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W277 2298709-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
08. Juli 2025

Spruch

W277 2298709-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a ESCHLBÖCK, MBA, über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Somalia, vertreten durch XXXX , gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: der BF) stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1. Er wurde am XXXX durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt (AS 39 ff). Hierbei gab er an, den Namen XXXX zu führen sowie am XXXX in XXXX geboren zu sein. Er sei ledig, bekenne sich zum islamischen Glauben und sei der Volksgruppe der XXXX zugehörig (AS 39 ff).

Im Herkunftsstaat habe er keine Schulausbildung genossen. Zuletzt habe er in Somalia als XXXX gearbeitet. Seine Wohnsitzadresse im Herkunftsland laute XXXX (AS 41, AS 43).

Sein Vater XXXX sei bereits verstorben. Seine Mutter XXXX , ca. XXXX Jahre alt, seine Brüder XXXX , ca. XXXX Jahre alt und XXXX , ca. XXXX Jahre alt, sowie seine Schwestern XXXX , ca. XXXX Jahre alt und XXXX , ca. XXXX Jahr alt, würden in Somalia leben (AS 43).

Zu seinen Fluchtgründen brachte er vor, dass er von zu Hause geflüchtet sei, weil die al Shabaab ihn hätte rekrutieren wollen. Er hätte als XXXX gearbeitet und so seine Mutter unterstützen wollen. Sein Vater sei getötet worden. Die Gruppe hätte „ihnen“ für eine Mitarbeit Geld angeboten. Er hätte dies seiner Mutter gesagt, „für diese sei das nicht möglich“ gewesen. Seine Mutter hätte ihm geraten das Land zu verlassen. Hätte er den al Shabaab zugesagt, wäre er wahrscheinlich nicht mehr zurückgekommen (AS 49).

Den Entschluss zur Ausreise aus seinem Herkunftsstaat habe er Ende XXXX gefasst und sei Ende XXXX , legal mit einem somalischen Reisepass, aus seinem Herkunftsstaat ausgereist. Das Reisedokument befinde sich in XXXX (AS 45, AS 47). Die Reise hätte er mit seiner Mutter organisiert und die Reisekosten hätten sich auf ca. XXXX US-Dollar belaufen (AS 49).

Zu seiner Reiseroute führte der BF aus, sich XXXX Monate in XXXX und ca. XXXX Jahre in XXXX aufgehalten zu haben.

Er habe in XXXX um internationalen Schutz angesucht. Ebendort seien Fingerabdrücke genommen worden. Nach XXXX Monaten hätte er die erste behördliche Einvernahme haben sollen, jedoch sei diese XXXX Mal verschoben worden, weil es keinen Dolmetscher gegeben hätte. In weiterer Folge sei er „aus dem Camp rausgeschmissen“ worden. Er wolle nicht dorthin zurückkehren.

Danach sei er durch XXXX durchgereist. Nach eintägigem Aufenthalt in XXXX und Durchreise durch XXXX sei er in das Bundesgebiet eingereist. Er habe dann erfahren, dass er in Österreich sei und wolle jetzt hier bleiben. Es gäbe im Bundegebiet „gute Bildung“ und er könne hier einen Antrag stellen (AS 47, AS 49).

Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat habe der BF Angst, von al Shabaab getötet zu werden. Er habe keine Beweise dafür, dass ihm bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohen würden, oder dass er im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen habe, jedoch sei bekannt, dass die al Shabaab „so mit Geflüchteten umgehe“ (AS 49).

1.2. Dem Erstbefragungsprotokoll ist weiters folgender Hinweis zu entnehmen (AS 39):

- „Person hat in PAD weitere Identitäten“,

- Aliasdaten XXXX , geb.: XXXX

1.3. Einer im Akt befindlichen EURODAC-Abfrage ist zu entnehmen, dass der BF in XXXX am XXXX einen Asylantrag gestellt habe, sowie, dass es ebendort am XXXX eine erkennungsdienstliche Erfassung gegeben hätte (AS 15)

2. Am XXXX wurde beim BF ein Handwurzelröntgen durchgeführt, da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) Zweifel an der Minderjährigkeit des BF hatte (AS 57, AS 69).

3. Mit Schriftsatz vom XXXX der XXXX wurde mitgeteilt, dass diese derzeit die gesetzliche Vertreterin des BF sei. Der BF möchte einige Angaben in seinem Erstbefragungsprotokoll richtigstellen/korrigieren. So sei sein Geburtsort nicht XXXX sondern XXXX , weiters kenne der BF die Aliasdaten nicht und diese würden nicht stimmen. Weiters habe der BF eine ca. XXXX Schulausbildung in XXXX genossen und auch dort kurz das XXXX gelernt (AS 63).

4. Am XXXX wurde beim BF eine „Multifaktorielle Diagnostik zur Feststellung des absoluten Mindestalters zum Antragszeitpunkt“ durchgeführt (AS 89 ff). Einem im Akt befindlichen medizinischem Sachverständigengutachten ist zu entnehmen, dass das festgestellte Mindestalter des BF mit seinem Altersvorbringen vereinbar sei (AS 131, AS 144).

5. Am XXXX wurde der BF, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Somali, durch das BFA niederschriftlich befragt (AS 173 ff).

5.1. Hierbei gab er an nicht in ärztlicher Behandlung zu sein, keine Medikamente zu nehmen und gesund zu sein.

5.2. Befragt ob er bis dato im Verfahren der Wahrheit entsprechenden Angaben gemacht habe und ihm diese jeweils rückübersetzt wurden und korrekt protokolliert wurden, antwortete der BF: „Ja. Es wurde alles korrekt protokolliert.“ (AS 176).

5.3. Der BF sei nicht im Besitz eines Dokuments, welches auf seine Identität schließen lasse. Er hätte vom Schlepper einen Reisepass bekommen, mit welchem er von XXXX aus Somalia verlassen habe können. Dieser sei ihm in XXXX abgenommen worden.

5.4. Zu seiner Person gab der BF an XXXX zu heißen und am XXXX in XXXX geboren sowie somalischer Staatsangehöriger zu sein. Er sei der sunnitisch-islamischen Glaubensrichtung zugehörig.

5.4.1. Zur Protokollierung des Geburtsortes XXXX in der Niederschrift der Erstbefragung schilderte der BF: „Es war ein Fehler, ich habe nie gesagt, aus XXXX zu kommen, sondern XXXX . Ich reiste aus XXXX aus, weshalb wahrscheinlich dieser Irrtum entstanden ist.“ (AS 180).

Zu XXXX führte der BF weiters folgendes aus (AS 178): „Geboren bin ich im Stadtteil XXXX , die Stadt liegt an der Küste, es gibt auch eine Moschee, welche den Namen XXXX hat. Die Stadt ist bekannt für die weißen Fassaden der Häuser, auch ist XXXX bekannt für eine prominente Mitarbeiterin einer NGO namens XXXX . Sie setze sich für schutzbedürftige Kinder ein und fiel einen Anschlag zum Opfer. Das war in den frühen 2000er Jahren.“

5.4.2. Der BF gehöre der Volksgruppe bzw. dem Clan der XXXX an (AS 177 f, AS 180). Befragt zu den Besonderheiten seines Clans führte der BF folgendes aus (AS 181): „Mein Clan gilt als religiöser Clan. Viele XXXX arbeiten als Lehrer in Koranschulen oder bekleiden ein geistliches Amt. Die XXXX sind kein bewaffneter Clan, auch haben sie nicht die Macht.“ Man könne aufgrund der Clanzugehörigkeit ein normales Leben als Angehöriger der XXXX in XXXX führen (AS 181).

5.4.3. Zu seiner finanziellen Situation in Somalia schilderte der BF (AS 181): „Ich konnte dort leben, ich verdiente mein Geld und versorgte mit meinem Verdienst meine Familie.“

5.5. Der BF sei ledig und habe keine Kinder.

In der EU oder Österreich habe der BF keine Angehörigen (AS 180).

Sein Vater XXXX sei XXXX vor seiner Geburt bei einem Anschlag als Unbeteiligter verstorben.

Seine Mutter XXXX , etwa XXXX Jahre alt, seine Brüder XXXX , etwa XXXX Jahre alt und XXXX , etwa XXXX Jahre alt, sowie seine Schwester XXXX , etwa XXXX Jahre alt, würden alle in XXXX aufhältig sein. Ansonsten habe er keine Verwandte oder nahe Angehörige in Somalia (AS 181).

Seine Geschwister hätten „alle einen anderen Vater“. Gemeinsam mit seiner Mutter würden sie mit dem „neuen Ehemann seiner Mutter“ zusammenleben.

Seine Mutter arbeite in einer XXXX . Sein Stiefvater hätte nicht immer Arbeit und arbeite nach Auftrags- und Sicherheitslage.

Der BF vermisse seine Familie und pflege telefonischen Kontakt zu seinen Angehörigen in XXXX . Der letzte Kontakt zu seiner Mutter habe vor XXXX Wochen stattgefunden. Diese müsse stets eine andere Familie aufsuchen, weil sie keinen eigenen Internet Zugang hätte. Sie könne ihn dann über soziale Medien anrufen.

Der BF habe keine weiteren familiären Anknüpfungspunkte in XXXX , zumal auch seine Freunde alle geflüchtet wären.

5.6. Zu seinem Fluchtgrund gab der BF Folgendes an (AS 182 f):

„Ich war in XXXX und ging meinen normalen Tätigkeiten als XXXX nach. Ich befand mich wie so oft vor der Moschee XXXX . Auch andere Jugendliche waren bei mir. Im XXXX kamen Mitglieder der Al Shabaab und versuchten, ums Geld anzubieten. Wir sollten als Gegenleistung bei Attentaten mitwirken. Beispielsweise sollten wir mit Sprengstoffgürtel gezielt in eine Behörde gehen und dann den Sprengsatz auslösen. Auch sollten wir ausschließlich Sprengsätze deponieren und dann könnten wir uns wieder entfernen. Uns wurde angeboten, dass wir gleich nach XXXX mitfahren könnten. Einige Jugendliche schlossen sich an und taten dies, was von ihnen verlangt wurde. Ich jedoch suchte umgehend meine Mutter auf und berichtete von diesen Begegnungen. Die Mutter sagte, dass sie viele Familien kennen würde, bei welchen die Kinder nicht wieder nach Hause gekommen sind. Um mich zu schützen, wollte meine Mutter, dass ich zu Hause bleibe. Sie hat schließlich meine Ausreise unterstützt. So konnte ich im XXXX aus Somalia ausreisen.“

Die erste Kontaktaufnahme der al Shabaab Mitglieder sei im XXXX gewesen. Das erste Mal sei nur eine Person da gewesen, an den Folgetagen seien es mehrere Mitglieder der al Shabaab gewesen, welche sich dann auch als solche ausgegeben hätten.

Das „Angebot mit den Sprengstoffgürteln“ sei bei der ersten Begegnung mit Angehörigen der al Shabaab gewesen. „Sie“ seien mehrfach gefragt worden. Auch seien Videos gezeigt worden, wie man solche Sprengstoffgürtel trage und auslöse.

Der BF habe niemals mit Sprengstoff gearbeitet, von Videos wisse er jedoch, dass Sprengstoff fest oder flüssig sei und bereits in Dosen oder Rucksäcken vorbereitet wäre.

Er wisse nicht, wie man Sprengstoff zum Detonieren bringe. Er sollte nur die diese Behältnisse abstellen und hätte dann wieder gehen können.

Pro Attentat seien ihnen zwischen XXXX und XXXX US-Dollar angeboten worden. Der BF wisse aber, dass viele Personen sterben würden und es niemals zur Auszahlung des Geldes komme (AS 183 f).

Befragt, weshalb die al Shabaab Mitglieder konkret zu ihm gekommen wären, vermeinte der BF: „Weil sämtliche Knaben in meinem Alter ausgesucht werden.“. Al Shabaab suche potentielle Mitglieder aufgrund des Alters und des Geschlechts aus. Sie würden Knaben wollen. Jugendliche, welche hart arbeiten würden, um etwas Geld zu verdienen, seien leichte Opfer (AS 183).

Seine Angehörigen seien nie von der al Shabaab belangt worden (AS 184).

5.7. Zu den Kontrollverhältnissen in XXXX gab der BF an, dass die Regierung XXXX kontrolliere, die al Shabaab jedoch Einfluss habe.

Weder der BF noch seine Mutter hätten die Polizei oder ATMIS-Truppen konsultiert, weil bei solchen Sachen nichts unternommen werde.

5.8. Zum Vorhalt des BFA, wie es sein könne, dass al Shabaab Mitglieder vor einem der bedeutendsten Plätze – nämlich XXXX – einfach Jugendliche rekrutieren können würden, führte der BF aus: „Die Al Shabaab Mitglieder kamen immer zur Zeit des Abendgebetes. Man erkennt diese auch nicht, sie stellen sich nur vor.“ (AS 184).

5.9. Darauf hingewiesen, dass jetzt über XXXX Jahre vergangen seien und gefragt, ob seine Befürchtung hinsichtlich der al Shabaab Mitglieder noch immer gerechtfertigt sei, führte der BF aus (AS 184): „Ja, diese Personen nicht, aber die Al Shabaab ist in XXXX immer noch aktiv. Die Lage ist unverändert.“ Weder unterstütze der BF die Ideologie der Al Shabaab noch sei er jemals in einem Ausbildungslager der al Shabaab gewesen (AS 184).

5.10. Eine Verfolgung des BF aufgrund seiner Nationalität, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Religion hätte es nicht gegeben (AS 182, AS 186).

Er sei keine politisch exponierte Person (AS 185).

Der BF sei in keinem Land vorbestraft, hätte ansonsten keine Probleme mit staatlichen Behörden, Gerichten oder der Polizei in Somalia gehabt, sei niemals politisch tätig gewesen, sei kein Mitglied einer politischen Partei oder Gruppierung und gegen ihn bestünden keine aktuellen staatlichen Fahndungsmaßnahmen (AS 186).

5.11. Die Angaben zu seiner Reise nach Österreich seien korrekt protokolliert worden (AS 177, AS 179, AS 181 f).

Der BF sei Ende XXXX mit einem Linienflugzeug von XXXX nach XXXX ausgereist. Dort sei er XXXX Monate geblieben und darauf nach XXXX gelangt, wo er etwa XXXX Jahre aufhältig gewesen sei.

Er hätte in XXXX kein Aufenthaltsrecht gehabt. Über seinen Asylantrag in XXXX sei nicht entschieden worden. Dreimal sei er zu den Einvernahmeterminen gekommen, wobei er jedesmal vertröstet worden sei, weil beispielsweise kein Dolmetscher verfügbar gewesen wäre.

Als sein Asylantrag in XXXX nicht bearbeitet worden sei, hätte er das erste Mal daran gedacht nach Mitteleuropa zu gehen. Er sei dann über die Länder XXXX und XXXX nach Österreich gereist. Die Reise hätte etwa € XXXX ,-gekostet und das Geld stamme aus einer Hilfstätigkeit in einem XXXX in XXXX .

XXXX sei nicht sein Ziel gewesen. Er hätte nur von XXXX gehört, von wo er aber zurückgeschickt worden wäre.

5.12. Bei einer Rückkehr nach XXXX befürchte er folgendes (AS 184).: „Ich habe dort keine Angehörigen und habe deshalb Bedenken.“

Auch in XXXX habe der BF keine Angehörigen (AS 185).

Befragt, ob er in einem anderen Bereich Somalias, beispielsweise in XXXX sein Leben fortsetzen könne, führte der BF folgendes aus: „Nein. Es ist schwierig, weil ich in anderen Gebieten keine Angehörigen habe. Ich würde in Somalia nicht heimisch werden. Mich würde man wieder in den Süden abschieben.“ (AS 185).

5.13. Zu seinen Lebensumständen Österreich führte er aus, dass er soziale Kontakte zur österreichischen Gesellschaft nur in seiner Unterkunft zu den Mitarbeitern habe.

Er betätige sich weder bei karikativen Organisationen oder anderen Vereinen.

Der BF besuche einen Deutschkurs an der Volkshochschule und versuche über soziale Medien Deutsch zu lernen. Er verfüge über keine Deutsch Zertifikate und habe keine Arbeit. Er würde aber gerne eine Ausbildung zum XXXX absolvieren. Er wolle in Österreich bleiben und sich in XXXX aufhalten.

In Österreich hätte er keine Probleme mit Behörden, Polizei, Gericht oder anderen Institutionen gehabt (AS 185 f).

5.14. Im Zuge der Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor (AS 191 ff):

• Deutschpass der XXXX (Anwesenheitsnachweis);

• Kursbestätigung der XXXX vom XXXX über die Absolvierung des Deutsch-Kurses Alphabetisierung 3 (in Kopie);

• Zusage des Magistrats der XXXX für gemeinnützige Arbeit im Zeitraum von XXXX bis XXXX (in Kopie).

6. Mit Bescheid des BFA vom XXXX Zl. XXXX (AS 197 ff) wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom XXXX hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für 1 Jahr (Spruchpunkt III.).

Dabei wurde im Wesentlichen festgestellt (AS 216f), dass nicht hätte festgestellt werden können, dass der BF in Somalia einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre oder sei. Er behaupte, aufgrund einer Bedrohung durch die Terrororganisation Al Shabaab seinen Herkunftsstaat verlassen zu haben. Der BF sei zu seinem Fluchtvorbringen nur eingeschränkt glaubhaft und indiziere sein Fluchtvorbringen selbst bei Wahrunterstellung keine Asylrelevanz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Es hätte nicht festgestellt werden können, dass er im Falle einer Rückkehr nach Somalia einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung landesweit ausgesetzt sei. Es hätte zudem nicht festgestellt werden können, dass er im Falle einer Rückkehr nach Somalia einer realen Gefahr, aus Gründen seiner Zugehörigkeit zum Clan XXXX ausgesetzt sei. XXXX , welches geographisch in der Region XXXX liege, stehe unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS.

Beweiswürdigend wurde im Wesentlichen ausgeführt (AS 387 f), dass es möglich erscheine, dass Angehörige dieser Terrororganisation verdeckt (versuchen würden) – etwa an stark frequentierten Plätzen, junge Männer für eine etwaige Mitarbeit zu gewinnen. Zu seiner entsprechenden Aussage werde dem BF deshalb Glauben geschenkt. Nicht glaubhaft sei hingegen die seinerseits beschriebene Vorgangsweise. Dass bei der ersten Begegnung gleich verlangt werde, Sprengstoff zu deponieren, damit Attentate verübt werden können, erscheine weniger realistisch. Der BF hätte seit seiner Geburt in XXXX gelebt, dort seine Sozialisierung erfahren und sei mit der Bedrohung durch die al Shabaab vertraut. Er müsste also im Wissen sein, dass sich Personen, welche sich als al Shabaab-Mitglieder ausgeben, nichts Gutes beabsichtigen würden. Dass er im Wissen der Motive der al Shabaab (sei), werde durch sein umgehendes Aufsuchen seiner Mutter belegt. Es entstehe die Frage, ob nicht ein umgehendes „Davonlaufen“ bzw. eine vehemente Meidung solcher Personen die einzige realistische Reaktion auf eine Begegnung mit Angehörigen der Al Shabaab wäre. Ein Werben um neue Mitarbeiter wie auf einer Berufsinformationsmesse sei demnach mit der Realität nicht in Einklang zu bringen. Sehr wohl sei jedoch nachvollziehbar, dass „explizit junge Männer ausgesucht werden würden, welche ihr Geld mit harter Arbeit, beispielsweise als XXXX verdienen würden“, weshalb die Feststellung getroffen worden sei, dass er zu seinem Fluchtvorbringen eingeschränkt glaubhaft sei. Es fehle zudem jeglicher Anknüpfungspunkt an einen Konventionsgrund, da außer seinem Alter und seinem Geschlecht, kein anderer Aspekt festgestellt worden sei, weshalb er bei Wahrunterstellung tatsächlich für eine Mitarbeit bei der al Shabaab in Frage kommen würde. Der BF hätte durch das Vorbringen einer möglichen Bedrohung durch die Terrororganisation al Shabaab keine realistische Verfolgungshandlung durch einen staatlichen, bzw. quasi-staatlichen Akteur, welche somaliaweit vorliege und im zeitlichen Zusammenhang stehe, glaubhaft machen können. Selbst bei Wahrheitsunterstellung hätte keine Verbindung mit einem Konventionsgrund festgestellt werden können. Es mangle somit in Gesamtschau an einem in der Genfer Flüchtlingskonvention aufgezählten Fluchtgrund im Hinblick auf seine Person.

6.1. Das BFA stellt dem BF amtswegig einen Rechtsberater zur Seite (AS 399 f).

7. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der BF, vertreten durch XXXX unter Vollmachtvorlage vom XXXX (AS 431), binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides (AS 405 ff).

Hierbei wurde im Wesentlichen der Sachverhalt erneut dargestellt. Der BF wäre aus Somalia aus Furcht vor einer Zwangsrekrutierung und Verfolgung durch al Shabaab geflohen. Der BF könnte keinen Schutz durch die somalische Regierung erhalten und es würde ihm im gesamten Gebiet Somalias Verfolgung drohen. Er befürchte im Falle einer Rückkehr nach Somalia weitere Zwangsrekrutierung sowie eine Verfolgung bis hin zum Tod durch al Shabaab (AS 408 f).

Ausgeführt wurde weiters im Wesentlichen, dass Verfahrensvorschriften durch ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren und eine mangelhafte Beweiswürdigung verletzt worden seien und der Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides inhaltlich rechtswidrig sei.

Der BF sei vor seiner Flucht aus Somalia bereits durch Mitglieder der al Shabaab bedroht worden. Er hätte als XXXX vor der Moschee gearbeitet und wäre al Shabaab dabei zu ihm gekommen und hätte ihm gesagt, dass er von al Shabaab getötet werden würde und dass sie ihn finden könnten, egal wo er in Somalia hingehe. Auch wenn die Regierung in seinem Heimatort die Kontrolle haben möge, würde al Shabaab ihn trotzdem jederzeit verfolgen können und könnte er keinen Schutz durch die somalischen Behörden erhalten. Er sei somit schon vor seiner Flucht bedroht worden (AS 410). Für den BF stehe auch keine innerstaatliche fluchtalternative zur Verfügung (AS 415 ff).

Der BF hätte entgegen der Ansicht des BFA, sein Vorbringen sehr detailliert und lebensnah gestaltet und hätte über die drohende Verfolgung und über die Erlebnisse in Somalia frei gesprochen. Die somalische Polizei könne den BF ob der prekären Sicherheitslage nicht gegen eine Verfolgung Seitens der al Shabaab schützen. Al Shabaab sei im gesamten Gebiet Somalias gut vernetzt und hätte die Macht Personen zu finden, zu verfolgen und zu töten. Die somalischen Behörden hätten keinesfalls die Macht oder die Ressourcen, um einzelne Personen vor einer Verfolgung durch al Shabaab zu schützen. Auch durch das System des Clanschutzes hätte der BF keinen Schutz vor al Shabaab erhalten können. Nicht nur in dem Gebiet, in dem sie die Kontrolle ausüben würden, sondern auch im Gebiet der somalischen Regierung hätte al Shabaab jedenfalls genug Macht, um Personen aufzuspüren, sie zu verfolgen und sie zu töten. Der BF wäre dort keinesfalls sicher vor Verfolgung durch al Shabaab. Der BF werde aufgrund der Widersetzung gegen die Zwangsrekrutierung und seiner Verweigerung sich al Shabaab anzuschließen, von al Shabaab als politischer Gegner gesehen und werde deshalb verfolgt (AS 420 f).

Die Aussage im Bescheid auf S. 191:

„Ein Werben um neue Mitarbeiter wie auf einer Berufsinformationsmesse“,

sei wohl kaum eine passende Bezeichnung, für die vom BF erlebte (versuchte) Rekrutierung und sei dies eher eine unnötig geringschätzige sowie respektlose Beschreibung der Vorfälle. Es entspreche das vom BF geschilderte Vorgehen der al Shabaab den Angaben in den Länderberichten und es sei lebensnah sowie glaubwürdig (AS 424).

Der Anknüpfungspunkt an die Gründe der GFK sei darin zu sehen, dass der BF von der al Shabaab als politischer Gegner und Ungläubiger gesehen werde, weil er sich der Zwangsrekrutierung sowie den Anweisungen von al Shabaab widersetzt hätte. Die al Shabaab verfolge politische Gegner sowie Ungläubige aufs härteste sogar bis hin zum Tod. Darum drohe dem BF eine asylrelevante Verfolgung aus den Gründen der politischen Gesinnung sowie der Religion. Den Ausführungen, dass es sich bei den Verfolgern der beschwerdeführenden Partei um keinen staatlichen oder quasistaatlichen Akteur handle, sei entgegenzuhalten, dass eine Verfolgung durch einen privaten Akteur, vor dem der Staat nicht schützen könne oder auch nicht schützen wolle, jedenfalls asylrelevant sei (AS 424).

Der BF hätte sich Anordnungen und dem Willen von al Shabaab widersetzt und somit eine der al Shabaab gegenüber gegnerische politische Gesinnung gezeigt und werde für einen politischen Gegner und für regierungstreu gehalten. Personen, welchen eine gegnerische politische bzw. regierungstreue Gesinnung durch die al Shabaab unterstellt werde, drohe Verfolgung und Mord durch die al Shabaab. Es sei somit im Falle einer Rückkehr des BF nach Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihm aufgrund seiner zumindest unterstellten politischen Überzeugung asylrelevante Verfolgung drohe (AS 426).

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beziehung einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Somali durch, an welcher der BF sowie seine Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA verzichtete vorab mit Schreiben vom XXXX auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und begründete dies mit dienstlichen und personellen Gründen. Ein Vertreter der belangten Behörde ist folglich entschuldigt nicht erschienen.

Der BF wurde ausführlich zu seiner Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde ihm Gelegenheit gegeben, seine Fluchtgründe umfassend darzulegen sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten Länderberichten Stellung zu nehmen.

8.1. Hierbei schilderte der BF gesund zu sein.

8.2. Der BF heiße XXXX und sei ein am XXXX in XXXX geborener somalischer Staatsangehöriger. Weiters gab er an, dass die Protokollierung bei Erstbefragung hinsichtlich seines Geburtsortes nicht seinen damaligen Angaben entsprochen hätte.

Zu den im Protokoll der Erstbefragung angeführten Aliasnamen XXXX (AS 39) schilderte der BF:

„Das war ein Ausweis, welchen ich vom Schlepper bekommen habe, damit ich weiter reisen kann aus XXXX . Auf dem stand XXXX .“

Der Ausweis sei ein Personalausweis sowie eine XXXX gewesen und ihm „von den Polizisten in XXXX abgenommen“ worden.

8.3. Der BF habe bis XXXX in XXXX gelebt und habe dann von XXXX , wo er einen Monat verbracht hätte, den Herkunftsstaat verlassen.

Bei seiner Ausreise sei von XXXX „in der Hand der Regierung, der andere Teil in der Hand der al Shabaab gewesen“.

8.4. Der BF sei ledig und habe keine Kinder.

Der Vater des BF namens XXXX sei verstorben.

Seine Mutter namens XXXX sei nach dem Tod seines Vaters alleinerziehend gewesen. Sie sei am XXXX an einer Herzerkrankung verstorben. Der BF sei von ihrem Tod von seinen Schwestern informiert worden.

Der BF habe XXXX Geschwister namens XXXX und XXXX namens XXXX . Die Geschwister seien „untereinander mit kurzem Abstand geboren worden“.

Vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat sei die Mutter des BF unverheiratet gewesen und der BF hätte mit ihr und den leiblichen Geschwistern im gemeinsamen Haushalt gelebt.

Der Vater des BF sei verstorben, nachdem seine leiblichen Geschwister geboren worden wären. Nach dem Tod der Mutter würden seine leiblichen Schwestern von einer Tante mütterlicherseits betreut werden und mit dieser im gemeinsamen Haushalt leben. Seither habe er auch seltener Kontakt zu seinen Geschwistern, jedoch Kontakt zu dieser Tante. Die Halbgeschwister würden beim zweiten Ehemann seiner verstorbenen Mutter leben.

Der BF habe eine Tante und einen Onkel väterlicherseits, welche vermutlich in XXXX leben würden, und zwei Onkel und eine Tante mütterlicherseits, welche in XXXX aufhältig seien. Der BF schilderte weiters, dass es nicht in seinem Interesse liege, den Kontakt zu seinen weiteren Familienangehörigen im Herkunftsstaat zu pflegen.

Ein weitschichtiger Verwandter mütterlicherseits lebe in Europa, der BF habe jedoch keine weiteren Informationen seinen Aufenthalt betreffend.

8.5. Der BF sei ein Clanangehöriger der XXXX . Aufgrund seiner Clanzugehörigkeit habe er keine Probleme im Herkunftsstaat.

8.6. Er habe im Herkunftsstaat keine Schulbildung genossen, sondern erst in XXXX eine Schule besucht, wo er Englisch und Griechisch sowie Lesen und Schreiben gelernt hätte.

Im Herkunftsstaat habe er gelernt, XXXX und sei beruflich als XXXX tätig gewesen. Hierbei habe er XXXX verdient, was für eine bis zwei Mahlzeiten für die gesamte Kernfamilie gereicht hätte. Die Familie habe weiters einige Ziegen gehabt, um welche er sich gekümmert hätte.

Auch habe er seiner Mutter bei der Betreuung seiner Geschwister geholfen.

8.7. Den Entschluss zu Ausreise habe er im Jahre XXXX im Alter von XXXX gefasst.

Er sei zunächst mittels Minibus nach XXXX gereist, wo er einen Monat in einem „Schlepperhaus“ verbracht hätte, welches er nie verlassen habe. Seine Mutter habe den Kontakt zu diesem Schlepper hergestellt, welcher auch das Flugticket in XXXX besorgt hätte und mit ihm in XXXX mitgeflogen wäre. Der Schlepper habe weiters den Reisepass des BF behalten.

Seine Mutter hätte die Ausreisekosten in Höhe von XXXX finanziert.

Der BF habe sich XXXX Monate lang in XXXX und XXXX Jahre lang in XXXX aufgehalten, wo er einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hätte. Ebendort habe er auch in einem XXXX gearbeitet und sich mit seinem Verdienst seine Weiterreise bis nach Österreich finanziert.

Er habe eigentlich nach XXXX weiterreisen wollen, sei jedoch von der deutschen Grenze wieder abgeschoben worden.

8.8. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen schilderte der BF, dass er von der al Shabaab verfolgt werden würde.

Zu seinem Fluchtvorbringen näher befragt, schilderte der BF folgendes:

„R: Von wem konkret geht eine Gefahr gegen Sie aus? BF: Al Shabaab.

R: Wer von der Al Shabaab? BF: Er kam zu mir. Ich habe für ihn zuerst die XXXX .

R: Wer ist „er“? BF: Ich kenne seinen Namen nicht. Es war ein Mann der gerade die Moschee verlassen wollte. Ich habe ihn zuerst gefragt, ob er von mir seine XXXX will. Ich habe meine Dienste angeboten und er hat es angenommen. Am nächsten Tag kam er wieder zu mir.

R: Wo lebt dieser Mann jetzt? BF: Sie alle leben noch in XXXX .

R: Wer ist „sie alle“? BF: Al Shabaab.

R: Wurden Sie in XXXX von der Al Shabaab kontaktiert? BF: Ich hatte nichts mit. Wie hätten sie mich kontaktieren sollen. Ich war die ganze Zeit zuhause.

D gibt an, dass mit „nichts mit“ das Handy gemeint ist.

R: Weshalb sind Sie dann nicht in XXXX verblieben, dort waren Sie ja dann in Sicherheit. BF: Ich konnte dort nicht weiter bleiben. Ich bin nie hinausgegangen in dieser Zeit. Ich war die ganze Zeit alleine in einem Zimmer. Alleine deshalb ist mir nichts passiert.

R: Haben Sie sich an die somalische Polizei gewandt? BF: Nein, ich habe nur meiner Mutter davon erzählt. Sie hat dann die Ausreise für mich beschlossen.

R: Warum haben Sie sich nicht an die somalischen Behörden gewandt? BF: Ich war noch so jung. Ich hatte selbst Angst und habe es mit meiner Mutter besprochen. Sie hat Angst um mich bekommen und entschieden mich wegzuschicken.

R: Weshalb hätte die Al Shabaab ein so großes Interesse an Ihnen? BF: Sie wollten, dass ich Aufgaben für sie erledigen. Bomben transportieren usw. und meine Mutter hatte Angst um mich.

R: Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht Angst vor der Verfolgung von einer bestimmten Person in Somalia haben, sondern von Al Shabaab im Allgemeinen? BF: Ja, das stimmt. Wenn ich zurückkehre, ist es vorbei für mich.

R: Warum würde Sie die Al Shabaab auf dem ganzen Staatsgebiet Somalias verfolgen? BF: Ich habe ihrer Aufforderungen abgelehnt und Mutter hat mich weggeschickt.“

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte eine Strafregisterabfrage durch. Es scheint keine Verurteilung auf.

II. Für das Bundesverwaltungsgericht ergibt sich daraus wie folgt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

Der volljährige BF ist somalischer Staatsangehöriger sunnitisch-muslimischen Glaubens.

Er ist ein Clanangehöriger der XXXX .

Der BF stammt aus der Stadt XXXX in der Region XXXX und hat ebendort als XXXX gearbeitet.

Der BF pflegt zu seiner Tante im Herkunftstaat regelmäßigen und zu seinen Geschwistern gelegentlichen Kontakt.

Er ist ledig und kinderlos.

Der BF ist gesund.

Dem Strafregister der Republik Österreich sind keine Verurteilungen des BF im Bundesgebiet zu entnehmen.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des BF:

Der BF ist keiner konkreten, asylrelevanten Verfolgung bzw. Bedrohung im Herkunftsstaat Somalia ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen, entscheidungsrelevanten Situation in Somalia:

Aus dem ins Verfahren eingeführten, aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia (in der Folge: LIB), ergibt sich -unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien sowie der Leitlinien der EUAA zu Somalia- entscheidungsrelevant Folgendes:

1.3.1. Politische Lage

Somalia ist nach allen internationalen Maßstäben eines der fragilsten Länder der Welt (Obsiye/AFRA 31.8.2023 - Liban Obsiye (Autor), African Arguments (Herausgeber) (31.8.2023): Understanding the local context is key to addressing fragility in Somalia) und wird mitunter als der am meisten gescheiterte Staat der Welt beschrieben. Das Land verfügt seit dem Zusammenbruch des Regimes von Mohamed Siyad Barre im Jahr 1991 über keine einheitliche Regierung (Rollins/HIR 27.3.2023 - Kay Rollins (Autor), Harvard International Review (Herausgeber) (27.3.2023): No Justice, No Peace: Al-Shabaab's Court System). Al Shabaab kontrolliert fast 70 % von Süd-/Zentralsomalia (Rollins/HIR 27.3.2023) und gilt als Proto-Staat (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022 - Sif Heide-Ottosen (Autor), James Khalil (Autor), Yahye Abdi (Autor), Abdullahi Ahmed Nor (Autor), Martine Zeuthen (Autor), The Resolve Network (Herausgeber) (2022): Journeys through Extremism: The Experiences of Former Members of Al-Shabaab) bzw. als de-facto-Regime (AA 23.8.2024).

Nach anderen Angaben ist Somalia zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat (AA 23.8.2024; vgl. Obsiye/AFRA 31.8.2023). Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, es gibt keine flächendeckende, effektive Staatsgewalt (AA 23.8.2024). Denn obwohl das Land nominell von Präsident Hassan Sheikh Mohamud regiert wird, steht ein Großteil des Landes nicht unter staatlicher Kontrolle (Rollins/HIR 27.3.2023). Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, ihren Pflichten aus dem Gesellschaftsvertrag (nach westlicher Konzeption des Nationalstaates) in und um Mogadischu auch nur teilweise nachzukommen, geschweige denn ein landesweites Gewaltmonopol zu errichten (Sahan/SWT 5.6.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (5.6.2023): The nation state in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 549). Sie tut sich schwer dabei, Kontrolle über das beanspruchte Gebiet oder auch über Mogadischu auszuüben (BS 2024; vgl. HO/Ainashe 9.6.2024 - Hiiraan Online (Herausgeber), Mukhtar Ainashe (Autor) (9.6.2024): Is the Somali federal government losing legitimacy and political relevance?). Da sie nur wenige Gebiete kontrolliert (BS 2024) und sie es nicht schafft, sich außerhalb von Mogadischu durchzusetzen (ÖB Nairobi 10.2024 - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia), verfügt die Bundesregierung kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 2024b - Freedom House (2024b): Freedom in the World 2024 - Somalia).

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 23.8.2024 - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2024 - Bertelsmann Stiftung (2024): BTI 2024 Country Report - Somalia).

Die Bundesregierung bietet ihren Bürgern derzeit nur wenige wesentliche Dienstleistungen an. Die ständige Instabilität bleibt ein prägendes Merkmal des Lebens. Viele Menschen verlassen sich hinsichtlich grundlegender Dienstleistungen und Schutz weiterhin auf bestehende traditionelle, informelle Institutionen (Sahan/SWT 5.6.2023). Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist gering (BS 2024).

1.3.2. Al Shabaab

Al Shabaab ist mit al-Qaida affiliiert (REU 21.11.2023 - Reuters (21.11.2023): Somalia has year to eliminate al Shabaab militants - president; vgl. CRS 6.5.2024b - Congressional Research Service [USA] (6.5.2024b): Al Qaeda: Background, Current Status, and U.S. Policy; THLSC 20.3.2023) und wird als die größte und reichste zu al Qaida zugehörige Gruppe bezeichnet (CRS 6.5.2024b; vgl. Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023 - Tricia Bacon (Autor), Maria Guiditta (Autor), Sahan (Herausgeber) (7.8.2023): Estimating Al-Shabaab’s Size, in: The Somali Wire Issue No. 575). Die Gruppe weist eine stärkere innere Kohärenz auf als die Bundesregierung und einige der Bundesstaaten. Al Shabaab nutzt erfolgreich lokale Missstände, um taktische Allianzen zu schmieden und Kämpfer zu rekrutieren (Sahan/SWT 27.3.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (27.3.2023): Al-Shabaab’s Uncertain Future: The Mafia Scenario, in: The Somali Wire Issue No. 523). Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an (UNSC 10.10.2022). Al Shabaab agiert offen anti-demokratisch und erachtet Demokratie als unislamisch bzw. als jüdisch-christliches Konzept (BS 2024; vgl. Sahan/SWT 9.6.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (9.6.2023): 2024 one-person one-vote elections in Somalia: A pipe dream? in: The Somali Wire Issue No. 551; MBZ 6.2023). Dies gilt entsprechend auch für die Verfassung und den Föderalismus (Sahan/Bryden 5.7.2024 - Matt Bryden (Autor), Sahan (Herausgeber) (5.7.2024): The Road to Kabul: Villa Somalia and Negotiations with Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 701). Ihr Ziel ist eine Herrschaft unter Anwendung ihrer strikten Interpretation der Scharia (REU 21.11.2023) im Rahmen der Errichtung eines Kalifats in den Grenzen von Großsomalia (Somaliweyne). Dies macht die Gruppe zur Bedrohung der staatlichen Integrität nicht nur von Somalia, sondern auch für Dschibuti, Äthiopien und Kenia. Al Shabaab wendet eine Strategie des asymmetrischen Guerillakriegs an, die bisher sehr schwer zu bekämpfen war. Zudem bietet die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Sicherheit und eine grundlegende Regierungsführung (Sahan/SWT 27.3.2023). Andererseits werden jene, die sich nicht ihrer puristischen Interpretation des Islam anschließen, als Ketzer gebrandmarkt (BS 2024).

Gleichzeitig ist al Shabaab eine mafiöse Organisation (GITOC/Bahadur 8.12.2022 - Jay Bahadur (Autor), Global Initiative Against Transnational Organized Crime (Herausgeber) (8.12.2022): Terror and Taxes. Inside al-Shabaab’s revenue-collection machine; vgl. Sahan/SWT 25.8.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (25.8.2023): Confronting Al-Shabaab’s Patronage System, in: The Somali Wire Issue No. 583), die Schutzgelder im Austausch für Sicherheits-, Sozial- und Finanzdienstleistungen verlangt. Ihre konsequente Botschaft ist, dass die Alternative - die Bundesregierung - eigennützig und unzuverlässig ist (Sahan/SWT 25.8.2023). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Großsomalias (BMLV 7.8.2024) und die Durchsetzung ihrer eigenen extremen Interpretation des Islams und der Scharia (USDOS 15.5.2023) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 6.12.2022b - Council on Foreign Relations (6.12.2022b): Backgrounder: Al-Shabaab).

Al Shabaab ist in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert (GITOC/Bahadur 8.12.2022) und ist gleichzeitig vermutlich die reichste Rebellenbewegung in Afrika (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 finanziert al Shabaab die al Qaida - und nicht umgekehrt (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Ausländische Kämpfer haben nur noch einen begrenzten Einfluss in der Gruppe (Researcher/STDOK/SEM 4.2023 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Researcher (Autor) (4.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023; vgl. BMLV 7.8.2024); und die Beziehungen zur al Qaida haben sich nachhaltig geändert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). [Anm.: Die gewaltlose, aber ebenfalls politisch-islamistische Gruppe] Al I'tisaam gilt als ideologischer Bruder von al Shabaab (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).

Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah (BBC 15.6.2023). Führung und Kontrolle sind relativ dezentral, wobei die lokalen Einheiten auf operativer Ebene eine relative Autonomie behalten. Jede Region (Waliga) hat einen ernannten Gouverneur (Wali), der den gesamten öffentlichen Dienst und die Finanzverwaltung in den von der Organisation kontrollierten Gebieten überwacht (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022) und teils auch eine wesentliche militärische Rolle spielt (BMLV 7.8.2024). Bei der Unterteilung in Waligas folgt al Shabaab dem System, das Somalia für seine Regionen anwendet. Für jene Waligas, die unter Kontrolle der Regierung stehen, unterhält die Gruppe Schattenregierungen (AQ21 11.2023). Jeder Standort verfügt über eine Hisba (Polizei). Diese ist für die Durchsetzung des strengen islamischen Kodex der Gruppe und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung verantwortlich (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022), laut einer Quelle auch für die Durchsetzung von Steuerzahlungen. Jede Waliga verfügt über eigene Milizen von 500-600 Mann (AQ21 11.2023). Der militärische Flügel der al Shabaab (Jabhat) besteht aus geografisch gegliederten Formationen („Brigaden“), die lokalen politischen Einheiten angeschlossen sind. Die Hauptaufgabe der Jabhat besteht darin, Gebiete zu erobern und zu verteidigen. Jede Einheit, die typischerweise aus dreihundert Soldaten besteht, hat ihre eigenen Kommandeure und Stützpunkte. Der Geheimdienst (Amniyat) ist für Spezialoperationen verantwortlich, darunter Selbstmordattentate, Attentate und Angriffe auf die Zentren der Regierungsmacht. Der Amniyat hat auch die Aufgabe, Informationen zu sammeln und Kollaborateure zu identifizieren (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Auch die Hisba wird vom Amniyat überwacht (AQ21 11.2023). Zudem ist al Shabaab auf die Dienste vieler Mitglieder in unterstützenden Rollen angewiesen, darunter Fahrer, Lehrer und Köche (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022).

Das Gebiet von al Shabaab wird als "Proto-Staat" bewertet (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Die Gruppe ist imstande, für die auf ihrem Gebiet lebende Bevölkerung staatsähnliche Funktionen zu erbringen - ähnlich, wie es die Hamas im Gazastreifen getan hatte. Dabei ist al Shabaab offenbar besser organisiert als die eigentlichen staatlichen Strukturen (ÖB Nairobi 10.2024). Die Gruppe hat in den von ihr kontrollierten Gebieten eine äußerst autoritäre und repressive Herrschaftsform in Zusammenhang mit einer auf der Scharia basierenden Verwaltung eingerichtet - ohne Gewaltenteilung. Sie hat eigene Gerichte geschaffen, die ihre salafistische Interpretation der Scharia durchsetzen. Viele Menschen bevorzugen diese Gerichte, da sie leicht zugänglich und mit geringen Kosten verbunden werden und gleichzeitig schnell und nach klaren Regeln erfassbare Urteile fällen. Bei der Durchsetzung ihrer Kontrolle setzt al Shabaab mitunter auf Gewalt und Einschüchterung. Drohungen und harte Strafen haben in den von ihr kontrollierten Gebieten ein allgemeines Klima der Angst geschaffen. Ziel der islamistischen Miliz ist die Kontrolle aller Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens (BS 2024). Nach anderen Angaben kontrolliert al Shabaab gegenwärtig das Sozialverhalten der Bevölkerung weniger stark als früher (AQ21 11.2023).

Al Shabaab übt über das von ihr direkt regierte Gebiet Macht (BS 2024) und alle Grundfunktionen einer normalen Regierung aus: Sie hebt Steuern ein, bietet Sicherheit bzw. sorgt für Recht und Ordnung und stellt (begrenzte) soziale Dienste bereit (Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023 - Overseas Development Institute (Herausgeber), Ashley Jackson (Autor), Mohamed Mubarak (Autor) (8.2023): Playing the long game: Exploring the relationship between Al-Shabab and civilians in areas beyond state control; TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b - James Khalil (Autor), Yahye Abdi (Autor), Andrew Glazzard (Autor), Abdullahi Ahmed Nor (Autor), Martine Zeuthen (Autor), The Resolve Network (Herausgeber) (12.2023b): Reaching behind Frontlines: Promoting Exit form al-Shabaab through Communications Campaigns; TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Al Shabaab ist es dort gelungen, ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (Schwartz/HO 12.9.2021 - Stephen Schwartz (Autor), Hiiraan Online (Herausgeber) (12.9.2021): Somalia’s Leaders Need to Seize Immediately the Lessons of Afghanistan). Die Gruppe investiert daher in lokale Regierungssysteme. Al Shabaab setzt Zwang und Überredung ein, um Treue zu erzwingen. Im Gegenzug bietet die Gruppe ihre eigene Art von "Recht und Ordnung" sowie bescheidene, grundlegende Dienstleistungen (Sahan/SWT 30.6.2023). Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v. a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität. Mit der Hisba verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Offensichtlich führt al Shabaab auch eine Art Volkszählung durch. Auf den diesbezüglich bekannten Formularen müssen u. a. Clan und Subclan, Zahl an Kindern in und außerhalb Somalias, Quelle des Haushaltseinkommens und der Empfang von Remissen angegeben werden (UNSC 10.10.2022). Völkerrechtlich kommen al Shabaab gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen als de-facto-Regime in den von ihr kontrollierten Gebieten Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung zu (AA 23.8.2024).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 7.8.2024; vgl. JF 18.6.2021 - Jamestown Foundation, The (18.6.2021): Somaliland Elections Disrupt al-Shabaab's Regional Expansion; Terrorism Monitor Volume: 19 Issue: 12). Die Herrschaft der Gruppe sorgt normalerweise für Frieden zwischen den Clans (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Die Unterdrückung von Clankonflikten ist ein Bereich, in welchem die Gruppe Erfolge erzielen konnte. Z. B. wurde ein Waffenstillstand zwischen Clans in den Bezirken Adan Yabaal und Moqokori (HirShabelle) durchgesetzt; und in Galmudug hat al Shabaab Älteste bestraft, deren Clanmitglieder sich an Clankriegen beteiligt haben (SW 3.2023 - Saferworld (3.2023): Defining the endgame. Civil society voices on how to build a just, stable Somalia). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Die Gruppe unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 7.8.2024).

Hinsichtlich Korruption ist al Shabaab sehr aufmerksam (AQ21 11.2023). Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit sowie eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden/TEL 8.11.2021 - The Elephant (Herausgeber), Matt Bryden (Autor) (8.11.2021): Fake Fight: The Quiet Jihadist Takeover of Somalia). Al Shabaab hat etwa als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie Gesundheitszentren eingerichtet und führt sogar Schulen und Programme, um Mitglieder zur Ausbildung an Universitäten im Ausland zu schicken (Rollins/HIR 27.3.2023).

Bis ca. 2014 schloss al Shabaab Clanälteste aus ihren Regierungsstrukturen aus. Danach erkannte die Gruppe, dass eine gewisse Legitimierung der Ältesten die Legitimität von al Shabaab selbst in den Augen der Zivilbevölkerung stärken würde. 2016 gründete die Gruppe einen Ältestenrat (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Die Gruppe nutzt die Ältesten, um die eigene Macht zu konsolidieren (MBZ 6.2023). Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 22.4.2024 - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia). Sie erkennt Clans als grundlegende „Bausteine der Macht“ an. Zudem vermittelt die Gruppe - wie weiter oben schon erwähnt - auch zwischen rivalisierenden Clans (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a - James Khalil (Autor), Yahye Abdi (Autor), Andrew Glazzard (Autor), Abdullahi Ahmed Nor (Autor), Martine Zeuthen (Autor), The Resolve Network (Herausgeber) (12.2023a): The "Off-Ramp" from al-Shabaab: Disengagement during the Offensive in Somalia). Dabei hängt der Einfluss der Zivilbevölkerung auf al Shabaab von mehreren Faktoren ab. Dazu gehören die Einigkeit der Clans innerhalb eines bestimmten Gebiets, historische Beziehungen zwischen Gemeinden und al Shabaab sowie der strategische Wert, den die Gruppe einer bestimmten Gemeinde beimisst (z. B. ihre militärische oder politische Bedeutung) (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen (AQ21 11.2023; vgl. HI 4.2023; SPC 9.2.2022 - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022) und hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan/SWT 24.10.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (24.10.2022): Power, access, and social capital in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 467). V. a. diejenigen Clans, denen es an militärischer Macht fehlt, wenden sich eher an al Shabaab, wenn sie Schutz oder Unterstützung suchen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). So hat sich die Gruppe z. B. in Hiiraan früh mit einer Gruppe marginalisierter Clans verbündet – namentlich mit den Galja’el, Jajale, Sheikhal und Jareer – und zwar gegen die politisch durchaus, aber numerisch nicht dominanten Hawadle. Der Experte S. J. Hansen berichtet aus Galmudug, dass Kämpfe dort regelrechte Clankämpfe waren, zwischen den Murusade auf Seite der al Shabaab und ihren traditionellen Feinden, den Hawadle, auf Regierungsseite. Es müssen also von Ort zu Ort viele unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden, etwa Streit um Land und Ressourcen, politische und militärische Aspekte der Clans im Gebiet usw. (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Doch auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Gemäß den Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 hat sich al Shabaab etwa gezielt an Minderheiten gewendet, die nicht von der Regierung repräsentiert werden. Die Gruppe hat sich so im Süden die Loyalität jeder einzelnen Minderheit erkauft (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Zudem kann al Shabaab auch im Sinne des Schutzes von Minderheiten agieren, die oftmals über keine eigenen Milizen verfügen. Auch dies führt dazu, dass manche Minderheiten al Shabaab unterstützen (MBZ 6.2023). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019a - International Crisis Group (27.6.2019a): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, S. 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019 - Development Initiatives (6.2019): Towards an improved understanding of vulnerability and resilience in Somalia, S. 11; vgl. ÖB Nairobi 10.2024), wobei die Unterstützung mit dem Machtverlust von al Shabaab wieder abnimmt (ÖB Nairobi 10.2024) bzw. sich die anfangs gegebene Zustimmung zu al Shabaab z. B. bei vielen Bantu in Misstrauen gewandelt hat (Sahan/Menkhaus 23.8.2023 - Sahan (Herausgeber), Ken Menkhaus (Autor) (23.8.2023): Political Unrest and the Somali Jareer Weyne, in: The Somali Wire Issue No. 582).

Generell steht bei Entscheidungen immer die Sicherheit des eigenen Clans als höchstes Ziel im Vordergrund. Manche Clans schließen sich freiwillig al Shabaab an; mit anderen Clans hat al Shabaab Abkommen geschlossen (AQ21 11.2023). Eine Quelle erklärt, dass al Shabaab oft 'eigene' Älteste installiert, welche die Gruppe repräsentieren. Diese werden zu Bindegliedern zwischen den einzelnen Gemeinschaften und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan/SWT 26.10.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (26.10.2022): The deaths of clan elders in the struggle against Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 468). Auch eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass al Shabaab in den meisten Teilen Süd-/Zentralsomalias über 'eigene' Älteste verfügt. Es werden parallele Clanführungsstrukturen unterhalten - und zwar in allen Gebieten, in denen al Shabaab aktiv ist. Manchmal sind dann die eigentlichen Ältesten zur Flucht gezwungen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass dies eher nur in jenen Teilen des Landes der Fall ist, wo al Shabaab keine direkte Kontrolle ausüben kann (BMLV 7.8.2024). Die von al Shabaab eingesetzten Ältesten dienen der Konfliktlösung und polizeilicher Arbeit sowie dem Standeswesen (Eheschließungen, Scheidungen). Sie können vor den Gerichten der al Shabaab auch eigene Clanmitglieder vertreten. Und wenn ein Clanmitglied ein Problem mit al Shabaab hat, dann wendet es sich an den entsprechenden Ältesten, der sich wiederum an al Shabaab wendet (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Älteste dienen al Shabaab zur Verwaltung, Koordination, Rekrutierung, Besteuerung und Propaganda (AQ21 11.2023; vgl. Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023; MBZ 6.2023).

Wenn sich Clans mit der Regierung arrangiert haben, und das Gebiet später wieder an al Shabaab zurückfällt, droht den Gemeinden eine Bestrafung durch die Gruppe - etwa in der Form von Exekutionen Ältester (Sahan/SWT 13.9.2023). Unter militärischem Druck neigt al Shabaab hingegen eher dazu, versöhnlicher zu agieren, Friedensabkommen mit Clans zu schließen und die brutaleren Aspekte ihrer Regierungsführung zu lockern. Abkommen mit Clans gehen i.d.R. Verhandlungen zwischen Clanältesten und hochrangigen Funktionären der al Shabaab voraus. Diese münden mitunter in einer formellen schriftlichen Vereinbarung, in welcher sich beide Seiten zu bestimmten Maßnahmen verpflichten. Im Falle der Saleban gestaltete sich dies z. B. so: Al Shabaab verpflichtete sich, 67 Gefangene der Saleban zu entlassen, auf ihren Gebieten keine Waffen zu tragen und Bewegungs- und Handelsfreiheit zu gewährleisten. Im Gegenzug bekannten sich die Saleban u. a. zur Neutralität und Nichteinmischung (u. a. „Fernhalten von feindlichen Lagern“, keine Zusammenarbeit mit dem Feind), zur Umsetzung der Scharia, zur Landesverteidigung und zum Umweltschutz sowie zur guten Nachbarschaft mit anderen Clans (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021). Die Präsenz von al Shabaab bietet besorgten Gemeinden eine Form der Schirmherrschaft und des Schutzes, welche die somalische Regierung nur sporadisch gewähren kann. Die Gruppe verspricht Vorteile und faire Behandlung für diejenigen, die ihren Geboten folgen. Allen anderen droht sie mit Vergeltung (Sahan/SWT 25.8.2023). Nach anderen Angaben ist das Verhältnis zwischen Zivilisten und al Shabaab nicht nur eines von Gewalt und Opfern. Al Shabaab versucht in ihrer Indoktrination die Bundesregierung als Vergewaltiger, Räuber und Erpresser darzustellen. In Gebieten unter Kontrolle der Gruppe haben die Menschen kaum Zugang zu Informationen, die diesem Narrativ widersprechen. Wenn Zivilisten auf dem Gebiet der Gruppe Probleme haben, wenden sie sich i.d.R. durchaus an al Shabaab, um Hilfe zu erhalten. Zudem unterstützt die Gruppe fallweise lokale Gemeinden und gibt so einen Teil des eingenommenen Zakat wieder zurück. Die zu al Shabaab gehörende Stiftung al Ihsan verteilt Hilfe gezielt, um die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Unterstützt werden etwa jene, die von al Shabaab als „unterprivilegiert“ erachtet werden (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Der US-Kongress berichtet von einer Zahl von 7.000-10.000 Kämpfern (CRS 6.5.2024b), Voice of America von 12.000-13.000 (VOA/Babb 18.6.2024), eine weitere Quelle von mindestens 12.000 "Vollzeitkämpfern" (BMLV 7.8.2024). Schließlich nennt eine Quelle eine Zahl von 7.000 "Vollzeitkämpfern". Insgesamt sind die Zahlen also sehr unterschiedlich. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass al Shabaab über zahlreiche "Teilzeitkräfte" und "Freiberufler" verfügt, die nur bei Bedarf zum Einsatz kommen. Ein Experte schätzt die Gesamtzahl allen verfügbaren Personals auf 25.000-30.000 (AQ21 11.2023).

Al Shabaab hat im Rahmen der Offensive in Zentralsomalia seit August 2022 erhebliche Verluste erlitten (BMLV 4.7.2024). Zur Kompensation hat die Gruppe neue Kräfte rekrutiert und die erlittenen Verluste mehr als ausgeglichen. Der sogenannte "Hafendeal" zwischen Somaliland und Äthiopien hat al Shabaab zahlreiche Freiwillige zugetrieben (BMLV 7.8.2024).

Generell hat al Shabaab die somalische Gesellschaft dermaßen tief infiltriert, dass es schwierig oder sogar unmöglich ist, zu erkennen, wer Mitglied der Gruppe ist. Hinzugezählt werden die Kämpfer der Jabhat, die Agenten des Amniyat und die Polizisten der Hisba; alle Schätzungen zur Größe von al Shabaab scheinen sich auf dieses Personal zu konzentrieren. Doch die Gruppe verfügt auch über einen beträchtlichen Kader, der nicht direkt an der Gewalt beteiligt ist, aber für die Reichweite der Organisation in Somalia gleichermaßen wichtig ist. Es handelt sich um eine komplexe Organisation, die eine Mischung aus Terroristengruppe, Rebellenorganisation, Mafia und Schattenregierung ist. Und es gibt Personal für all diese Funktionen. Al Shabaab beschäftigt u. a. Verwaltungsbeamte, Richter und Steuereintreiber. Der Amniyat verfügt neben Agenten über Doppelagenten, Quellen und Informanten, die in die Institutionen, die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft Somalias eingedrungen sind. Einige arbeiten heimlich, in Teilzeit oder auf ad-hoc-Basis mit der Gruppe zusammen. Sie bewegen Nachschub, überbringen Nachrichten und berichten über alles - von der Zusammenarbeit mit der Regierung bis hin zur Wirtschaftstätigkeit. Es ist unmöglich, sie zu zählen (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).

Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die Bundesarmee und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 7.8.2024), er bildet ihre wichtigste Stütze (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021; vgl. INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin den größeren Teil Süd-/Zentralsomalias (BMLV 7.8.2024; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023) und verfügt über ein starkes Hinterland (AQ21 11.2023). Die Gruppe bleibt auf dem Land in herausragender Position bzw. hat sie dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie in vielen Fällen regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete und Städte verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität auf Gebiete unter Kontrolle staatlicher Kräfte Einfluss und Macht aus (BMLV 7.8.2024).

Die Hochburgen von al Shabaab finden sich in den Bundesstaaten Jubaland, SWS, HirShabelle und Galmudug (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b). Die Gruppe kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und - in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 28.6.2024; vgl. BMLV 7.8.2024).

Gemeinschaften, die unter der Kontrolle von al Shabaab stehen, werden häufig vom Rest Somalias und von der internationalen Unterstützung abgekoppelt. Die Kontrollpunkte und Blockaden der militanten Gruppe schränken den Personen- und Warenverkehr ein (Sahan/SWT 15.9.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (15.9.2023): Stabilisation: More than Security, in: The Somali Wire Issue No. 592). In Gebieten, die an von der Regierung kontrollierte und von al Shabaab unter Blockade gestellte Städte grenzen, hat die Gruppe strenge Regeln hinsichtlich ökonomischer und beruflicher Tätigkeiten eingeführt. Al Shabaab setzt diese mit Drohungen und Gewalt durch und bestraft jene, die diese Regeln brechen (UNSC 10.10.2022).

Prinzipiell hat al Shabaab wiederholt gezeigt, dass sie gegenüber Druck anpassungsfähig und in der Lage ist, sich zurückzuziehen und neu zu formieren, bevor sie zurückschlägt (Sahan/SWT 4.8.2023). Al Shabaab ist weiterhin in der Lage, komplexe Angriffe z. B. in und um Mogadischu durchzuführen. Die Fähigkeit der Gruppe, Waffen zu beschaffen und Kämpfer neu zu verteilen, bleibt weitgehend intakt (BMLV 7.8.2024; vgl. Sahan/SWT 22.5.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (22.5.2023): Al-Shabaab terrorism in the region, in: The Somali Wire Issue No. 543). Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus (UNSC 10.10.2022). Al Shabaab hat im ganzen Land Institutionen und Organe, aber auch den Privatsektor (z. B. Banken und Telekomunternehmen) unterwandert (Sahan/SWT 12.2.2024 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (12.2.2024): Infiltration and 'defectors' in the General Gordon attack, in: The Somali Wire Issue No. 647; vgl. Williams/ACSS 27.3.2023 - Africa Center for Strategic Studies (Herausgeber), Wendy Williams (Autor) (27.3.2023): Reclaiming Al Shabaab’s Revenue). Dies gilt auch für die NISA (Geheimdienst) und die Polizei. Bis zu 30 % der Polizisten in Mogadischu sind demnach kompromittiert (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. BMLV 7.8.2024).

Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Das Einsatzgebiet der Gruppe ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021). Gemäß einer Quelle verfügt al Shabaab bei Clans über Verbindungsleute (Kilmurry/RUSI 1.4.2022 - Hope Kilmurry (Autor), Royal United Services Institute (Herausgeber) (1.4.2022): Somaliland: Avoiding Past Mistakes: Why Stabilisation in Somalia Needs to Change); laut einer anderen Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert die Gruppe in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (Landinfo 21.5.2019a - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (21.5.2019a): Somalia: Al-Shabaab-områder i Sør-Somalia). Nach anderen Informationen sieht die Strategie von al Shabaab unterschiedliche Taktiken vor. In jenen Gebieten, in welchen die Gruppe über das größte Maß an Einfluss und Präsenz verfügt, gibt es entwickelte Verwaltungsstrukturen. Dadurch, dass al Shabaab dort für Sicherheit und Ordnung sorgt und gleichzeitig Konflikte zwischen rivalisierenden Clans beigelegt hat, erhält die Gruppe die Zustimmung der dort lebenden Bevölkerung. In jenen Gebieten aber, die entweder unter Kontrolle der Regierung stehen oder die umstritten sind, unterwandert al Shabaab bestehende Strukturen und übt mit Zwang Einfluss aus. Der Staat wird dort durch Drohungen und Gewalt untergraben. Die Gruppe kann durch geheimdienstlich eingeholte Informationen Drohungen gezielt einsetzen, Steuern eintreiben und ganz allgemein Einfluss auf das Verhalten von Zivilisten nehmen, ohne dass eine nennenswerte territoriale Präsenz oder Einfluss besteht (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite von al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 7.8.2024). Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. -Verwaltung (GITOC/Bahadur 8.12.2022).

„Kontrolliert“ wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch „exemplarische Gewalt“, etwa durch Körperstrafen; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung. All das erfolgt aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021). Dort wo die Strukturen von al Shabaab vollumfänglich zum Einsatz kommen - wo also die Kontrolle der Gruppe unbestritten ist - dort schafft sie ein strenges, aber stabiles Umfeld, in welchem sie Steuern einzieht, für Sicherheit sorgt und Streitigkeiten zwischen Clans und Einzelpersonen beilegt. Unternehmen, die Steuern zahlen und sich an die Regeln von al Shabaab halten, können mit einem höheren Maß an Vorhersehbarkeit und Stabilität arbeiten, da Gerichte Verträge durchsetzen. In ihrer „Hauptstadt“ Jilib ist aber auch die Überwachung stärker ausgeprägt. So müssen die Bewohner etwa melden, wenn ein Verwandter von Außen zu Besuch kommt (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Dort wo al Shabaab nicht in der Lage ist, ein angemessenes Maß an Gewaltandrohung glaubhaft darstellen zu können, sind die Erpressungsversuche auch weniger erfolgreich. So lehnen etwa Wirtschaftstreibende, die ausschließlich in Baidoa und Kismayo agieren, Zahlungsforderungen mitunter ab (Williams/ACSS 27.3.2023). Andererseits schreckt al Shabaab auch nicht vor Zwang und Gewalt, vor direkten Angriffen oder der Zerstörung lokaler Ressourcen zurück, um ihre Ansprüche durchzusetzen (HI 4.2023; vgl. UNSC 6.10.2021). Zudem hat die Gruppe aus vergangenen Fehlern gelernt und so die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt, die sie 2022 verloren hatte. Einige Übereinkommen mit Clans in Zentralsomalia wurden wiederaufgenommen. Al Shabaab hebt weiter illegale Steuern ein, ohne dabei so weit zu gehen, lokale Clans zu gewalttätigem Widerstand zu provozieren. Die Gruppe ist nun darauf bedacht, die Gemeinschaften, von denen sie abhängig ist, nicht zu sehr auszubeuten (Sahan/SWT 12.6.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (12.6.2023): Is it important to undermine Al-Shabaab’s ideology? in: The Somali Wire Issue No. 552).

Al Shabaab gilt als „wohlhabend“, verfügt über einen finanziellen Polster und damit auch über einen Hebel hinsichtlich Neurekrutierungen (AQ21 11.2023). Die Gruppe nimmt pro Jahr 100 Millionen US-Dollar ein, obwohl die Bundesregierung mit zahlreichen Maßnahmen versucht hat, die Gruppe von Geldflüssen abzuschneiden (GO 12.3.2024 - Garowe Online (12.3.2024): REPORT: Al-Shabaab rakes $100 million annually, supports groups outside Somalia). Gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 lukriert die Gruppe sogar rund 180 Millionen US-Dollar pro Jahr - bei Ausgaben von nur etwa 100 Millionen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle bestätigt diese Angaben (Rollins/HIR 27.3.2023).

Die ganze Wirtschaft ist von al Shabaab abhängig, wenn es z. B. um den Warentransport geht (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Zudem sind die tief wurzelnden Strukturen der Gruppe im Wirtschaftsbereich Mogadischus nur schwer zu beseitigen (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Nicht nur in den Gebieten unter direkter Kontrolle von al Shabaab, sondern auch anderswo fließen Überschüsse aus dem jährlich eingesammelten Zakat und aus „Steuern“ häufig an Unterstützer der Gruppe, die kleine und mittlere Unternehmen betreiben (Sahan/SWT 25.8.2023; vgl. Williams/ACSS 27.3.2023). Al Shabaab schafft sich ein Wirtschaftsimperium, die Gruppe verfügt über entsprechende Kompetenzen. Auch Morde gegen Bezahlung scheinen für al Shabaab zum Geschäftsmodell zu werden. Zudem hat die Gruppe in vielen Sparten investiert, Reichtümer angehäuft (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) und betreibt einige Unternehmen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe agiert - v. a. außerhalb des eigenen Gebietes - wie ein Kartell bzw. wie eine Mafia (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Sahan/STDOK/SEM 4.2023; HIPS 4.2021 - Heritage Institute for Policy Studies (4.2021): Structural Impediments To Reviving Somalia’s Security Forces, S. 5).

1.3.2.1. Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und anderer terroristischer Gruppen

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats bzw. Vorgehens durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS (BS 2024; vgl. USDOS 30.6.2024 - United States Department of State [USA] (30.6.2024): 2023 Report on International Religious Freedom - Somalia; ÖB Nairobi 10.2024) sowie deren lokale Angestellte (BMLV 7.8.2024);

nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. BS 2024; MBZ 6.2023); die öffentlichen Institutionen Somalias werden von al Shabaab als unislamisch erachtet (MBZ 6.2023);

Angehörige der nationalen Sicherheitskräfte (BS 2024; vgl. MBZ 6.2023; USDOS 30.6.2024) im sowie abseits des Dienstes (MBZ 6.2023);

Politiker von Bund und Bundesstaaten (MBZ 6.2023; vgl. Williams/ACSS 27.3.2023; BS 2024); al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen. Laut einer Quelle haben hochrangige Politiker eine höhere Priorität (MBZ 6.2023);

mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten (USDOS 22.4.2024) und ehemalige oder pensionierte Staatsvertreter - z. B. vormalige Bezirksvorsteher (TSD 20.9.2023; vgl. Sahan/SWT 6.3.2024);

Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen (USDOS 22.4.2024); Mitarbeiter werden mitunter beschuldigt, das Christentum verbreiten zu wollen (USDOS 30.6.2024).

Wirtschaftstreibende (Sahan/SWT 7.9.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (7.9.2022): The threat that locally organised clan militias pose to Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 448), insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld („Steuer“) an al Shabaab abzuführen, aber auch, wenn sie die Regierung unterstützen oder einem Clan angehören, der in die Militäroffensive involviert ist (MBZ 6.2023). Ins Visier geraten mitunter auch jene, welche auf Anordnung der NISA an den eigenen Gebäuden Überwachungskameras der Sicherheitsbehörden installiert haben (HIPS 7.5.2024);

Älteste und Gemeindeführer (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. USDOS 22.4.2024; MBZ 6.2023); gemäß somalischen Regierungsangaben aus dem Jahr 2022 hat al Shabaab innerhalb von zehn Jahren 324 Älteste ermordet. Einige der Opfer waren in Wahlprozesse involviert (KM 31.8.2022 - Keydmedia (31.8.2022): Al-Shabaab killed 324 elders involved in elections – minister). Älteste, die nicht oder nicht ausreichend mit der Gruppe kooperieren, werden mitunter eingeschüchtert, entführt oder ermordet (MBZ 6.2023). In jüngerer Vergangenheit hat al Shabaab v. a. solche Ältesten ermordet, die ihre Clans zur Beteiligung an der Offensive gegen die Gruppe aufgerufen bzw. deren Teilnahme öffentlich unterstützt haben (BMLV 9.2.2023; vgl. UNSC 15.6.2023; Sonna 12.4.2023 - Somali National News Agency [Somalia] (12.4.2023): Al-Shabaab’s Extortion Network Crumbles as Government Forces Push Back; INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Dies betrifft insbesondere Älteste der Hawadle (BMLV 7.8.2024; vgl. HO 21.3.2023 - Hiiraan Online (21.3.2023): Assassination of Mumin Garig highlights Al-Shabaab's targeting of Hawadle elders; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; IO-D/STDOK/SEM 4.2023), aber z. B. auch Älteste in der Region Gedo (Sahan/SWT 17.11.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (17.11.2023): Planning for Jubaland, in: The Somali Wire Issue No. 617) und der Saleban (MBZ 6.2023), Abgaal in Middle Shabelle und vereinzelt Älteste in Mudug (BMLV 7.8.2024);

Unterstützer der Macawiisley, z. B. zivile Informanten; ganze Gemeinden sind von Rachemaßnahmen bedroht (Sahan/Petrovski 3.5.2024 - Sara Petrovski (Autor), Sahan (Herausgeber) (3.5.2024): Demystifying the Ma'awiisley, in: The Somali Wire Issue No. 677);

Wahldelegierte (UNSC 15.6.2023; vgl. Williams/ACSS 27.3.2023; MBZ 6.2023) und deren Angehörige (USDOS 22.4.2024; vgl. UNSC 10.10.2022); in der Vergangenheit hat al Shabaab alle, die an Wahlen teilnehmen, als Apostaten bezeichnet und sie zu potenziellen Zielen für Anschläge erklärt (Sahan/SWT 9.6.2023; vgl. MBZ 6.2023). Von Anfang 2021 bis Juli 2023 gab es mehr als 50 diesbezügliche Vorfälle, 71 % davon in Mogadischu (ACLED 28.7.2023 - Armed Conflict Location and Event Data (28.7.2023): Situation Update; July 2023; Somalia: Political Crisis Deepens Amid Transition to Direct Elections). Doch auch etwa in Bay und Bakool wurden Delegierte getötet (Sahan/SWT 21.8.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (21.8.2023): South West State: A Destablising Contest Looms, in: The Somali Wire Issue No. 581);

Angehörige diplomatischer Missionen (USDOS 22.4.2024);

prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten bzw. Organisationen der Zivilgesellschaft (USDOS 22.4.2024; vgl. MBZ 6.2023);

religiöse Führer (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. MBZ 6.2023); laut einer Quelle hat es aber in der jüngeren Vergangenheit keine Attentate auf religiöse Führer gegeben (MBZ 6.2023).

Journalisten (BS 2024; vgl. MBZ 6.2023) und Mitarbeiter von Medien (USDOS 22.4.2024);

Humanitäre Kräfte (BS 2024; vgl. MBZ 6.2023);

Telekommunikationsarbeiter (USDOS 22.4.2024);

mutmaßliche Kollaborateure und Spione (HRW 11.1.2024; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; BS 2024; USDOS 22.4.2024);

Deserteure (MBZ 6.2023);

als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten) (BS 2024) oder Blasphemiker (USDOS 30.6.2024) bzw. Personen, die nicht der Glaubensauslegung von al Shabaab folgen (z. B. Sufis) (BMLV 7.8.2024);

(vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des sogenannten Islamischen Staates in Somalia (ISS) (AA 23.8.2024; vgl. HO 26.3.2023 - Hiiraan Online (26.3.2023): Heavy fighting between al-Shabaab and Daesh in northeastern Somalia leaves 40 militants dead); den ISS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (JF 14.1.2020 - Jamestown Foundation, The (14.1.2020): Islamic State’s Mixed Fortunes Become Visible in Somalia, Terrorism Monitor Volume: 18 Issue: 1);

Personen, die einer Schutzgelderpressung („Steuern“) nicht nachkommen;

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. „Steuern“ an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o.g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (BMLV 7.8.2024).

Eine Quelle der FFM Somalia 2023, deren Mitarbeiter in vielen Teilen Somalias arbeiten, erklärt, dass Bedrohungen durch al Shabaab nicht überprüfbar sind. Tatsächlich ist oft unklar, wer hinter einer Drohung steht, ob es um den Arbeitgeber geht oder um Persönliches oder um ein Familienmitglied (weil z. B. der Vater Polizist ist). Kein Mitarbeiter dieser großen Organisation hat bisher wegen Drohungen die Organisation verlassen müssen (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle der FFM erläutert diesbezüglich: Wenn eine Person eine Textnachricht von al Shabaab erhalten hat und darin nur Drohungen ausgesprochen und keine Forderungen gestellt werden, dann ist es oft schwierig, tatsächlich al Shabaab als Absender festzustellen. Die Nachricht kann auch von einer anderen Quelle stammen, die dafür eigene Motive hat. Zusätzlich agiert al Shabaab als Stellvertreter anderer mafiöser Strukturen. Wenn z. B. ein Mord aufgrund von wirtschaftlichen oder Clan-Interessen ausgeführt wird, kann dieser von al Shabaab vollzogen werden - oder aber die Gruppe wird dafür verantwortlich gemacht (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Wenn al Shabaab eine Person bedroht, kann diese natürlich auch flüchten. Manche tun dies auch – mitunter aus Angst und in der Gewissheit, dass die Regierung sie nicht beschützen kann, weil dieser die entsprechenden Kapazitäten fehlen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut zweier Quellen kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken (BMLV 7.8.2024; vgl. AI 13.2.2020 - Amnesty International (13.2.2020): "We live in perpetual fear": Violations and Abuses of Freedom of Expression in Somalia [AFR 52/1442/2020], A. 36). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (BMLV 7.8.2024).

Al Shabaab stellt keine Haftbefehle aus. Eine Suche läuft durch ihre eigenen, entwickelten Informationssysteme. Die Gruppe weiß, wie man Personen aufspürt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Nach Angaben von Quellen der FFM Somalia 2023 kann al Shabaab in Städten wie Mogadischu jedermann aufspüren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) bzw. ist es schwierig, sich effektiv zu verstecken (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Da in größeren Städten bestimmte Subclans oft in bestimmten Stadtteilen leben, kann al Shabaab eine Person auch über das Clansystem ausfindig machen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist man in Somaliland, Garoowe und Bossaso vor al Shabaab einigermaßen sicher. Der Gruppe mangelt es dort demnach an Kapazitäten und Personal. Allerdings kann es auch dort zu Drohungen kommen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (BMLV 7.8.2024).

Der sogenannte Islamische Staat in Somalia (ISS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des ISS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes und Polizisten. Zudem wendet sich der ISS hier und auch in Mogadischu gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (BMLV 7.8.2024; vgl. TSD 12.11.2023).

1.3.3. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023 - Armed Conflict Location and Event Data (2023): Curated Data - Africa (6 January 2022)). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst (und in noch geringeren Teilen vom sogenannten Islamischen Staat in Somalia), während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 7.8.2024).

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Internationale NGO F, Senior Aid Official (Autor) (4.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023). Laut einer weiteren Quelle sind auch Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 7.8.2024). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Senior UN Official X (Autor) (4.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023).

Eine Quelle gibt die Lage mit Stand 28.6.2024 folgendermaßen wieder:

C:\Users\kattnere\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\E40E611B.tmp PGN 28.6.2024 - Political Geography Now (28.6.2024): Preliminary Somalia Control Map – Approximate Territorial Control

Critical Threats bietet einen Überblick über die spezifisch auf al Shabaab bezogene Situation für Somalia und Kenia (Karte vom April 2024):

CT/Karr/AEI 23.9.2024 - Liam Karr (Autor), American Enterprise Institute (Herausgeber), Critical Threats (Herausgeber) (23.9.2024): Africa File Special Edition - External Meddling for the Red Sea Exacerbates Conflicts in the Horn of Africa

Innerhalb der letzten zehn Jahre ist es der Regierung und den Truppen von AMISOM/ATMIS gelungen, die Kontrolle über viele Teile des Landes zurückzuerlangen (THLSC 20.3.2023 - The Henry L. Stimson Center (20.3.2023): US Security Assistance to Somalia). Al Shabaab wurde erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB Nairobi 10.2024). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (USDOS 15.5.2023; vgl. BS 2024; ÖB Nairobi 10.2024). Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 15.5.2023). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 23.8.2024). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten (BMLV 7.8.2024).

Einerseits hält al Shabaab gegen einige Städte unter Regierungskontrolle Blockaden aufrecht (HRW 11.1.2024 - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Somalia; vgl. BMLV 7.8.2024). Andererseits reicht der Aktionsradius lokaler Verwaltungen oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das „Urban Island Scenario“ besteht also weiterhin. Das heißt, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind. Als "Inseln" zu bezeichnen sind hingegen z. B. Xudur, Waajid, Diinsoor, Wanla Weyne und Baraawe (BMLV 7.8.2024). Dabei operiert al Shabaab v. a. aus dem ländlichen Raum heraus, übt aber auch auf Städte und Gebiete, die nicht direkt von der Gruppe kontrolliert werden, erheblichen Einfluss aus (BS 2024). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind:

das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;

Gebiete rechts und links der Grenzen von Bay mit Bakool bzw. Bakool und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 28.6.2024);

Generell kann aber kein Gebiet in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden. Insbesondere durch die Infiltration mittels verdeckter Akteure kann die Gruppe nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab, kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 7.8.2024). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Bundesarmee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Bundesarmee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖB Nairobi 10.2024).

Kämpfe zwischen Clans und Subclans - v.a. um Wasser- und Landressourcen - sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖB Nairobi 10.2024). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 3.6.2024; vgl. BS 2024), zwischen Clanmilizen und Sicherheitskräften (BS 2024) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen (AA 23.8.2024). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 20.3.2023).

Die Offensive in Zentralsomalia - und auch die Verwendungen von Clanmilizen („Community Defence Forces“) gegen al Shabaab - hat Clanrivalitäten teils verstärkt (BS 2024; vgl. UNGA 23.8.2024; HIPS 7.5.2024). Die Abhängigkeit der staatlichen Sicherheitskräfte von Clanmilizen birgt erhebliche Risiken. Es gibt tiefe Spaltungen zwischen Clans, und Bündnisse mit bestimmten Clans können andere Clans entfremden. Manche haben sich entsprechend mit al Shabaab verbündet (BS 2024). Al Shabaab wiederum zündelt und fördert Clankonflikte. Insgesamt ist nach der Offensive in Zentralsomalia ein Klima der Straflosigkeit entstanden: Clans, die Rechnungen begleichen wollen, müssen keinen Widerstand von staatlicher Seite erwarten – weder von der Bundesarmee noch von den Darawish, die entweder gebunden oder aber nicht existent sind. Neben der Ablenkung durch den Kampf gegen al Shabaab lähmen auch die Wiederwahlambitionen diverser Präsidenten der Bundesstaaten und die Schwäche der Regionalkräfte die Kapazitäten und Handlungsmöglichkeiten der Verwaltungen hinsichtlich von Clankonflikten. Alles in allem gibt es nun mehr und stärkere Clanauseinandersetzungen, z. B. in Qoryooley zwischen den Digil-Clans Jidde und Garre; im Raum Dhusamareb zwischen den Hawiye-Clans Habr Gedir und Duduble; in Mudug zwischen den Hawiye / Sa’ad und Darod / Leelkase; oder in Middle Shabelle zwischen den Hawiye-Clans Abgal und Hawadle (BMLV 4.7.2024). Derartige Clankonflikte führen immer wieder auch zur Vertreibung von Zivilisten (UNSC 27.9.2024). Die Vereinten Nationen berichten in diesem Zusammenhang von Vorfällen in Diinsoor und Qoryooley (SWS), Jowhar (HirShabelle), Luuq (Jubaland) und Cabudwaaq (Galmudug) (UNSC 28.10.2024).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 23.8.2024). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub ("Carjacking"), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 3.6.2024). Laut einer Schätzung aus dem Jahr 2017 befinden sich mehr als 1,1 Millionen Handfeuerwaffen in Privatbesitz. Nur ein Bruchteil davon ist registriert (Sahan/SWT 4.12.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (4.12.2023): Lifting the embargo, not the silver bullet, in: The Somali Wire Issue No. 623).

Sogenannter Islamischer Staat in Somalia (ISS): Im Jahr 2021 bekannte sich der ISS zu 36 Angriffen, im Jahr 2022 zu 32, bis November 2023 nur zu 9 - davon 3 in Puntland und 6 in Mogadischu (TSD 12.11.2023 - The Somali Digest (12.11.2023): IS-Somalia: A Resurgent Threat?).

2024 wird von UNHCR angegeben, dass bis August des Jahres 343.000 Menschen aus unterschiedlichen Gründen zu Vertriebenen im eigenen Land geworden sind (UNHCR 2024 - United Nations High Commissioner for Refugees (2024): Somalia: Internal Displacement); 2023 waren es insgesamt über 1,5 Millionen Menschen (UNHCR 2023 - United Nations High Commissioner for Refugees (2023): Somalia: Internal Displacement). Bis August 2024 wurden 159.000 Personen durch Konflikte vertrieben. Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es - abseits von Somaliland - 2024 bis inklusive August in den Regionen Gedo (50.000), Lower Juba (22.000), Bay (18.000), Mudug (16.000), Middle Juba (15.000) und Lower Shabelle (15.000). Dahingegen wurden in Benadir/Mogadischu (300), Bari (500) und Galgaduud (2.000) deutlich weniger Menschen neu vertrieben, in Nugaal gar keine (UNHCR 2024).

Nach Angaben von Amnesty International war al Shabaab im Jahr 2023 für 312 von 945 getöteten oder verletzten Zivilisten verantwortlich (AI 24.4.2024 - Amnesty International (24.4.2024): The State of the World’s Human Rights - Somalia 2023). Der UN-Sicherheitsrat gibt die Verantwortung von al Shabaab für zivile Opfer im Zeitraum Jänner-Mai 2024 mit 54 % an. An zweiter Stelle folgen staatliche Sicherheitskräfte, danach Clanmilizen und Unbekannte (UNSC 3.6.2024). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 7.8.2024).

Zwar richten sich Angriffe von al Shabaab üblicherweise gegen Personengruppen, die von der Gruppe als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an (BMLV 7.8.2024). Auch mit Sprengstoffanschlägen greift die Gruppe meist nicht mutwillig Zivilisten an und verwendet diese Taktik - im Vergleich zu anderen Terrorgruppen - gezielter. Dennoch wählt sie in regelmäßigen Abständen Ziele aus, bei denen die Gruppe weiß, dass viele Zivilisten Kollateralschäden erleiden werden - etwa bei Angriffen auf Hotels, Kaffee- oder Teehäuser, Restaurants oder belebte Straßenkreuzungen (FDD/Roggio 11.10.2023 - Bill Roggio (Autor), Foundation for Defense of Democracies (Herausgeber) (11.10.2023): Shabaab responds to FDD’s Long War Journal study on its suicide bombings).

Für Zivilisten besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Mitarbeiter einer Organisation für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit (Autor) (4.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023; vgl. BMLV 7.8.2024; FIS 7.8.2020b - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (7.8.2020b): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, S. 24ff) und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 7.8.2024; vgl. LIFOS 3.7.2019 - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (3.7.2019): Säkerhetssituationen i Somalia, S. 25; FIS 7.8.2020b, S. 24). So hat Mogadischu über die Jahre Dutzende Arbeiter der Straßenreinigung verloren, die durch versteckte Sprengsätze getötet wurden, welche entlang von Straßen im dahinter liegendem Müll platziert waren (AJ 21.7.2022 - Al Jazeera (21.7.2022): The street cleaners of Mogadishu: Doing Somalia’s riskiest job). Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt auch Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann (ACCORD 31.5.2021 - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, S. 10ff). So stattet al Shabaab etwa beim Zurückgehen im Rahmen einer Regierungsoffensive mitunter verlassene Gebäude mit Sprengfallen aus, die später auch zurückkehrende Zivilisten treffen können (Sahan/SWT 26.2.2024 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (26.2.2024): The Mustafajiraad and IEDs in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 653; vgl. Sahan/SWT 29.9.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (29.9.2023): The Cost to Somalia’s Children, in: The Somali Wire Issue No. 598). Ein Ziel von al Shabaab ist es, Angst zu verbreiten (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023 - Internationale NGO C (Autor), Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber) (4.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023). Zivilisten werden in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen versetzt, und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (ACCORD 31.5.2021, S. 27). Unklar ist, ob auch der Anschlag auf ein Restaurant am Lido Beach in Mogadischu am 2.8.2024 für diese Kategorie gewertet werden kann. Bei diesem komplexen Anschlag wurden mindestens 37 Personen getötet und 250 verletzt - nahezu allesamt Zivilisten (UNSC 27.9.2024; vgl. UNSC 28.10.2024).

Eine [Anm.: ältere, aber weiterhin zutreffende] Grafik des Hiraal Institute bestätigt, dass der wesentliche Fokus von al Shabaab auf den Sicherheitskräften liegt [Anm.: Erklärung zur Grafik: SNA - Bundesarmee; SPF - Polizei; FMS - Bundesregierung; PSF - puntländische Sicherheitskräfte; blau - ca. 5.2021-4.2022; orange - ca. 5.2022-4.2023]:

C:\Users\kattnere\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\E2AB26CF.tmp HI 5.2023 - Hiraal Institute (5.2023): Somalia’s Shifting Sands: Unpacking The Tumultuous Times Of President Hassan Sheikh Mohamud’s First Year

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer jedenfalls unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulichte dies im Jahr 2021 mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote (454) als im Jahr davor (1.140). Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es 20 % (Sahan/Bryden 6.4.2021 - Matt Bryden (Autor), Sahan (Herausgeber) (6.4.2021): Measuring Somalia’s IED Problem, in: The Somali Wire Issue No. 116).

C:\Users\kattnere\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\3B5068B5.tmp Von den Vereinten Nationen werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) über die letzten Jahre wie folgt angegeben:

(UNSC 27.9.2024; UNSC 3.6.2024; UNSC 2.2.2024; UNSC 13.10.2023; UNSC 15.6.2023; UNSC 16.2.2023 - United Nations Security Council (16.2.2023): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2023/109]; UNSC 1.9.2022a - United Nations Security Council (1.9.2022a): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665]; UNSC 13.5.2022 - United Nations Security Council (13.5.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/392]; UNSC 8.2.2022 - United Nations Security Council (8.2.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/101]; UNSC 11.11.2021 - United Nations Security Council (11.11.2021): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2021/944]; UNSC 10.8.2021 - United Nations Security Council (10.8.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/723]; UNSC 19.5.2021 - United Nations Security Council (19.5.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/485]; UNSC 17.2.2021 - United Nations Security Council (17.2.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/154])

Die letzte halbwegs glaubwürdige Volkszählung wurde im Jahr 1975 durchgeführt - auch diese mit signifikanten Einschränkungen (Sahan/SWT 10.5.2023 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (10.5.2023): Somali Census: A daunting challenge, in: The Somali Wire Issue No. 538). Neueste Schätzungen gehen von 18,7 Millionen (FSNAU/IPC 23.9.2024b - Food Security and Nutrition Analysis Unit Somalia, Integrated Food Security Phase Classification (23.9.2024b): Somalia Acute Food Insecurity Situation Overview, Rural, Urban and IDP: Food Security Outcomes: Current: July-September 2024), andere von rund 17 Millionen Einwohnern aus (WFP 26.9.2024 - World Food Programme (26.9.2024): WFP Somalia Country Brief, August 2024; vgl. IPC 13.12.2022 - Integrated Food Security Phase Classification (13.12.2022): Nearly 8.3 million people across Somalia face Crisis (IPC Phase 3) or worse acute food insecurity outcomes). Bei Herannahme von 17 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:10.780 (UNSC 27.9.2024).

Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA. Unter der Trump-Regierung wurden innerhalb von vier Jahren fast 220 Luftangriffe durchgeführt (Sahan/SWT 2.8.2023). Dahingegen waren es 2021 nur 11 (HRW 13.1.2022 - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Somalia), 2022 waren es 15 (BMLV 9.2.2023 - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation) und 2023 mindestens 13 - v.a. in Zentralsomalia (HRW 11.1.2024). Außerdem führen folgende Länder Luftschläge in Somalia durch: Kenia, z. B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022 - Goobjoog News (22.6.2022): KDF carried out airstrike in Gedo region, south of Somalia); Äthiopien (VOA 8.8.2022 - Voice of America (8.8.2022): Ethiopia Deploys New Troops into Neighboring Somalia), z. B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022 - Somali Guardian (31.7.2022): Ethiopia’s military conducts air strikes in Somalia’s Bakool region); die Türkei führt Drohnenangriffe gegen al Shabaab durch (HRW 11.1.2024; vgl. VOA/Maruf 30.11.2022 - Voice of America (Herausgeber), Harun Maruf (Autor) (30.11.2022): Somalia Military Rebuilding Shows Signs of Improvement). Drohnen werden von somalischen und verbündeten Kräften vermehrt eingesetzt (UNGA 23.8.2024). Generell hat die Zahl an Luftangriffen aber erheblich abgenommen, die durchgeführten konzentrieren sich i.d.R. auf höherrangige Angehörige der al Shabaab oder dienen der unmittelbaren Unterstützung der Regierungskräfte im Gefecht, v. a. wenn diese Gefahr laufen, von al Shabaab überwältigt zu werden (BMLV 7.8.2024).

1.3.3.1 HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle)

Die Macht der Regierung von HirShabelle reicht in alle Gebiete östlich des Flusses Shabelle und jedenfalls in die Regionalhauptstädte Jowhar und - in gewissem Maße - Belet Weyne. Die Macawiisley haben beeindruckende Erfolge gegen al Shabaab erzielt und die Gruppe weitgehend aus den östlichen Teilen von Hiiraan und Middle Shabelle verdrängt (BMLV 7.8.2024). Die Regierung hat auch weiterhin die Kontrolle über die Gebiete östlich des Shabelle (UNSC 28.10.2024). Dies sind im wesentlich die einzigen nachhaltigen Erfolge der Regierungsoffensive in Zentralsomalia (BMLV 4.7.2024).

Die Verbindung von Jowhar nach Belet Weyne ist grundsätzlich offen. Die Ortschaften entlang der Straße befinden sich jedenfalls nicht unter Kontrolle von al Shabaab. Die Lage entlang dieser Route hat sich nach Rückschlägen für die Regierungstruppen im September 2023 wieder verschlechtert, ist allerdings nicht mit der schlechten Lage von vor der Offensive 2022 vergleichbar. Generell hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle verbessert. Hier sind in weiten Gebieten auch Bewegungen zwischen den Orten möglich (BMLV 7.8.2024). Allerdings sickert al Shabaab teilweise über den Shabelle nach Osten ein (Raum Jowhar - Mahaday) (BMLV 4.7.2024) und greift dann Orte an der Route oder den Verkehr selbst an (BMLV 7.8.2024). Zudem werden ATMIS-Stützpunkte entlang der Hauptversorgungsroute nach und nach an die Bundesarmee übergeben oder aufgelöst. Es sind aber gerade auch diese Stützpunkte, welche die Route sicher gemacht haben (BMLV 4.7.2024).

An der Grenze von Hiiraan zu Middle Shabelle kam es im Jänner 2024 im Streit um Land zu Auseinandersetzungen zwischen Clans. Sechs Menschen wurden dabei getötet. Lokalbehörden unternahmen Vermittlungsversuche (MUST 22.1.2024 - Mustaqbal Media (22.1.2024): Hiran Region: Clan Skirmishes Escalate at Hiran-Middle Shabelle Border, Causing Casualties). Auch im April 2024 kamen dort (Bereich Moqokori und Adan Yabaal) bei Kämpfen zwischen Abgaal und Hawadle sechs Menschen ums Leben (SMN 18.4.2024 - Shabelle Media Network (18.4.2024): Deadly Inter-Clan Clashes Erupt in Somalia). Generell tut sich die Regierung von HirShabelle schwer dabei, die zunehmenden Clankonflikte unter Kontrolle zu bringen (UNSC 28.10.2024).

Ende November 2024 wurden bei erneuten Kämpfen entlang der instabilen Grenze zwischen Hiiraan und Middle Shabelle sechs Menschen getötet und zehn weitere verletzt. Die Kämpfe um Ressourcen zwischen Abgaal und Hawadle ereigneten sich im Gebiet von Ceel Dheere. Trotz Versöhnungsbemühungen - darunter ein Treffen von Clanältesten und politischen Führern beider Clans in Mogadischu - ist die Situation weiter eskaliert. Bereits zuvor war es in den Gebieten von Ceel Baraf und Jalalaqsi zu Kampfhandlungen gekommen (HO 30.11.2024 - Hiiraan Online (30.11.2024): Inter-clan clashes in central Somalia leave six dead, ten injured). Anfang Dezember konnte ein fragiler Waffenstillstand ausgehandelt werden, der von der Bundesarmee durchgesetzt werden soll (HO 3.12.2024b - Somali clans reach fragile ceasefire after deadly violence near Hiiraan-Middle Shabelle border).

Hiiraan: Belet Weyne, Buulo Barde und Jalalaqsi befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (PGN 28.6.2024). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Auch der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist als sicher anzusehen (BMLV 7.8.2024). Gemäß Regierungsangaben haben die Hawadle in Hiiraan alle Teile ihres Clangebiets von al Shabaab zurückerobert (Economist 3.11.2022). Im Westen der Region konnten die - maßgeblich aus Hawiye / Hawadle bestehenden - Macawiisley hingegen nicht operieren, da dies das Territorium der Hawiye / Galja'el ist (AQ21 11.2023). Nur noch das südwestliche Hiiraan befindet sich unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 28.6.2024). Die Präsenz von Kämpfern der al Shabaab im westlichen Hiiraan ist 2024 allerdings gewachsen (BMLV 7.8.2024).

In Belet Weyne ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der al Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer ATMIS-Truppen und der äthiopischen Armee. Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und Teile einer Formed Police Unit von ATMIS. Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte. Clankonflikte werden nicht in der Stadt, sondern mehrheitlich außerhalb ausgetragen. Die in Belet Weyne vorhandene Präsenz der al Shabaab scheint kaum relevant (BMLV 7.8.2024).

Im März 2024 wurden bei Auseinandersetzungen zwischen Kräften von HirShabelle und Milizen der Region Hiiraan in und im Umfeld der Stadt sechs Menschen - darunter Zivilisten - getötet (HO 14.3.2024 - Hiiraan Online (14.3.2024): Six dead as Hirshabeelle and Hiiraan state forces engage in overnight battle; vgl. UNSC 3.6.2024 - United Nations Security Council (3.6.2024): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General (S/2024/426) [EN/AR/RU/ZH]). Der Gewaltausbruch wird als Fortsetzung der Absetzung des Gouverneurs von Hiiraan, Ali Jeyte Osman, im Juni 2023 durch den Präsidenten des Bundesstaates gewertet (HO 14.3.2024). Älteste der Hawadle haben einen Waffenstillstand vermittelt, eine Clankonferenz wurde einberufen (UNSC 3.6.2024). Allerdings ist es auch im Oktober 2024 zu Auseinandersetzungen zwischen Hawadle-Milizen und Kräften von HirShabelle gekommen (Sahan/SWT 30.10.2024 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (30.10.2024): The Return of the 'Hiiraan State', in: The Somali Wire Issue No. 749).

Middle Shabelle: Jowhar, Balcad, Adan Yabaal und Cadale befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (PGN 28.6.2024; vgl. BMLV 7.8.2024). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 1.12.2023). Auch in Adan Yabaal befinden sich starke Kräfte der Bundesarmee, der Bereich ist keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt (Sahan/SWT 1.9.2024). Ansonsten findet sich die Armee nur in kritischen Gebieten - also entlang der Hauptversorgungsrouten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab wurde im Dezember 2022 aus der Bezirkshauptstadt Adan Yabaal vertrieben. Die Stadt war seit 2016 eine wichtige Bastion der Gruppe (VOA 6.12.2022 - Voice of America (6.12.2022): Somali Army Dislodges Al-Shabab From Key Stronghold). In Middle Shabelle befindet sich lediglich noch ein schmaler Streifen im Nordwesten, westlich des Shabelle an der Grenze zu Hiiraan, unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 28.6.2024; vgl. BMLV 7.8.2024).

Gemäß Angaben vom September 2024 übt al Shabaab aber zunehmend militärischen Druck auf das Gebiet um Balcad aus (Sahan/SWT 1.9.2024). Im August 2024 hatte al Shabaab die Stadt Balcad kurzfristig gestürmt (GO 13.8.2024 - Garowe Online (13.8.2024): Al-Shabaab attacks military base in Somalia). Schon im April des Jahres war die Gruppe mit stärkeren Kräften in die Stadt vorgedrungen und haben sich kurz darauf wieder zurückgezogen (SMN 6.4.2024 - Shabelle Media Network (6.4.2024): Al-Shabaab Militants Launch Deadly Attack in Bal’ad Town, Somalia). Laut Vereinten Nationen kommt es in Balcad zur Einschüchterung und zu Unsicherheit durch al Shabaab und andere bewaffnete Kräfte (UNSC 28.10.2024).

Jowhar gilt als relativ ruhig. Dort befinden sich das Brigadekommando der burundischen ATMIS-Kräfte und ein Bataillon dieser Truppen (BMLV 7.8.2024).

Im Bezirk Cadale waren im November 2022 Clanauseinandersetzungen ausgebrochen, nachdem sich al Shabaab aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Auslöser war ein Landkonflikt, es gab Dutzende Tote (HO 29.11.2022 - Hiiraan Online (29.11.2022): Family of five massacred in Warsheikh district; vgl. FTL 18.11.2022 - Facility for Talo and Leadership (18.11.2022): Peace Talks Commence in Adale Town). Die somalische Regierung hat Sicherheitskräfte entsandt (RD 1.12.2022 - Radio Dalsan (1.12.2022): Somalia deploys Gor Special Force to contain inter-clan wars), Friedensverhandlungen wurden in Gang gesetzt (FTL 18.11.2022). Im Oktober 2023 sind Clankonflikte im Bezirk aber wieder aufgeflammt (MUST 24.10.2023 - Mustaqbal Media (24.10.2023): Federal Government Troops Deployed to Mediate Clashes in Middle Shabelle Region).

Vorfälle: In den beiden Regionen Hiiraan (420.060) und Middle Shabelle (961.554) leben nach Angaben einer Quelle 1,381.614 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2022 insgesamt 36 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "Violence against Civilians"). Bei 28 dieser 36 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2023 waren es 29 derartige Vorfälle (davon 20 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und Violence against Civilians ergeben sich für 2023 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Hiiraan 5,00; Middle Shabelle 0,83;

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2023 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie „Violence against Civilians“, in welcher auch „normale“ Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

C:\Users\kattnere\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\50F4943F.tmp

ACLED 12.1.2024

1.3.4. Sicherheitsbehörden

Der Sicherheitssektor ist sehr relevant (AA 23.8.2024). 24 % des Staatsbudgets werden alleine für das Militär ausgegeben (AI/Ngira 2.7.2024 - Amnesty International (Herausgeber), David Ngira (Autor) (2.7.2024): Reduction of Somali health budget after 2023 debt relief a betrayal), insgesamt fließen laut einer Quelle rund zwei Drittel des Budgets in den Sicherheitssektor (AA 23.8.2024). Trotzdem ist es der Bundesregierung nicht gelungen, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen (BS 2024). Die somalischen Sicherheitskräfte sind fragmentiert (AA 23.8.2024) und jedenfalls zu schwach und schlecht organisiert, um selbstständig - ohne internationale Unterstützung - die Sicherheit im Land garantieren zu können (BMLV 7.8.2024; vgl. ISS/Mahdi/Soumahoro/Kinkoh 15.12.2023 - Maram Mahdi (Autor), Moussa Soumahoro (Autor), Hubert Kinkoh (Autor), Institute for Security Studies (Herausgeber) (15.12.2023): Inconsistencies are costing the AU Mission in Somalia). Zudem sind die Sicherheitskräfte von al Shabaab unterwandert (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023), und die Loyalität vieler Sicherheitskräfte liegt eher beim eigenen Clan bzw. der patrilinearen Abstammungsgruppe als beim Staat (ACCORD 31.5.2021, S. 29). Unterstützung erhielt und erhält Somalia im Sicherheitssektor u.a. von den USA, den UN, ATMIS, Großbritannien, der Türkei, der EU, Katar, Eritrea, Dschibuti und den VAE (HIPS 7.5.2024).

Die Aktionen der staatlichen Sicherheitskräfte entziehen sich oftmals der zivilen Kontrolle. Dies gilt insbesondere für die NISA (Geheimdienst). Gleichzeitig bekennt sich die Regierung zu ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen (AA 23.8.2024; vgl. USDOS 20.3.2023). Bei der Polizei wurde das Police Oversight Committee (POC) eingerichtet, das durch Polizisten begangenen Vergehen nachgehen soll (OHCHR 2.12.2022 - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (2.12.2022): Committee against Torture - Concluding observations on the initial report of Somalia. Adopted by the Committee at its seventy-fifth session (31 October - 25 November 2022)). Die justizielle Verantwortlichkeit einzelner Mitglieder der Sicherheitsorgane ist zumeist schwach bis inexistent (AA 23.8.2024). Denn auch wenn die Regierung Schritte unternimmt, um öffentlich Bedienstete - v.a. Polizisten und Soldaten - zu bestrafen, bleibt Straflosigkeit die Norm (USDOS 22.4.2024). Obwohl es eigene Militärgerichte gibt, bleiben Vergehen durch Armeeangehörige - aber auch durch Polizisten - häufig ungeahndet (AA 23.8.2024). Allerdings gibt es auch immer wieder Beispiele, wo Sicherheitskräfte zur Verantwortung gezogen werden.

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind die Sicherheitskräfte im Allgemeinen schlecht ausgebildet. Sie verfügen über geringe Ressourcen und sind schlecht ausgerüstet. Viele können mit der eigenen Waffe nicht richtig umgehen, auch Khat-Missbrauch ist ein Problem (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Die Ausbildung im Menschenrechtsbereich wird zwar international unterstützt; es muss aber weiterhin davon ausgegangen werden, dass der Mehrzahl der regulären Kräfte die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns nur äußerst begrenzt bekannt sind. Dies gilt auch für regierungsnahe Milizen (AA 23.8.2024). Maßnahmen zur Verhinderung willkürlicher Verhaftungen werden weder von der Polizei noch von der NISA oder militärischen Institutionen beachtet. Zudem wird deren Arbeit von Korruption unterminiert (FH 2024b). Da die Sicherheitskräfte gegenüber der Zivilbevölkerung oft auch als Gewalt- und nicht als Sicherheitsakteure auftreten (ACCORD 31.5.2021, S. 29), genießen sie insgesamt keinen guten Ruf bei der Bevölkerung (AA 23.8.2024; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 29) bzw. ist das Vertrauen in die Sicherheitsinfrastruktur nicht immer gegeben (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023).

Der Sicherheitssektor präsentiert sich nach wie vor als Mischung aus Truppen auf Clanbasis und neuen, durch externe Akteure wie die Türkei ausgebildeten Verbänden (BMLV 7.8.2024). Die Sicherheitsarchitektur des Landes bleibt unklar - etwa hinsichtlich der Rollen und Verantwortlichkeiten des Bundes und der Bundesstaaten sowie der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Einheiten (SW 3.2023). Es gibt keine Gesamtstrategie der Regierung zu den Sicherheitskräften. Die Nationale Sicherheitsarchitektur sieht 40.000 Polizisten und 30.000 Soldaten vor. Das übersteigt die finanziellen Kapazitäten der Regierung bei Weitem (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die Übergangsverfassung sieht folgende Kräfte vor: Armee, Geheimdienst, Polizei und Justizwache. Zusätzlich ermächtigt die Verfassung die Bundesstaaten, eigene Polizeikräfte zu führen (HIPS 1.2023 - Heritage Institute for Policy Studies (1.2023): Security Sector Reform in Somalia: Challenges and Opportunities). Die Zuständigkeiten von Bundespolizei und lokalen bzw. regionalen Polizeikräften sind ungeklärt (UNSC 15.6.2023).

Die nationale Polizei untersteht dem Ministerium für innere Sicherheit (USDOS 20.3.2023). Neben der Bundespolizei führt jeder Bundesstaat eigene regionale Polizeikräfte. Die Kräfte sind jeweils dem Bundes- bzw. dem bundesstaatlichen Ministerium für innere Sicherheit unterstellt (SIDRA/Salim 1.12.2022 - Salim Said Salim (Autor), Somali Institute for Development Research and Analysis (Herausgeber) (1.12.2022): Somalia’s Intergovernmental Relations between the Constitutional Theory and Political Practice, Policy Analysis, S. 14). Nach Angaben aus dem Jahr 2022 umfasste die Polizei zu diesem Zeitpunkt 37.000 Mann, wovon ungefähr die Hälfte der Bundespolizei zuzurechnen ist (Sahan/SWT 29.6.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (29.6.2022): Somalia’s Security Sector is Broken: here’s how the new government can fix it (Part 1), in: The Somali Wire Issue No. 415). Nach anderen Angaben aus dem Jahr 2023 handelt es sich um 32.000 Mann, die Stärke soll auf 40.000 Mann ausgebaut werden (UNSC 15.6.2023) - 20.000 Bundespolizisten und 4.000 Polizisten je Bundesstaat auf Bundesstaatsebene (UNSC 2.2.2024).

Die Strafverfolgungsbehörden sind schwach (SPC 9.2.2022). Es gibt kein zentrales Strafregister. Dies erschwert es den Sicherheitskräften, Untersuchungen durchzuführen. Polizeistationen führen handschriftliche „Vorfallsbücher“ („occurrence books“) (Sahan/SWT 16.9.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (16.9.2022): Exrajudicial killings in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 452). Die Bezahlung ist schlecht, viele Polizisten sind bestechlich (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zudem erfolgt die Bezahlung meist nur unregelmäßig, dies fördert Korruption und kriminelles Verhalten (AA 23.8.2024). Im Fall einer kriminalitätsbedingten Notlage fehlen weitgehend funktionierende staatliche Stellen, die Hilfe leisten könnten. Die Polizei verfügt zwar über einige Kapazitäten, hat aber auch Probleme, sich an den Menschenrechten zu orientieren. Dass die Bevölkerung die Polizei nicht unbedingt als eine Kraft erachtet, welche sie schützt, scheint sich in manchen größeren Städten langsam zu ändern. Dort wurden Polizeikräfte lokal – und die lokale Clandynamik berücksichtigend – rekrutiert. Das hat zu Verbesserungen geführt. Dies betrifft etwa Kismayo, Jowhar oder Belet Weyne (BMLV 7.8.2024). In Einzelfällen funktioniert die Kooperation unterschiedlicher Polizeieinheiten in Süd-/Zentralsomalia. So wurde etwa im Dezember 2022 in Mogadischu ein Mann verhaftet, der von der Polizei in Gedo wegen einer Vergewaltigung gesucht worden war (HO 26.12.2022 - Hiiraan Online (26.12.2022): Mogadishu police make arrest in Gedo rape case, two other suspects still sought). In HirShabelle wird die Polizei in erster Linie in den größeren Städten und an Checkpoints entlang von nach Jowhar führenden Hauptverbindungsstraßen zum Einsatz gebracht (ATMIS 25.8.2022 - African Union Transition Mission in Somalia (25.8.2022): African Union supports building Somalia’s Police Force).

1.3.5. Minderheiten und Clans

Das westliche Verständnis der Zivilgesellschaft ist im somalischen Kontext irreführend, da kaum zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterschieden wird. In ganz Somalia gibt es starke Traditionen sozialer Organisation außerhalb des Staates, die vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Verwandtschaftsgruppen fußen. Seit Beginn des Bürgerkriegs haben sich die sozialen Netzwerkstrukturen neu organisiert und gestärkt, um das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern (BS 2024).

Der Clan ist die relevanteste soziopolitische und ökonomische Einheit in Somalia. Für den Somali stellt er die wichtigste Identität dar, für die es zu streiten und zu sterben gilt (NLM/Barnett 7.8.2023 - James Barnett (Autor), New Lines Magazine (Herausgeber) (7.8.2023): Inside the Newest Conflict in Somalia’s Long Civil War). Clans kämpfen für das einzelne Mitglied. Gleichzeitig werden alle Männer im Clan als Krieger erachtet (AQSOM 4 6.2024). Der Clan bildet aber eine volatile, vielschichtige Identität mit ständig wechselnden Allianzen (NLM/Barnett 7.8.2023). Er bestimmt das Leben des Individuums, seinen Zugang zu Sicherheit und Schutz, Ressourcen (z. B. Arbeit, Geschäfte, Land) und bildet das ultimative Sicherheitsnetz (AQSOM 4 6.2024; vgl. SPC 9.2.2022). Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessensvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des traditionellen Rechts (Xeer). Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler (Sahan/SWT 26.10.2022).

Laut Experten gibt es bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, S. 2f/37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri/TEL 3.5.2021 - The Elephant (Herausgeber), Saeed Shukri (Autor) (3.5.2021): Unrecognized Vote: Somaliland’s Democratic Journey). Auch junge Menschen im urbanen Umfeld kennen ihren Clan, allerdings fehlen ihnen manchmal die Details - etwa zu Clanältesten. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 betrifft dies tendenziell eher junge Frauen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Somaliland National (Autor) (5.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023).

Diskriminierung steht in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke besitzen (AA 23.8.2024). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2024). Selbst relativ starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan/SWT 30.9.2022). Gleichzeitig mag auf einer Ebene innerhalb eines Clans oberflächlich betrachtet Einheit herrschen, doch wenn man näher heranzoomt, treten Konflikte zwischen den unteren Clanebenen zutage (NLM/Barnett 7.8.2023).

Ohnehin marginalisierte Gruppen werden diskriminiert und stoßen auf Schwierigkeiten, ihr Recht auf Teilhabe an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Prozessen wahrzunehmen (UNSOM 5.8.2023 - United Nations Assistance Mission in Somalia (5.8.2023): Muna Mohamed Abdi: Helping include marginalised communities in Kismayo; vgl. BS 2024). Die Marginalisierung führt zu einer ungerechten und diskriminierenden Verteilung der Ressourcen (UNSOM 5.8.2023) - etwa beim Zugang zu humanitärer Hilfe (AA 23.8.2024). Menschen, die keinem der großen Clans angehören, sehen sich in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021b - United Nations High Commissioner for Refugees (22.12.2021b): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, S. 56); und auch von Politik und Wirtschaft werden sie mitunter ausgeschlossen. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2024). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UN OCHA 14.3.2022 - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022).

Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Weder Xeer (SEM 31.5.2017 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, S. 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, S. 42; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020b, S. 21). Es kommt mitunter zu staatlicher Diskriminierung. So wurde beispielsweise in Mogadischu ein Strafprozess, bei welchem Rahanweyn und Bantu als Kläger gegen einen Polizeioffizier, der von einem großen Clan stammt, aufgetreten waren, vom Gericht ohne Weiteres eingestellt (Horn 6.5.2024 - Horn Observer (6.5.2024): Controversial Somali court decision grants immunity to perpetrator of human rights abuses).

Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, S. 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen (Gashanbuur) einem anderen Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen (AQSOM 4 6.2024; vgl. DI 6.2019, S. 11). Diese Resilienzmaßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, S. 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das System des Xeer eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, S. 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019 - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (1.7.2019): Somalia - Rätts- och säkerhetssektorn Version 1.0, S. 14).

Die Mitgliedschaft in islamischen Organisationen und Verbänden gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie bietet eine Möglichkeit zur sozialen Organisation über Clangrenzen hinweg. Mit einer Mitgliedschaft kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden. Zumindest in bestimmten Teilen Somalias entsteht auch eine Form von Sozialkapital unter Mitgliedern der jüngeren Generation, die biografische Erfahrungen und Interessen (Bildung oder Beruf) teilen und manchmal in Jugendorganisationen organisiert sind oder sich in informellen Diskussionsgruppen und online treffen (BS 2024).

1.3.5.1. Bevölkerungsstruktur

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021a - United Nations High Commissioner for Refugees (22.12.2021a): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa). Die Landesbevölkerung ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings ist der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung demnach unklar (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine gemeinsame ethnische Herkunft (USDOS 22.4.2024). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018 - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UN OCHA 14.3.2022). Die UN gehen davon aus, dass ca. 30 % aller Somali Angehörige von Minderheiten sind (MBZ 6.2023). Abseits davon trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021 - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2024). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (Landinfo 4.4.2016 - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (4.4.2016): Practical issues and security challenges associated with travels in Southern Somalia).

Große Clanfamilien

Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:

Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

Hawiye leben v. a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet (SEM 31.5.2017). Sie selbst erachten sich nicht als Teil der Dir (AQSOM 4 6.2024).

Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017).

1.3.5.2. Ashraf

Ashraf werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten. Sie werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014 - European Asylum Support Office (8.2014): South and Central Somalia: Country Overview, S. S.46f/103).

1.3.6. Bewegungsfreiheit und Relokation

Gesetze schützen das Recht auf Bewegungsfreiheit im Land und das Recht zur Ausreise. Diese Rechte sind in einigen Landesteilen eingeschränkt (USDOS 22.4.2024) – v. a. durch die Unsicherheit entlang der wichtigsten Straßen (MBZ 6.2023), durch Checkpoints und Straßenblockaden der jeweiligen Machthaber in bestimmten Gebieten, aber auch durch Kampfhandlungen. IDPs sind in den Lagern in und um Mogadischu teils strikten Beschränkungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen. Davon abgesehen sind keine Einschränkungen für bestimmte Gruppen bekannt (ÖB Nairobi 10.2024).

Straßensperren (Checkpoints), welche von Regierungstruppen, verbündeten Gruppen, bewaffneten Milizen, Clan-Fraktionen und al Shabaab betrieben werden, behindern die Bewegungsfreiheit. Dort kommt es mitunter zu Raub, Erpressung, Belästigung und Gewalt (USDOS 22.4.2024; vgl. FH 2024b). Derartige Verbrechen werden laut einer Quelle in erster Linie Straßensperren von Clanmilizen zugeschrieben, während jene von al Shabaab oder Regierungskräften als besser organisiert und sicherer gelten (TANA/ACRC 9.3.2023). Nach anderen Angaben bleibt al Shabaab die größte Bedrohung hinsichtlich Bewegungsfreiheit entlang von Hauptversorgungsrouten in Süd-/Zentralsomalia. Die Gruppe verwendet entlang dieser Straßen Sprengsätze und legt Hinterhalte. Manchmal placiert al Shabaab Sprengsätze auch deswegen, um dadurch den Verkehr auf Straßen umzulenken, an welchen sie Checkpoints unterhält, wo Gebühren eingehoben werden (BMLV 5.11.2024 - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (5.11.2024): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation).

Generell können vier Arten von Straßensperren genannt werden: 1. solche, die nur zum Raub an Reisenden errichtet werden - unabhängig von Clankonflikten oder Machtkämpfen; 2. solche, die im Rahmen von Clankonflikten errichtet werden (auch dort kann es zu Gewalt kommen); 3. Sperren von al Shabaab; und 4. Sperren von Regierungskräften (TANA/ACRC 9.3.2023). An Checkpoints schließen die Sicherheitskräfte oft aufgrund des Akzents auf die Herkunft eines Passanten. Fremde werden hinsichtlich ihrer Bewegung befragt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 müssen sich an Straßensperren lediglich die Fahrer ausweisen, Fahrgäste können ungehindert passieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Allerdings kommt es an Checkpoints zwischen Clanmilizen, aber auch mit und unter staatlichen Einheiten, die sich um die Kontrolle und um Einnahmen streiten, immer wieder auch zu Kampfhandlungen (AA 23.8.2024). Auch abseits von Straßensperren kann das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen (FH 2024b). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle führt al Shabaab eine Blockade durch (HRW 11.1.2024).

Die normale Bevölkerung kann sich problemlos bewegen bzw. eine Überlandreise antreten (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Researcher/STDOK/SEM 4.2023; EUAA 2.2023 - European Union Agency for Asylum (2.2023): Somalia: Security Situation (February 2023)). Allerdings sind solche Bewegungen nicht ohne Risiko. Das diesbezügliche Risiko hat sich seit Beginn der Offensive in Zentralsomalia dort verstärkt (MBZ 6.2023; vgl. BMLV 5.11.2024) bzw. versucht al Shabaab, Spione frühzeitig zu erkennen, und agiert dabei mitunter paranoid (BMLV 5.11.2024). Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Die Menschen reisen nicht uninformiert (BMLV 5.11.2024; vgl. Landinfo 28.6.2019 - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (28.6.2019): Somalia: Praktiske og sikkerhetsmessige forhold på reise i Sør-Somalia, S. 4/7/9). Reisende und Fahrer versuchen ihre Reise nach neuesten sicherheitsrelevanten Informationen zu adaptieren Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). So werden etwa Passagiere, die durch Gebiet von al Shabaab reisen, ihr Smartphone nicht mit sich führen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Generell können Menschen aber jedes Ziel in Süd-/Zentralsomalia erreichen. Um in kleinere Dörfer zu gelangen, muss meist in der nächstgelegenen Bezirkshauptstadt umgestiegen werden (Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9).

Überlandreisen werden bevorzugt mit Minibussen (9-Sitzer), auf Lastwägen oder aber zu Fuß unternommen. Es ist einfach, sich in Mogadischu eine solche Fahrt zu organisieren (Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). Es gibt Busse z. B. nach Belet Weyne, Dhusamareb und Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Auch von Kismayo oder Middle Juba fahren Kleinbusse überall hin, auch nach Kenia und über Gebiet von al Shabaab nach Mogadischu (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Straßenzustand und Sicherheitsüberlegungen können den Zugang zu einzelnen Destinationen fallweise verunmöglichen (Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). 90 % der rund 22.000 Straßenkilometer befinden sich in sehr schlechtem Zustand (TANA/ACRC 9.3.2023).

Spezifische Überlandrouten:

Baidoa - Mogadischu: Al Shabaab kontrolliert den Ort Leego an der Straße zwischen Wanla Weyne und Buur Hakaba. Damit ist die Route von Mogadischu nach Baidoa für Zwecke der Regierung geschlossen. In Bay bzw. Lower Shabelle kann es dort zu Übergriffen durch unterschiedliche Akteure kommen. Al Shabaab hat Zugriff auf die gesamte Straße, sie kontrolliert die Verbindung von Baidoa nach Buur Hakaba und weiter nach Bali Doogle. Rund um Baidoa betreibt die Gruppe Straßensperren (BMLV 5.11.2024).

Baidoa - Bakool: Der strategisch relevante Ort Goof Gaduud an der Route zwischen Baidoa und Bakool und weiter nach Luuq hat in den vergangenen Monaten mehrfach den Besitzer gewechselt und ist einer der meistumkämpften Orte Somalias. Die Verbindung von Baidoa nach Waajid befindet sich zumindest abschnittsweise unter Kontrolle von al Shabaab (BMLV 5.11.2024).

Baidoa - Luuq - Doolow (Äthiopien): Dies ist eine der am besten gesicherten Straßenabschnitte in Somalia, es handelt sich um die Hauptversorgungsroute der äthiopischen Kräfte für Baidoa und die Regionen Bay und Bakool. Im Gebiet zwischen Doolow und Luuq kommt es nur selten zu Zwischenfällen (BMLV 5.11.2024).

Mogadischu - Belet Weyne - Dhusamareb: Die Verbindung von Mogadischu nach Belet Weyne ist offen (BMLV 5.11.2024; vgl. AQ21 11.2023). Allerdings werden die ATMIS-Stützpunkte entlang dieser Straße nach und nach an die Bundesarmee übergeben oder aufgelöst, und es waren diese Stützpunkte, welche wesentlich zur Sicherheit der Route beigetragen haben (BMLV 4.7.2024). Die Route von Belet Weyne nach Dhusamareb ist weitgehend sicher (BMLV 5.11.2024).

Kismayo - Kenia: Al Shabaab kontrolliert an der Hauptversorgungsroute von Kismayo nach Dhobley (BMLV 5.11.2024). Die Gruppe verfügt an allen Ausfallstraßen aus Kismayo – sowohl in Richtung Jamaame als auch in Richtung Dhobley oder Kolbiyow – über Checkpoints (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Generell kann es an den Straßenverbindungen in der Region Lower Juba zu Übergriffen durch al Shabaab kommen (BMLV 5.11.2024).

Gedo: An den Verbindungen in Gedo südlich von Garbahaarey kann es zu Übergriffen durch al Shabaab kommen (BMLV 5.11.2024).

Bakool: In Bakool kommt es entlang der Verbindungsstraßen zwischen Waajid, Yeed und Ceel Barde nur selten zu Zwischenfällen. Die Verbindungen von und nach Xudur unterliegen wiederkehrenden Angriffen von al Shabaab. Xudur ist von al Shabaab eingekreist (BMLV 5.11.2024).

Das Netzwerk an Straßensperren bzw. Checkpoints bleibt stabil, es ist auch für einen großen Teil der Einnahmen von al Shabaab verantwortlich. Die Gruppe betreibt über 100 Checkpoints in Süd-/Zentralsomalia (UNSC 10.10.2022, Abs. 41f). In ländlichen Gebieten der gesamten Südhälfte Somalias ist jederzeit auch mit spontan errichteten Checkpoints von al Shabaab zu rechnen (AA 3.6.2024). Die Gruppe kontrolliert einige der wichtigsten Versorgungsrouten (BS 2024). Außerhalb der tatsächlich von der Regierung und ihren Alliierten kontrollierten Gebieten besteht eine große Wahrscheinlichkeit, auf eine Straßensperre von al Shabaab zu stoßen, die in erster Linie auf die Einhebung von Steuern und Abgaben abzielen, und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Generell ist es weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel (Landinfo 28.6.2019, S. 4/9f; vgl. BMLV 5.11.2024). Die Gruppe hat i.d.R. kein Interesse daran, den Verkehr lahmzulegen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Menschen können z. B. aus den Gebieten von al Shabaab in Städte reisen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen (Landinfo 28.6.2019, S. 4/9f). Ein Bericht über die „Besteuerung“ von Straßenverkehr und Gütern an Checkpoints von al Shabaab zeigt, dass der Verkehr in Süd-/Zentralsomalia aus, in und durch das Territorium von al Shabaab möglich ist (GITOC/Bahadur 8.12.2022).

Allerdings verhält sich al Shabaab an Straßensperren unberechenbar und in Zeiten von Kampfhandlungen auch zunehmend paranoid. Menschen können nie voraussehen, wie sie dort behandelt werden. Gebühren werden eingehoben, die Identität aller Reisenden wird verifiziert. Al Shabaab kennt den Hintergrund vieler Menschen, ihr Nachrichtendienst ist effizient (BMLV 5.11.2024). Wenn also eine Person in eine solche Kontrolle gerät, und über diese Person im Rahmen der ausführlichen Netzwerke von al Shabaab eine Meldung vorliegt, dass diese Person z. B. vor ein paar Monaten negativ aufgefallen ist, dann kann dies zu Repressalien führen (ACCORD 31.5.2021, S. 40). Mitunter wurden sogar Angehörige von Soldaten der Bundesarmee an Checkpoints der Gruppe herausgefiltert (BMLV 5.11.2024). Generell ist die größte Gefahr, dass ein Reisender an einer Straßensperre für dem Feind zugehörig gehalten wird. Daher versuchen Reisende, sich unauffällig zu verhalten und keinen Verdacht zu erregen (TANA/ACRC 9.3.2023).

Angst vor al Shabaab müssen in erster Linie jene Reisenden haben, die Beamte, Politiker oder militärisches Personal sind. Sie tragen ein Risiko, entführt zu werden (MBZ 6.2023) oder befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Auch dies hat - bei einem Schuldspruch - den Tod zur Folge. Außerdem kann es Personen treffen, die von al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden. Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clanverbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von al Shabaab kontrollierten Gebiet liegt (Landinfo 28.6.2019, S. 4/9f/11).

Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor – etwa Auspeitschen. Reisende passen sich daher üblicherweise den Kleidungs- und Verhaltensvorschriften von al Shabaab an, um nicht herauszustechen (Landinfo 28.6.2019, S. 4/11).

Ausweichmöglichkeiten und Binnenmigration: Innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen jedenfalls für einen Teil der Bevölkerung (ÖB Nairobi 10.2024). Im Fall einer nicht durch individuelle Verfolgung begründeten Flucht aus von al Shabaab kontrollierten Gebieten bieten urbane Zentren und ländliche Gebiete unter staatlicher Kontrolle relativ größere Sicherheit. Dabei ist es schwierig, relativ sichere Zufluchtsgebiete pauschal festzulegen, denn je nach Ausweichgrund und persönlichen Umständen ist eine Person möglicherweise in einem anderen Gebiet Somalias einem anderen Risiko ausgesetzt (AA 23.8.2024).

Die soziale und wirtschaftliche Integration in „clanfremden“ Gebieten kann zum Teil schwierig sein (AA 23.8.2024). Menschen aus Süd-/Zentralsomalia können sich in Somaliland und Puntland ansiedeln. Dort werden sie jedoch nur „halb“ akzeptiert, in Somaliland kommen ihnen keine Staatsbürgerrechte zu (ACCORD 31.5.2021, S. 25f). Trotzdem herrscht in Somaliland und Puntland (außer in den umstrittenen Gebieten) mehr Freiheit (AA 23.8.2024). Üblicherweise genießen Somalis außerdem den Schutz ihres eigenen Clans, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie in Gebieten, in denen ihr Clan Einfluss genießt, grundsätzlich in Sicherheit sind (ÖB Nairobi 10.2024). Selbst IDPs tun sich bei einer Integration leichter, wenn sie z. B. in Mogadischu über Beziehungen und Clanverbindungen verfügen. Manchmal helfen bei einer Integration auch spezielle berufliche Fähigkeiten (FIS 7.8.2020a, S. 36). Abseits somalischer Bantu (BMLV 5.11.2024) gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. In Mogadischu und anderen großen Städten ist es nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört (Landinfo 4.4.2016, S. 9). In Mogadischu leben Angehörige aller somalischen Clans, sie können sich dort frei bewegen, niederlassen und eine Unterkunft mieten (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vgl. FIS 7.8.2020a, S. 39). Üblicherweise suchen Neuankömmlinge aber die Nähe ihres eigenen Clans, da sie sich dort wesentlich mehr Unterstützung erwarten (BMLV 5.11.2024).

Generell hat die Binnenmigration seit 2012 stark zugenommen, v.a. der Zuzug in urbane Gebiete. Menschen erhoffen sich in der Stadt eine bessere Zukunft und bessere Lebensbedingungen als etwa auf dem Land, wo wiederkehrende Dürren und Überschwemmungen ein nomadisches oder landwirtschaftliches Leben schwer gemacht haben (FIS 7.8.2020a, S. 36; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 16/24). Immer mehr Menschen flüchten und kommen nach Mogadischu (Guardian/Mohamed Ahmed 8.6.2022 - Fathi Mohamed Ahmed (Autor), The Guardian (Herausgeber) (8.6.2022): Mogadishu shops shuttered as soaring food prices add to desperation in Somalia).

Die sicherste Art des Reisens in Süd-/Zentralsomalia ist das Fliegen (FIS 7.8.2020a, S. 29; vgl. Landinfo 28.6.2019, S. 6f). Regierungsvertreter nutzen das Flugzeug, wo es nur geht. Von Mogadischu aus können Baidoa, Kismayo, Garoowe, Galkacyo, Bossaso, Cadaado, Guri Ceel sowie Hargeysa mit Linienflügen erreicht werden (MBZ 6.2023). Anbieter ab Mogadischu gibt es auch für Flüge nach Cabudwaaq, Belet Weyne und Dhobley (EASO 9.2021 - European Asylum Support Office (9.2021): Somalia – Key socio-economic indicators). Laut einer Quelle verfügen alle größeren Städte außer Afgooye und Balcad über Flughäfen oder Landebahnen. Die Kosten für ausgewählte Flüge von Mogadischu aus werden von einer Quelle der FFM Somalia 2023 wie folgt angegeben (in US-Dollar): Jowhar 90; Kismayo 170-190; Garoowe 190-210; Hargeysa 250. Flüge werden nicht online, sondern über Reisebüros gebucht. Laut dieser Quelle wird für einen Inlandsflug (außer Hargeysa) kein Ausweis benötigt, es kann dann aber zu einer Befragung durch Sicherheitskräfte kommen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Der Passagiertransport per Boot ist nicht sehr verbreitet (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Zwischen Mogadischu und Merka gibt es einen Bootsbetrieb für Passagiere. Eine Strecke kostet 30 US-Dollar (MBZ 6.2023; vgl. INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Eine effektive Ausreisekontrolle an den Grenzübergängen von Somalia in die Nachbarländer findet nicht statt. Sowohl die Landgrenze als auch die Seegrenze werden weitgehend nicht überwacht. Kontrollen werden dagegen bei Flugreisen ab Mogadischu, Garoowe und Bossaso durchgeführt (AA 23.8.2024).

1.3.7. Wehrdienst und Rekrutierungen

Das Personal der somalischen Streitkräfte setzt sich ausschließlich aus Freiwilligen zusammen (BMLV 28.3.2023 - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (28.3.2023): Anfragebeantwortung an die Staatendokumentation), es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst (AA 23.8.2024). Um in der Bundesarmee dienen zu können, unterzeichnen die Freiwilligen einen zeitlich unbegrenzten Anstellungsvertrag. Es gibt weder eine Mindest- noch eine Höchstverpflichtungsdauer (BMLV 28.3.2023). Nur hinsichtlich der nach Eritrea zur Ausbildung verbrachten ersten Kontingente besteht in einigen Fällen der Verdacht einer Zwangsrekrutierung, weil Rekruten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeworben worden sind (HIPS 1.2023).

Allerdings baut die Bundesarmee bei der Rekrutierung ganz auf Clanverbindungen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Und bei Clanmilizen kann es zu Zwang kommen, so kann ein Ältester Clanmitglieder zwingen, an einem Konflikt teilzunehmen (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023 - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), International NGO V (Autor) (5.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023). Eine Quelle erklärt hierzu, dass die Bundesarmee mit allen möglichen Praktiken rekrutiert und es im Rahmen einer Erfüllung einer vorgegebenen Rekrutierungsquote bei Clans auch zu „Zwangsrekrutierungen“ kommen kann (BMLV 7.8.2024). Auch eine andere Quelle erklärt, dass Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab rekrutieren. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (AA 23.8.2024). Nach wieder anderen Angaben hat die Bundesarmee hingegen aufgrund der Lage am Arbeitsmarkt keine Schwierigkeiten, neue Rekruten zu finden. Rekrutiert wird dabei flächendeckend, sei es in Baidoa, Belet Weyne oder Mogadischu (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

1.3.7.1. Al Shabaab - (Zwangs-)Rekrutierungen

Üblicherweise rekrutiert al Shabaab über die Clans (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Clans auf dem Territorium von al Shabaab müssen in Form junger Männer Tribut an die Gruppe abführen. Die Gruppe kommt in Dörfer, wendet sich an Älteste und fordert eine bestimmte Mannzahl (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; MBZ 6.2023). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018 - Roland Marchal (2018): Une lecture de la radicalisation djihadiste en Somalie, in: Politique Africaine, Vol. 2018/1 (no. 149), S.89-111, S. 105). Der Clan wird die geforderte Zahl stellen. Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 verfügt die Gruppe in den Clans über „Agenten“, welche die Auswahl der Rekruten vornehmen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Nach anderen Angaben wendet sich al Shabaab in den Gebieten unter ihrer Kontrolle an Familien, um diese zur Herausgabe von Buben aufzufordern (Sahan/SWT 6.5.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (6.5.2022): ‘Teach them well and let them lead the way’ – the plight of Somalia’s children, in: The Somali Wire Issue No. 382).

Jedenfalls treten oft Älteste als Rekrutierer auf (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. AQ21 11.2023). Nach anderen Angaben sind alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet für die Gruppe als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z. B. bei militärischen Operationen im Umfeld oder zur Aufklärung. Wehrfähig sind demnach auch Jugendliche mit 16 Jahren, die gemäß somalischer Tradition als erwachsen gelten (BMLV 7.8.2024).

Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB Nairobi 10.2024). Rekrutiert wird vorwiegend in Gebieten unter Kontrolle der Gruppe, im südlichen Kernland, in Bay und Bakool (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; BMLV 7.8.2024). Dort fällt al Shabaab dies einfacher, die Menschen haben kaum Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus diesen beiden Regionen (Marchal 2018, S. 107). Auch bei den Hawiye / Galja'el und Hawiye / Duduble hat die Gruppe bei der Rekrutierung große Erfolge (AQ21 11.2023). Viele Kämpfer stammen auch von den Rahanweyn. Generell finden sich bei al Shabaab Angehörige aller Clans (MBZ 6.2023). Auch viele Menschen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten melden sich freiwillig zu al Shabaab (BMLV 7.8.2024).

Eine informierte Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, noch nie von Zwangsrekrutierungen an Straßensperren gehört zu haben (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Dahingegen wird in IDP-Lagern - etwa im Umfeld von Kismayo - sehr wohl (freiwillig) rekrutiert (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023).

Wen al Shabaab rekrutiert: Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren eine relevante Quelle an Fußsoldaten (EASO 1.9.2021 - European Asylum Support Office (1.9.2021): Somalia – Targeted Profiles, S. 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu, bzw. marginalisierten Gruppen (Ingiriis 2020 - M.H. Ingiriis (2020): The anthropology of Al-Shabaab: the salient factors for the insurgency movement’s recruitment project, in: Small Wars Insurgencies, Vol. 31/2, 2020, pp. 359-380, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021): Somalia – Targeted Profiles, S.18; vgl. Sahan/SWT 30.9.2022 - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (30.9.2022): Winning the war of grievances, in: The Somali Wire Issue No. 458). Viele der Rekruten haben das Bildungssystem von al Shabaab durchlaufen (BMLV 7.8.2024). Die Gruppe nutzt in den von ihr kontrollierten Gebieten zudem gegebene lokale Spannungen aus. Minderheiten wird suggeriert, dass ein Beitritt zur Gruppe sie in eine stärkere Position bringen würde. Daher treten Angehörige von Minderheiten oft freiwillig bei und müssen nicht dazu gezwungen werden (MBZ 6.2023).

Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 1.9.2021, S. 18).

Gerade in den seit vielen Jahren von der Gruppe kontrollierten Gebieten ist die Bevölkerung im Austausch gegen Sicherheit und Stabilität eher bereit, Rekruten abzugeben (MBZ 6.2023). Und speziell Angehörige marginalisierter Gruppen treten der Gruppe mitunter bei, um sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018 - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, S. 34). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit, Rache an Angehörigen anderer Clans zu üben (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019 - Rory Brown (Autor), et.al. (Autor), James Khalil (Autor), Royal United Services Institute (Herausgeber) (1.2019): Deradicalisation and Disengagement in Somalia. Evidence from a Rehabilitation Programme for Former Members of Al-Shabaab, S. 14f; vgl. EASO 1.9.2021, S. 20). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 22.4.2024) - so z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020). Schlussendlich darf auch Angst vor al Shabaab als Motivation nicht vergessen werden. Demonstrationen extremer Gewalt halten viele Menschen bei der Stange (Sahan/SWT 12.6.2023).

Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023; Ingiriis 2020), jedenfalls nur eingeschränkt, in Ausnahmefällen bzw. unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, S. 92; vgl. BMLV 7.8.2024; MBZ 6.2023). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021). Die meisten Menschen treten der Gruppe freiwillig bei (MBZ 6.2023). Laut Angaben von Quellen der FFM Somalia 2023 kann man allerdings auf dem Gebiet der al Shabaab eine Rekrutierungsanfrage nicht einfach verneinen. Auch wenn al Shabaab Rekruten als Freiwillige präsentiert, haben diese i.d.R. keine wirkliche Option (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zudem erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023, dass al Shabaab die Forderung nach Rekruten auch als Bestrafung einsetzt, etwa gegen Gemeinden, die zuvor mit der Regierung zusammengearbeitet haben. In anderen Gebieten, wo die Gruppe versucht, Clans auf die eigene Seite zu ziehen, hat sie hingegen damit aufgehört, Kinder wegzunehmen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Jedenfalls kommen Zwangsrekrutierungen vor - nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Bei zwei Studien aus den Jahren 2016 und 2017 haben 10-11 % der befragten ehemaligen Angehörigen von al Shabaab angegeben, von der Gruppe zwangsrekrutiert worden oder ihr aus Angst vor Repressalien beigetreten zu sein (MBZ 6.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass 13 % der Angehörigen der Gruppe Zwangsrekrutierte sind (ÖB Nairobi 10.2024). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen oder Versprechungen (FIS 7.8.2020a - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (7.8.2020a): Somalia: Tiedonhankintamatka Mogadishuun maaliskuussa 2020, Mogadishun turvallisuustilanne ja humanitääriset olosuhteet, S. 18; vgl. MBZ 6.2023), eine Unterscheidung zwischen „freiwillig“ und „erzwungen“ ist nicht immer möglich (MBZ 6.2023).

Wo Zwangsrekrutierungen vorkommen: Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023; Researcher/STDOK/SEM 4.2023; FIS 7.8.2020, S. 17f). Überhaupt werden dort nur wenige Leute rekrutiert, und diese nicht über die Clans (AQ21 11.2023). Dort hat al Shabaab die Besteuerung im Fokus und nicht das Rekrutieren (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023) und hätte auch keine Kapazitäten dafür (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Dies gilt laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 auch für andere städtische Gebiete wie etwa Kismayo oder Baidoa (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern (EASO 1.9.2021, S. 21).

Verweigerung einer Rekrutierung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese „Vorschreibung“ - also wie viele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan (BMLV 7.8.2024). So kann es dann z. B. zur Entführung oder Ermordung unkooperativer Ältester kommen (MBZ 6.2023). Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufs (BMLV 7.8.2024; vgl. MBZ 6.2023). Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern (UNSC 10.10.2022). Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 7.8.2024). Generell haben größere Clans aufgrund gegebener Ressourcen eher die Möglichkeit, sich von Rekrutierungen freizukaufen, als dies bei Minderheiten der Fall ist (MBZ 6.2023). Insgesamt besteht offenbar Raum für Verhandlungen. Wenn die Gruppe beispielsweise eine bestimmte Anzahl von Schülern für ihre Schulen verlangt, kann ein Clan entweder Kinder zum Besuch dieser Schulen schicken oder für eine bestimmte Anzahl von Schülern anderer Clans bezahlen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Eine andere Möglichkeit besteht in der Flucht (MBZ 6.2023). Eltern schicken ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten (UNSC 10.10.2022). Junge Männer flüchten mitunter nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen (BMLV 7.8.2024). Andererseits berichtet ein Augenzeuge, dass jene Jugendlichen, die nach Absolvierung einer Schule der al Shabaab vor einer möglichen Zwangsrekrutierung nach Mogadischu geflohen sind, bald wieder in die Heimat zurückkehrten, weil ihre Eltern bestraft worden sind (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). In anderen Fällen sind gleich ganze Familien vor einer Rekrutierung der Kinder geflohen, viele endeten als IDPs (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vgl. IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 7.8.2024). Eine andere Quelle erklärt, dass, wer sich generell Rekrutierungen widersetzt, bedroht oder in Haft gesetzt wird (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, S. 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es meist zu Gewalt (BMLV 7.8.2024; vgl. UNSC 28.9.2020 - United Nations Security Council (28.9.2020): Letter dated 28 September 2020 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council; Final report of the Panel of Experts on Somalia [S/2020/949], Annex 7.2).

2. Beweiswürdigung

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des BF

Dem Verfahrensakteninhalt sind der im Spruch angeführte Name XXXX , geb. XXXX , und der Aliasname XXXX , geb. XXXX , zu entnehmen. In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG schilderte der BF, dass der im Protokoll der Erstbefragung festgehaltene Aliasname und das Aliasgeburtsdatum von einem XXXX Personalausweis stammen, welche ihm bei der Erstbefragung abgenommen worden sei. Mangels Vorlage eines entsprechenden Originaldokuments kann die Identität des BF letztlich nicht festgestellt werden.

In der mündlichen Verhandlung haben sich keine Hinweise ergeben, an seinen Angaben hinsichtlich seiner Staats- und Religionszugehörigkeit zu zweifeln.

Dem Protokoll der Erstbefragung ist zu entnehmen, dass der BF angegeben habe, in XXXX geboren zu sein. Dem Verfahrensgang des Bescheides zu GZ XXXX ist zu entnehmen, dass der BF bei der Erstbefragung angegeben hätte, in XXXX geboren zu sein (AS 199). Den Feststellungen des belangten Bescheides ist zu entnehmen, dass der BF mit dem Geburtsort XXXX geführt wird. Aufgrund der Sicherheitslage und dem Mangel an familiären Anknüpfpunkten in als sicher zu bewertenden Landesteilen und weil somit bei einer Rückkehr die Gefahr besteht, dass der BF in eine aussichtslose Lage geraten könnten, wurde dem BF mit Bescheid zu GZ XXXX der Status eines subsidiärer Schutzberechtigten gewährt. Da sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG keine Hinweise ergeben, dass der BF nicht aus XXXX stammt, konnte im gegenständlichen Verfahren davon ausgegangen werden, dass der BF ebendort geboren wurde.

Nach einer Gesamtbetrachtung seiner diesbezüglichen Angaben erscheint es nachvollziehbar, dass der BF das XXXX gelernt und als solcher zum Lebensunterhalt seiner Kernfamilie beigetragen hat.

Seine Clanzugehörigkeit wurde mit Bescheid des BFA festgestellt (AS 216). Es haben sich keine Hinweise ergeben, die dies in Zweifeln ziehen lassen würden.

Die Angaben des BF betreffend seine Geschwister waren in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich, zumal seine Altersangaben der Geschwister und Halbgeschwister nicht nachvollziehbar sind (Niederschrift der mündlichen Verhandlung, in der Folge: NSV S.10). Auch waren seine Angaben zu dem Todeszeitpunkt seines Vaters widersprüchlich, zumal er bei der belangten Behörde behauptete, dass sein Vater „vor seiner Geburt bei einem Anschlag als Unbeteiligter verstorben“ wäre, vor dem BVwG jedoch schilderte, dass dieser verstorben sei, als der BF „noch sehr klein war“. Es kann daher nicht festgestellt werden, ob und wann der Vater des BF verstorben ist.

Vor dem Hintergrund seiner diesbezüglich vagen Angaben kann weiters weder festgestellt werden, ob die Mutter des BF verstorben ist, noch wie viele Geschwister bzw. Halbgeschwister er hat. Nach einer Gesamtbetrachtung seiner Angaben vor dem BVwG ist es lediglich glaubhaft, dass er gegenwärtig Kontakt zu seiner Tante und Geschwistern im Herkunftstaat pflegt.

Es haben sich keine Hinweise ergeben, an seinen Angaben, gesund zu sein, zu zweifeln.

Dem Strafregister der Republik Österreich sind keine Verurteilungen des BF im Bundesgebiet zu entnehmen.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des BF

2.2.1. Die Feststellung, dass der BF aktuell keiner konkreten, asylrelevanten Verfolgung bzw. Bedrohung im Herkunftsstaat ausgesetzt ist ergibt sich daraus, dass das Fluchtvorbringen des BF nicht glaubhaft ist. Vor dem Hintergrund seiner vagen Schilderungen, sind weiters seine Rückkehrbefürchtungen nicht nachvollziehbar.

So schilderte der BF aktuell auf dem gesamten Staatsgebiet Somalias von der al Shabaab verfolgt zu werden, konnte jedoch nicht glaubhaft schildern, weshalb er von wem konkret verfolgt werden würde. Aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung, vor dem BVWG vor seiner Ausreise einem unbekannten Mann der al Shabaab die XXXX zu haben, der am nächsten Tag wieder gekommen sei, kann nicht geschlossen werden, dass bzw. weshalb er aktuell eine Verfolgung seitens der al Shabaab fürchten könnte.

Seine pauschalen Schilderungen, eine Verfolgung durch die al Shabaab in Somalia im Allgemeinen zu fürchten, sind vor dem Hintergrund seiner Angaben in XXXX durch die al Shabaab nicht verfolgt bzw. nur deshalb nicht kontaktiert worden zu sein, weil er kein Handy bei sich gehabt habe, nicht nachvollziehbar. Auch, dass er nach eigenen Angaben alleine mittels Minibus unbehelligt nach XXXX reisen konnte, lässt nicht darauf schließen, dass er auf dem gesamten Staatsgebiet Somalias eine Verfolgung fürchten würde (NSV S.17).

Weiters konnte der BF nicht glaubhaft schildern, weshalb die al Shabaab über XXXX nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat ein so großes Interesse an dem BF haben würde, dass er auf dem gesamten Staatsgebiet Somalias verfolgt werden würde.

Seine vagen Schilderungen aktuell ebendort verfolgt zu werden, weil er „Aufgaben für sie erledigen. Bomben transportieren usw.“ sollte, sind nicht glaubhaft. Der BF zählt auch nicht zu den unter II.1.3.2.1. angeführten Personengruppen und hat dies im Übrigen auch nicht substantiiert behauptet. Vielmehr gab er vor der belangten Behörde an, keine politisch exponierte Person zu sein (AS 185).

Weiters schilderte der BF nicht vorbestraft zu sein und auch keine Probleme mit staatlichen Behörden, Gerichten oder der Polizei in Somalia gehabt zu haben bzw., dass auch keine aktuellen staatlichen Fahndungsmaßnahmen gegen ihn im Herkunftsstaat bestehen würden (AS 186).

2.2.2. Darüber hinaus kann im gegenständlichen Fall die Gefahr einer Zwangsrekrutierung nicht objektiviert werden, zumal den unter II.1.3. zitierten Länderberichten in diesem Zusammenhang zu entnehmen ist, dass generell Zwangsrekrutierungen in Gebieten unter Kontrolle der al Shabaab vorkommen. Den aktuellen unter II.1.3. zitierten Länderberichten ist zu entnehmen, dass XXXX unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS steht. Rekruten werden in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten weiters über Clans rekrutiert und es besteht diesfalls auch die Möglichkeit des Freikaufens (II.1.3.7.1.).

Weiters ist den ins Verfahren eingeführten Länderberichten zu entnehmen, dass die al Shabaab versucht junge Männer hauptsächlich durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Das vom BF geschilderte Fluchtvorbringen des BF ist vor diesem Hintergrund daher nicht nachvollziehbar.

Es kann folglich nicht von einer Gefahr einer Zwangsrekrutierung des BF im Herkunftsstaat ausgegangen werden.

2.2.3. Andere Fluchtgründe wurden vom BF weder im behördlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vorgebracht und sind auch vor dem Hintergrund der ins Verfahren eingebrachten Länderberichte nicht hervorgekommen.

2.3. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat des BF

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus den im aktuellen LIB wiedergegebenen und zitierten Länderberichten zu dem Herkunftsstaat des BF. Das LIB gründet sich auf den jeweils angeführten Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das BVwG kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, zumal ihnen - auch unter Berücksichtigung der vorgebrachten UNHCR-Richtlinien sowie der Leitlinien der EUAA zu Somalia - nicht substantiiert entgegengetreten wurde. Die konkret den Feststellungen zugrundeliegenden Quellen wurden unter II.1.3. zitiert.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zu A)

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, welcher in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

3.1.2. Flüchtling iSd. Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist demnach, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.“

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).

3.1.3. Das individuelle Vorbringen eines Asylwerbers ist ganzheitlich unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens zu würdigen (vgl. VwGH 26.11.2003, Ra 2003/20/0389). Die Glaubwürdigkeit des Vorbringens nimmt folglich die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung ein (VwGH vom 20.06.1990, 90/01/0041).

3.1.4. Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an (vgl. VwGH 30.09.2015, Ra 2015/19/0066). Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der BF bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn daher der BF im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 13.12.2016, Ro 2016/20/0005); die entfernte Gefahr einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).

3.1.5. Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr iSd Genfer Flüchtlingskonvention. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).

3.1.6. Der BF ist hinsichtlich seiner vorgebrachten Fluchtgründe persönlich unglaubwürdig. Die Glaubhaftmachung ist ein wesentliches Tatbestandsmerkmal für die Gewährung von Asyl.

Es ist dem BF nicht gelungen, einen aus dem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Grund einer aktuell drohenden Verfolgung maßgeblicher Intensität schlüssig darzulegen. Die Angaben im Zuge des gesamten Verfahrens sind nicht hinreichend konsistent und im Hinblick auf die Länderinformationen nicht objektivierbar. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb er im Herkunftsstaat einer ernstlichen Bedrohung ausgesetzt sei bzw. Gefahr liefe, asylrelevante Übergriffe zu erleiden.

Der BF konnte weiters auch nicht substantiiert angeben, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung gegeben ist bzw. diese mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht (II.2.2.)

Weiters sind vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte keine Hinweise hervorgekommen, dass der BF in Somalia nach objektiver Wahrscheinlichkeit sonstigen ernstlichen Bedrohungen ausgesetzt wäre, die als asylrelevant zu qualifizieren sind.

Es kann im gegenständlichen Fall insgesamt – auch unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien sowie der Leitlinien der EUAA zu Somalia – nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht, weshalb ihm im Ergebnis der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten durch das BFA ist daher im Ergebnis nicht zu beanstanden.

3.2. Zu B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die unter II.3.1. zitierte Judikatur); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Es liegen auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Im gegenständlichen Fall konnte sich daher das Bundesverwaltungsgericht auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Es ist somit insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.

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