JudikaturBVwG

W177 2274631-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
20. Mai 2025

Spruch

W177 2274631-1/55E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gesetzlich vertreten durch XXXX , vertreten durch die Caritas Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.05.2023, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.03.2025 zu Recht:

A)

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der minderjährige Beschwerdeführer (in Folge „BF“), ein Staatsangehöriger Afghanistans reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 11.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 11.09.2022 gab der BF zu seinem Fluchtgrund befragt an, dass sein Vater seit drei Jahren verschollen sei. Er sei nun das Oberhaupt der Familie und habe sich entschlossen nach Europa zu gehen, um die Familie finanziell unterstützen zu können. In Afghanistan wären die Taliban an der Macht und es gebe keine Arbeit. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er, dass die Familie verhungern würde.

I.2. Am 05.05.2023 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „BFA“). Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er Paschtune und sunnitischer Moslem sei. Er spreche Paschtu und habe sich in Österreich bereits eingelebt. Er sei in der Provinz Kabul (Distrikt XXXX ) geboren worden und habe dort auch vier Jahre die Schule besucht und in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet. Er habe drei Tage nach der Machtübernahme der Taliban sein Heimatland verlassen. Sein Vater sei vor vier Jahren verschwunden. Sein Mutter, zwei Brüder und vier Schwestern würden noch in Afghanistan leben. Sein Vater sei Fahrer in Kabul gewesen und eines Tages nicht mehr zurückgekehrt. Seine Familie lebe durch Einkünfte aus Mietshäusern, der Arbeitseinkünfte der Brüder und Zuwendungen eines Onkels. In Europa lebe in Frankreich ein Onkel. Der BF stamme aus dem Dorf XXXX , das Rande von Kabul liege.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der BF an, dass der BF nach dem Verschwinden seines Vaters in einem Lebensmittelgeschäft seines Onkels gearbeitet habe. Dorthin sei immer ein Mann gekommen. Dieser sei mehrmals die Woche ins Geschäft gekommen und habe dem BF das Rückgeld überlassen. Eines Tages habe er gesagt, dass er einen Behälter bringe und der BF diesen, wenn die Polizisten Wasser kaufen würden, ins deren Auto bringen müsse. Der BF habe dies abgelehnt. Einen Monat vor der Machtübernahme der Taliban habe er einen Drohbrief von diesem Mann erhalten. Nach der Machtübernahme der Taliban habe seine Mutter Angst um den BF bekommen, sodass dieser ausgereist sei.

Der Drohbrief sei 20 Tage nach dem Vorfall gekommen und habe beinhaltet, dass die Taliban den BF bestrafen würden. Da die Taliban Häuser durchsucht hätten, hätte die Familie diesen Drohbrief weggeworfen. Damals sei der BF schon auf der Flucht gewesen. Er habe etwas einen Monat nach dem Erhalt des Drohbriefes Afghanistan verlassen. Die Polizei habe einmal wöchentlich im Geschäft eingekauft. Das Geschäft sei mittlerweile verkauft worden. Weitere Drohungen habe es nicht mehr gegeben. Die Familie sei auch zu seinem Onkel gezogen. Er habe Angst, weil die Taliban auch Fotos von ihm gemacht hätten und sie ihn dadurch wiedererkennen würden. Auf Vorhalt, warum er dies nicht bei der Erstbefragung gesagt habe, vermeinte der BF, dass es ihm damals nicht gut gegangen sei und die Polizisten auch gesagt hätten, dass noch eine Einvernahme kommen werde. Ob es nach seiner Ausreise noch Drohungen geben habe, könne der BF nicht sagen. Sein Onkel habe die Bedrohung auch bei der Polizei angezeigt, jedoch sei die Regierung danach gestützt worden. Der Onkel, der Lehrer an einer Privatschule für beide Geschlechter gewesen sei, sei bislang nicht bedroht worden. In diesen Brief sei gestanden, dass er kein Moslem sei und er nicht geholfen habe, das Land von den Amerikanern zu befreien. Einen Zusammenhang mit dem Verschwinden des Vaters und diesen Drohungen gebe es nicht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative gebe es für den BF nicht, weil die Taliban sein Foto hätten. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, getötet zu werden.

I.3. In einer am 12.05.2025 ergangenen Stellungnahme führte die Rechtsvertretung des BF aus, dass der Entwicklungsstand des BF bei der Glaubwürdigkeitsprüfung einzufließen habe und das Kindeswohl zu berücksichtigen sei. Im Falle einer Rückkehr sei der BF in Afghanistan auch einer asylrechtlich relevanten kinderspezifischen Verfolgungsgefahr ausgesetzt.

I.4. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 26.05.2024 wurde der Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten von der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Einhergehend wurde dem BF gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) zuerkannt und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Das BFA traf zunächst herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan und stellte fest, dass die Angaben zu seiner Herkunft glaubhaft gewesen seien, seine Identität jedoch, in Ermangelung von identitätsbezeugenden Dokumenten, nicht festgestellt habe werden können.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der BF in der Erstbefragung keine Bedrohung oder Verfolgung seiner Person in seinem Heimatland im Sinne der GFK oder aus sonstigen Gründen geltend gemacht habe. Stattdessen habe er lediglich die schlechte allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage als sein Hauptproblem für seine Ausreise und seine Rückkehr vorgebracht. Erst vor dem BFA habe er sich darauf berufen, dass die Taliban nach ihm suchen würden und er einen Drohbrief erhalten habe, nachdem sich der BF geweigert habe, mit den Taliban zu kooperieren. Dies sei aber nicht glaubwürdig gewesen, weil der BF in diesem zahlreiche Unplausibilitäten gehabt hätte, weil die Taliban den BF bis und während seiner Flucht leicht habhaft hätten werden können, weil diese ein Bild vom BF gehabt hätten und bei seiner Flucht bereits an der Macht gewesen wären. Auch habe es seit seiner Ausreise keine weiteren Bedrohungshandlungen gegeben.

Aufgrund der aktuell in Afghanistan vorherrschenden Sicherheits- und Versorgungslage sei dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen gewesen.

I.5. Mit Verfahrensanordnung vom 26.05.2023 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die BBU GmbH für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

I.5. Gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides erhob der BF im Wege seiner Rechtsvertretung am 26.06.2023, eingelangt am beim BVwG am 05.07.2023, fristgerecht Beschwerde. Zunächst wird darin angegeben, dass der BF nach der Machtübernahme der Taliban einem drastisch erhöhten Gefährdungsrisiko ausgesetzt sei, weil er einer Zwangsrekrutierung ausgesetzt sein könnte und ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde.

Bezüglich einer mangelnden Beweiswürdigung wurde angemerkt, dass es die belangte Behörde verabsäumt habe, das Vorbringen des BF ganzheitlich zu würdigen und der BF nur rudimentär befragt worden wäre.

Es wurde beantragt, der Beschwerde stattzugeben und dem BF Asyl zu gewähren bzw. den angefochtenen Bescheid ersatzlos (sic!) zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen. Ebenfalls wurde das Durchführen einer mündlichen Verhandlung beantragt.

I.6. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 29.06.2023, eingelangt am 05.07.2023, vom BFA vorgelegt. Es wurde beantragt, das BVwG möge die Beschwerde als unbegründet abweisen.

I.7. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 29.11.2023 wurden die gegenständliche Rechtssache der bisher zuständigen Gerichtsabteilung W220 abgenommen und neu zugewiesen.

I.8. Am 17.04.2024 wurde eine für 22.04.2024 angesetzte mündliche Verhandlung abberaumt, weil eine Vertagungsbitte der Rechtsvertretung des BF, nunmehr die Caritas der Diözese Graz-Seckau, am 16.04.2024 erfolgte. Der BF befinde sich in einer akuten Belastungssituation und sei aufgrund eines ambulanten Arztbriefes örtlich und situativ nur teilorientiert. Ebenso wurde eine für 30.07.2024 angesetzte mündliche Verhandlung abberaumt.

I.9. Mit Beschluss vom 18.07.2024 wurde in der gegenständlichen Beschwerdesache gemäß § 52 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG eine Sachverständigenbestellung aus dem Fachgebiet der Psychotherapie, um die Prozessfähigkeit des BF beurteilen zu können.

I.10. Ein am 01.12.2024 erstelltes kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten kam zu dem Schluss, dass der BF vor zwei Monaten noch nicht verhandlungsfähig gewesen sei, sich inzwischen dies geändert habe, weil der die erfolgreiche, medikamentöse Einstellung erfolgt sei. Derzeit wären Konzentration und Aufmerksamkeit noch eingeschränkt, obgleich in den nächsten Monaten aber aufgrund der Rehabilitationsphase eine längere Konzentrationsdauer erwartbar sei.

I.11. In einer Stellungnahme vom 27.03.2025 führte die Rechtsvertretung des BF, dass der Name des BF falsch protokolliert worden sei und tatsächlich XXXX laute. Er habe in Afghanistan sechs Jahre lang eine Schule besucht. Dies sei unrichtig in der Erstbefragung, jedoch in der Einvernahme richtig protokolliert worden. Er habe fünf und nicht vier Schwestern. Sein Vater sei mittlerweile wiederaufgetaucht.

Er konkretisierte den Zeitpunkt seiner Ausreise dahingehend, dass er in den Tagen rund um die Machtübernahme der Taliban ausgereist sei. Der BF sei geflohen wie diese bereits in Kabul gewesen wären, aber noch bevor sie die endgültige Kontrolle übernommen hätten.

I.12. Am 31.03.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht die fortgesetzte mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der mündlichen Verhandlung, mit Schreiben vom 21.02.2025 entschuldigt, nicht teil.

Verlesen wurde das Sachverständigengutachten vom 01.12.2024 sowie die Stellungnahme des BF vom 27.03.2025. Hinsichtlich des neu genannten Namens wurde „alias XXXX “ dem Adressendatensatz hinzugefügt.

Der BF sei verhandlungsfähig. Es wurde das das bisherige Vorbringen und der Akteninhalt für den BF mündlich zusammengefasst. Die Parteien verzichteten auf die Verlesung der für das Ermittlungsverfahren wesentlichen Aktenteile, weil sie den Akteninhalt hinlänglich kennen würden. Es erfolgte eine vorläufige Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat. Die Sach- und Rechtslage wurde ausführlich erörtert.

Dem BF wurde die Möglichkeit eingeräumt, binnen vier Wochen (auf Antrag erstreckbar) einen Schriftsatz einzubringen, der das Vorbringen noch einmal detailliert darstellt und - allfällig vorhanden - Informationen zur Situation im Herkunftsland beifügt.

Der BF gab an, sechs Jahre die Schule in Kabul besucht zu haben. Er könne in Paschtu, Farsi, Deutsch und Englisch sowohl lesen als auch schreiben.

Er habe bislang die Wahrheit gesagt. Nur sein Name sei falsch protokolliert worden. Aufgrund des nicht richtig gewesenen Ausweises habe er sogar das Land verlassen wollen. Die bisher getätigten Ausführungen würde er aber ansonsten genauso wiederholen.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der BF aus, dass alles ruhig gewesen sei, bis ein Lebensmittelgeschäft aufgemacht worden sei, in dem er als Verkäufer gearbeitet habe. Das Geschäft der Familie sei gegenüber einer Militärbasis, weshalb die Soldaten der Armee dort eingekauft hätten. Nach einiger Zeit habe er jemanden kennengelernt, der etwas älter als der BF gewesen sei. Die beiden hätten sich angefreundet. Eines Tages habe er gesagt, dass er Sprengstoff bringe. Dieser werde in einer Plastikflasche montiert sein und er wolle, dass der BF die Flasche mit dem Wasser auf die Ladefläche des Rangers der Polizei stellen solle. Der BF habe große Angst bekommen, weil er unter der Nationalarmee viele Freunde gehabt habe. Er habe es abgelehnt und danach habe er einen Drohbrief bekommen. Er habe es auch nicht lesen können, aber nachdem ihm der Brief vorgelesen worden sei, hätte es die Familie Angst bekommen und er BF habe das Land verlassen müssen.

Dieses Lebensmittelgeschäft habe seinem Schwager gehört. Sein Onkel habe ein Textilgeschäft gehabt. Dort habe bloß sein Bruder gearbeitet. Sein Vater sei damals fort gewesen. Seit sechs Monaten sei er wiederaufgetaucht. Er lebe nun wieder bei der Familie und der BF habe regelmäßig telefonischen Kontakt.

Er denke, dass die Taliban keine guten Menschen seien. Er habe viele Videos gesehen und viel gehört. Danach folgte der Schluss der Verhandlung.

I.13. In einer Stellungnahme vom 23.04.2025 führte die Rechtsvertretung des BF, dass der BF einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt sei, weil er aufgrund seiner Krankheit psychisch beeinträchtigt sei und bereits aus seiner Zeit in Afghanistan ein Schlangentattoo habe. Dadurch falle er auch unter die soziale Gruppe „mayub“. Dieses Risikoprofil könne laut höchstgerichtlicher Judikatur in Kumulation mit anderen Fluchtgründen asylrechtlich relevant sein. Auch würden die Länderberichte zeigen, dass psychische kranke Personen in Afghanistan systematisch diskriminiert und ausgestoßen werden würden. Aufgrund seines Unterarmtatoos würde er aufgrund seines Aufenthalts im Westen im Falle einer Rückkehr noch mehr in der Fokus der Taliban geraten, die ihm eine politische Gesinnung unterstellen würden. Der Weiterem drohe dem BF die Gefahr eine Zwangsrekrutierung. Er habe die Kooperation mit den Taliban abgelehnt, weshalb der BF weiterhin von den Taliban verfolgt werden würden und es den Länderberichten zu entnehmen sei, dass die Taliban auch Minderjährige rekrutieren würden.

Des Weiteren würden ID-Karten der Mutter und der minderjährigen Geschwister des BF vorlegt, um zu beweisen, dass der BF auch den Namen XXXX trage.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht zudem auch Dari. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Die Identität steht nicht fest und der anführte dient bloß zur Identifizierung als Verfahrenspartei.

Der BF wurde im Distrikt XXXX in Provinz Kabul geboren und hat sich zuletzt im Dorf XXXX bei Kabul in Afghanistan aufgehalten. Seine Familie, bestehend aus seinen Eltern und seinen Geschwistern, lebt weiterhin in Kabul. Der BF steht in Kontakt zu seiner Familie.

Zum Gesundheitszustand des BF wird festgestellt, dass der BF an einer psychischen Krankheit leidet. Ein am 01.12.2024 erstelltes kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten attestierte, dass sich der Gesundheitszustand des BF inzwischen verbessert hat und er einvernahmefähig ist. Die derzeit eingeschränkte Konzentration und Aufmerksamkeit werden sich in den nächsten Monaten aber noch verbessern. Es wird nicht verkannt, dass der BF durch seine psychische Krankheit beeinträchtigt ist. Diese Einschränkungen führen aber nicht dazu, dass der BF einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Falle einer Rückkehr ausgesetzt ist.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Der BF stellte am 11.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Ihm wurde mit verfahrensgegenständlichen Bescheid des BFA vom 26.05.2023 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat wegen asylrelevanter Bedrohung verlassen hat oder bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle, konkret gegen seine Person gerichtete Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung durch staatliche Organe oder durch Privatpersonen zu erwarten hätte.

II.1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 12, 31.01.2025):

Regionen Afghanistans

Letzte Änderung 2025-01-30 08:04

Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 25.11.2024) leben ca. 35 (NSIA 7.2024) bis 40,1 Millionen Menschen (CIA 25.11.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 25.11.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 12.7.2024; vgl. EUAA 1.11.2024).

Ost-Afghanistan

Letzte Änderung 2025-01-30 08:06

Der Osten Afghanistans grenzt an Pakistan und ist ein wichtiger Teil des paschtunischen Heimatlandes, dessen Stammeseinfluss sich bis nach Westpakistan erstreckt. Jalalabad, die Hauptstadt der Provinz Nangarhar, liegt auf halbem Weg zwischen Torkham (Ende des Khyber-Passes/Grenze zu Pakistan) und Kabul. Sie gilt als die wichtigste afghanische Stadt im Osten und als das Tor nach Afghanistan vom Khyber-Pass aus. Berge und Täler (oft sehr abgelegen) dominieren die Region (NPS o.D.d). In der östlichen Region liegt die durchschnittliche Temperatur im Winter bei etwa 10 Grad (IOM 2.12.2024).

Provinz Provinzhauptstadt* Bevölkerungszahl**

Kabul Kabul 5,766.181

Kapisa Mahmud-i-Raqi 514.290

Khost Khost 670.635

Kunar Asad Abad 517.180

Laghman Mehtarlam 526.271

Logar Pul-e-Alam 457.698

Nangarhar Nangarhar 1,805.087

Paktia Gardez 645.070

Paktika Sharan (auch Sharana) 816.825

Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)

Kabul: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara, Surubi/Surobi/Sarobi

Kapisa: Alasay, Hesa Awal Kohistan, Hesa Duwum Kohistan, Koh Band, Mahmud Raqi, Nijrab, Tagab

Khost: Ali Sher (Tirzayee), Baak, Gurbuz, Jaji Maidan, Khost (Matun), Manduzay (Esmayel Khil), Muza Khel, Nadir Shah Kot, Qalandar, Sabari (Yaqubi), Shamul, Spera, Tanay

Kunar: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor sowie der temporäre Distrikt Sheltan

Laghman: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi, Bad Pash (also Bad Pakh)

Logar: Azra, Baraki Barak, Charkh, Khar War, Khushi, Mohammad Agha, Pul-e-Alam

Nangarhar: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar, Surkh Rud

Paktia: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (auch Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (auch Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran, Zurmat sowie die vier temporären Distrikte Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba

Paktika: Barmal, Dila Wa Khushamand, Gomal, Giyan, Jani Khel, Mata Khan, Nika (Naka), Omna, Surobi, Sar Rawzah, Sharan, Turwo, Urgoon, Wazakhwah, Wormamay, Yahya Khel, Yosuf Khel, Zarghun Shahr (auch Khairkot), Ziruk sowie die vier temporären Distrikte Shakeen, Bak Khil, Charbaran, Shakhil Abad

Kabul-Stadt

Letzte Änderung 2025-01-30 08:05

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und verfügt über eine geschätzte Einwohnerzahl zwischen 4,589.000‬ (CIA 25.11.2024) und ca. 5,766.181 Personen (NSIA 7.2024). Die Stadt ist aufgeteilt in 22 Bezirke und verfügt über einen internationalen Flughafen, der sich im 15. Stadt-Bezirk befindet (AAN 2019). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus sowie Kutschi (PAN o.D.; vgl. NPS o.D.a).

Politische Lage

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023b). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023b) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023b). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).

Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2020; vgl. BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).

Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).

Internationale Anerkennung der Taliban

Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023).

Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).

Drogenbekämpfung

Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).

Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).

Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).

Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2025-01-31 16:37

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und Amnesty International (AI) haben jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 27.6.2023) durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgendermaßen:

19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)

20.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)

1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)

1.11.2023 - 10.1.2023: 1.508 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 38 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.2.2024)

1.2.2024 - 13.5.2024: 2.505 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 55 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 13.6.2024)

14.5.2024 - 31.7.2024: 2.127 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 9.9.2024)

Entwicklung der Sicherheitsrelevanten Vorfälle laut ACLED für die Jahre 2023 und 2024

Wie den oben aufgeführten Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025) und den Vereinten Nationen zu entnehmen ist, sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2024 angestiegen. Dies hängt laut den Vereinten Nationen vor allem mit vermehrten Zwischenfällen im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024) und Grundstückstreitigkeiten zusammen (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024) und war zum Teil auf die Bemühungen der Taliban-Behörden zurückzuführen, das Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen (UNGA 13.6.2024).

Auch die vom Uppsala Conflict Data Program (UCDP) erfassten Vorfälle zeigen dieses Bild. Mit Beginn des Jahres 2022 gehen die sicherheitsrelevanten Vorfälle deutlich zurück. In der ersten Jahreshälfte 2024 ist jedoch wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Bei jenen sicherheitsrelevanten Vorfällen, die den ISKP betreffen, erkennt man einen Rückgang im Laufe der letzten Jahre, wobei auch hier ein leichter Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2024 zu erkennen ist (UCDP 9.12.2024).

Laut Angaben der Vereinten Nationen hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022). Im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 nahmen diese Aktivitäten jedoch wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Ein Trend, der sich auch 2024 fortsetzt (UNGA 28.2.2024). Ziele der Gruppierung sind die schiitischen Hazara (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 22.1.2024, UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024), ausländische Staatsbürger (UNGA 9.9.2024) sowie Mitglieder der Taliban (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024). Die Taliban führen weiterhin Operationen gegen den ISKP durch (UNGA 13.6.2024), unter anderem in Nangarhar (UNGA 9.9.2024).

Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023). Dieser Trend setzt sich auch im Jahre 2024 fort. Nach dem Dafürhalten der Vereinten Nationen stellt die bewaffnete Opposition mit 2024 weiterhin keine nennenswerte Herausforderung für die territoriale Kontrolle der Taliban dar (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024). Die Nationale Widerstandsfront und die Afghanische Freiheitsfront gehen mit einer "Hit-and-Run"-Taktik gegen die Taliban-Sicherheitskräfte vor, greifen deren Posten und Fahrzeuge an und verübten Hinterhalte und gezielte Tötungen (UNGA 9.9.2024).

Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).

In einem Interview durchgeführt von EUAA in Kooperation mit dem schwedischen Migrationsamt (Migrationsverket), der Staatendokumentation und Landinfo gab ein afghanischer Forscher befragt zur Sicherheitslage an, dass die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan zurückgegangen ist. Es gibt, seiner Einschätzung nach, keine Region in Afghanistan, in welcher oppositionelle Gruppen offen die Kontrolle haben. In Provinzen wie Panjsher, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar, in denen es in der Vergangenheit zu Kämpfen zwischen den Taliban und verschiedenen Gruppierungen gekommen ist, verlief der Verkehr normal und Einheimische in der Region erzählten dem Forscher, dass es keine Zwischenfälle geben würde. Betreffend die Kapazitäten des NRF hatte er nur wenig Informationen, er schreibt dem ISKP jedoch zumindest die Möglichkeit operativer Aktivitäten zu, wobei er anfügt, dass die Taliban immer effizienter bei der Aushebung von ISKP-Zellen zu werden scheinen. Dies zeigt sich in einer entspannteren Sicherheitslage in beispielsweise Kabul und Herat. Der Forscher schließt daraus, dass weder der ISKP noch andere Gruppierungen aktuell wirklich ein Problem für die Taliban sind (VQ AFGH 3 1.10.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Sicherheitsrelevante Vorfälle und zivile Opfer nach Provinzen (25.11.2023 - 25.11.2024)

Letzte Änderung 2025-01-31 16:37

Sicherheitsrelevante Vorfälle laut ACLED und zivile Todesopfer laut UCDP zwischen November 2023 und November 2024: Laut den von ACLED erfassten Daten fanden in allen drei angeführten Bereichen die meisten der Vorfälle in Ost-Afghanistan statt, wobei hier vor allem in Kabul ein Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle stattfand (ACLED 13.1.2025).

Im Zeitraum zwischen 25.11.2023 und 25.11.2024 gab es die meisten zivilen Opfer (mehr als 60 %), gemäß UCDP, in Nord-Afghanistan. Ca. ein Viertel (100) gab es in Ost-Afghanistan. 30 Todesopfer gab es in Zentralafghanistan, 17 in West-Afghanistan und 2 in Süd-Afghanistan. Auf Provinzebene gab es die meisten Todesopfer in Badakhshan (168), gefolgt von Kabul (56) und Baghlan (44) (UCDP 9.12.2024).

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung 2025-01-14 16:00

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021b; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021b, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).

Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).

Zentrale Akteure

Taliban

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023a; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. PJIA/Rehman 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, PJIA/Rehman 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und "sunnitisch-islamische Deobandi"-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).

Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi/Sadat 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.2.2022; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Nach 23 Jahren Krieg (1978-2001) und dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 konnte Afghanistan 2004 eine neue Verfassung verkünden, die sowohl islamische als auch modern-progressive Werte enthält. Die juristischen und politikwissenschaftlichen Fakultäten sowie die Scharia waren zwei Institutionen, die zur Ausbildung des Justizpersonals beitrugen, indem sie Hunderte von jungen Männern und Frauen ausbildeten, die später als Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft zahlreiche Entwicklungsprogramme durchgeführt, die auf den Wiederaufbau des afghanischen Rechtssystems und den Ausbau der Kapazitäten des Personals der Justizbehörden abzielen. Darüber hinaus hat die [Anm.: frühere] afghanische Regierung ein Justizverwaltungssystem eingeführt, das alle Justizeinrichtungen dazu verpflichtet, ihre Fälle und Verfahren aufzuzeichnen und zu dokumentieren (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach ihrem Sturz im Jahr 2001 gelang es den Taliban, in den von ihnen kontrollierten, meisten ländlichen, Gebieten Gerichte einzurichten und den Menschen den Zugang zur Rechtsprechung auf lokaler Ebene zu erleichtern. Dies geschah zu einer Zeit, als die staatlichen Justizorgane aufgrund der weitverbreiteten Korruption ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung weitgehend verloren hatten. Daher zogen die Menschen es vor, sich an die Gerichte der Taliban zu wenden, anstatt an die Gerichte der Regierung (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 22.10.2021). In den vergangenen zwanzig Jahren gelang es dem Justizsystem der Taliban, mit seinen praktischen Maßnahmen das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Taliban-Richter fungierten sowohl als Richter im juristischen Bereich als auch als Gelehrte (ulama) im religiösen Bereich. Die Taliban-Richter absolvierten ihre Ausbildung an Deobandi-Schulen in Pakistan und Afghanistan, die sich hauptsächlich auf die hanafitische Rechtsprechung stützten (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 übernahmen sie die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (Rawadari 4.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.1.2022). Bisher haben sich die Taliban noch nicht zu den Gesetzen geäußert, insbesondere nicht zu den Strafgesetzen, zur nationalen Sicherheit und zu den Gerichten (STDOK/Nassery 4.2024). Ein Experte für islamisches Recht schließt aus den Äußerungen der Taliban, dass sie diese Gesetze und Rechtsvorschriften in den meisten Bereichen, insbesondere Strafrecht, Familienrecht, Jugend- und Frauenrechte, ignorieren und erwartet, auch als Folge der Auflösung unabhängiger Institutionen wie der Association of Defense Lawyers und der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC), weitere schwerwiegende Probleme für die Rechtsprechung in Afghanistan (STDOK/Nassery 4.2024).

Den Taliban zufolge bildet die hanafitische Rechtsprechung die Grundlage für das Rechtssystem (USDOS 15.5.2023; vgl. STDOK/Nassery 4.2024), und derzeit verfügt das Land nicht über einen klaren und kohärenten Rechtsrahmen, ein Justizsystem oder Durchsetzungsmechanismen. Den Taliban zufolge bleiben Gesetze, die unter der Regierung vor August 2021 erlassen wurden, in Kraft, sofern sie nicht gegen die Scharia verstoßen (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Die Taliban-Führer zwingen den Bürgern ihre Politik weitgehend durch Leitlinien oder Empfehlungen auf, in denen sie akzeptable Verhaltensweisen festlegen (USDOS 15.5.2023; vgl. Rawadari 4.6.2023), die sie aufgrund ihrer Auslegung der Scharia und der vorherrschenden kulturellen Normen, die die Taliban für akzeptabel halten, rechtfertigen (USDOS 15.5.2023).

Einem Experten für islamisches Recht zufolge betrafen die Änderungen im afghanischen Justizsystem seit der Machtübernahme der Taliban vor allem formale und administrative Bereiche, aber keine konkreten Änderungen in der Rechtsprechung der Gerichte (STDOK/Nassery 4.2024). So wurden beispielsweise Richter und Verwaltungsangestellte der Gerichte durch Angehörige der Taliban ersetzt, von denen die meisten nicht über ausreichend juristische Kenntnisse und Erfahrungen mit der Arbeit an den Gerichten verfügten (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 26.6.2023). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Rawadari sind die meisten Richter und "Muftis" an Taliban-Gerichten Studenten oder Absolventen religiöser Koranschulen, vor allem in Pakistan. Einige der derzeitigen Richter waren während des Krieges als Richter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten tätig. Nur wenige Richter, beispielsweise in den Provinzen Herat und Panjsher, verfügen über eine formale Hochschulausbildung und haben an juristischen oder Scharia-Fakultäten von Universitäten studiert (Rawadari 4.6.2023).

Des weiteren kam es zur Absetzung von Richterinnen und Anwältinnen und es werden keine Lizenzen mehr an Strafverteidigerinnen vergeben (STDOK/Nassery 4.2024).

Die Taliban haben zwar nicht ausdrücklich behauptet, bestimmte Gesetze außer Kraft zu setzen, aber sie haben immer wieder betont, dass sie im Einklang mit der Scharia regieren und jedes Gesetz ablehnen, das ihr zuwiderläuft (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Taliban-Mitglieder haben erklärt, dass sie nur die Teile der Verfassungen von 2004 und 1964 befolgen, die nicht im Widerspruch zur Scharia stehen. Einige Beobachter weisen auch darauf hin, dass keine der beiden Verfassungen in vollem Umfang in Kraft ist, sodass sie nur begrenzte Bedeutung für den geltenden Rechtsrahmen haben. Diesen Beobachtern zufolge wäre jede Abweichung von der Verfassung von 2004 insofern von Bedeutung, als diese besagt, dass Anhänger anderer Religionen als des Islams "ihren Glauben frei ausüben und ihre religiösen Riten innerhalb der Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen vollziehen können", eine Bestimmung, die die Taliban ablehnen (USDOS 15.5.2023).

Die Taliban haben Anfang Juli 2023 ein Tonband veröffentlicht, das dem Emir Hibatullah Akhundzada zugeschrieben wird, der offenbar eine Predigt nach dem Eid al-Adha-Gebet am Mittwoch in Kandahar gehalten hat. Darin verkündet dieser, dass ein neues Rechtssystem auf der Grundlage der Scharia und Hanafi-Rechtsprechung von den entsprechenden Ministerien und der Talibanführung ausgearbeitet wird. Damit werden die unter der ehemaligen Verfassung geltenden Gesetze, u. a. auch gesonderte schiitische Rechtsprechung, ersetzt. Er erklärte, in Afghanistan gebe es jetzt ein vollständiges islamisches System, die Sicherheit sei gewährleistet, und in keinem Teil des Landes herrsche Unordnung oder Ungehorsam. Die meisten Angelegenheiten des Landes werden nun auf der Grundlage von Richtlinien und Dekreten geregelt, die dem Emir zugeschrieben werden. Er sagte, „unter der Herrschaft des Islamischen Emirats wurden konkrete Maßnahmen ergriffen, um Frauen von vielen traditionellen Unterdrückungen zu befreien“. In der Paschto- und Dari-Fassung der Botschaft begrüßt der oberste Taliban-Führer auch die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Im November 2022 ordnete Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada die Umsetzung der Scharia inklusive Körperstrafen wieder an (AA 26.6.2023). Seitdem wurden zahlreiche öffentliche Auspeitschungen vorgenommen (AP 20.6.2023; vgl. AI 23.2.2024, AA 26.6.2023). Diese Strafe wurde u. a. für Drogen- und Alkoholkonsum (AA 26.6.2023) oder für "moralische" Verbrechen verhängt (AMU 12.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023). Am 7.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 7.12.2022) und im Juni 2023 (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023) sowie im Februar 2024 kam es zu weiteren Hinrichtungen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-04-04 11:36

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch "of"] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als "National Directorate of Security" (NDS) bekannt war (CPJ 1.3.2022; vgl. AA 26.6.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten, müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.5.2023).

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.6.2023, vgl. HRW 11.1.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.8.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.6.2023 vgl. HRW 11.1.2024, AI 7.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 8.6.2023).

Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 1.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), Kandahar (KaN 17.1.2023; vgl. KP 17.1.2023) und Helmand (KP 2.2.2023; vgl. KaN 2.2.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023a, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022, AI 15.8.2022).

Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).

Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung 2024-04-04 12:48

Die Taliban haben zwar wiederholt Presse- und Meinungsfreiheit in allgemeiner Form zugesichert (AA 26.6.2023), jedoch hat sich die Situation der Medienlandschaft seit dem 15.8.2021 drastisch verschlechtert (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Berichten zufolge hatten schon bis Dezember 2021 insgesamt 43 % der afghanischen Medienunternehmen ihren Betrieb eingestellt (AA 26.6.2023; vgl. ANI 1.5.2022), auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. 6.400 Medienschaffende hatten ihre Anstellung verloren (AA 26.6.2023; vgl. RSF 2.12.2022), was vor allem Frauen betraf (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, RSF 2.12.2022). Etablierte Journalisten sind zu einem großen Teil ins Ausland gegangen (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023) und berichten aus dem Exil (HRW 11.1.2024) oder halten sich versteckt (AA 26.6.2023). Ankündigungen der Taliban-Regierung, das bisherige Mediengesetz umzusetzen und eine Beschwerdekommission einzurichten, ist das Informations- und Kulturministerium nicht nachgekommen. Fernsehsender wurden nach eigenen Angaben wiederholt durch den Taliban-Geheimdienst unter Druck gesetzt, Unterhaltungsprogramme den moralisch-religiösen Vorgaben der Taliban anzupassen (AA 26.6.2023). Auch für ausländische Korrespondenten gelten strenge Visabeschränkungen, wenn sie nach Afghanistan reisen, um zu berichten (HRW 11.1.2024).

Die Taliban-Behörden setzten eine umfassende Zensur durch und gingen mit unrechtmäßiger Gewalt gegen afghanische Medien und Journalisten in Kabul und den Provinzen vor (HRW 11.1.2024). Im November 2022 berichtete ein Medienunternehmen, dass es eine von dem Taliban-Informationsministerium vorformulierte Erklärung unterzeichnen musste, in der es sich u. a. zu einer Scharia-konformen Berichterstattung verpflichtete. Kritik an der Taliban-Regierung wurde untersagt. Im Falle der Nichtbeachtung wurden Konsequenzen für das Medienunternehmen sowie die dort Beschäftigten angedroht (AA 26.6.2023). Elf am 19.9.2021 vorgestellte Handlungsempfehlungen der Taliban-Regierung für Printmedien, TV und Radio fordern u. a. dazu auf, keine Inhalte zu veröffentlichen, die der Scharia widersprechen (AA 26.6.2023; vgl. RSF 24.9.2021) und ermöglichen laut Reportern ohne Grenzen (RSF) Nachrichtenkontrolle oder gar Vorzensur (RSF 24.9.2021). Diese Empfehlungen werden landesweit unterschiedlich umgesetzt. Menschenrechtsorganisationen beobachten insbesondere in den Provinzen eine deutlich stärkere Einschränkung der Pressefreiheit. Medienschaffende berichten über ein aktives Monitoring und werden aufgefordert, ihre Arbeit vorab mit den lokal zuständigen Behörden zu teilen. Mancherorts müssen Medienschaffende vor Beginn ihrer Recherchen eine Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen. In mindestens 14 von 34 Provinzen gibt es keine weiblichen Medienschaffenden mehr, in einigen Provinzen wurde es Journalistinnen verboten, bei ihrer Arbeit in Erscheinung zu treten. Gegenüber Menschenrechtsorganisationen berichten Journalistinnen und Journalisten über einen stark eingeschränkten Zugang zu Informationen (AA 26.6.2023).

Berichten zufolge kommt es zu willkürlichen Verhaftungen von Medienschaffenden durch die Taliban (AfW 15.8.2023; vgl. HRW 11.1.2024), die Human Rights Watch zufolge im Jahr 2023 zugenommen haben (HRW 11.1.2024). Am 13.8.2023 verhafteten die Taliban beispielsweise Ataullah Omar, einen Journalisten, der für Tolo News berichtet, und beschuldigten ihn, mit Medienunternehmen zusammenzuarbeiten, die vom Exil aus operieren. Am 10.8.2023 wurden Faqir Mohammad Faqirzai, der Leiter von Kilid Radio, und Jan Agha Saleh, ein Reporter, von den Taliban festgenommen. Am selben Tag wurde Hasib Hassas, ein Reporter von Salam Watandar, in Kunduz verhaftet (HRW 11.1.2024; vgl. RSF 15.8.2023). Alle drei Journalisten wurden einige Tage später wieder freigelassen. Die Taliban-Behörden geben selten Auskunft über die Gründe für solche Verhaftungen oder darüber, ob die Festgenommenen vor Gericht gestellt werden. Die Festgenommenen haben keinen Zugang zu Anwälten, und in den meisten Fällen dürfen Familienangehörige sie nicht besuchen (HRW 11.1.2024). Am 5.1.2023 wurde der französische afghanische Journalist Mortaza Behboudi verhaftet; er wurde am 18. Oktober wieder freigelassen, ohne dass eine Anklage gegen ihn erhoben wurde (HRW 11.1.2024; vgl. RSF 18.10.2023).

Reporter ohne Grenzen (RSF) meldete, dass Razzien bei unabhängigen Medien in mindestens fünf Fällen mit Unterstützung der Generaldirektion des Nachrichtendienstes (GDI) durchgeführt wurden, ohne dass die Kommission für Medienbeschwerden und Rechtsverletzungen (MCRVC) eingeschaltet wurde. Die 2022 nach einjähriger Unterbrechung wieder eingerichtete MCRVC soll verhindern, dass sich andere Stellen in Medienangelegenheiten einmischen, und sicherstellen, dass eine "neutrale" Gruppe jeden gemeldeten Verstoß untersucht, so der Sprecher des Taliban-Regimes und ehemalige stellvertretende Informationsminister Zabihullah Mujahid (RSF 15.8.2023).

Internet und Mobiltelefonie

Die Zahl der Internetnutzer in Afghanistan ist in den letzten Jahren zusammen mit der jugendlichen Bevölkerung rapide angestiegen und liegt mit April 2022 bei etwa neun Millionen Nutzern (BBC 22.4.2022). Im Jahre 2021 wurde die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf ca. 23 Millionen geschätzt (GBL 26.11.2021).

Es gibt keine Ausfälle in Gebieten, die vor der Übernahme durch die Taliban per Telefon oder Internet erreichbar gewesen wären. Laut Informationen von IOM haben sich die Telekommunikations- und Internetdienste seit dem Sturz der vorherigen Regierung verbessert, was auf einen Rückgang der Konflikte im ganzen Land und die Leichtigkeit zurückzuführen ist, mit der Telekommunikationsunternehmen ihr Dienstleistungsangebot erweitern können. In Afghanistan ist die Verfügbarkeit von Internet- und Telekommunikationsdiensten weit verbreitet und deckt den größten Teil des Landes ab, mit Ausnahme einiger isolierter und dünn besiedelter Siedlungen außerhalb der großen Städte. Derzeit sind fünf Telekommunikationsunternehmen in Afghanistan tätig, darunter der staatliche Festnetzbetreiber Afghan Telecom und vier Mobilfunkbetreiber: Afghan Wireless Communication Company (AWCC), Roshan, MTN Afghanistan und Etisalat Afghanistan (IOM 22.2.2024).

Seit der Machtübernahme durch die Taliban gab es keine Berichte über größere Einschränkungen beim Zugang zu Telekommunikationsdiensten (IOM 12.1.2023; vgl. IOM 22.2.2024). In den Provinzen, die Widerstand gegen das Taliban-Regime leisteten (z. B.: Provinz Panjsher), kam es jedoch in der Vergangenheit zu Abschaltungen von Telekommunikations- und Internetdiensten (IOM 12.1.2023).

Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeiner Zusicherungen deutlich eingeschränkt (AA 26.6.2023; vgl. FH 24.2.2022). Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, EUAA 12.2023) und es kam zum Einsatz von scharfer Munition und Wasserwerfern (AA 26.6.2023). Ab Mitte Jänner 2022 wurden sukzessive Vertreterinnen der vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen und es gibt Berichte zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.6.2023). In diesem Jahr gab es nur wenige öffentliche Proteste im Vergleich zu 2021, als es zahlreiche kleinere Proteste von Frauen gab, die gleiche Rechte, die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und den Zugang zu Bildung und Beschäftigung forderten (USDOS 20.3.2023a). Diese gewalttätigen Zwischenfälle und die Androhung von Verhaftungen (und das Verschwinden in einem undurchsichtigen Gefängnissystem ohne ordnungsgemäße Verfahren) haben zunächst dazu geführt, dass die großen Anti-Taliban-Proteste eingedämmt wurden, obwohl es weiterhin kleinere Versammlungen gab (AI 15.8.2022). Gegen Ende des Jahres 2022 kam es wieder vermehrt zu Protesten, nachdem die Taliban Frauen vom Universitätsbesuch ausgeschlossen hatten (RFE/RL 29.12.2022; vgl. BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022) und NGO-Mitarbeiterinnen verboten, ihrer Arbeit nachzugehen (FR24 2.1.2023). Den Protesten schlossen sich auch Hunderte männliche Professoren, Studierende und Väter an (RFE/RL 29.12.2022; vgl. ABC 30.12.2022).

Haftbedingungen

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkh. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 12.4.2022a). Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden (USDOS 12.4.2022a; vgl. UNHRC 8.3.2022).

Trotz anhaltender Bemühungen, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren (UNGA 1.12.2023), gab der stellvertretende Leiter der Gefängnisverwaltung im Jänner 2024 bekannt, dass die Gefängnispopulation 19.300 Personen erreicht habe, von denen 800 Frauen sind (UNAMA 1.5.2024). Im September 2024 gab die Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten der Taliban bekannt, dass etwa 23.000 Personen in Afghanistan inhaftiert sind (SWN 2.9.2024). Einen Tag zuvor hatten Beamte des Direktorats noch angegeben, dass 11.000 Personen in afghanischen Gefängnissen inhaftiert wären, wovon 2.000 Frauen und Kinder wären (KP 1.9.2024; vgl. SWN 2.9.2024). Dies wurde insofern richtiggestellt, als darauf hingewiesen wurde, dass neben den ca. 11.000 schon verurteilten Inhaftierten etwa 12.000 Personen in Haftanstalten auf Gerichtsurteile warten (SWN 2.9.2024).

Die Situation in den Gefängnissen in Afghanistan wird von den Vereinten Nationen als sehr schlecht bezeichnet, kann jedoch aufgrund von nur punktuellem Zugang für Menschenrechtsorganisationen nicht abschließend beurteilt werden (AA 12.7.2024). Es scheint keine landesweiten Haftstandards und keinen Mechanismus zu geben, um die Haftbedingungen anzufechten (AHR 29.4.2024). Finanzielle Engpässe und die Einstellung der Finanzierung durch Geber wirkten sich weiterhin auf die Fähigkeit der Gefängnisverwaltung aus, internationale Standards zu erfüllen (UNGA 1.12.2023), einschließlich der systematischen Bereitstellung angemessener Nahrungsmittel, Hygieneartikel (UNGA 1.12.2023; vgl. AHR 29.4.2024), der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie der medizinischen Versorgung (UNGA 1.12.2023).

UNAMA berichtet von Fällen, in denen Personen zum Zeitpunkt der Festnahme nicht über die Gründe für ihre Festnahme informiert wurden. Des Weiteren werden laut UNAMA Inhaftierte auch weder über ihre Rechte, noch darüber informiert, wie sie während der Haft Beschwerden vorbringen können. Es wurden auch Fälle dokumentiert, in denen Inhaftierte nicht über ihr Recht auf einen Anwalt informiert wurden oder ihnen die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie verwehrt wurde (UNAMA 1.9.2023). Viele Strafverteidiger haben von Schwierigkeiten beim Zugang zu ihren Mandanten berichtet (AHR 29.4.2024). Zwischen 1.1.2022 und 31.7.2023 dokumentierte UNAMA über 1.600 Menschenrechtsverletzungen (11 % betrafen Frauen) durch die Taliban-Behörden im Zusammenhang mit der Festnahme und anschließenden Inhaftierung von Personen. Knapp 50 % dieser Verstöße betrafen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diese Vorfälle ereigneten sich in 29 der 34 Provinzen Afghanistans (UNAMA 1.9.2023). Inhaftierte Personen beschreiben verschiedene Formen der Folter, wie z. B. Schläge, kopfüber aufgehängt zu werden, Elektroschocks, Ersticken (AHR 29.4.2024) und Gewalteinwirkung im Genitalbereich. Einem Bericht zufolge sollen seit der Machtübernahme der Taliban 87 Personen in Taliban-Gefängnissen an den Folgen von Folter gestorben sein (Afintl 8.8.2024).

Es existieren Berichte über Folter an Journalisten, Anwälten, Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und ihren Verwandten, Demonstrierenden und ehemaligen Sicherheitskräften (AA 12.7.2024) bzw. Gefangene, die mit der ehemaligen Regierung in Verbindung standen (USDOS 20.3.2023a). Des Weiteren sollen festgenommene Frauenrechtsaktivistinnen psychologischer und physischer Folter sowie sexueller Gewalt durch Taliban-Sicherheitskräfte ausgesetzt worden sein. Verifiziert sind zudem mehrere Fälle, in denen festgesetzte Journalisten geschlagen wurden (AA 12.7.2024).

Der Verhaltenskodex der Taliban zur Reform des Gefängnissystems sieht keine unverzügliche medizinische Untersuchung bei der Einweisung in eine Haftanstalt vor. Er sieht vor, dass in den Gefängnissen Erste-Hilfe-Einrichtungen und -Vorräte zur Verfügung stehen müssen und dass für die notwendige Behandlung von Schwerkranken rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen sind. Mehrere Taliban-Polizeibehörden bestätigten gegenüber UNAMA, dass die Personen vor ihrer Einlieferung in die Polizeieinrichtungen von einem Arzt untersucht und bei Bedarf in ein Krankenhaus gebracht werden. Allerdings dokumentierte UNAMA keinen Fall, bei dem eine Person bei der Inhaftierung oder vor einer Befragung medizinisch untersucht wurde, wobei eingeräumt wird, dass insbesondere in abgelegenen Gebieten nicht immer Ärzte zur Verfügung stehen (UNAMA 1.9.2023).

Todesstrafe

Letzte Änderung 2024-04-09 12:24

Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 8.5.2023). Zwischen 2001 und dem 15.8.2021 hat die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan Berichten zufolge mindestens 72 Personen hingerichtet (UNAMA 8.5.2023).

Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15.8.2021 haben die Taliban de facto die Körperstrafen und die Todesstrafe eingeführt (UNAMA 8.5.2023). Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia, sieht die Todesstrafe vor (AA 26.6.2023). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vgl. Guardian 14.11.2022, UNAMA 8.5.2023).

Am 7.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt (AA 26.6.2023; vgl. BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022). Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 7.12.2022; vgl. BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022). Im Juni 2023 wurde in Laghman ein Mann durch die Taliban hingerichtet, der für schuldig befunden wurde, im vergangenen Jahr fünf Menschen ermordet zu haben (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023). Im Februar 2024 vollstreckten die Taliban eine Doppelhinrichtung in Ghazni, bei der Angehörige der Opfer von Messerstechereien vor Tausenden von Zuschauern mit Gewehren auf zwei verurteilte Männer schossen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2024-04-05 14:09

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 1.2.2024; vgl. AA 26.6.2023). Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 1.2.2024; vgl. USDOS 15.5.2023). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte. Zuverlässige Schätzungen über die Gemeinschaften der Baha'i und der Christen sind nicht verfügbar. Es gibt eine geringe Anzahl von Anhängern anderer Religionen. Es gibt keine bekannten Juden im Land (USDOS 15.5.2023).

Anhänger des Baha'i-Glaubens leben vor allem in Kabul und in einer kleinen Gemeinde in Kandahar. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha'i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha'i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt. Internationalen Quellen zufolge leben Baha'is weiterhin in ständiger Angst vor Entdeckung und zögerten, ihre religiöse Identität preiszugeben (USDOS 15.5.2023).

Sikhs sehen sich seit Langem Diskriminierungen im mehrheitlich muslimischen Afghanistan ausgesetzt (EUAA 23.3.2022; vgl. DW 8.9.2021). Als die Taliban im August 2021 nach dem Abzug der US-Truppen die Macht in der Hauptstadt wiedererlangt hatten, floh eine weitere Welle von Sikhs aus Afghanistan (EUAA 23.3.2022; vgl. TrI 12.11.2021). Nach der Machtübernahme gaben die Taliban öffentliche Erklärungen ab, wonach deren Rechte geschützt werden würden (EUAA 23.3.2022; vgl. USCIRF 3.2023, USDOS 15.5.2023). Trotz dieser Zusicherungen äußerten sich Sikh-Führer in Medienerklärungen im Namen ihrer Gemeinschaft jedoch besorgt über deren Sicherheit (EUAA 23.3.2022; vgl. USDOS 15.5.2023). Berichten zufolge lebten mit Ende 2022 nur noch neun Sikhs und Hindu in Afghanistan (USDOS 15.5.2023).

Die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime waren und sind durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023). Mit der rigorosen Durchsetzung ihrer strengen Auslegung der Scharia gegenüber allen Afghanen verletzen die Taliban die Religions- und Glaubensfreiheit von religiösen Minderheiten (USCIRF 3.2023). Nominal haben die Taliban religiösen Minderheiten die Zusicherung gegeben, ihre Religion auch weiterhin ausüben zu können (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023); insbesondere der größten Minderheit, den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara. In der Praxis ist der Druck auf Nicht-Sunniten jedoch hoch und die Diskriminierung von Schiiten im Alltag verwurzelt (AA 26.6.2023).

Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vgl. RFE/RL 19.1.2022).

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Letzte Änderung 2024-04-05 14:10

Es liegen keine zuverlässigen Schätzungen zur Anzahl der Christen in Afghanistan vor (USDOS 15.5.2023), jedoch gibt es Schätzungen, wonach sich etwa 10.000 bis 12.000 Christen im Land befinden (USCIRF 8.2022; vgl. ICC 29.9.2021). Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 26.6.2023). Nach Angaben der NGO International Christian Concern arbeiten die Taliban daran, das Christentum vollständig aus dem Land zu entfernen, und behaupten sogar, dass es in Afghanistan keine Christen gibt. Viele Christen sind in den Untergrund gegangen, aus Angst vor den Gerichten (ICC 12.7.2023) oder Hausdurchsuchungen der Taliban (USDOS 15.5.2023).

Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion ist nach der vor Gericht geltenden Hanafi-Rechtsschule Apostasie. Proselytenmacherei, also der Versuch, Muslime zu einer anderen Religion zu bekehren, ist nach der hanafitischen Rechtsschule, die vor Gericht gilt, ebenfalls illegal. Diejenigen, die der Proselytenmacherei beschuldigt werden, werden mit der gleichen Strafe belegt wie diejenigen, die vom Islam konvertieren. Auch Blasphemie, zu der unter anderem islamfeindliche Schriften oder Äußerungen gehören können, ist nach der hanafitischen Schule ein Kapitalverbrechen. Angeklagte Gotteslästerer, einschließlich Apostaten, haben drei Tage Zeit, um zu widerrufen, sonst droht ihnen der Tod, obwohl es nach der Scharia kein klares Verfahren für einen Widerruf gibt. Einige Hadithe (Aussprüche oder Überlieferungen des Propheten Muhammad, die als Quelle des islamischen Rechts dienen) empfehlen Gespräche und Verhandlungen mit einem Abtrünnigen, um ihn zum Widerruf zu bewegen (USDOS 15.5.2023).

Vor der Machtübernahme durch die Taliban berichteten christliche Vertreter, dass die öffentliche Meinung, wie sie in den sozialen Medien und anderswo zum Ausdruck kam, Konvertiten zum Christentum und der Idee christlicher Missionierung weiterhin feindselig gegenüberstand. Sie berichteten von Druck und Drohungen, vor allem vonseiten der Familie, dem Christentum abzuschwören und zum Islam zurückzukehren. Sie sagten, dass Christen aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Verfolgung weiterhin allein oder in kleinen Gemeinden, manchmal mit zehn oder weniger Personen, in Privathäusern beteten. Die Daten, Zeiten und Orte dieser Gottesdienste wurden häufig geändert, um nicht entdeckt zu werden. Öffentliche christliche Kirchen gibt es weiterhin nicht. Nach der Machtübernahme durch die Taliban berichten Christen über Razzien der Taliban in den Häusern christlicher Konvertiten, selbst nachdem diese aus dem Land geflohen oder ausgezogen waren. Christliche Quellen gaben an, dass die Machtübernahme durch die Taliban intolerante Verwandte ermutigt, ihnen Gewalt anzudrohen und die Konvertiten zu verraten, falls sie das Christentum weiter praktizierten (USDOS 2.6.2022).

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 1.2.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 1.2.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.6.2023).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.3.2023a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.6.2023).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.6.2023).

Paschtunen

Letzte Änderung 2024-04-10 20:16

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 42 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans (MRG 5.2.2021a; vgl. AA 26.6.2023). Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime und leben hauptsächlich im Süden und Osten des Landes (MRG 5.2.2021a; vgl. Print 21.9.2021). Sie teilen sich in zwei große Gruppen auf - Durrani und Gheljai (auch Ghilzai or Ghilzay) - und in weitere Untergruppen von mehr als hundert kleineren Stämmen. Die Durrani sind vor allem in den südlichen Provinzen des Landes wie Kandahar, Zabul, Helmand, Uruzgan, sowie verstreut in anderen Provinzen verbreitet, während die Gheljai eher in Provinzen wie Paktia, Logar, Khost, Paktika, Maidan Wardak und anderen anzutreffen sind (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Traditionell waren die Paschtunen nomadisierende oder halbnomadische Viehzüchter, Ackerbauern und Händler. Seit langer Zeit sind sie in Städten ansässig geworden, wo sie verschiedensten Tätigkeiten nachgehen. Paschtunische Stämme waren stets die militärische Stütze des afghanischen Königshauses und wurden dafür mit einigen Privilegien (Steuervergünstigungen, weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten u. a.) versehen (STDOK 1.7.2016).

Bei den Paschtunen haben Familienstand, Stammeseinfluss, Besitz und Einfluss einen hohen Stellenwert. Ein hoher Anteil von Männern in paschtunischen Familien gilt als ein Zeichen der Stärke. Aufgrund der bedeutenden Rolle der Familie kann individuelles Fehlverhalten auch der Familie schaden und unschuldige Familienmitglieder zu Opfern machen. Die meisten Paschtunen bevorzugen Ehen mit anderen Paschtunen und sind ggf. mit der Heirat von nahen Verwandten einverstanden. Ehen zwischen Paschtunen und Mitgliedern anderer Ethnien wie Hazara, Usbeken oder Tadschiken sind selten (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen "Ausweichmöglichkeiten" im Land zu unterbinden (AA 26.6.2023).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.3.2023a). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 9.3.2023). So wurde im Jahr 2022 berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.5.2022; vgl. NPR 9.6.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024).

Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.3.2023a). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.1.2022; vgl. DW 26.12.2021). Zu darüber hinausgehenden Bewegungseinschränkungen liegen IOM-Afghanistan keine offiziellen Berichte vor. Es gab jedoch Fälle, in denen Bürger misshandelt wurden, weil sie sich nicht an die von den Taliban auferlegten üblichen Regeln hielten. IOM berichtet auch über eine steigende Anzahl von Vorfällen, bei denen UNSMS-Personal (United Nations Security Management System) vorübergehend angehalten wurde, wobei hier die Vorgehensweise der Taliban je nach Ort unterschiedlich ist (IOM 22.2.2024).

Anm.: Mahram kommt von dem Wort "Haram" und bedeutet "etwas, das heilig oder verboten ist". Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022).

Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023).

Ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt ist, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügen und dass viele bereit sind, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung (EUAA 12.2023).

Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung, durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen, gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara "in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung" stattgefunden hat (EUAA 12.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan (EUAA 12.2023).

Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert (HRW 20.9.2021), und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (TBP 23.9.2022; vgl. USDOS 15.6.2023). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert (USDOS 15.6.2023).

Was die Rekrutierung durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) betrifft, so wurden Berichten zufolge die Salafi-Gemeinschaft und Taliban-Fußsoldaten zur Unterstützung der Gruppe aufgerufen (USIP 7.6.2023). Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi veröffentlichte einen Forschungsartikel, in dem er feststellte, dass zwei wichtige Quellen für die Rekrutierung in Afghanistan die Salafi-Gemeinschaft und Universitätsstudenten waren. In Interviews, die der Autor mit ISKP-Rekrutern in Afghanistan geführt hat, wird die Vorgehensweise des ISKP beschrieben. Hierbei werden "die religiösesten Studenten, die das größte Interesse an religiösen Fragen und insbesondere am Salafismus haben, ausgesucht und ins Visier genommen". Sobald ein Student als Ziel identifiziert ist, wird versucht, seine Handynummer zu bekommen. Dann übernimmt die Abteilung "Medien und Kultur" die Arbeit. Die Aufgabe des Medien- und Kulturteams, das seinen Sitz außerhalb der Universität und sogar in Europa hat, besteht darin, Videos mit Propagandamaterial an potenzielle Rekruten zu senden. Bei einer negativen Reaktion wird der "Eingeladene", den Interviews zufolge, sofort von der Nachrichtenübermittlung abgeschnitten. Ist die Reaktion positiv, werden WhatsApp und andere Social-Media-Apps genutzt. Das Medien- und Kulturteam fügt außerdem gezielte Studenten zu verschiedenen ISKP-Telegram-Konten hinzu, von denen einige für die Aktivitäten des ISKP werben, während andere negative Propaganda gegen die Taliban verbreiten (RUSI/Giustozzi 3.2023). Auch die Vereinten Nationen berichten, dass sich der ISKP auf die Rekrutierung von mehr gebildeten Personen konzentriert, aber Rekrutierungen auch außerhalb der Salafi-Gemeinschaft betreibt (UNSC 1.6.2023b).

Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan

Afghanen in Iran

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention mit Vorbehalten unterzeichnet. Die Regierung ist restriktiv in der Vergabe des Flüchtlingsstatus, jedoch bietet die Islamische Republik Iran seit Jahrzehnten Millionen von afghanischen (SEM 30.3.2022) sowie irakischen Flüchtlingen und Migranten Zuflucht und Unterstützung (AA 30.11.2022). Iran ist Gastland für eine der größten Flüchtlings- und Migrantenpopulationen weltweit, insbesondere für Afghanen (UNGA 6.10.2023). Iran duldet viele afghanische Staatsangehörige, die sich irregulär im Land aufhalten. Ein beträchtlicher Anteil befindet sich im Rahmen der Arbeitsmigration in Iran, die ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für das Land ist. Im Rahmen verschiedener Regularisierungsinitiativen haben die iranischen Behörden einigen von ihnen einen regulären Aufenthalt bzw. eine Duldung ermöglicht (SEM 30.3.2022).

Die traditionell hohe Migration von Afghanen nach Iran (SEM 29.8.2023; vgl. Stimson 24.10.2023) hat mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 weiter zugenommen (SEM 29.8.2023; vgl. UNHCR 14.1.2024), wobei keine genauen Zahlen zur Einreise von Afghanen seit August 2021 vorliegen. Die iranischen Behörden erheben bzw. kommunizieren hierzu keine verlässlichen Zahlen (SEM 29.8.2023). Von den 2,6 Mio. im Rahmen einer Zählung im Jahr 2022 erfassten, zuvor undokumentierten Personen waren rund eine Million nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nach Iran eingereist (UNGA 6.10.2023). IOM hat im ersten Jahr nach der Machtübernahme der Taliban (15.8.2021-14.8.2022) eine größere Anzahl an Bewegungen aus Afghanistan nach Iran verzeichnet als im zweiten Jahr (15.8.2022-15.8.2023), nämlich 1,7 Mio. vs. 605.000 Personen (IOM 5.2.2024).

Das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (Bureau for Aliens and Foreign Immigrant´s Affairs, BAFIA) ist für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig (UNHCR 26.9.2021). Gemäß einem Gesetzesentwurf wird künftig die "Nationale Migrationsorganisation" (Farsi: sazman-e melli-ye mohajerat [englisches Akronym: NOM]) diese Aufgabe übernehmen und das BAFIA ablösen. Laut Diaran, einer auf Migrationsfragen spezialisierten Webseite, hat diese neue Migrationsorganisation bereits inoffiziell ihre Arbeit im Innenministerium aufgenommen (SEM 29.8.2023). Bis zum März 2025 soll die neue Behörde offiziell eingerichtet sein (IRNA 19.6.2023). UNHCR nimmt in Iran keine Asylanträge an und entscheidet nicht über diese (UNHCR 26.9.2021).

Aufenthaltsmöglichkeiten

Schutzsuchende aus Afghanistan haben in Iran folgende faktische Aufenthaltsmöglichkeiten: regulärer Aufenthalt per Pass und Visum; regulärer Aufenthalt als "anerkannte Flüchtlinge" (für Afghanen: Besitzer der Amayesh-Karte, für Iraker: Besitzer der Hoviat-Karte (UNHCR o.D.a)); halbregulärer Aufenthalt als registrierte, irreguläre Flüchtlinge (mit Laissez-Passer); und irregulärer Aufenthalt als nicht-registrierte Flüchtlinge (SEM 29.8.2023; vgl. IOM 11.4.2024). Die gesetzliche Regulierung von afghanischer Migration geschieht v. a. über Dekrete. Dekrete können ad hoc erlassen werden. Für die betroffenen Migranten bedeutet dies ein Mangel an Sicherheit und Vorhersehbarkeit bezüglich ihres Aufenthaltsstatus. Die erwähnten Aufenthaltstitel sind für einen begrenzten Zeitraum gültig und müssen jeweils erneuert werden (Asghari/RLI 3.2024).

Laut UNHCR halten sich insgesamt rund 4,5 Mio. vertriebene Personen in Iran auf (UNHCR 31.12.2023). Hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus verteilen sie sich zahlenmäßig folgendermaßen:

UNHCR hat insgesamt rund 4,5 Mio. vertriebene, in Iran aufhältige Personen mit unterschiedlichem Status in seiner Statistik erfasst, darunter rund 750.000 Amayesh-Karteninhaber (neben ca. 12.000 irakischen Hoviat-Kartenbesitzern), 360.000 Personen mit Aufenthaltsberechtigung und 267.000 Afghanen mit einem Familienpass. Hinzu kommen rund 500.000 Afghanen ohne Papiere.

UNHCR 31.12.2023

Neu geflüchtete Personen können nach iranischem Recht grundsätzlich beim BAFIA ein Asylgesuch stellen. Gemäß dem US-amerikanischen Außenministerium und UNHCR verfügt Iran weiterhin über ein System zum Schutz von Flüchtlingen. UNHCR weiß jedoch nicht, wie das BAFIA Asylentscheide konkret vornimmt (SEM 29.8.2023; vgl. AI 8.2022). Asylsuchende erhielten seit 2003 mit wenigen Ausnahmen kein Asyl (SEM 29.8.2023). Während manche Quellen Amayesh-Karteninhaber als afghanische "Flüchtlinge" bezeichnen [Anm.: und diese in der oben dargestellten Grafik von UNHCR als "Flüchtlingskartenbesitzer" geführt werden], haben weder die iranischen Behörden noch UNHCR bei der Erteilung des Status eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im eigentlichen Sinne vorgenommen (Asghari/RLI 3.2024). Die Bestimmungen zu den Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeiten für Amayesh-Karteninhaber sind ebenfalls nicht mit den Rechten eines Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention von 1951 ident (Eurac 3.7.2023). Nichtsdestotrotz erkennt UNHCR die Amayesh-Karteninhaber als "persons of concern" an, was sie zu der Gruppe macht, die Flüchtlingen in Iran am nächsten kommt. Sie sind die einzige Gruppe von Afghanen in Iran, die von UNHCR geschützt wird (Asghari/RLI 3.2024).

Bei den Afghanen mit "Familienpass" (UNHCR 31.12.2023), auch "Haushaltspass" (Asghari/RLI 3.2024), handelt es sich um zuvor undokumentierte Afghanen, die sich seit 2010 registrieren ließen und afghanische Reisepässe mit Visa erhielten, welche seit 2012 mehrmals verlängert wurden (MBZ 9.2023; vgl. Asghari/RLI 3.2024) - allerdings mit einer Lücke zwischen 2016 und 2020, in der die Passinhaber als undokumentiert galten (Asghari/RLI 3.2024). Im Jahr 2022 haben die iranischen Behörden im Rahmen einer Zählung ("headcount") von Ausländern ohne Aufenthaltsstatus zusätzlich rund 2,6 Mio. Afghanen registriert und sie mit headcount slips, d. h. mit Laissez-Passers für einen temporären Aufenthaltsstatus ausgestattet (UNGA 6.10.2023), der bis zum 20.4.2023 verlängert wurde. Danach wurden keine diesbezüglichen Ankündigungen mehr gemacht. Stattdessen soll ein neues, einheitliches Ausweismodell ("Unified IDs scheme") geschaffen werden [Anm.: s. dazu auch weiter unten] (UNHCR 14.1.2024).

Eine weitere Gruppe stellen Afghanen dar, die über einen Reisepass samt gültigem Visum verfügen, beispielsweise ein Studienvisum oder ein Visum für Langzeitaufenthalte. Beide Visumsarten müssen jährlich verlängert werden (Asghari/RLI 3.2024).

Im Juni 2023 hat die Regierung die Einführung eines "Smart Governance Scheme for Foreign Nationals" angekündigt. Im Rahmen dieses Programms sollen Inhaber von Amayesh-Karten, headcount slips und Aufenthaltsvisa künftig eine Smart ID-Karte erhalten. In der Pilotphase erhalten scheinbar Amayesh-Karteninhaber in der Provinz Qom Smart ID-Karten. Die Details zu diesem Programm sind noch nicht zur Gänze bekannt (Asghari/RLI 3.2024).

Während UNHCR schätzt, dass sich ca. 500.000 Afghanen ohne Aufenthaltsstatus im Land aufhalten (UNHCR 31.12.2023), gehen die iranische Regierung (SEM 29.8.2023) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) eher von einer Million Menschen aus (IOM 11.4.2024). Dies sind beispielsweise Personen, die nicht am headcount von 2022 teilgenommen haben, die nach Abschluss dieser Registrierungsrunde nach Iran migriert sind, oder die ihren legalen Aufenthaltsstatus verloren haben (SEM 29.8.2023).

Regulär nach Iran einreisen kann nur, wer im Besitz eines gültigen Passes und Visums für Iran ist. Iran hatte seine konsularischen Dienste nach Machtübernahme der Taliban teils vorübergehend eingestellt (z. B. in Herat), sodass keine neuen Visa mehr beantragt werden konnten. Seit Ende 2021 können in Afghanistan jedoch wieder regulär Visumsanträge gestellt werden, wenngleich teils mit Unterbrechungen (z. B. im April 2022 oder Ende 2022/Anfang 2023 in Herat). Dennoch findet die große Mehrheit der Einreisen nach Iran wohl immer noch irregulär statt (SEM 29.8.2023).

In mehreren Fällen sind Afghanen an der iranischen Grenze zu Afghanistan und an der türkischen Grenze zu Iran gewaltsam zurückgedrängt worden (MMC 3.2023). [Anm.: s. Abschnitt "Rückkehr" in diesem Kapitel für weitere Informationen]

Amayesh-Programm

Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die unter anderem das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen (Migrationsverket 10.4.2018; vgl. UNHCR o.D.a). Die Amayesh-Karten wurden für Haushalte (und nicht Einzelpersonen) ausgestellt, wobei die Registrierung der Haushalte v. a. auf den Eigenangaben der Antragsteller basierte (Asghari/RLI 3.2024). Ein Anrecht auf die Amayesh-Karte haben praktisch nur Flüchtlinge, die sich bereits vor 2001 in Iran aufhielten, sowie deren (auch später geborene) Kinder [Anm.: sie weiter unten bzgl. der Weitergabe des Status] (SEM 29.8.2023). Die Registrierung für den Amayesh-Status war in dieser Hinsicht eine einmalige Gelegenheit, die nicht in eine [permanente] Zugangsmöglichkeit zu einem Aufenthaltsstatus umgewandelt wurde, der auf der Grundlage von Anspruchsvoraussetzungen gewährt würde (Asghari/RLI 3.2024).

Offiziell handelt es sich bei der Amayesh-Karte um eine zeitlich beschränkte Aufenthaltserlaubnis. Die Karte muss entsprechend regelmäßig erneuert werden. Seit 2011 hat sie jeweils eine Gültigkeit von einem Jahr (SEM 29.8.2023). Kartenbesitzer, die eine Registrierungsrunde verpasst haben, oder die für manche Afghanen nicht unerheblichen Erneuerungskosten nicht aufbringen können, verlieren die Karte und damit ihren Aufenthaltsstatus (Eurac 3.7.2023, NRC 1.6.2023). In der Vergangenheit (Amayesh-Runden 14, 15 und 17) wurden jedoch teils Ausnahmen für ehemalige Amayesh-Karteninhaber gemacht, die vergessen hatten, sich zu registrieren (SEM 29.8.2023).

Im November 2023 hat die Regierung ein neues System eingeführt, das die abgelaufenen Amayesh-Karten durch sogenannte Smart ID-Karten ersetzen soll. Dieses neue System ermöglicht ebenfalls einen zeitlich begrenzten Aufenthalt in Iran. Die Smart ID-Karte ist mit einer SIM-Karte und einer Bankkarte verbunden und kostet etwa 22 EUR (IOM 11.4.2024). Mit Beginn der Pilotphase dieses Projekts wurde die Erneuerung der Amayesh-Karten eingestellt und die Gültigkeitsdauer der vorigen Amayesh-Karten um ein Jahr verlängert (Asghari/RLI 3.2024).

Registrierung von Personen ohne Aufenthaltsstatus (Ausgabe von headcount slips)

Bereits 2017 und 2018 hatte der Iran eine Zählung und Registrierung (headcount) von Ausländern ohne regulären Aufenthalt durchgeführt. Ende 2017 waren dabei rund 800.000 Personen registriert worden, in der überwiegenden Mehrheit Afghanen. Diese Personen erhielten einen Papierbeleg (headcount slip), der sie vor einer Rückführung nach Afghanistan schützte. Bei einer früheren Registrierungsrunde (Comprehensive Regularization Plan) von 2010 und 2012) war registrierten Afghanen später sogar ein Aufenthalt per Visum ermöglicht worden (SEM 29.8.2023).

Beim letzten Zählungszyklus für Afghanen, der im Juni 2022 endete, wurden drei Kategorien von Berechtigten registriert: Besitzer von headcount slips der Zählung von 2017;Afghanische Staatsangehörige ohne Papiere, die bereits ihre "Impfeinführungsbriefe" von Kefalat-Zentren* erhalten haben und nicht an der Zählung von 2017 teilgenommen haben; Ausländer ohne Papiere, die an keiner der bisherigen Zählungen/Impfplänen teilgenommen haben (UNHCR o.D.b).

Die Kosten für die Registrierung und Teilnahme von Afghanen ohne Aufenthaltsstatus an der Zählung beliefen sich zwischen 270.000 IRR und 310.000 IRR pro Person (UNHCR o.D.b).

Die Gültigkeit der 2022 ausgestellten headcount slips wurde systematisch bis zum 20.4.2023 verlängert (UNHCR 14.1.2024), im November 2023 erfolgte eine Ankündigung, wonach sich Inhaber von headcount slips, die von einem Pishkan-Zentrum* ausgestellt wurden, bei einem Kefalat-Zentrum* melden sollen, da ihre headcount slips sonst die Gültigkeit verlieren würden (UNHCR 19.11.2023). Die iranische Regierung führt laut UNHCR ein einheitliches Ausweismodell ("Unified IDs scheme") ein, das einen stabileren Rechtsstatus für ausländische Staatsangehörige in Iran schaffen soll (UNHCR 14.1.2024). Dabei handelt es sich wahrscheinlich um das Projekt der neuen Smart ID-Karte für Flüchtlinge und Ausländer (SEM 29.8.2023). Inhaber von headcount slips sollen die Möglichkeit zum Erhalt einer Smart ID-Karte bekommen, wobei in der Einführungsphase die Amayesh-Karten getauscht werden und die headcount slips später folgen. Anders als Amayesh-Karteninhaber müssen die Inhaber von headcount slips dazu laut IOM allerdings an einem Investitionsprogramm für ausländische Staatsangehörige teilnehmen. Dabei wird die erforderliche Investitionssumme von einer Mrd. IRR (21.893 EUR) pro Haushaltsvorstand und allen erwachsenen männlichen Familienmitgliedern für ein Jahr eingefroren und kann in Infrastrukturprojekte investiert werden. Während das Programm laut Regierung freiwillig ist, riskieren Personen, welche nicht daran teilnehmen, laut IOM eine Ausweisung, vor allem, wenn ihre headcount slips ablaufen. Die headcount slips derjenigen, die Ablehnungen für Smart ID-Karten erhalten haben, werden derzeit noch als gültig betrachtet. Die Einzelheiten des Plans sind noch in der Ausarbeitung und ändern sich möglicherweise noch (IOM 11.4.2024). Die Teilnahme an dem "freiwilligen" Investitionsprogramm ermöglicht laut einer Ankündigung des iranischen Innenministeriums den Zugang zu privilegierten Diensten wie zum Beispiel verschiedenen Versicherungsarten und einer Aufenthaltsbewilligung. Nach Ankündigung der National Organization for Migration (NOM) ist die Nichtteilnahme an diesem Programm "lediglich ein Zeichen für mangelndes Interesse an den von diesem Programm gebotenen Diensten" (UNHCR 28.1.2024).

Rechte und Zugang zu Leistungen

Während Afghanen unabhängig von ihrem Status freien Zugang zum Schulwesen haben und viele von ihnen die versteckten Subventionen nutzen können, die die Regierung zur Kontrolle der Preise für Lebensmittel, Medikamente und Benzin bereitstellt, sind Personen ohne Aufenthaltsstatus beispielsweise nicht in der Lage, Bankkonten zu eröffnen oder Wohnungen und SIM-Karten für Mobiltelefone zu kaufen (AJ 12.6.2022). Auch Afghanen mit einem Aufenthaltsstatus sind von bestimmten Einschränkungen betroffen. Laut einer neuen Direktive ist es Afghanen mit einer Aufenthaltsbewilligung z. B. nur mehr erlaubt, Bankkonten bei einer Bank (und nicht bei mehreren) zu eröffnen (8am 24.2.2024).

Amayesh-Karteninhaber sowie durch den headcount registrierte Afghanen sind in ihrer Bewegungsfreiheit im Land eingeschränkt (IOM 11.4.2024; vgl. UNHCR o.D.c, UNHCR 3.8.2022). Die Aufenthaltstitel sind an bestimmte Provinzen gebunden, die nicht ohne Genehmigung verlassen werden dürfen. Inhaber von Amayesh-Karten oder headcount slips können sich auch nicht in einer anderen Provinz als der, in der sie registriert sind, für staatliche Leistungen wie zum Beispiel den Schulbesuch anmelden. Darüber hinaus sind 16 Provinzen [Anm.: von insg. 31] Betretungsverbotszonen für Afghanen (IOM 11.4.2024). Letzteres hat nach einer Ankündigung des BAFIA-Büros in Kermanshah Medienaufmerksamkeit erhalten (IOM 11.4.2024; vgl. RFE/RL 4.12.2023, IRINTL 3.12.2023), allerdings ist diese Praxis laut Regierungsangaben nicht neu. Manche Provinzen, wie zum Beispiel Sistan und Belutschistan, sind seit langem Verbotszonen für afghanische Staatsbürger (IOM 11.4.2024). Besitzer gültiger Aufenthaltsvisa (Asghari/RLI 3.2024; vgl. IOM 4.5.2022), wie z. B. Studienvisa, können sich frei im Land bewegen (IOM 11.4.2024), so es sich dabei nicht um Verbotszonen für Ausländer handelt. Mit einem Aufenthaltsvisum ist außerdem eine Reise ins Ausland möglich. Inhaber von Amayesh-Karten können das Land nicht verlassen, da sie ihren Status sonst verlieren (Asghari/RLI 3.2024).

Die iranischen Behörden arbeiten mit UNHCR zusammen, um Flüchtlingen, aus Iran nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlingen, Asylwerbern und anderen Personen Hilfe bereitzustellen (USDOS 20.3.2023b), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 9.1.2024). Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IOM 11.4.2024). Von iranischer Seite gibt es einige NGOs, die sich um afghanische Flüchtlinge kümmern. Die iranischen Behörden haben den Spielraum dieser unabhängigen Organisationen in den letzten Jahren allerdings eingeschränkt (SEM 30.3.2022).

Bildungswesen

Seit 2015 haben afghanische Kinder Zugang zu kostenloser Bildung bis zum Ende der Oberstufe (IOM 11.4.2024; vgl. ÖB Teheran 11.2021). Afghanen mit Papieren können sich direkt bei den Schulen einschreiben. Der Zugang ist für Inhaber von Amayesh-Karten und headcount slips gewährleistet. Afghanen ohne Papiere haben formell Zugang zu Grund- und weiterführenden Schulen mit einigen Einschränkungen (zwei Jahre Wohnsitznachweis), in der Praxis ist der Zugang jedoch schwierig (IOM 11.4.2024). Sie können sich mit einer speziellen "Bildungsschutzkarte" oder blue card an Schulen anmelden, die vom BAFIA ausschließlich für die Einschreibung an Schulen in einer bestimmten Provinz ausgestellt wird. Diese ist jeweils für ein Jahr gültig (UNHCR o.D.a). Während es ursprünglich vergleichsweise einfach war, eine blue card zu erhalten, ist dies nach Angaben eines Aktivisten für Flüchtlingsrechte in Iran zunehmend schwieriger geworden und blue cards werden vor allem für Afghanen ausgestellt, die vor 2021 ins Land gekommen sind (MMC 3.2023). Auch finden nicht alle Kinder einen Schulplatz, etwa weil erschwingliche Transportmöglichkeiten fehlen, die Kinder illegal arbeiten geschickt werden, die allgemeine Einschreibegebühr von umgerechnet 60 USD zu hoch ist, oder Eltern iranischer Kinder gegen die Aufnahme von afghanischen Kindern sind (ÖB Teheran 11.2021).

Flüchtlingskinder lernen Seite an Seite mit ihren iranischen Klassenkameraden nach dem iranischen Lehrplan. Es gibt einige von der afghanischen Gemeinschaft betriebene Schulen, in denen in Dari oder anderen in Afghanistan gesprochenen Sprachen unterrichtet wird. Diese Schulen sind mittlerweile anerkannt, nachdem sie zuvor regelmäßig von den Behörden geschlossen wurden (ACCORD 4.5.2020).

Bildung auf höherem Niveau ist nur für Inhaber eines Visums zugänglich. Inhaber einer Amayesh-Karte und Migranten ohne Registrierung können sich nicht für ein Hochschulstudium oder eine Berufsausbildung einschreiben (IOM 4.5.2022; vgl. IOM 11.4.2024). Um an einer Universität zu studieren, müssen Inhaber einer Amayesh-Karte und Inhaber einer Aufenthaltsgenehmigung ihren Status aufheben, das Land verlassen und erneut ein Visum für die Ausbildung beantragen, um nach Iran einzureisen (IOM 4.5.2022; vgl. IOM 11.4.2024, TN 20.2.2023), bzw. ist eine Visumsbeantragung auch auf der Insel Kish in Südiran möglich (UNHCR 1.12.2023; vgl. UNHCR 26.10.2021). Nach Studienabschluss kann der Amayesh-Status nicht wiedererlangt werden. Ehemalige Amayesh-Kartenbesitzer können dann um eine jährlich zu verlängernde Aufenthaltsbewilligung ansuchen, die i.d.R. verlängert wird, solange die Antragsteller in Iran leben. Da es sich dabei um ein Dekret handelt, kann sich dies in der Zukunft allerdings auch ändern (Asghari/RLI 3.2024).

Gesundheitswesen

Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch (ÖB Teheran 11.2021; vgl. Eurac 3.7.2023). Der Zugang zur staatlichen Krankenversicherung ist hingegen abhängig vom konkreten Aufenthaltsstatus (SEM 30.3.2022). Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge [Anm.: Inhaber einer Amayesh-Karte] zur staatlichen Krankenversicherung anmelden, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). Inhaber der Amayesh-Karte sind über das von UNHCR unterstützte Versicherungssystem krankenversichert, Visuminhaber meist über eine Beschäftigung bei einer iranischen Organisation oder einem Unternehmen. Das mit der Smart ID-Karte verbundene Investitionsprogramm, an dem Inhaber von Amayesh-Karten und headcount slips teilnehmen können, soll eine Krankenversicherung beinhalten. Migranten ohne Papiere haben keinen Zugang zu einer Krankenversicherung, und wenn sie eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen wollen, müssen sie alle Kosten selbst tragen. Es gibt keine ausreichenden Kapazitäten von NGOs, um Migranten ohne Aufenthaltstitel bei der Deckung medizinischer Kosten zu unterstützen. Lediglich bei den Grundkosten kann UNHCR teilweise helfen. Inhaber von headcount slips können in Ausnahmefällen bei schweren Fällen wie Krebs, Nierenversagen/Dialyse Zugang zu medizinischen Leistungen erhalten. Die Universelle Öffentliche Krankenversicherung (Universal Public Health Insurance, UPHI), eine der nationalen Krankenversicherungen in Iran, ist die am besten zugängliche Versicherung für in Iran lebende Afghanen. Sie deckt jedoch nicht die gesamten Behandlungs- und Medikamentenkosten ab (IOM 11.4.2024).

Arbeitsmöglichkeiten

Amayesh-registrierte Afghanen [Anm.: Hier sind nur Männer gemeint] im Alter von 18 bis 60 Jahren müssen um eine Arbeitserlaubnis ansuchen, um legal in Iran arbeiten zu dürfen (IOM 11.4.2024). Die Arbeitsgenehmigung wird gemeinsam mit der Amayesh-Verlängerung beantragt (Diaran 25.7.2022). Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen, oft zu Hause (Migrationsverket 10.4.2018). Bei Erhalt einer Smart ID-Karte müssen Inhaber von Amayesh-Karten und headcount slips separat für eine Arbeitserlaubnis bezahlen. Die Kosten für ein Arbeitsvisum in Iran belaufen sich auf neun Mio. IRR (197,12 EUR) bei erstmaligem Erhalt, bei Verlängerung acht Mio. IRR (175,21 EUR). Das mit der Smart ID-Karte verbundene Investitionsprogramm soll eine Sozialversicherung beinhalten (IOM 11.4.2024). Der headcount slip alleine enthält keine Arbeitserlaubnis (Asghari/RLI 3.2024).

Die meisten Afghanen arbeiten im informellen Sektor (IOM 11.4.2024) und gehen eher schlecht bezahlten Tätigkeiten nach (am Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder in der Landwirtschaft), die offiziell versicherungspflichtig sind (AA 30.11.2022). Selbst mit einer Arbeitserlaubnis können Afghanen nur in bestimmten, vorher festgelegten Arbeitsbereichen wie Bauwesen, Reinigung usw. arbeiten. Es gibt keine offizielle Bekanntgabe dieser Arbeitsbereiche. Dies wird in der Regel durch interne Richtlinien des Arbeitsministeriums bekannt gegeben. Die afghanische Bevölkerung in Iran hat meist keinen Zugang zu qualifizierter Arbeit. Wenn qualifizierte Ausländer jedoch ein Arbeitsvisum beantragen und es erhalten, können sie in ihrem jeweiligen Bereich arbeiten (IOM 11.4.2024).

Zugang zu Wohnraum

Nach iranischem Recht ist es Ausländern nicht gestattet, unbewegliches Eigentum wie Grundstücke und Gebäude zu besitzen, es sei denn, es gelten ganz besondere Bedingungen und Vereinbarungen zwischen Iran und anderen Ländern. Legale Migranten und Inhaber einer Amayesh-Karte können Geschäftsräume und Wohnungen zu Wohnzwecken mieten. Es ist verboten, Immobilien an Migranten ohne Papiere zu vermieten (IOM 11.4.2024). Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt, und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Migrationsverket 10.4.2018). Nach Angaben des UNHCR wohnen trotzdem nur etwa sechs Prozent der Afghanen in Iran in Lagern, während die überwiegende Mehrheit unter der iranischen Bevölkerung lebt (AJ 12.6.2022). Es gibt offiziell ausgewiesene Siedlungen, meist in abgelegenen Gebieten, die in Iran "Gaststädte" heißen und in denen rund drei Prozent der Amayesh-Karteninhaber leben (Asghari/RLI 3.2024).

Zugang zu afghanischen Dokumenten, Heirat und Staatsbürgerschaft von Kindern

Nach Angaben des UNHCR Iran konnten sich afghanische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Iran früher an die afghanische Botschaft in Teheran oder das Konsulat in Mashhad wenden, um sich beraten zu lassen und Unterstützung bei der Beschaffung von Ausweispapieren zu erhalten, wenn die Person keine Tazkira und/oder keinen gültigen Reisepass besaß. Dies hat sich jedoch nach der Machtübernahme der Taliban in der Praxis geändert. Laut IOM Teheran kann die Botschaft der afghanischen De-facto-Behörden in Teheran keine Tazkira ausstellen, es ist nur möglich, eine Tazkira in Afghanistan zu erhalten. Verwandte väterlicherseits, die sich in Afghanistan aufhalten, können die Tazkira im Namen des Migranten entgegennehmen. Für die Ausstellung eines Reisepasses innerhalb Irans ist in Teheran, Mashhad und Zahedan eine Tazkira zusammen mit einer iranischen Aufenthaltsgenehmigung erforderlich. Die Pässe werden in Afghanistan gedruckt, und das gesamte Verfahren dauert etwa zwei Monate. Diejenigen, die keine Tazkira und keine Verwandten väterlicherseits haben, müssen nach Afghanistan zurückkehren, um eine Tazkira zu erhalten, oder sie müssen das Land mit einem Laissez-Passer verlassen (IOM 11.4.2024).

Afghanische Staatsangehörige können unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Iran heiraten, sofern sie ein gültiges Ausweisdokument besitzen. Ihre Ehe unterliegt den afghanischen Gesetzen und wird bei der afghanischen Botschaft registriert (IOM 4.5.2022). Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IOM 4.5.2022).

Eine Ehe führt nicht automatisch zu Papieren. Ein Amayesh-Karteninhaber gibt seinen Aufenthaltsstatus nicht mit der Heirat an den Ehepartner weiter (IOM 11.4.2024). Wenn die Inhaber einer Amayesh-Karte und eines Aufenthaltsvisums heiraten, können die Ehepartner jeweils ihren eigenen Aufenthaltsstatus behalten. Sollte das Paar Kinder haben, können die Kinder allerdings nur Papiere bekommen, wenn der Elternteil mit der Amayesh-Karte seinen Aufenthaltstitel auf ein Aufenthaltsvisum umändert (Asghari/RLI 3.2024).

Seit 2019 ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können, auch wenn dies nicht automatisch geschieht, sondern beantragt werden muss (USDOS 15.6.2023b; vgl. IOM 11.4.2024). Ein Kind eines iranischen Vaters und einer afghanischen Mutter, das im Rahmen einer offiziellen Ehe geboren wird, erhält automatisch die iranische Staatsangehörigkeit (IOM 4.5.2022).

Weitere Aspekte

Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen (ÖB Teheran 11.2021). Die iranischen Behörden sind sich jedoch uneins darüber, wie sie mit der wachsenden Zahl illegaler afghanischer Einwanderer umgehen sollen (IRINTL 28.9.2023). Iranische Behörden fürchten einerseits einen noch größeren Zustrom von Afghanen und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran und die schlechte Wirtschaftslage. Es werden Spannungen zwischen ansässiger Bevölkerung und Neuankömmlingen befürchtet (ÖB Teheran 11.2021). Afghanische Medien berichten, dass sich afghanische Migranten in Iran mit zahlreichen Herausforderungen durch iranische Behörden und Bürger gleichermaßen konfrontiert sehen. Zu diesen Herausforderungen gehören Schikanen, Inhaftierung, Missachtung ihrer Rechte und Zwangsabschiebung (KP 25.2.2024; vgl. 8am 24.2.2024). Es gibt wachsende Ressentiments gegen Afghanen in der iranischen Bevölkerung (IOM 11.4.2024), wobei Afghanen auch schon bisher teilweise diskriminiert wurden (ÖB Teheran 11.2021; vgl. Stimson 24.10.2023). Es kam zu anti-afghanischen Protesten (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IRINTL 14.10.2023), z. B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder in Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Auch wurde von einzelnen Vorfällen gewalttätiger Angriffe auf Afghanen (8am 24.2.2024, IRINTL 14.10.2023) bzw. einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Afghanen und Iranern berichtet (IOM 11.4.2024). Andererseits werben manche Hardliner-Medien angesichts der gesunkenen Geburtenrate und gestiegenen Emigration von Iranern auch um eine Akzeptanz der Afghanen (IRINTL 28.9.2023). Die meisten Flüchtlinge gehen gering qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeiten nach (AA 30.11.2022) und sehen sich mit Vorurteilen und negativen Stereotypen konfrontiert (Stimson 24.10.2023). Sie sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 30.11.2022).

Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befanden (FH 2024; vgl. USDOS 15.6.2023b). Das US-amerikanische Außenministerium berichtete zudem, dass die iranischen Behörden ehemalige Mitglieder der afghanischen Spezialeinheiten gezwungen haben, für die von Iran unterstützten Houthis im Jemen zu kämpfen, um ihren legalen Aufenthaltsstatus in Iran zu behalten, nachdem sie eine Verlängerung ihres Visums für den Verbleib in Iran beantragt hatten (USDOS 15.6.2023b).

Freiwillige und zwangsweise Rückkehr

Es existieren keine verlässlichen Daten zur freiwilligen wie auch unfreiwilligen Rückkehr aus Iran nach Afghanistan. Verschiedene Quellen geben zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Schätzungen wieder (SEM 29.8.2023). Die freiwillige Rückkehr von registrierten afghanischen Flüchtlingen findet gemäß Daten von UNHCR seit August 2021 auf einem niedrigeren Niveau statt als zuvor (UNHCR 31.12.2023), wobei im Jahr 2023 mit insgesamt 521 Personen mehr registrierte afghanische Flüchtlinge mit UNHCR-Unterstützung freiwillig nach Afghanistan zurückkehrten als 2022 (379 Personen) (UNHCR 9.1.2024). IOM verzeichnete im ersten Jahr nach der Machtübernahme der Taliban (15.8.2021-14.8.2022) mit rund einer Million Rückkehrern dagegen eine höhere Anzahl als im zweiten Jahr (15.8.2022-15.8.2023), als ca. 838.000 Personen erfasst wurden, die von Iran nach Afghanistan zurückkehrten (IOM 5.2.2024).

Die Literatur unterscheidet bei der unfreiwilligen Rückkehr zwischen Pushbacks von neu einreisenden Flüchtlingen an der Grenze und Rückführungen von Flüchtlingen aus dem Landesinnern. Auch zu diesem Verhältnis existieren keine genauen Zahlen. Die iranischen Behörden schieben irregulär einreisende Afghanen nach Möglichkeit umgehend nach Afghanistan zurück. Auch für Afghanen ohne legalen Aufenthalt in Iran besteht das Risiko einer Rückführung nach Afghanistan (SEM 29.8.2023). Abschiebungen finden in großer Zahl statt (IOM 11.4.2024), wobei die Abschiebung illegaler Einwanderer in großem Umfang entgegen der Meinung vieler Iraner schon immer auf der Agenda der Islamischen Republik stand. In den letzten Jahren wurden Hunderttausende der Einwanderer aus Iran abgeschoben, wobei zu ihrer Anzahl keine konsistenten Statistiken veröffentlicht wurden (Diaran 1.1.2024). Mit einer Ankündigung, alle Migranten ohne Papiere auszuweisen, wurden Abschiebungen Ende 2023 intensiviert (RFE/RL 18.10.2023). Zwischen September und Dezember 2023 betraf dies laut Taliban-Angaben über 345.000 Afghanen (TN 11.12.2023). Anfang 2024 hat der iranische Innenminister erneut betont, dass Afghanen ohne Aufenthaltsdokumente des Landes verwiesen werden, auch zwangsweise (8am 24.2.2024).

Nach Schätzungen von UNHCR wurden 2023 rund 40 % der neu ankommenden Afghanen abgeschoben und Berichte von IOM legen nahe, dass jeden Monat rund 40.000 Afghanen an der Grenze abgewiesen wurden (USDOS 23.4.2024a). IOM führte die Zahl der Ausreisen von Afghanen aus Iran, die beispielsweise im März 2023 über jenen der Einreisen lag, vor allem auf "systematische Pushbacks" durch die iranischen Behörden zurück (IOM 26.5.2023). Die bislang ausführlichsten Informationen zu Pushbacks aus Iran stammen von Amnesty International (AI) und decken einen Zeitraum bis Mitte 2022 ab (SEM 29.8.2023). AI berichtet dabei über Fälle von zwangsweisen Rückschiebungen von Afghanen durch die iranischen Sicherheitsbehörden an der Grenze zu Afghanistan, ohne dass deren individueller Bedarf an internationalem Schutz bewertet worden wäre, und dokumentierte Fälle, bei denen die iranischen Sicherheitsbehörden das Feuer auf Afghanen eröffneten, die versuchten, die Grenze zu überqueren, und sie erschossen (AI 8.2022).

Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zeigte sich besorgt über Berichte zur gewaltsamen Abschiebung einer großen Zahl von Afghanen seit August 2021 ohne individuelle Prüfung des Schutzbedarfs, und über Pushback-Operationen, die durch übermäßige Gewaltanwendung gekennzeichnet sind, ebenso wie über Berichte zur Inhaftierung von Ausländern ohne Papiere im Rahmen von Razzien, die zu Abschiebungen, auch von Kindern, führen können, ohne dass ein Prüfverfahren durchgeführt wird (UNHRCOM 23.11.2023). Die iranischen Behörden haben keine Anstrengungen unternommen, um Opfer von Menschenhandel in dieser besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe zu ermitteln oder zu identifizieren. Nach Angaben einer internationalen Organisation nahmen die Behörden später sowohl dokumentierte als auch undokumentierte Afghanen fest, denen die Einreise nach Iran gelungen war. Während sie sich in staatlichem Gewahrsam befanden, wurden einige der inhaftierten Migranten - darunter auch Kinder - schwer misshandelt, erhielten über längere Zeit keine Nahrung und kein Wasser und hatten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, auch nicht zur Behandlung von Schusswunden, die sie an der Grenze von iranischen Behörden erlitten hatten (USDOS 15.6.2023b). UNHCR erwähnt mehrere "Transit- oder Deportationszentren" entlang der iranisch-afghanischen Grenze sowie "formale Haftzentren" in verschiedenen Städten. Diese Einrichtungen werden oft als überfüllt und schmutzig beschrieben, mit mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung (SEM 29.8.2023).

Andererseits arbeitet die Regierung an neuen Strategien und Maßnahmen, darunter auch einige Bestimmungen zum Thema Schutzbedürftigkeit. Ein Gesetzentwurf sieht u. a. vor, dass die iranischen Behörden schutzbedürftige Migrantengruppen wie Kinder, schwangere Frauen, ältere Menschen und kranke Migranten nicht abschieben werden (IOM 11.4.2024).

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.6.2023; vgl. WB 19.3.2024, UNDP 18.4.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WB 19.3.2024; vgl. UNDP 18.4.2023, NH 31.1.2024). Die humanitäre Lage bleibt angespannt (AA 26.6.2023; vgl. WB 19.3.2024). Nach der Machtübernahme der Taliban waren große Teile der Bevölkerung zunehmend auf humanitäre Hilfe angewiesen (IOM 1.9.2022; vgl. IR 17.8.2023). Waren es im Jahr 2022 24,4 Millionen Menschen (ca. 60 % der Bevölkerung) (IOM 1.9.2022; vgl. UNOCHA 1.2023), so stieg diese Zahl bis Januar 2023 auf 28,3 Millionen (UNOCHA 1.2023). Im Jahr 2024 benötigten etwa 23,7 Millionen Menschen (mehr als die Hälfte des Landes) humanitäre Hilfe aufgrund der Nachwirkungen von vierzig Jahren Krieg, der jüngsten politischen Umwälzungen und wirtschaftlicher Instabilität. Auch häufige Naturkatastrophen und der Klimawandel haben Auswirkungen auf die humanitäre Lage im Land (UNOCHA 6.2024; vgl. EC 8.10.2024). Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen (UNDP 12.2023).

Die Wirtschaft stabilisierte sich ab Mitte 2022 wieder (USIP 8.8.2022; vgl. WB 10.2022) und im Jahr 2023 gab es einige Anzeichen für eine leichte wirtschaftliche Verbesserung (USIP 10.8.2023). Die Inflation ging zurück (WB 31.7.2023) und ging im April 2023 in eine Deflation über (WB 3.10.2023). Dies (FEWS NET 9.3.2024), in Verbindung mit günstigeren Wetterbedingungen für die Produktion von Nahrungsmitteln (FEWS NET 21.6.2024), führte zu Preissenkungen bei Lebensmitteln (REACH 21.6.2024; vgl. WFP 11.7.2024). In weiterer Folge sank die akute Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung zwischen April und Oktober 2023 von 40 % auf 29 % (WB 4.2024). Die Wirtschaft stagnierte in weiterer Folge jedoch (WB 4.2024; vgl. UNDP 7.3.2024) und die sozioökonomische Situation in Afghanistan ist weiterhin durch Armut, Ernährungsunsicherheit und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet (WB 4.2024).

Laut einem Bericht des World Food Programmes hatten im Dezember 2023 38 % der Haushalte im Rahmen der Nahrungsmittelaufnahme hohe Bewältigungsstrategien aufzuwenden, was einen Rückgang um 5 % gegenüber September 2023 bedeutet. Zu diesen verbrauchsorientierten Bewältigungsstrategien zählen beispielsweise der Kauf billigerer Nahrungsmittel, das Borgen von Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden, die Einschränkung der Portionsgröße bei Erwachsenen oder das Reduzieren der Anzahl der Mahlzeiten pro Tag (WFP 11.2.2024). Weitere Strategien zur Bewältigung der grundlegenden Bedürfnisse der Haushalte sind die Aufnahme von Schulden, der Verkauf von Eigentum (UNOCHA 23.12.2023; vgl. ACAPS 3.6.2024), Betteln (ACAPS 3.6.2024), die (Zwangs)verheiratung von Mädchen (UNOCHA 23.12.2023), Kinderarbeit (STC 2023; vgl. UNOCHA 23.12.2023) oder der Verkauf von Organen (NYT 19.3.2024; vgl. FR24 28.2.2022).

Im Hinblick auf die Frage der Lebenserhaltungskosten in Afghanistan gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen Afghanistans sowie dem städtischen und ländlichen Bereich. Aber auch die diesbezüglichen Quellen weichen teilweise voneinander ab. So gibt ein Experte aus Afghanistan an, dass ein durchschnittliches Drei-Zimmer-Appartement in Kabul ca. 14.000 AFN in Monat an Miete kostet. Für die Lebenserhaltungskosten einer fünf- bis sechsköpfigen Familie würde noch einmal ca. derselbe Betrag benötigt. Damit würde sich die monatlichen Lebenserhaltungskosten für eine fünf- bis sechsköpfige Familie auf ca. 28.000 AFN belaufen (STDOK/VQ AFGH 4 8.12.2024). Eine weitere in Afghanistan lebende Quelle gibt an, dass die monatlichen Lebenserhaltungskosten stark vom Lebensstandard und den wirtschaftlichen Bedingungen abhängig sind. Die folgende Tabelle zeigt monatliche Kosten für Alleinstehende und Familien für die verschiedenen Bereiche und unterscheidet zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Kosten in Afghani (AFN) mit Stand Dezember 2024 (RA KBL 7.12.2024):

Kategorie Städtische Gebiete Ländliche Gebiete

Alleinstehend Familie Alleinstehend Familie

Einfache Unterkunft 8.000 - 12.000 10.000 - 30.000 4.000 - 7.000 8.000 - 20.000

Lebensmittel 8.000 - 10.000 15.000 - 25.000 6.000 - 9.000 10.000 - 15.000

Hygieneprodukte 500 - 1.000 1.000 - 1.500 200 - 500 800 - 1.000

Energiekosten 1.500 - 2.000 3.000 - 4.000 1.000 - 1.500 2.000 - 3.000

Verschiedene Ausgaben 2.000 - 3.000 3.000 - 6.000 1.000 - 2.000 1.500 - 3.000

Gesamt 20.000 - 28.000 32.000 - 66.500 12.000 - 20.000 22.300 - 42.000

Eine von IOM durchgeführte Befragung betreffend den monatlichen Lebenserhaltungskosten in Afghanistan ergab hingegen die folgenden Daten (IOM 2.12.2024).

Region Städtische Gebiete Ländliche Gebiete

Alleinstehend Familie

Alleinstehend Familie

Nord-Afghanistan 4.000 7.000 2.000 4.000

West-Afghanistan 7.400 20.000 4.500 12.000

Zentral-Afghanistan 6.000 15.000 4000 6.000

Ost-Afghanistan 4.500 16.000 2.000 7.200

[Laut IOM ergibt sich die Diskrepanz zwischen den im IOM-Bericht vom September 2024 angegebenen Mietpreisspannen und den jüngsten Daten (Dezember 2024) zu den monatlichen Lebenshaltungskosten in erster Linie aus Unterschieden im Profil der Befragten, wie z. B. der finanziellen Situation und der Art der gemieteten Unterkunft. Im September befragte IOM Afghanistan Personen mit mittlerem Einkommen, die Wohnungen zwischen 5.500 und 15.000 AFN mieteten. In den Daten vom Dezember 2024 befragte IOM Afghanistan eine vielfältigere Gruppe von Schlüsselpersonen, darunter auch Befragte mit sehr niedrigem Einkommen (die in einfachen Unterkünften leben), und legte den Schwerpunkt auf die Kosten, die nur zur Deckung der Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Lebensmittel und Hygieneprodukte erforderlich sind. Es gibt erhebliche Unterschiede bei den Mindestmietpreisen in Afghanistan sowie bei den Unterbringungsstandards, was zu niedrigeren durchschnittlichen Gesamtmietkosten in den neueren Daten beiträgt. Menschen mit besseren finanziellen Bedingungen neigen dazu, in gut ausgestatteten Wohnungen zu leben, während Menschen mit niedrigerem Einkommen sich für günstigere Optionen entscheiden. Diese Ungleichheit wird durch das Fehlen standardisierter Mietpreise, die von den zuständigen Behörden festgelegt werden, noch verschärft. Aus diesem Grund ist die im Dezember 2024 gemeldete Spanne der Mietkosten größer und umfasst auch sehr günstige Wohnungen (2.000 AFN/Monat), wobei die Standards in solchen Unterkünften sehr niedrig sind (IOM 9.1.2025b).

Auch bei Preisen für Güter und Dienstleistungen kann es zu unterschiedlichen Kosten je nach Region kommen. Zur Veranschaulichung dessen folgt nun eine Darstellung der Preise für Winterkleidung und Winterschuhe in den unterschiedlichen Teilen Afghanistans, welche von IOM-Afghanistan vor Ort recherchiert wurden (Preise in AFN). Winterkleidung ist in Afghanistan erhältlich und wird sowohl importiert wie auch vor Ort produziert (IOM 2.12.2024).

Region Preis Winterjacke Preis Winterschuhe

Nord-Afghanistan 500 - 900 500 - 900

West-Afghanistan 350 - 800 500 - 800

Zentral-Afghanistan 350 - 1000 400 - 1.000

Ost-Afghanistan 400 - 600 500 - 1.000

Süd-Afghanistan 500 800 - 1.000

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90 % der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 3.2.2023).

Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.6.2023).

Im November 2024 führte ATR Consulting eine weitere Studie in Kabul durch. Hier gaben 12 % der Befragten an, dass sie grundlegende Konsumgüter wie Kleidung oder Schuhe für die Mitglieder ihrer Familie zur Verfügung stellen können, während dies 21 % der Befragten gerade noch möglich ist. 41 % schaffen es kaum diese Güter zur erwerben und 26 % ist dies gar nicht möglich. 37 % der Befragten haben immer Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten, zu denen alle Produkte für die persönliche Hygiene wie Seife, Shampoo, Zahnpasta, Lotion, Desinfektionsmittel, Damenhygieneprodukte usw. gehören. 26 % der Befragten haben gerade noch Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten, während 28 % kaum Zugang und 9 % keinen Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten haben (STDOK/ATR 14.1.2025).

Pensionssystem

Laut einem Rechtsanwalt in Kabul ist das Rentensystem in Afghanistan derzeit ausgesetzt (RA KBL 19.2.2024). Im Sommer 2022, etwa ein Jahr nach der Übernahme, kündigten die Taliban an, die Scharia-Grundlage für Renten zu prüfen. Später, im Oktober 2022, wurde ein vom Kabinett ratifizierter Pensionsplan dem Obersten Führer Hibatullah Akhundzada zur Genehmigung vorgelegt, wobei das Finanzministerium vorschlug, vier Milliarden Afghani (rund 46 Millionen US-Dollar) für die Bezahlung der Renten im öffentlichen Sektor bereitzustellen (AAN 22.5.2024; vgl. AAN 17.4.2023). Das reichte kaum aus, um die jährlichen Pensionskosten der Regierung zu decken, die laut jüngsten Schätzungen von BBC bei 12,5 Milliarden Afghani (175 Millionen US-Dollar) liegen (AAN 22.5.2024; vgl. BBC 9.4.2024). Darin waren auch nicht die Rückstände enthalten, die den Rentnern für 2021 und 2022 geschuldet wurden (AAN 22.5.2024). Im April 2024 kündigten die Taliban an, dass Rentensystem abzuschaffen und die Rentenbeiträge nicht mehr von den Gehältern des derzeitigen zivilen und militärischen Personals abzuziehen. Betreffend Rentenregelungen für Arbeitnehmer im Privatsektor sowie für Personen, die keiner formellen Beschäftigung nachgehen, sind keine vollständigen Informationen bekannt (AAN 22.5.2024). Mit Stand August 2024 bleibt das Pensionssystem in Afghanistan weiterhin außer Kraft (8am 26.8.2024).

Naturkatastrophen

Afghanische Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks (FEWS NET 6.7.2024; vgl. AI 24.4.2024), darunter Dürren (UNOCHA 2024; vgl. ADB 4.2024), Überflutungen (FEWS NET 6.7.2024; vgl. ADB 4.2024) und Erdbeben (ADB 4.2024; vgl. IDMC 14.5.2024). Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.4.2023).

Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.3.2023; vgl. FR24 22.3.2023). Berichten zufolge kamen bei Überschwemmungen im Juli 2023 mindestens 47 Menschen in elf Provinzen ums Leben (PAN 27.7.2023). Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 1.8.2023; vgl. AJ 24.7.2023). Betroffene Provinzen waren vor allem Kabul, Maidan Wardak und Ghazni (AJ 24.7.2023), aber auch die Provinzen Kunar, Paktia, Khost, Nuristan, Nangarhar, Paktika und Helmand hatten Opfer zu verzeichnen (PAN 27.7.2023).

Am 7.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vgl. UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023), und Tausende Menschen getötet (AP 11.10.2023; vgl. AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verletzte forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023).

Nach Angaben von UNOCHA sind im Jahr 2024 mit Stand 5.10.2024 mehr als 180.200 Menschen von Naturkatastrophen betroffen. Neben 528 Todesfällen und 838 Verletzten wurden auch 14.899 Häuser beschädigt und 6.511 zerstört. Besonders betroffen waren im Jahr 2024 die Provinzen Ghor, Nangarhar und Baghlan, wobei es auch in anderen Teilen des Landes zu Naturkatastrophen kam (UNOCHA 5.10.2024).

Armut und Lebensmittelunsicherheit

Letzte Änderung 2025-01-30 08:43

Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (WB 1.7.2024) mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung (WFP 25.6.2023). Seit 2021 ist in Afghanistan eine leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit zu verzeichnen, obwohl das Land in den letzten Jahren mit einer Reihe bedeutender Herausforderungen konfrontiert war. Dazu gehören der politische Übergang im August 2021, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und mehrere Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben und Dürren. Darüber hinaus bewältigt das Land den Zustrom afghanischer Rückkehrer aus den Nachbarregionen, die weiterhin die Ressourcen belasten und die Ernährungssicherheit beeinträchtigen (WFP 9.7.2024; vgl. IPC 7.1.2025). Auch der Afghanistan Welfare Monitoring Survey (AWMS) vom Oktober 2023 deutet darauf hin, dass sich die Ernährungssicherheit afghanischer Haushalte seit den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban am 15.8.2021 verbessert hat, auch wenn die meisten von ihnen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dies spiegelt sich in einem Rückgang der Haushalte wider, die von einer akuten Nahrungsmittelkrise berichten (WB 10.2023).

Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) sank der Anteil der Haushalte mit mangelhaftem Nahrungsmittelverbrauch im Juni 2023 kurzfristig auf 48 %, stieg jedoch im Dezember 2023 wieder auf 54 %, wobei Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sowie Haushalte mit Menschen mit Behinderung überproportional von den negativen Ergebnissen beim Lebensmittelkonsum betroffen sind (WFP 11.2.2024). Auch der Afghanistan Welfare Monitoring Survey (AWMS) vom Oktober 2023 deutet darauf hin, dass sich die Ernährungssicherheit afghanischer Haushalte seit den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban am 15.8.2021 verbessert hat, auch wenn die meisten von ihnen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dies spiegelt sich in einem Rückgang der Haushalte wider, die von einer akuten Nahrungsmittelkrise berichten (WB 10.2023).

In der Periode September bis Oktober 2024 sind nach Schätzungen der IPC ca. 11,6 Millionen Menschen (25 % der Gesamtbevölkerung) von einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, die in IPC-Phase 3 oder höher (Krise oder schlimmer) eingestuft wird. Davon befinden sich etwa 1,8 Millionen Menschen (4 % der Gesamtbevölkerung) in IPC-Phase 4 (Notfall) und etwa 9,8 Millionen Menschen (21 % der Gesamtbevölkerung) in IPC-Phase 3 (Krise). Diese leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit ist auf eine verbesserte landwirtschaftliche Produktion, das Ausmaß der humanitären Nahrungsmittel- und landwirtschaftlichen Nothilfe im Zeitraum 2023/2024 und eine verbesserte Kaufkraft der Haushalte zurückzuführen. Für den Zeitraum November 2024 bis März 2025, der mit der kalten Jahreszeit zusammenfällt, prognostiziert IPC, dass 14,8 Millionen Menschen (32 % der Gesamtbevölkerung) in die IPC-Phase 3 oder höher (Krise oder schlimmer) eingestuft werden. Darunter fallen 3,1 Millionen Menschen (7 % der Gesamtbevölkerung) in Phase 4 und 11,6 Millionen (25 % der Gesamtbevölkerung) in Phase 3. Des Weiteren wird durch IPC prognostiziert, dass im Zeitraum Juni 2024 und Mai 2025 fast 3,5 Millionen Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten an akuter Unterernährung leiden oder voraussichtlich daran erkranken werden (IPC 7.1.2025). Anm.: Erklärungen zu den einzelnen IPC-Phasen finden sich am Ende des Kapitels.

Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban zunächst gestiegen (IOM 12.1.2023; vgl. WEA 17.7.2022), was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkte (AA 26.6.2023). Ab Mitte 2022 begannen die Lebensmittelpreise wieder langsam zu sinken (WFP 18.2.2024). Ein Trend, der sich auch im Jänner 2024 fortsetzt. So lagen die Preise für Grundnahrungsmittel zu diesem Zeitpunkt etwa 1 bis 3 % niedriger als im Dezember 2023 und 20 bis 35 % niedriger als im Vorjahr. Der Preisrückgang ist in erster Linie auf die Aufwertung des Afghani zurückzuführen, der den Import von Lebensmitteln förderte. Darüber hinaus hat die laufende Einfuhr von Nahrungsmitteln aus den Nachbarländern, insbesondere aus Kasachstan, Iran und Pakistan, wesentlich zur Aufrechterhaltung eines stabilen Marktangebots beigetragen, was wiederum zu niedrigeren Preisen für wichtige Nahrungsmittel geführt hat (FEWS NET 28.2.2024).

Entwicklung Lebensmittelpreise Kabul und Bamyan: In beiden Regionen zeigt sich eine ähnliche Entwicklung. In fast allen Fällen steigen die Preise bis Mitte 2022 an, um dann langsam wieder zu fallen. Mit Stand Mitte 2024 sind die Preise in einigen Fällen sogar unter dem Niveau vor der Taliban-Machtübernahme, in den anderen Fällen gleichen sie sich langsam an (WFP 27.9.2024).

Mitarbeiter von IOM-Afghanistan befragten im Jänner 2024 Einzelhandelsgeschäfte auf den lokalen Märkten in Afghanistan und sammelten Informationen aus erster Hand für die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif (IOM 22.2.2024). Mit Stand September 2024 bleiben diese Preise nach Angaben von IOM stabil (IOM 17.9.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.1.2022). In der ein Jahr später durchgeführten Studie von ATR Consulting in Kabul gaben ca. 53 % der Befragten an, dass sie kaum in der Lage sind, die Familie mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen (ATR/STDOK 3.2.2023).

Laut einer weiteren von ATR Consulting im November 2024 durchgeführten Studie in Kabul gaben 16 % der Befragten an, ausreichend Nahrung für ihre Familie bereitstellen zu können, während dies 32 % der Befragten gerade noch möglich ist. 42 % haben Probleme bei der Bereitstellung von ausreichender Nahrung und 10 % ist dies nicht möglich (STDOK/ATR 14.1.2025).

Anm.: Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) bietet eine gemeinsame Skala für die Einstufung des Schweregrads und des Ausmaßes von Ernährungsunsicherheit und akuter Unterernährung, welche die Genauigkeit, Transparenz, Relevanz und Vergleichbarkeit von Analysen zur Ernährungssicherheit und Ernährung für Entscheidungsträger verbessert:

Phase 1 (keine/minimale Mängel): Die Haushalte sind in der Lage, den Grundbedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern zu decken, ohne atypische und nicht nachhaltige Strategien zur Beschaffung von Nahrungsmitteln und Einkommen anzuwenden.

Phase 2 (Gestresst): Gestresste Haushalte haben einen minimal adäquaten Nahrungsmittelkonsum, können sich aber einige wesentliche Non-Food-Ausgaben nicht leisten, ohne Stressbewältigungsstrategien anzuwenden.

Phase 3 (Krise): Krisenhaushalte entweder: - haben Lücken im Nahrungsmittelkonsum, die sich in einer hohen oder überdurchschnittlichen akuten Unterernährung widerspiegeln; oder - sind nur knapp in der Lage, den Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, aber nur unter Aufzehrung der wesentlichen Existenzgrundlagen oder durch Krisenbewältigungsstrategien.

Phase 4 (Notfall): Nothaushalte entweder: - haben große Nahrungsmittellücken, die sich in einer sehr hohen akuten Unterernährung und einer hohen Sterblichkeitsrate niederschlagen; oder - sind in der Lage, große Nahrungsmittellücken auszugleichen, aber nur durch die Anwendung von Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Auflösung von Vermögenswerten.

Phase 5 (Katastrophe/Hungersnot): In den Haushalten herrscht ein extremer Mangel an Nahrungsmitteln und/oder anderen Grundbedürfnissen, selbst wenn die Bewältigungsstrategien voll ausgeschöpft werden. Hunger, Tod, Elend und ein extrem kritisches Maß an akuter Unterernährung sind offensichtlich. (Für eine Einstufung als Hungersnot muss ein Gebiet ein extrem kritisches Niveau an akuter Unterernährung und Sterblichkeit aufweisen) (IPC 8.2021).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung 2024-03-29 09:47

Die drastische Kürzung der finanziellen und technischen Entwicklungshilfe für das öffentliche Gesundheitssystem Afghanistans seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat das Gesundheitssystem des Landes schwer geschädigt (HRW 12.2.2024; vgl. MaA 29.6.2023). Der daraus resultierende Mangel an ausreichenden Gesundheitsdiensten betrifft Millionen von Afghanen und macht die Bevölkerung anfällig für Krankheiten und andere Folgen unzureichender medizinischer Versorgung (HRW 12.2.2024; vgl. MSF 18.12.2023).

Hilfsorganisationen haben versucht, den Wegfall internationaler Mittel für das öffentliche Gesundheitswesen auszugleichen, und haben mit dem Rückgang der Mittel für humanitäre Hilfe nach 2022 ihren Schwerpunkt auf unmittelbare Hilfsmaßnahmen verlagert. Durch die vorübergehende Unterstützung der öffentlichen Krankenhäuser unmittelbar nach August 2021 konnte ein völliger Zusammenbruch verhindert werden. Dennoch mussten aufgrund fehlender Mittel Kliniken schließen und lokale Hilfsgruppen berichten von Engpässen bei Medikamenten und Ausrüstung (HRW 12.2.2024). Auch eine Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan berichtet davon, dass der Zugang zu Medikamenten sehr begrenzt ist. Während Antibiotika, Schmerzmittel und allgemeine Gesundheitsmedikamente noch eingeführt werden, sind spezifische Medikamente, z. B. jene zur Behandlung von Krebs, in Afghanistan nicht erhältlich. Menschen können auch nicht mehr so einfach wie früher in die Nachbarländer reisen, um sich behandeln zu lassen und Medikamente zu kaufen (MaA 29.6.2023).

In den öffentlichen Krankenhäusern, die unter direkter Aufsicht der afghanischen Regierung stehen, sind seit dem Regimewechsel sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Zahl der Mitarbeiter erheblich zurückgegangen (IOM 12.1.2023). Die Kapazität des Gesundheitspersonals im öffentlichen Sektor ist gering (HC 31.12.2022; vgl. UNOCHA 1.2023), auch aufgrund der Einschränkungen von Frauen im Hinblick auf Beschäftigung und Bewegungsfreiheit (HRW 12.2.2024; vgl. MaA 29.6.2023). Ebenso konzentrieren sich die am besten qualifizierten Gesundheitsfachkräfte in den Städten und den gut ausgestatteten Provinzen. Gleichzeitig können Bevölkerungsverschiebungen und die Abwanderung in städtische Zentren die bestehenden Gesundheitsdienste in städtischen Gebieten überlasten. Obwohl es in den städtischen Zentren zahlreiche Gesundheitseinrichtungen gibt, gab die städtische Bevölkerung häufig an, dass Medikamente oder Behandlungen für sie zu teuer seien (UNOCHA 1.2023). Eine Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan weißt in diesem Zusammenhang auf den generellen Mangel an (vor allem weiblichen) Ärzten hin. Viele seien auch unterqualifiziert bzw. praktizieren, ohne ihre Ausbildung abgeschlossen zu haben (MaA 29.6.2023).

Durch die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Afghanen sind diese nicht mehr in der Lage, ihre medizinischen Ausgaben zu bestreiten (HRW 12.2.2024) oder sich und ihre Familien ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Viele Afghanen leiden daher an Unterernährung (HRW 12.2.2024; vgl. WFP 7.2.2024), von welcher nach Einschätzung von Human Rights Watch auch Millionen von Kindern betroffen sind (HRW 12.2.2024). UNICEF schätzte die Zahl der von akuter Unterernährung betroffenen Kinder für das Jahr 2023 auf rund 2,3 Millionen (UNICEF 7.8.2023).

In Afghanistan gibt es Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie beispielsweise Masern, akute Atemwegsinfektionen (ARI) oder akute wässrige Diarrhöe (AWD) (WHO 18.3.2024). Infektionskrankheiten wie AWD und Cholera sind die Folge von und ein Katalysator für schlechte humanitäre Bedingungen, einschließlich schlechter sanitärer Einrichtungen, Wasserqualität und -menge, Unterernährung, geringeren Schulbesuchs, schlechten Gesundheitszustands und geringeren Einkommens. Besonders betroffen sind Kinder in ländlichen Haushalten, was teilweise auf Unterschiede in der sanitären Infrastruktur zurückgeführt werden kann (UNOCHA 1.2023). So wurden im Jahr 2023 beispielsweise 25.856 Fälle von Masern und 6,8 Millionen Fälle von AWD berichtet (UNICEF 2024).

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https://covid19.who.int/region/emro/country/af mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Bis 31.8.2023 gab es laut WHO 232.843 bestätigte Fälle von COVID-19 in Afghanistan. Nach Angaben der WHO haben mehr als 18 Millionen Afghanen zumindest eine Impfdosis erhalten und mehr als 16 Millionen sind vollständig geimpft (WHO 18.3.2024). Seit Beginn der Pandemie hat sich COVID-19 über das ganze Land ausgebreitet. Die erste Welle erstreckte sich Berichten zufolge von Ende April bis Juni 2020; die zweite Welle begann im Oktober 2020 und dauerte bis Ende Dezember 2020; die dritte Welle begann Berichten zufolge im April 2021 und dauerte bis Mitte August 2021. Die vierte Welle endete im März 2022 (Asady/Sediqi/Habibi 28.6.2022). Im Sommer 2022 sah sich Afghanistan einem weiteren Anstieg der COVID-19-Fälle ausgesetzt und innerhalb von zwei Monaten wurden mehr als 11.700 Fälle registriert. Es wurde berichtet, dass die Menschen trotz der Zunahme an Erkrankungen keine Angst mehr haben würden und keine Präventivmaßnahmen ergreifen (PAN 8.9.2022).

Bis zur Machtübernahme der Taliban waren landesweit insgesamt 38 COVID-19-Krankenhäuser in Betrieb, die alle von internationalen Gebern finanziert wurden. Daneben wurden im Rahmen der COVID-19-Notfallmaßnahmen auch Krisenreaktionsteams (Rapid Response Teams, RRTs) und Distriktzentren (District Centers, DCs) eingerichtet, um Risikokommunikationsveranstaltungen durchzuführen, Proben von Verdachtsfällen zu sammeln, Kontaktpersonen ausfindig zu machen und Ratschläge für leichte und mittelschwere Fälle zu geben, die zu Hause behandelt werden sollten. Diese Maßnahmen trugen entscheidend dazu bei, die Belastung der für COVID-19 zuständigen Krankenhäuser zu verringern, sodass sie sich auf die Behandlung schwerer und kritischer Fälle konzentrieren konnten. Nach dem Zusammenbruch der vorherigen Regierung wurden alle Finanzmittel und Unterstützungen für die COVID-19-Notfallmaßnahmen gekürzt, und die meisten Krankenhäuser mussten ihren Betrieb einstellen, weil es an Mitteln, Ärzten, Medikamenten und sogar Heizmaterial mangelte. Der Mangel an Gesundheitspersonal für die Entnahme von Proben verdächtiger Personen und der Mangel an Kits für labordiagnostische Tests waren in den meisten Distrikten Afghanistans auch 2022 nach wie vor die größten Herausforderungen. Das hohe Maß an finanzieller Unsicherheit in mehreren Teilen des Landes hat große und direkte negative Auswirkungen auf die Bereitstellung und Abdeckung von Gesundheitsdiensten für die breite Öffentlichkeit. Viele Menschen, die ihre erste Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff erhalten haben, konnten die nächste Dosis nicht erhalten, weil der Impfstoff knapp oder nicht verfügbar war (Asady/Sediqi/Habibi 28.6.2022).

Rückkehr

Letzte Änderung 2025-01-30 11:56

Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichten das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.3.2024) und andere Quellen (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.1.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 1.6.2022) und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).

Am 30.8.2024 wurden erstmals seit der Machtübernahme der Taliban afghanische Staatsangehörige aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Nach Angaben der deutschen Bundesregierung handelt es sich dabei um "afghanische Straftäter, afghanische Staatsangehörige, die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen" (Standard 30.8.2024; vgl. Spiegel 30.8.2024). Die insgesamt 28 abgeschobenen Afghanen wurden nach ihrer Rückkehr nach Kabul durch die Taliban angehalten und ins Gefängnis gebracht. Kurz darauf wurden sie nach Auskunft der Taliban wieder auf freien Fuß gesetzt (Spiegel 6.9.2024; vgl. AN 10.9.2024), nach einer schriftlichen Zusicherung, dass sie keine Verbrechen in Afghanistan begehen würden (AMU 8.9.2024). In einem Interview, welches am 16.9.2024 veröffentlicht wurde, bestätigte ein Taliban-Sprecher, dass alle aus Deutschland rückgeführten afghanischen Staatsbürger freigelassen wurden. Sie wurden mithilfe der Vermittlung eines Staates, mit dem die Taliban "freundschaftliche Beziehungen" führen, eingeflogen. Auch sind die Taliban laut dem Sprecher bereit, auch in Zukunft abgeschobene Afghanen aus Deutschland aufzunehmen (Fokus 16.9.2024).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.2.2024; vgl. IOM 17.9.2024).

Das deutsche Auswärtige Amt geht davon aus, dass die Taliban zurückkehrende Personen im Rahmen ihrer allgemeinen Praxis im Umgang mit der Zivilbevölkerung behandeln. Die Bedrohung der persönlichen Sicherheit ist im Einzelfall das zentrale Hindernis für zurückkehrende Personen. Auch vor dem Hintergrund der faktischen Kontrolle der Taliban über alle Landesteile lässt sich die Frage einer möglichen Gefährdung im Einzelfall nicht auf einzelne Landesteile, etwaige Sicherheitsrisiken durch Terrorismus oder lokale Kampfhandlungen begrenzen. Entscheidend für die individuelle Sicherheit der Personen bleibt, nach dem Dafürhalten des Auswärtigen Amtes, vielmehr die Frage, wie die Person von der Taliban-Regierung und dritten Akteuren wahrgenommen wird (AA 12.7.2024).

Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 12.7.2024). Im Hinblick auf jene verurteilten Straftäter, welche im August 2024 aus Deutschland nach Afghanistan rückgeführt wurden, sagte ein Sprecher der Taliban, dass gegen diese kein Strafverfahren in Afghanistan vorliegen würde. Sollte dies der Fall gewesen sein, wären sie einem Richter vorgeführt worden. Er gab weiters an, dass den Taliban keine Informationen über die in Deutschland begangenen Straftaten vorliegen (Fokus 16.9.2024).

Dokumente

Letzte Änderung 2025-01-30 13:41

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020; vgl. SEM 12.4.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.4.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.4.2023; vgl. MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.4.2023).

Mit Stand Februar 2024 können Reisepässe, Tazkira und e-Tazkira laut einem Rechtsanwalt in Kabul in allen Provinzen Afghanistans beantragt werden. Die Ausstellung von Reisepässen kann jedoch bis zu einem Jahr dauern. Reisepässe sehen noch genauso aus wie früher. Die e-Tazkira werden jedoch mit einigen Änderungen in Bezug auf das Layout ausgestellt. Auf der Vorderseite der e-Tazkira steht nicht mehr "Innenministerium", sondern "Nationale Behörde für Statistik und Information" in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Vorder- und Rückseite der e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, was vorher nicht der Fall war (RA KBL 19.2.2024). Zusätzlich sind neben der Religion auch die Nationalität, der Stamm und die ethnische Zugehörigkeit vermerkt (USDOS 15.5.2023). IOM weist jedoch darauf hin, dass Reisepässe nicht in allen Provinzen erhältlich sind. Das Innenministerium der Taliban hat in 15 der 34 Provinzen (Farah, Nimroz, Badghis, Paktika, Samangan, Laghman, Uruzgan, Kunar, Takhar, Zabul, Jawzjan, Bamyan, Panjsher, und Baghlan) Passämter wiedereröffnet und verlangt von den Antragstellern, dass sie sich in ihrer Herkunftsprovinz einen Pass besorgen. Die Funktionsfähigkeit dieser Abteilungen ist jedoch nach wie vor unklar. Verlängerungen von Reisepässen sind laut IOM möglich, unterliegen jedoch denselben geografischen Einschränkungen wie bei der Beantragung eines neuen Passes. Laut IOM gibt es in Afghanistan insgesamt 74 Verteilungszentren für elektronische Personalausweise und alle 34 Provinzen verfügen über solche Einrichtungen (IOM 22.2.2024).

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Sprachkenntnissen des BF ergeben sich aus seinen gleichbleibenden Angaben im Verfahren (ua AS 11f, AS 155). Mangels Vorlage unbedenklicher Identitätsdokumente konnte die Identität des BF nicht festgestellt werden.

Der Name des Beschwerdeführers dient ausschließlich zur Identifizierung als Verfahrenspartei. Wenn der BF in der Stellungnahme vom 27.03.2025 vermeint, dass sein Name nicht richtig protokolliert worden wäre und sein tatsächlicher Name XXXX lautet, dann ist diesbezüglich jedenfalls nicht von einem Protokollierungsfehler auszugehen. Der BF trat in der Erstbefragung unter dem Namen XXXX auf. Seit über 2,5 Jahren verwendet der BF diesen Namen in Österreich bei sämtlichen Behörden, Polizeidienststellen, Gerichten oder Ärzten. Es mutet daher etwas seltsam an, wenn man sich nach zweieinhalb Jahren Aufenthalt in einem Land mit der Bekanntgabe eines völlig anderen Namens auf einen Protokollierungsfehler beruft, denn man – abgesehen davon – schon viele Male hätte richtigstellen können. Die Aussage in der mündlichen Verhandlung (siehe Verhandlungsprotokoll vom 31.03.2025, S. 4), dass er seinen richtigen Namen bei der Erstbefragung erwähnt habe und er sich seiner Familie oder seinem Betreuer diesbezüglich anvertraut habe, überzeugt in keiner Weise. Es ist völlig unverständlich, dass der BF dies nicht bei einer der sich zahlreich bietenden Gelegenheit nicht schon viel früher gemacht hat. Wenn die Rechtsvertretung des BF in der Stellungnahme vom 23.04.2025 vermeint, dass die in Kopie vorgelegten Ausweise den Angehörigen des BF zuzuordnen wären, weshalb bewiesen werden könne, dass der BF tatsächlich den Namen XXXX trage, ist festzuhalten, dass die Kopien dieser Ausweise nicht auf ihre Echtheit überprüft werden können. Sollten diese echt sein, dann spricht dies nicht nur gegen eine persönliche Glaubwürdigkeit des BF, sondern zeigt auch, dass der BF unwahre Angaben über seine Identität gemacht hat und er diese jahrelang verschleiert hat und er wissentlich falsche Angaben vor den österreichischen Behörden gemacht hat.

Des Weiteren gab es im behördlichen Verfahren keine Anzeichen auf eine gesundheitliche Beeinträchtigung, weshalb die Falschangaben zu seiner Identität hierdurch auch nicht erklärbar sind. Selbige Beeinträchtigungen wurden auch nicht der Beschwerde geltend gemacht. Erstmals wurden diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Vertagungsbitte vom 16.04.2024 vorgebracht. In der Einvernahme vor dem BFA am 05.05.2023 gab der BF an, dass der gesund sei und keine Medikamente nehme (AS 151). Auch bei der Erstbefragung gab der BF an, dass er gesund sei und der Einvernahme folgen könne (AS 14). Da sich der BF im Laufe seines Verfahrens niemals durch eine Urkunde ausweisen hat können, ist es im Verfahren nicht möglich gewesen den BF zu identifizieren. Wie bereits zuvor erwähnt, leidet der persönliche Eindruck jedoch sehr darunter, wenn eine Person nicht nachvollziehbar darlegen kann, warum sie plötzlich unter einem völlig anderen Namen auftreten möchte. Dies ist noch unverständlicher zumal der BF in der Einvernahme vor dem BFA in der Niederschrift bereits richtigstellte, dass Protokollierungsfehler in der Erstbefragung betreffend seine Schulbildung und der Anzahl seiner Schwestern aufgenommen wurden (vgl. AS 155). Die Stellungnahme vom 27.03.2025 bezieht auch auf diese bereits in der Einvernahme vordem BFA geltend gemachten Änderungen. Lässt es aber ebenfalls völlig offen, warum der BF bereits damals nicht moniert hat, dass sein Name angeblich nicht richtig aufgenommen worden sei.

Den Schutzsuchenden im Asylverfahren trifft eine Mitwirkungspflicht an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts, über welche der BF im Rahmen der Erstbefragung auch nachweislich aufgeklärt wurde (vgl. AS 12f). Auch gab der BF an, dass er bei der Erstbefragung alles verstanden habe, er keine Ergänzungen zu machen habe und ihm die Niederschrift in eine für ihn verständlich Sprache rückübersetzt worden sei (vgl. AS S17) danach bestätigte er mit seiner Unterschrift auf jeder Seite die Richtigkeit der Niederschrift. Auch bei der Einvernahme vordem BFA erfolgte eine ausführliche Belehrung des BF, bei der auch auf seine Minderjährigkeit Rücksicht genommen wurde (vgl. AS 145). Ebenso ist anzuführen, dass der BF zu diesem Zeitpunkt bereits rechtlich vertreten gewesen ist. Abermals gab der BF an, dass er den Dolmetscher einwandfrei verstanden habe, ihm die Niederschrift verständlich rückübersetzt worden wäre und er keine Ergänzungen mehr zu machen habe. Anschließend bestätigte der BF die Richtigkeit der Niederschrift mit seiner Unterschrift auf jeder Seite (vgl. AS 173).

Zum Gesundheitszustand des BF wurde festgestellt, dass dieser seit April 2024 an einer psychischen Erkrankung leidet. Daraufhin wurde die bereits anberaumte Verhandlung wieder abberaumt. Da sich der Gesundheitszustand des BF auch nicht besserte, wurde auch die in der Folge für 30.07.2025 anberaumte Verhandlung wieder abberaumt und es erfolgte mit Beschluss vom 18.07.2024 die Bestellung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychotherapie, um festzustellen, ob der BF überhaupt prozessfähig ist.

Ein am 01.12.2024 erstelltes kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten kam zu dem Schluss, dass sich der Gesundheitszustand des BF inzwischen verbessert habe, dass er einvernahmefähig sei. Die derzeit eingeschränkte Konzentration und Aufmerksamkeit würde sich in den nächsten Monaten aber noch verbessern. Es wird nicht verkannt, dass der BF durch seine psychische Krankheit beeinträchtig ist. Diese Einschränkungen führen aber nicht dazu, dass der BF einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Falle einer Rückkehr ausgesetzt ist. Wenn die Rechtsvertretung hierzu ausführt, dass der BF durch diese Krankheit bereits zur sozialen Gruppe der „mayub“ zähle, so verkennt das erkennende Gericht auf keinen Fall, dass der BF unter einer psychischen Krankheit leidet, jedoch in der Stellungnahme nicht aufgezeigt werden konnte, warum der BF diesbezüglich einer asylrechtlichen relevanten Verfolgung ausgesetzt sein sollte. In dieser wird ausgeführt, dass dies nur in Kumulation mit anderen Fluchtgründen dies zu einer asylrechtlichen Relevanz führen kann und diesbezüglich auch noch im Einzelfall überprüft werden müsse. In gerader jener Einzelfallprüfung war es nicht ersichtlich, dass der BF einer solchen Demütigung ausgesetzt wäre, zumal sein Krankheitsbild auch nicht so offensichtlich ist, dass er aufgrund einer körperlichen Missbildung oder einer geistigen Behinderung diesen Demütigungen ausgesetzt wäre. Hierbei ist ebenso noch zu bedenken, dass der BF im Falle einer Rückkehr in Familienband zurückkehren würde, der ihn diesbezüglich auch weiteren Schutz bieten könnte. Abgesehen davon liegen beim BF, wie folgt dargestellt wird, keine sonstigen Asylgründe vor, mit denen die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe „mayub“ kumuliert werden könnte.

Die Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsicht in einen aktuellen Strafregisterauszug des BF. Es wird aber festgehalten, dass gegen der BF oftmals strafrechtliche Ermittlungen durchgeführt wurden und er polizeilich amtsbekannt ist.

Hinsichtlich des in Österreich gestellten Asylantrages und des Verfahrensganges ist auf den Akteninhalt zu verweisen.

II.2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Die Feststellung, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte, ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde sowie dem vor dem BVwG geführten Verfahren und im Besonderen der mündlichen Verhandlung ergibt sich, dass der BF ausreichend Zeit und Gelegenheit hatte, eventuelle Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen sowie allfällige Beweismittel und geeignete Nachweise zur Untermauerung seines Vorbringens vorzulegen. Er wurde auch mehrmals zur umfassenden und detaillierten Schilderung seiner Fluchtgründe und ausdrücklich zur Vorlage von Beweismitteln aufgefordert sowie über die Folgen unrichtiger Angaben belehrt. Wie in der Folge dargestellt, ist das Vorbringen des BF objektiv nicht geeignet, einen asylrelevanten Grund zu begründen, da es unsubstantiiert und in wesentlichen Punkten unschlüssig sowie widersprüchlich ist:

2.2.1. Zum Fluchtvorbringen des BF im Rahmen der Erstbefragung:

Das erkennende Gericht hält dem BF zwar grundsätzlich zu Gute, dass eine Erstbefragung in einem fremden Land eine für jeden Asylwerber außergewöhnliche Situation darstellt. Eine gewisse, anfängliche Verlegenheit in der Erzählung persönlicher Erlebnisse erscheint daher im Allgemeinen nachvollziehbar. Ebenso ist klar, dass im Rahmen einer Erstbefragung in keine allzu große Detailtiefe bei der Schilderung des eigentlichen Fluchtgrundes vorgestoßen werden kann.

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar „insbesondere“ der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu VfGH 27.06.2012, U98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert. Das BFA und das BVwG können im Rahmen ihrer Beweiswürdigung also durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen. Im vorliegenden Fall gab der BF in der Erstbefragung an, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater seit drei Jahren verschollen sei. Er sei nun das Oberhaupt der Familie und habe sich entschlossen nach Europa zu gehen, um die Familie finanziell unterstützen zu können. In Afghanistan wären die Taliban an der Macht und es gebe keine Arbeit. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er, dass die Familie verhungern würde. Zugestanden wird, dass die polizeiliche Erstbefragung grundsätzlich dazu dient, allgemeine Angaben eines Asylwerbers, insbesondere zu seiner Fluchtroute zu erheben. Dennoch findet bei dieser Gelegenheit auch eine Frage zu den Fluchtmotiven statt, welche von den Asylwerbern – langjährigen Erfahrungswerten entsprechend – nahezu durchgängig dazu genützt wird, die wichtigsten persönlichen Fluchtgründe zumindest ansatzweise darzulegen. Wenn der BF derartige Fakten, welche eine besondere persönliche Betroffenheit auslösen, anlässlich seiner Erstbefragung nicht einmal ansatzweise erwähnt, so ist davon auszugehen, nachdem der BF diese Fluchtgründe erst später im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA bzw. in der Verhandlung vor dem BVwG geltend machte, dass diese nicht den erlebten Tatsachen entsprechen.

Der BF hat vor dem BFA das in der Erstbefragung getätigte Vorbringen bereits in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde dahingehend gesteigert, dass er von den Taliban aufgefordert worden wäre, einen Sprengstoff zu platzieren, um einen Anschlag auf die afghanischen Streitkräfte durchzuführen. Da er sich diesbezüglich geweigert hätte, habe er einen Drohbrief erhalten, woraufhin er das Land verlassen habe. Bezüglich dieses gesteigerten Fluchtvorbringens hat der BF im Zuge des Verfahrens ebenfalls lediglich oberflächliche, vage und unplausible Angaben getätigt. Aufgrund der unterschiedlichen und steigernden Angaben des BF über die Bedrohungssituationen, ist davon auszugehen, dass sein Vorbringen, das auch in vielen Punkten fernab von jedweder Lebensrealität war, lediglich auf einem gedanklichen Konstrukt beruht. Des Weiteren wurde auch keine Bedrohungssituation von staatlichen Behörden seines Heimatlandes gegen seine Person zu Protokoll gebracht.

2.2.2 Zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates und einer möglichen aktuellen Bedrohung:

Die Feststellung, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte, ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

Eingangs ist zu erwähnen, dass der BF in der Einvernahme ausdrücklich angab, Afghanistan aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der schlechten finanziellen Situation seiner Familie verlassen zu haben (AS 16). Aus seinen Angaben ging insgesamt hervor, dass der BF keiner individuellen Verfolgungsgefahr ausgesetzt gewesen wäre. Das ist schon als erstes Indiz dafür zu werten, dass die Ausreise des BF primär auf wirtschaftliche Überlegungen zurückgeht.

In der Einvernahme vor dem BFA berief sich der BF erstmals darauf, dass er Verkäufen in einem Lebensmittelgeschäft gewesen wäre und ihn ein Kunde angestiftet hätte, dass er einen Sprengstoff auf eine nahe Polizeistation hätte durchführen sollen. Nachdem er sich geweigert hätte, hätte man ihm einen Drohbrief zugesandt woraufhin er das Land verlassen habe (vgl. AS 161ff). Dass es dem BF bei der Erstbefragung nicht so gut gegangen sei und die Polizisten gesagt hätten, dass es noch eine weitere Einvernahme geben würde (vgl. AS 169), überzeugt dahingehend nicht, weil der BF nicht einmal ansatzweise diese fluchtauslösenden Gründe vorgebracht hat. Jeder tatsächlich Verfolgte würde bei erster Gelegenheit in Sicherheit diese Gründe zu Protokoll bringen, wenn er tatsächlich verfolgt werden würde.

Die vagen, unplausiblen, unstimmigen und widersprüchlichen Angaben zu einer aktuellen Bedrohungssituation in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan waren nicht von Asylrelevanz. Dass der BF im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland deswegen einer asylrechtlich relevanten Verfolgung unterliegt, ist im Verfahren daher nicht hervorgekommen.

Vorab ist festzuhalten, dass – wie bereits oben festgehalten – der BF persönlich nicht glaubwürdig war. Auch der in der mündlichen Verhandlung gewonnene Eindruck vom BF verstärkte den Eindruck, dass der BF keine asylrechtlich relevante Verfolgung glaubhaft gemacht hat. Zur Illustration wird im Folgenden auf einige Angaben des BF eingegangen.

Weiters ist festzuhalten, dass es im Laufe des Verfahrens zu zahlreichen widersprüchlichen Angaben im Vorbringen des BF gekommen ist, sodass insgesamt auch die Glaubwürdigkeit des BF in Zweifel gezogen wird.

In der mündlichen Verhandlung berief sich der BF darauf, dass die Soldaten der Militärbasis (vgl. Verhandlungsprotokoll, S.4) bei ihm im Geschäft eingekauft hätten, wobei er sich dahingehend widersprach, dass der das Wasser immer auf die Ladefläche auf ein Auto der Polizei gestellt habe. Wohl gleich diesen eklatanten Widerspruch bemerkend meinte der BF, dass die Polizisten am Abend auch gekommen wären (vgl. Verhandlungsprotokoll, S 5). Dass der BF überhaupt die Soldaten der Nationalarmee erwähnt hat, mutet etwas seltsam an, zumal der BF im erstinstanzlichen Verfahren bloß davon gesprochen hat, dass ein Anschlag auf die Polizei verübt hätte werden sollen und die Nationalarmee mit keinem Wort erwähnt wurde (vgl. AS 161).

Ein weiterer Widerspruch war es, dass der BF vor dem BFA angab, dass das Geschäft dem Onkel gehört habe (vgl. AS 161) und der Onkel dieses Geschäft explizit für BF und dessen Bruder geöffnet habe (vgl. AS 163). Hingegen gab der BF in der mündlichen Verhandlung an, dass das Geschäft dem Schwager gehört hätte (vgl. Verhandlungsprotokoll, S. 5), der Onkel hingegen ein Textilgeschäft geführt habe. Schon alleine aufgrund dieser eklatanten Widersprüche ist davon auszugehen, dass dieses Geschäft bloß auf einem gedanklichen Konstrukt basiert, wodurch in weiterer Folge die Fluchtgeschichte nicht glaubwürdig sein kann.

Aber auch die Fluchtgeschichte an sich hatte einige Ungereimtheiten. So gab der BF an, dass er den Drohbrief einen Monat vor Machtübernahme der Taliban (vgl. AS 163) und 20 Tage nach Ablehnung der Durchführung des Anschlages erhalten habe (vgl. AS 165), wobei ihm der Drohbrief ins Geschäft zugestellt worden wäre. Er sei noch einen Monat lang in Afghanistan geblieben, weil er diesen nicht ernst genommen habe (vgl. AS 167). Die Stellungnahme vom 27.03.2025 wollte diesen Angaben Richtigkeit verleihen, in dem man mit der vagen Antwort, dass der BF um die Machtübernahme ausgereist sei, seinen Ausreisezeitpunkt konkretisieren habe wollen. Folgt man den Angaben in der Erstbefragung, dann ist der BF eindeutig nach der Machtübernahme der Taliban geflohen, weil er in dieser, zu seinem Fluchtgrund gefragt, bemängelt habe, dass er seit der Machtübernahme keine Arbeit gebe.

Ein weiterer Widerspruch war es, dass der BF in der mündlichen Verhandlung meinte, dass er den Brief nicht lesen habe können und er weder den genauen Inhalt gewusst habe und auch nicht wusste, wo er diesen erhalten habe (vgl. Verhandlungsprotokoll, S. 5.). Wie bereits angeführt, wusste der BF in der Einvernahme vor dem BFA noch genau, wo er dieses Schreiben erhalten habe (vgl. AS 165 und konnte damals auch den Inhalt des Schreibens einigermaßen widergeben (vgl. AS 171). Auch berief sich der BF nicht darauf, dass er des Lesens nicht mächtig sei, obgleich er in der mündlichen Verhandlung angab, auf Paschtu und Farsi lesen und schreiben zu können (vgl. Verhandlungsprotokoll, S. 4). Dies könne auch deswegen ausgeschlossen werden, zumal der BF über eine profunde Schulbildung verfügt.

Gegen eine Glaubwürdigkeit des Vorbringens spricht es auch, dass der BF diesen Brief nicht vorlegen konnten, wobei er dies dahingehend begründete, dass die Familie diesen weggeworfen hätte, weil die Taliban nach der Machtübernahme Hausdurchsuchungen durchgeführt hätten (vgl. AS 165), wodurch auch offensichtlich ist, dass der BF eindeutig nach der Machtübernahme der Taliban Afghanistan verlassen hat.

Auch war die Begründung nicht überzeugend, dass er Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban habe, weil diese ihn aufgrund eines Fotos erkennen würden (vgl. AS 167ff), in keiner Weise nachvollziehbar, zumal die Familie seit der Ausreise keine weiteren Bedrohungen ausgesetzt gewesen sei und der Onkel noch dazu exponiert in einer exponierten Position gewesen wäre (vgl. AS 169). Dass die Familie bei der Polizei gewesen sei, führte der BF auch lediglich vor dem BFA an (vgl. AS 169).

Abschließend sei noch festzuhalten, dass sich diese soeben dargestellten klaren Widersprüche, Divergenzen und Ungereimtheiten im Vorbringen des BF auch nicht mit seiner Minderjährigkeit begründen lassen.

Dazu dass der BF könnte als Angehöriger der besonders vulnerablen Personengruppe der Kinder in Afghanistan, zum Beispiel einer Entführung oder einer Zwangsrekrutierung, ausgesetzt werden könnte, so wie es die Rechtsvertretung des BF auch ihren Stellungnahmen angeführt hat, war Folgendes festzuhalten:

Gemäß den UNHCR-Richtlinien könnte dies auch eine Gefahr von Verfolgung darstellen. Jedoch konnte Rechtsvertretung auch nicht darlegen, warum gerade der kurz vor der Volljährigkeit stehende BF individuell einer solchen Gefährdung ausgesetzt sein könnte.

Den Länderberichten sind zwar kinderspezifische Gefahren zu entnehmen, jedoch ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass nicht aufgezeigt werden hat können inwiefern der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, wo er ohnedies in seinen Familienverband zurückkehren würde, einer systematischen Verfolgung wäre. Soweit in der zur Situation von Kindern in Afghanistan nun zusammengefasst vorgebracht wird, dass er sexuellen Übergriffen, einer Zwangsrekrutierung oder der Gefahr ausgesetzt sei, ein Bacha Bazi zu werden, haben sich im verfahrensgegenständlichen Fall keine Anknüpfungspunkte ergeben, dass der BF diesbezüglich einer individuellen Gefährdung ausgesetzt sein könnte. Das erkennende Gericht verkennt dabei nicht die besondere Vulnerabilität des Beschwerdeführers, die für sich genommen allerdings noch keine systematische Verfolgung nach sich zieht.

Soweit eine Verfolgung als Rückkehrer aus Europa ins Treffen geführt wird, so wurde eine individuelle und konkret gegen ihn gerichtete Verfolgung als „Rückkehrer“ ebenfalls nicht hinreichend substantiiert und kam eine solche insbesondere in der mündlichen Verhandlung auch nicht hervor.

Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang auch, dass der BF erst kurze Zeit (seit September 2022) in Österreich aufhältig ist, sodass eine Verinnerlichung westlicher Werte auch aus diesem Grund nicht anzunehmen ist. Wenn die Rechtsvertretung des BF vorbringt, der BF sei u.a. mit den Werten der Demokratie verbunden, so konnte er dieses Vorbringen nicht substantiieren. Dass jeder afghanische Staatsangehörige, der sich einige Zeit in Europa aufgehalten hat, im Falle einer Rückkehr alleine aus diesem Grund einer Verfolgung ausgesetzt wäre, ergibt sich auch aus der Berichtslage nicht.

Dass dem BF im Falle einer Rückkehr aufgrund einer Tätowierung in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine „westliche“ oder unislamische Gesinnung unterstellt würde, ist gegenständlich jedoch nicht anzunehmen. Erstens wurde dieses Vorbringen erst in der letzten Stellungnahme vom 23.04.2025 getätigt, wobei es nicht nachvollziehbar ist, warum die Rechtsvertretung des BF solange mit diese Vorbringen zugewartet hat, sodass davon auszugehen ist, dass damit das Vorbringen bloß unzulässig gesteigert wurde. Davon ist insbesondere auszugehen, weil der BF diese Tätowierung schon vor Jahren in Afghanistan gestochen worden sei und er diesbezüglich absolut keine Verfolgungshandlungen in Afghanistan ausgesetzt gewesen ist. Tätowierungen sind in Afghanistan zwar notorisch verboten bzw. nicht erwünscht, dass eine tätowierte Person jedoch unabhängig vom Motiv bzw. der Bedeutung ihrer Tätowierungen verfolgt wird, ist nicht ersichtlich. Dass der BF seine Tätowierung im Zusammenhang mit einer bestimmten Glaubensüberzeugung anfertigen hat lassen, behauptete er nicht. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass seine Tätowierung christlich konnotiert ist oder ein dem muslimischen Glauben zuwiderhandelndes Zeichen darstellt, weshalb aus dieser keinesfalls ein Abfall vom muslimischen Glauben geschlossen werden kann. Hinzu kommt, dass es dem BF auch zumutbar ist, sich das Tattoo mit einem Laser entfernen zu lassen.

Der BF brachte zu keinem Zeitpunkt vor, in seinem Herkunftsstaat inhaftiert worden zu sein oder mit den Behörden seines Herkunftsstaates aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit sonstige Probleme gehabt zu haben.

Der BF bekennt sich zum sunnitischen Islam, welchen laut Länderberichten auch 80% bis 89,7% der afghanischen Bevölkerung angehören. Zudem zählt der BF als Paschtune auch zur größten Bevölkerungsgruppe im Herkunftsland und ergibt sich aus den Länderberichten keine Verfolgung dieser Personengruppen, weshalb jedenfalls keine Gefährdung aufgrund der Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit feststellbar ist.

Mangels einer konkreten und individuellen Bedrohung sind daher keine konkreten Hinweise auf eine asylrelevante Bedrohung des BF hervorgekommen.

II.2.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat des BF stützen sich auf die zitierten Quellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Afghanistan. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben. Diesen Berichten ist der BF nicht substantiiert entgegengetreten.

II.3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

II.3.1. Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen keine gegenteiligen Bestimmungen enthalten sind, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

II.3.2. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0233, mwN).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036). Eine inländische Fluchtalternative ist nur dann gegeben, wenn sie vom Asylwerber in zumutbarer Weise in Anspruch genommen werden kann. Herrschen am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative - nicht notwendigerweise auf Konventionsgründen beruhende – Bedingungen, die eine Verbringung des Betroffenen dorthin als Verstoß gegen Art. 3 EMRK erscheinen lassen würden, so ist die Zumutbarkeit jedenfalls zu verneinen (vgl. VwGH 16.12.2010, 2007/20/0913). Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).

Um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erreichen, müssen konkrete, gegen den Asylwerber selbst gerichtete Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht werden (VwGH 10.03.1994, 94/19/0056). In diesem Zusammenhang hat der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darzustellen (EGMR 07.07.1987, Nr. 12877/87, Kalema/Frankreich).

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, wie in der Beweiswürdigung dargelegt, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, aktuell nicht begründet ist. Das Fluchtvorbringen des BF wird als nicht glaubhaft erachtet. Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde dargelegt, dass Vorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubwürdig war und der in Afghanistan wegen seiner Tätigkeit in einem Geschäft und der Durchführung eines möglichen Attentats Verfolgungshandlungen durch die Taliban ausgesetzt ist, noch, dass ihm dort eine Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung droht.

Es sind auch sonst keine Gründe hervorgekommen, die für eine asylrelevante Gefährdung des BF im Herkunftsland sprechen würden. Wie der Beweiswürdigung zu entnehmen ist, liegt beim BF keine europäische oder "westliche" Lebenseinstellung seiner Person, die zu einer Gefährdung führen könnte, vor. Auch führen weder seine Tätowierung, seine psychische Beeinträchtigung noch seine Minderjährigkeit dazu, dass der BF in Afghanistan einer asylrechtlich relevanten Gefährdung ausgesetzt sein könnte.

In Bezug auf die schlechte Wirtschafts- und Sicherheitslage im Herkunftsland ist auszuführen, dass sich auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan konkret für den BF kein Status eines Asylberechtigten ableiten lässt. Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden (vgl. etwa VwGH vom 14.03.1995, 94/20/0798, sowie VwGH vom 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; 30.04.1997, 95/01/0529, 08.09.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre.

Im Ergebnis konnte der BF eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, nicht glaubhaft machen.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde im Rahmen der Erwägungen wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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