung erfolgt nur über Antrag einer Partei (2 Ob 20/25t ua).