Spruch
W169 2295266-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.05.2024, Zl. 1385756501-240282318, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.02.2025 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Somalia, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 16.02.2024 einen Antrag auf internationalen Schutz, zu welchem sie am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurde. Sie gab an, aus XXXX bei Buhoodle zu stammen und der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie dem Clan der Dhulbahante anzugehören. Sie habe vier Jahre die Grundschule besucht und nie gearbeitet. Ihre Mutter sei verstorben, ihr Vater und ihre fünf älteren Halbbrüder würden in Somalia leben. Ihr Herkunftsland habe sie im Jänner 2024 per Flugzeug mit einem gefälschten Reisepass über Dubai in ein ihr unbekanntes europäisches Land verlassen, von wo sie mit einem PKW nach Österreich gefahren sei. Ihre Ausreise sei von ihrer Tante organisiert und bezahlt worden. Sie wisse die Kosten nicht. Zu ihrem Ausreisegrund gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass ihr Vater sie mit dem Mann ihrer verstorbenen Schwester zwangsverheiratet habe. Sie habe nicht mit diesem Mann leben wollen, da er so alt wie ihr Vater selbst sei. Ihre verstorbene Schwester habe sechs Kinder hinterlassen. Die Beschwerdeführerin habe auf diese Kinder aufpassen und mit ihnen zusammenleben sollen. Nach einem Monat habe sie das nicht mehr weiter so aushalten wollen und habe beschlossen zu fliehen. Im Falle einer Rückkehr befürchte die Beschwerdeführerin, weiterhin mit diesem Mann zusammenleben zu müssen.
2. Anlässlich ihrer Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 06.05.2024 gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie aus XXXX stamme, der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime und dem Clan der Dhulbahante angehöre und vier Jahre die Grundschule besucht habe. Ihre Mutter sei nach der Geburt der Beschwerdeführerin verstorben. Die Beschwerdeführerin habe mit ihrem Vater, ihren Halbbrüdern und der Frau ihres Vaters zusammengelebt. Ihr Vater habe durch seine Arbeit als Viehvermittler die Familie versorgt. Die Beschwerdeführerin habe zudem in der Stadt Buhoodle eine Tante mütterlicherseits. Sie stehe nicht in Kontakt zu ihren Angehörigen, da der Schlepper ihr das Handy weggenommen habe, in welchem die Nummer der Tante eingespeichert gewesen sei. So sei der Kontakt abgebrochen.
Zu ihrem Ausreisegrund führte die Beschwerdeführerin in freier Erzählung aus, dass sie mit ihrer Stiefmutter aufgewachsen sei. Diese habe sie großgezogen und betreut. Die Beschwerdeführerin habe alles für sie gemacht. Sie habe für sie gearbeitet, Holzstücke gesammelt, Wasser geholt und essen gekocht. Sie sei von der Stiefmutter geschlagen worden. Diese habe die Beschneidung der Beschwerdeführerin veranlasst. Sie sei pharaonisch beschnitten worden und trotz der Wunde nach der Beschneidung habe ihre Stiefmutter sie zum Wasserholen geschickt. Ihre Stiefmutter habe keine Gnade ihr gegenüber gehabt. Ihre Stiefmutter habe sie schwer geschlagen. Sie habe diese Probleme bei der Familie ihres Vaters erlebt. Sie sei damit aufgewachsen. Dann sei ihre Schwester verstorben. Danach habe ihr Vater sie mit dem Schwager zwangsverheiratet. Gleich an dem Tag, an dem die Verehelichung durchgeführt worden sei, sei sie dann zu ihm nach Hause gebracht worden. Mit dem Schwager habe sie auch Probleme gehabt. In der ersten Nacht bei dem Mann habe er versucht, mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben, aber sie sei von ihm weggelaufen. Sie sei aber im Haus geblieben. Sie habe nicht gewusst, wohin sie gehen solle, denn wenn sie zu ihrem Vater gegangen wäre, hätte dieser sie zurückgebracht. Am nächsten Tag nachmittags habe er zwei Männer und seine Tante väterlicherseits gerufen. Seine Tante habe dann mit Gewalt ihre Beschneidung „aufgemacht“. An dem Abend habe er dann trotz ihrer Wunde Sex mit ihr gehabt. Sie habe geblutet und geschrien. Er habe sie gewürgt und habe ihr einen Polster auf ihren Mund gedrückt. Er habe den Sex einfach weitergeführt. Sie habe starke Schmerzen gehabt und viel geblutet. So habe er es dann jeden Abend mit ihr gemacht. Er habe sie mit einem Dolch bedroht und sie dann vergewaltigt. So habe sie einen Monat lang mit ihm gelebt. Danach habe er sie immer geschlagen und mit dem Dolch bedroht. Dann habe sie entschieden zu flüchten. Am Tag der Flucht sei er auf einer Reise gewesen. Sie habe das Haus verlassen und sei mit einem Milchtransporter zu ihrer Tante geflohen. Gleich nach ihrer Ankunft bei ihrer Tante habe diese sie zu ihrer Freundin in Buhoodle gebracht und sie sei dort versteckt worden. Ihre Tante habe ihr gesagt, dass sie sie nicht bei ihr behalten könne, weil ihr Vater damals abgelehnt habe, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter bei ihrer Tante aufwachse. Wenn ihre Tante Kleidung zu ihr geschickt habe, habe ihre Stiefmutter diese genommen und verbrannt, damit sie sie nicht tragen könne. Ihre Tante habe gemeint, dass sie sie nicht retten könne. Ihr Vater werde nicht zulassen, dass sie bei der Tante lebe, und zwar schon gar nicht jetzt, wo sie verheiratet worden sei. Ihre Tante habe gesagt, dass sie eine Lösung suchen und Geld dafür auftreiben werde. Sie habe Kontakt zu einem Schlepper hergestellt. Mit einem Auto habe ihre Tante sie dann zu dem Schlepper nach Hargeysa geschickt. Dort sei sie in ein Haus gekommen, in dem sie ca. 20 Tage lang geblieben sei. Der Schlepper habe einen gefälschten Reisepass auf sie ausgestellt. Dann seien sie mit anderen Personen von Hargeysa nach Dubai geflogen und weiter nach Europa gebracht worden. Der Schlepper habe ihnen den Namen des Ortes nicht verraten wollen. Sie seien in eine Wohnung gebracht worden.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und monierte nach Wiederholung der bisher getätigten Angaben unter Ausführung näherer Gründe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung. Die Beschwerdeführerin gehöre der „sozialen Gruppe der (de facto) alleinstehenden Frauen sowie von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffenen Frauen“ in Somalia an.
5. Am 11.02.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt nicht erschienen. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde die Beschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt (s. Verhandlungsprotokoll).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest. Sie ist eine Staatsangehörige von Somalia und gehört der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie dem Clan der Darod, Subclan Dhulbahante, an. Sie stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt Buhoodle, Region Togdheer. Ihre Mutter verstarb nach der Geburt der Beschwerdeführerin. Nach ihrem Tod lebte die Beschwerdeführerin mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und den fünf Halbbrüdern im gemeinsamen Haushalt. Die Beschwerdeführerin besuchte in Somalia vier Jahre eine Koranschule und half im Haushalt mit. Ihr Vater ist Tierhändler und sorgte für den Lebensunterhalt der Familie.
Entgegen den von ihr angegebenen Ausreisegründen wurde sie nicht von ihrem Vater zwangsverheiratet. Eine solche Zwangsverheiratung droht ihr auch nicht bei einer Rückkehr.
Die Beschwerdeführerin wurde in ihrer Kindheit aufgrund der somalischen Traditionen nach dem WHO-Typ III (sogenannte Infibulation bzw. pharaonische Beschneidung) beschnitten. Die Infibulation besteht weiterhin und es droht der Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Somalia keine weitere Genitalverstümmelung.
Die ledige, kinderlose Beschwerdeführerin hat in ihrem Herkunftsort zumindest ihren Vater, ihre Stiefmutter und fünf ältere Halbbrüder, mit denen sie in Kontakt steht. Die Beschwerdeführerin wird bei einer Rückkehr von diesen – auch männlichen – Angehörigen wieder aufgenommen. Die Beschwerdeführerin ist aufgrund des Schutzes durch ihre Familie und ihren Clan dort keine alleinstehende, schutzlose Frau, die geschlechtsspezifischer Gewalt besonders ausgesetzt ist.
Es besteht auch keine sonstige verfahrensrelevante, individuell gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Bedrohungslage in ihrem somalischen Herkunftsort.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:
1. Bevölkerungsstruktur
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021a). Die Landesbevölkerung ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings ist der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung demnach unklar (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine gemeinsame ethnische Herkunft (USDOS 22.4.2024). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UN OCHA 14.3.2022). Die UN gehen davon aus, dass ca. 30 % aller Somali Angehörige von Minderheiten sind (MBZ 6.2023). Abseits davon trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2024). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (Landinfo 4.4.2016).
Große Clanfamilien: Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:
Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
Hawiye leben v. a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet (SEM 31.5.2017). Sie selbst erachten sich nicht als Teil der Dir (AQSOM 4 6.2024).
Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017).
Territorien: Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017).
Minderheiten: Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
AQSOM 4 - Anonymisierte Quelle Somalia 4 (6.2024): Expertengespräche
BS - Bertelsmann Stiftung (2024): BTI 2024 Country Report - Somalia
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (4.4.2016): Practical issues and security challenges associated with travels in Southern Somalia
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (6.2023): General country of origin information report on Somalia
SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten
UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (22.12.2021a): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa
UN OCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A
2. Minderheiten und Clans in Somaliland
Wie in den restlichen Landesteilen bekennt sich die Verfassung zum Gebot der Nichtdiskriminierung (AA 23.8.2024). In Somaliland sind Mitbestimmung und Schutz von Minderheiten vergleichsweise gut ausgeprägt (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Nach anderen Angaben besteht offiziell kein Minderheitenschutz (ÖB Nairobi 10.2024). Jedenfalls sind die Clanältesten der Minderheiten gleich wie jene der Mehrheitsclans offiziell anerkannt (SEM 31.5.2017). Große Clans dominieren Politik und Verwaltung, wodurch kleinere Gruppen marginalisiert, gesellschaftlich manchmal diskriminiert werden. Ihr Zugang zu öffentlichen Leistungen ist schlechter (FH 2023; vgl. HRCSL 3.2024). Generell spielt die Clanzugehörigkeit eine große Rolle (AA 23.8.2024).
Hauptclans in Somaliland: In der Region Awdal wohnen v. a. Angehörige der Dir / Gadabursi und Dir / Issa. In den Regionen Woqooyi Galbeed und Togdheer wohnen v. a. Angehörige der Isaaq-Subclans Habr Jeclo, Habr Yunis, Idagala und Habr Awal. In der Region Sool wohnen v. a. Angehörige der Darod / Dulbahante (Taleex, Xudun, Laascaanood), Isaaq / Habr Yunis (Xudun, Laascaanood) und Isaaq / Habr Jeclo (Caynabo). In der Region Sanaag wohnen v. a. Angehörige der Darod / Warsangeli (Las Qooray, Ceerigaabo), Isaaq / Habr Yunis (Ceerigaabo) und Isaaq / Habr Jeclo (Ceel Afweyn) (EASO 2.2016). Die einzelnen Clans der Minderheiten der Berufskasten in Somaliland werden unter dem Begriff "Gabooye" zusammengefasst (Muse Dheriyo, Tumal, Madhiban, Yibir) (UNHRC 28.10.2015; vgl. SEM 31.5.2017). Zusätzlich gibt es noch alteingesessene Familien mit arabischem Hintergrund (HRCSL 3.2024).
Minderheiten: Einige Älteste (Suldaan) der Gabooye sind im Oberhaus (Guurti) des Parlaments vertreten (SEM 31.5.2017). Bei den Wahlen im Mai 2021 wurden Minderheitenangehörige ins somaliländische Unterhaus gewählt (EEAS 8.6.2021) - darunter ein Abgeordneter der Gabooye (ICG 12.8.2021).
Eine systematische Verfolgung findet nicht statt (ÖB Nairobi 10.2024). Angehörige der Gabooye leiden allerdings unter sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung und werden am Arbeitsmarkt diskriminiert (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HRCSL 3.2024). Im Justizsystem treffen Minderheitenangehörige auf Vorurteile (FH 2024a) und Benachteiligung (HRCSL 3.2024). Es kann vorkommen, dass Vergehen gegenüber Angehörigen von Minderheiten seitens der Polizei nicht nachgegangen wird. Sie werden von den somaliländischen Gerichten in den letzten Jahren aber mehrheitlich fair behandelt, es kommt zu keiner systematischen Benachteiligung durch Polizei und Gerichte. Die offizielle Anerkennung von Gabooye-Suldaans hat zu einer Aufwertung der berufsständischen Gruppen geführt. Ihr gesellschaftlicher Ruf hat sich dadurch generell verbessert. Damit geht auch soziale Sicherheit einher. Im Xeer (traditionelles Recht) haben Gabooye zwar ihre Rechte (SEM 31.5.2017), es kann aber vorkommen, dass Mehrheitsclans aufgrund ihrer Machtstellung Kompensationszahlungen nicht tätigen (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018).
In Ceerigaabo leben alle Gabooye (ca. 500 Haushalte) außerhalb des Stadtzentrums. Der Besuch einer Grundschule ist in Sanaag möglich; doch hinsichtlich höherer Bildung stehen Gabooye oft vor finanziellen Hindernissen. In der Verwaltung der Region arbeitet nur ein Gabooye; zwei arbeiten bei Lokalräten (UNSOM 22.6.2022). Insgesamt hat sich die Situation laut zwei Quellen der FFM Somalia 2023 aber gebessert (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023; vgl. SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Während sich in den frühen 1990ern kaum Gabooye in den Schulen fanden, und die wenigen, die dies taten, dort belästigt wurden, hat sich dies geändert. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 gibt es kein Mobbing mehr, wenn auch weiterhin Vorurteile bestehen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Nach anderen Angaben sind die Gabooye weiterhin nicht gleichgestellt, sie verfügen nur über geringe Ressourcen und sind weniger gebildet und werden als "low status" erachtet (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023).
Es gibt einige NGOs, die sich explizit für Minderheiten einsetzen. Hinsichtlich berufsständischer Gruppen sind dies u. a.: Daami Youth Development Organization (DYDO), Somaliland National Youth Organization (SONYO Umbrella), Ubax Social and Welfare Organization (USWO), Voices of Somaliland Minority Women Organization (VOSOMWO) (SEM 31.5.2017).
Mischehen: Vorbehalte gegen Mischehen bestehen weiterhin (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023), diese werden stigmatisiert (FH 2024a), von den Clans Isaaq und Darod vehement abgelehnt, vom Clan der Dir eher akzeptiert (SEM 31.5.2017). Gleichzeitig kommen Mischehen im clanmäßig homogeneren Norden tendenziell seltener vor als im stärker durchmischten Süden (ÖB Nairobi 10.2024. Die Konsequenz einer Mischehe ist oftmals die Verstoßung des Eheteils, der von einem "noblen" Clan stammt durch ebendiesen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
Blutrache: Davon können laut einer Quelle selbst Personen betroffen sein, die nach Jahren in der Diaspora nach Hause zurückkehren. Während Sicherheitskräfte in größere Clankonflikte eingreifen, tun sie dies bei Blutfehden nur selten bzw. ist ein Eingreifen nicht immer möglich. Gleichzeitig sind Polizisten selbst Angehörige eines Clans, was die Sache erschwert (STDOK 8.2017). Nach neueren Angaben der FFM Somalia 2023 können Rachemorde im Fall eines Mordes vorkommen (z. B. wenn der eigene Bruder einen Angehörigen eines anderen Clans getötet hat). Meist gibt es für solche Fälle Abkommen zwischen Subclans im Rahmen des Xeer. Dort ist festgelegt, ob ein Mord durch einen Mord gebüßt wird oder durch eine Zahlung. Ein normaler Bürger in Hargeysa muss sich laut einer Quelle diesbezüglich keine Sorgen machen. In größeren Städten sind im Fall eines Mordes Sicherheitskräfte eingebunden, Täter werden verhaftet. In den östlichen Landesteilen - insbesondere in Sanaag und Sool - wird die Polizei hingegen selten involviert, dort herrscht das traditionelle System vor (Omer/STDOK/SEM 4.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
EASO - European Asylum Support Office (2.2016): Somalia Security Situation
EEAS - European Union / European External Action Service (8.6.2021): Statement by International Partners on Somaliland Parliamentary and Local Council Elections
FH - Freedom House (2024a): Freedom in the World 2024 - Somaliland
FH - Freedom House (2023): Freedom in the World 2023 - Somaliland
HRCSL - Human Rights Centre (Somaliland) (3.2024): Annual Review of Human Rights Centre 2023
ICG - International Crisis Group (12.8.2021): Building on Somaliland’s Successful Elections
ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia
Omer/STDOK/SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Ahmed Omer (Autor) (4.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023
SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten
SOMNAT/STDOK/SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), Somaliland National (Autor) (5.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023
STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia; Sicherheitslage in Somalia; Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM
UNHRC - United Nations Human Rights Council (28.10.2015): Report of the independent expert on the situation of human rights in Somalia, Bahame Tom Nyanduga
UNSOM - United Nations Assistance Mission in Somalia (22.6.2022): Catching up on human rights needs in Sool and Sanaag after four years
Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A
YOVENCO/STDOK/SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (Herausgeber), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber), YOVENCO Berbera (Autor) (5.2023): Interview im Rahmen der FFM Somalia 2023
3. Frauen allgemein
Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden (USDOS 22.4.2024). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. In der Scharia gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland (AA 23.8.2024).
Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer (traditionelles Recht) haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten (SPC 9.2.2022; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist (AA 23.8.2024). Auch Vergewaltigungsfälle werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt (ÖB Nairobi 11.1.2024; vgl. AQ21 11.2023; SPC 9.2.2022). Diesbezüglich geschaffene Gesetze haben zwar Signalwirkung, diese wendet sich aber insbesondere nach Außen (ÖB Nairobi 11.1.2024). Viele Fälle werden auch gar nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt (SPC 9.2.2022). Im traditionellen System werden Vergewaltigungen oft mittels Blutgeld zwischen den betroffenen Clans ausverhandelt. Dabei darf das Opfer nach Angaben einer Quelle über die Höhe des Betrags mitentscheiden (ÖB Nairobi 11.1.2024). Andererseits werden Frauen im Falle von Clankonflikten oft als neutral erachtet, da es für sie leichter möglich ist, sich an unterschiedliche Clans zu wenden, um z. B. eine Waffenruhe zu erbitten. Folglich sind Frauen aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse beim Peace Building durchaus mächtig (AQ21 11.2023).
Während Frauen in Somalia zunehmend entscheidende wirtschaftliche Rollen übernehmen und häufig als Hauptverdiener ihrer Familien auftreten, stoßen sie bei der Suche nach politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten auf Hindernisse. Oft finden sie sich in schlecht bezahlten Positionen wieder (BS 2024). Gemäß einer Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (SOMSUN 6.4.2021). Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben (AA 23.8.2024). Auf allen politischen Ebenen herrscht dementsprechend eine Absenz von Frauen. Insgesamt ist dies auf die patriarchale, auf Clans basierende Gesellschaft zurückzuführen (Sahan/SWT 19.1.2024; vgl. AA 23.8.2024). Trotzdem finden sich bei Behörden, bei den Macawiisley, in der Bundesarmee, bei der NISA und den Darawish Frauen, bei der Polizei sind es ca. 10 % (AQ21 11.2023; vgl. Sahan/SWT 9.9.2022).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
AQ21 - Anonyme Quelle 21 (11.2023): Expertengespräche
BS - Bertelsmann Stiftung (2024): BTI 2024 Country Report - Somalia
ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia
ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.1.2024): Informationen der Botschaft, per e-Mail
Sahan/SWT - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (19.1.2024): Elections and women's representation in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 637, per e-Mail [kostenpflichtig, Login erforderlich]
Sahan/SWT - Somali Wire Team (Autor), Sahan (Herausgeber) (9.9.2022): Sports, women and the struggle for visibility in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 449, per e-Mail [kostenpflichtig, Login erforderlich]
SOMSUN - Somaliland Sun (6.4.2021): In All Sectors Women have Nearly Half the Opportunities Afforded to Men - Oxfam
SPC - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
4. Frauen in Somaliland
Politik und Recht: Vom Guurti (House of Elders) sind Frauen ausgeschlossen; in der Regierung sind zwei von 24 Ministern weiblich. Die Somaliland Human Rights Commission hat eine Frau als Vorsitzende (USDOS 12.4.2022). Nach der Wahl vom Mai 2021 gab es im Unter- bzw. Repräsentantenhaus keine Abgeordnete (FH 2024a). Im Mai 2023 wurde als Nachfolgerin für einen verstorbenen Parlamentarier der UCID eine Frau angelobt (SD 14.5.2023; vgl. AA 23.8.2024). Nur drei von 220 Lokalräten landesweit sind weiblich (USDOS 12.4.2022).
Wie auch in Somalia finden sich in Somaliland aus der Scharia interpretierte Regeln des Zivil- und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen (AA 23.8.2024). Nicht nur bei der Anwendung der Scharia, sondern auch hinsichtlich des traditionellen Rechts werden Frauen benachteiligt (FH 2024a). Gleichwohl gibt es politische Ansätze, die mittel- bis langfristig eine Annäherung des Status von Mann und Frau anstreben (AA 23.8.2024).
Die Zahl an Alleinerzieherinnen ist in Somaliland gestiegen. Mitverantwortlich dafür ist die ebenfalls gestiegene Zahl an Scheidungen, die sich auch in einem Anstieg an Wiederverheirateten und Patchwork-Familien niederschlagen (FIS 5.10.2018, S. 27f).
Häusliche Gewalt bleibt weiterhin ein Problem (FH 2024a). Prinzipiell können sich Frauen in solchen Fällen zwar an Behörden wenden, in der Praxis gestaltet sich dies allerdings schwierig (FIS 5.10.2018, S. 33).
Vergewaltigungen: Gruppenvergewaltigungen stellen in urbanen Gebieten weiterhin ein Problem dar. Täter sind oftmals Jugendliche oder Studenten. Diese Vergewaltigungen geschehen meist in ärmeren Stadtteilen, bei Migranten, zurückgekehrten Flüchtlingen oder IDPs im städtischen Raum (USDOS 22.4.2024). Im Gegensatz zum Süden Somalias gibt es aus Somaliland so gut wie keine Berichte über Vergewaltigungen durch Uniformierte (FIS 5.10.2018, S. 32).
Aufgrund sozialen Drucks werden Vergewaltigungen nur selten angezeigt (FH 2024a). Zudem ist das Gesetz gegen Sexualdelikte nach Einwänden des Religionsministeriums durch den Präsidenten wieder außer Kraft gesetzt. Ein neues Gesetz bezüglich Vergewaltigung und Sexualverbrechen wurde eingebracht und passierte im August 2020 das Repräsentantenhaus. Dieses Gesetz bricht einige internationale Menschenrechtsstandards. Es gestattet u. a. Kinder- und Zwangsehe und schließt eine Vergewaltigung in der Ehe aus. Das Gesetz lag zuletzt beim Guurti (MBZ 6.2023; vgl. ÖB Nairobi 10.2024) und ist noch nicht in Kraft getreten (ÖB Nairobi 10.2024).
Nach anderen Angaben wurde hingegen 2018 das erste Mal in der Geschichte Vergewaltigung per Gesetz zum Verbrechen erklärt, mit Haftandrohung von 4-7 Jahren, bei Gewalt und Drohungen 15-20 Jahren, im Falle von Minderjährigen unter 15 oder von Gruppenvergewaltigungen mit 20-25 Jahren, im Falle von Verletzungen oder HIV-Übertragung lebenslänglich. Schlussendlich werden Vergewaltigungen auch zur Anzeige gebracht: Von Jänner bis August 2022 wurden in Somaliland fast 300 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht, 2020 sind es 161 gewesen (Halbeeg 1.9.2022). Nach anderen Angaben sind im Jahr 2022 bis November 266 Vergewaltigungen angezeigt worden, es gab 280 Beschuldigte. 240 davon wurden gefasst (SD 4.11.2022). Auch auf Betreiben von Frauenhäusern werden Vergewaltigungen nachgewiesen und zur Anzeige gebracht, Verhaftungen folgen (UNICEF 26.2.2024). Im Juni 2024 hat Präsident Bihi ein Dekret unterzeichnet, das die Verhandlung von Vergewaltigungsfällen durch Clanälteste verbietet. Alle derartigen Fälle müssen künftig der staatlichen Justiz zugeführt werden (HO 25.6.2024b).
Hilfe: Die NGO WAAPO - ein Partner mehrerer UN-Organisationen - führt Frauenhäuser in Hargeysa, Borama und Burco. Das Angebot richtet sich an Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und von FGM und dient auch dem Kinderschutz. Die Einrichtungen bieten psychosoziale Beratung, medizinische Unterstützung, Rechtshilfe und Mediation (WAAPO o.D.a; vgl. UN OCHA 2022). Diese Dienste erfolgen kostenlos. Die Häuser arbeiten auch mit der Polizei zusammen. Den Frauen wird geholfen, nach Gewalttaten für Gerechtigkeit zu sorgen (UNICEF 26.2.2024). 2021 hat UNFPA gemeinsam mit dem somaliländischen Sozial- und Familienministerium eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, an welche sich Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt richten können. Bereits in den ersten Monaten konnte über hundert Opfern geholfen werden, u. a. durch Beratung und Vermittlung. Die Nummer der Hotline wird z. B. über das Radio verbreitet (UNFPA 28.10.2021).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
FH - Freedom House (2024a): Freedom in the World 2024 - Somaliland
FIS - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
Halbeeg - Halbeeg (1.9.2022): Close to 300 rape cases reported in Somaland since January
HO - Hiiraan Online (25.6.2024b): Somaliland president bans clan elders from adjudicating rape cases
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (6.2023): General country of origin information report on Somalia
ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia
SD - Somali Dispatch (14.5.2023): Somaliland Parliament welcomes the first female MP
SD - Somali Dispatch (4.11.2022): Somaliland: Police issues an incomplete report on the crimes committed this year
UNFPA - United Nations Population Fund (28.10.2021): UFPA-supported hotline in Hargeisa improves reporting of Gender-Based Violence
UNICEF - United Nations International Children’s Emergency Fund (26.2.2024): A path towards independence and self-reliance
UN OCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (2022): Somalia Humanitarian Response Plan 2022, Appeal Data
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Somalia
WAAPO - WAAPO (o.D.a): Safe Houses
5. Familie, Ehe, Zwangsehe, Scheidung, Ehrenmorde
Die Scharia ist gerade hinsichtlich des Familienrechts die wichtigste Rechtsquelle in Somalia und Somaliland. Sie findet etwa bei Ehe, Erbe, Adoption und Sorgerecht Anwendung. Zivilrecht kann zwar neben der Scharia angewendet werden, muss aber immer mit der Scharia vereinbar sein. Bei jeglicher Abweichung wird hier der Scharia Vorrang gegeben (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Ehe: Für die Eheschließung relevant sind die Vorgaben von Xeer (traditionelles Recht) und Scharia, die nahezu deckungsgleich sind (Omer2/ALRC 17.3.2023). Polygamie ist laut beiden Rechtsgrundlagen erlaubt und wird gesellschaftlich akzeptiert (UNHRCOM 6.5.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Es gibt keine Zivilehe (Landinfo 14.6.2018, S. 7). In weiten Teilen Süd-/Zentralsomalias spricht al Shabaab Recht - auch hinsichtlich Ehe, Scheidung und darauf basierenden Sorgerechtsregelungen (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38), wobei eine Überprüfung der Jungfräulichkeit laut einer Quelle nicht mehr weit verbreitet ist (Omer2/ALRC 17.3.2023). Nach anderen Angaben ist nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über 15 Jahren verheiratet; 37,9 % waren demnach noch nie verheiratet. Letztgenannte Personengruppe findet sich zunehmend in den Städten (42,1 %), weniger verbreitet auf dem Land (30 %) (GN 28.3.2023a) Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (Landinfo 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).
Eheschließung (Vorgang): Generell muss vor der Eheschließung beim Imam Klarheit über die Identität der Ehepartner herrschen. Zudem muss sich der Imam im persönlichen Einzelgespräch mit beiden Ehepartnern versichern, dass diese freiwillig heiraten. Dies muss auch von den anwesenden Zeugen bezeugt werden. Das Brautgeld wird von der Braut genannt und vom Bräutigam bestätigt. Alle Parteien (das Ehepaar, der Vormund, die Zeugen und der Imam) müssen den Ehevertrag/die Eheurkunde (Deed of Marriage) unterfertigen. Mit der Zunahme an Somali, die in der Diaspora leben, sind heute Eheschließungen über das Telefon keine Seltenheit mehr. Dabei bedarf es üblicherweise an beiden Enden eines Imams. Sobald eine Ehe vor einem Imam und gemäß den Vorgaben der Scharia (Reife, Freiwilligkeit, Zeugen) geschlossen wurde, ist diese nach somalischer Rechtsnorm rechtsgültig (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Zusätzlich ist es im Xeer sehr wohl möglich, dass Eltern oder ein Vormund auf Minderjährige einwirken, damit diese einer Eheschließung - wie in der Scharia verlangt - "freiwillig" zustimmen. Die in der Scharia verlangte Einwilligung wird im Xeer relativiert. Kinder- und arrangierte Ehen sehen oft keine ehrliche Freiwilligkeit vor. Eigentlich hätten solche Ehen nach islamischer Rechtsauffassung keine Gültigkeit (Omer2/ALRC 17.3.2023). Dementsprechend ist der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe fließend (MBZ 6.2023). Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (Landinfo 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 23.8.2024), Zwangsehen sind in Somalia normal bzw. weitverbreitet (SPA 1.2021; vgl. FH 2024b). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele davon waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen (USDOS 22.4.2024). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (Landinfo 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. Landinfo 14.6.2018, S. 10). Zu Unterstützung und Frauenhäusern siehe Frauen - Süd-/Zentralsomalia und Frauen - Somaliland.
Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition aber gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (Landinfo 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. Landinfo 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (Landinfo 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden (FIS 5.10.2018, S. 26f). Zusätzlich gibt es auch die Tradition des "Durchbrennens" (Elopement, Qubdo Sireed), wobei die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung kommt in allen Landesteilen vor und wird üblicherweise auch akzeptiert (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Ehe-Registrierung: Beim Imam werden die von allen Parteien unterfertigten Urkunden kopiert und an alle Teilnehmer ausgeteilt. Eine Urkunde wird im Register der Moschee hinterlegt. Dies ist nicht immer möglich, doch ist eine solche Registrierung für die Gültigkeit einer Ehe nicht zwingend erforderlich. Nach Möglichkeit wird die Eheschließung auch bei einem Standesamt oder Amtsgericht in der nächstgelegenen Gemeinde eingetragen, die dazu in der Lage ist. In Somaliland ist ein solcher Eintrag bei der Gemeinde oder dem Regionalgericht einfacher möglich. Die zivile Registrierung einer Ehe ist absolut freiwillig. Die Rechtsgültigkeit einer Ehe ergibt sich aus der Erfüllung der Anforderungen gemäß Scharia (Omer2/ALRC 17.3.2023). Zu Dokumenten siehe auch Dokumente / Süd-/Zentralsomalia und Dokumente / Somaliland.
Scheidung: Eine solche ist erlaubt (ÖB Nairobi 10.2024), es gibt eine hohe Scheidungsrate (AQ21 11.2023). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019a). Die Frau hat das Recht, den Mann aus dem gemeinsamen Haushalt zu verstoßen (AQ21 11.2023). Nach einer Scheidung ist eine Phase von drei bis sechs Monaten vorgesehen, bevor eine neue Ehe eingegangen werden darf (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (Landinfo 14.6.2018, S. 18). Laut Zahlen aus dem Jahr 2023 sind 9 % der Bevölkerung im Alter von 25-29 Jahren geschieden, bei den 30-34-Jährigen sind es 7,6 % (GN 28.3.2023a). Bezüglich einer Scheidung gibt es kein Stigma (Landinfo 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f; AQ21 11.2023). Während es früher die Norm war, dass Kinder beim Mann blieben, ist dies heute oft umgekehrt (AQ21 11.2023; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Viele Männer verschwinden auch einfach und bieten Frau und Kindern keinerlei Unterstützung (AQ21 11.2023). Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines neuen Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (Landinfo 14.6.2018, S. 19).
Annullierung: Eine Ehe kann nur dann annulliert oder angefochten werden, wenn stichhaltige Beweise dafür vorgelegt werden, dass bei einem Ehepartner keine freiwillige Einwilligung vorlag; dass einem Ehepartner die erforderliche Reife (psychisch und physisch) fehlt; wenn nachträglich Beweise dafür auftauchen, dass die Ehefrau bereits verheiratet war und die Scheidung noch nicht vollzogen wurde; wenn der vorgeschriebene Zeitraum zwischen Scheidung und neuerlicher Ehe von 3-6 Monaten noch nicht verstrichen war; oder wenn der Ehegatte bereits mit vier Ehefrauen verheiratet ist. Sterilität oder andere physische Einschränkungen stellen keinen Annullierungs-, wohl aber einen Scheidungsgrund dar (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Ehrenmorde: In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (Landinfo 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27; vgl. Love Does 20.10.2023). Laut einer Quelle ist außer- oder vorehelicher Geschlechtsverkehr eine Straftat (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021
AQ21 - Anonyme Quelle 21 (11.2023): Expertengespräche
FH - Freedom House (2024b): Freedom in the World 2024 - Somalia
FIS - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
GN - Goobjoog News (28.3.2023a): Divorce highest between ages 25 and 29 in Somalia
ICG - International Crisis Group (27.6.2019a): Women and Al-Shabaab’s Insurgency
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (14.6.2018): Somalia: Marriage and divorce
LIFOS - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
Love Does - Love Does (20.10.2023): Stories from the Somalia Safe House
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (6.2023): General country of origin information report on Somalia
ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia
Omer2/ALRC - Ahmed Omer 2, Africa Legal Risk Control Ltd (17.3.2023): Somali Family Law Practice. An Expert Report (Bericht i.A. der österreichischen und deutschen Botschaften in Nairobi); per e-Mail
SPA - Somali Public Agenda (1.2021): A comparative review of Somalia’s controversial Sexual Offences Bills
UNHRCOM - United Nations Human Rights Committee (6.5.2024): Concluding observations on the initial report of Somalia [CCPR/C/SOM/CO/1]
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
6. Weibliche Genitalverstümmelung und –Beschneidung (FGM/C)
Arten bzw. Typen der Beschneidung: Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65f). Laut einer in Puntland gemachten Studie gibt es auch noch andere Namen für FGM/C, etwa Dhufaanid (Kastration) oder Tolid (Zunähen) (UNFPA 4.2022). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM/C vor:
a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (Gudniinka Fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 68).
b) Andererseits die Sunna (Gudniinka Sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29), laut einer dritten Quelle WHO Typ IV (MoHDSL/UNFPA 2021) und schließlich laut einer vierten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 41ff/66f). Demnach wird die Sunna nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (Sunna Kabir) und die kleine Sunna (Sunna Saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 41ff/66f). De facto kann laut Quellen unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern laut einer Quelle oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).
Bei einer Studie aus Somaliland wird die Sunna hingegen als WHO Typ IV bezeichnet ("... andere verletzende Prozeduren an den weiblichen Genitalien für nicht-medizinische Zwecke, z. B. einstechen, durchstechen, einritzen, ausschaben, verätzen."). Teilnehmer der Studie beschreiben zwei Arten der Sunna: Einerseits jene Form, bei welcher eine eingeschränkte Beschneidung ("Small Cut") sowie ein Vernähen mit ein oder zwei Stichen erfolgt; andererseits eine mildere Form, bei welcher die Klitoris mit einer Nadel eingestochen wird und keine weiteren Misshandlungen erfolgen - insbesondere kein Vernähen (MoHDSL/UNFPA 2021).
Prävalenz: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024) und bleibt die Norm (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von "mehr als 90 %" (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022). Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017).
Trend weg von der Infibulation und hin zu Sunna: Die Infibulation ist insgesamt zurückgedrängt worden, dies wird von zahlreichen Quellen bestätigt (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015; FGMCRI o.D.; Landinfo 14.9.2022; LIFOS 16.4.2019, S. 14f/39; DIS 1.2016, S. 7; FIS 5.10.2018, S. 30f; PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22ff; BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f). Der Trend geht in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022).
Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 69). Viele Menschen – v. a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022), der gesellschaftlich auf Akzeptanz trifft (Landinfo 14.9.2022). So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 70).
Eine Rolle spielen hierbei religiöse Überlegungen. Bei einer Studie in Somaliland haben religiöse Führer angegeben, dass alle Rechtsschulen des Islam die Infibulation bzw. die pharaonische Beschneidung verbieten. Demgegenüber ist die Sunna gemäß der in Somalia am meisten verbreiteten Shafi'i-Schule obligatorisch, während z. B. die Hanafiya eine Beschneidung zwar zulässt, diese aber nicht fordert (MoHDSL/UNFPA 2021).
Gesellschaft: Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus (AV 2017, S. 19). Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („Community“) FGM nicht durchgeführt wird (AV 2017, S. 25). Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab (CEDOCA 9.6.2016, S. 7). Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2). Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt (RE 15.2.2021). Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht so weit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als Sunna bezeichnet wird (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 70).
Wer eine Beschneidung veranlasst bzw. entscheidet: Nach Angaben mehrerer Quellen liegt üblicherweise die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; Landinfo 14.9.2022, S. 11; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85; MoHDSL/UNFPA 2021). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (Landinfo 14.9.2022, S. 11; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85) bzw. wird die Entscheidung "manchmal" gemeinsam getroffen (MoHDSL/UNFPA 2021). Laut einer Quelle geht es bei dieser Entscheidung aber weniger um das "ob" als vielmehr um das "wie und wann" (Landinfo 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022).
Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f) oder aber eine vermeintlich gemeinsame Entscheidung für eine mildere Sunna wird nachträglich von der Mutter - ohne Wissen des Vaters - zu einer Infibulation "korrigiert" (MoHDSL/UNFPA 2021). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter oft maßgeblich in die Entscheidung involviert (Landinfo 14.9.2022, S. 11; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85) bzw. üben sie signifikanten Einfluss aus (UNFPA 8.10.2023). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). In einer somaliländischen Studie wird angegeben, dass Mütter die Schlüsselrolle spielen, an zweiter Stelle stehen die Großmütter. Manchmal fordern Mädchen auch selbst eine Beschneidung ein (MoHDSL/UNFPA 2021).
Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26).
Motivation: Der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, ist der Druck, sozialen Erwartungen und Normen gerecht zu werden (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 82). FGM gilt als Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die somalische Kultur gelten die "drei weiblichen Schmerzen" als integraler Bestandteil des Frauseins: Die Beschneidung, die Hochzeitsnacht und das Gebären. Nicht zuletzt glauben viele Frauen, dass die Beschneidung im Islam verpflichtend vorgesehen ist (MoHDSL/UNFPA 2021).
Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73). Es herrscht die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung (MoHDSL/UNFPA 2021). Mitunter üben nicht-beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Die Beschneidung wird als Ehre für ein Mädchen erachtet, als Investition in die Zukunft. Das Mädchen wird dadurch von der Gesellschaft akzeptiert, gilt als züchtig und verheiratbar und gewährleistet voreheliche Jungfräulichkeit (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 38f; Landinfo 14.9.2022, S. 11). Außerdem gilt eine Infibulation als ästhetisch (Landinfo 14.9.2022, S. 10; vgl. UNFPA 4.2022).
Durchführung: Die Mehrheit der Beschneidungen wird von traditionellen Beschneiderinnen (Guddo) vorgenommen (MoHDSL/UNFPA 2021). Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; FGMCRI o.D.). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (Landinfo 14.9.2022, S. 11). Diese "Medizinisierung" von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021) und in erster Linie dann, wenn die Eltern nur eine Sunna durchführen lassen wollen (MoHDSL/UNFPA 2021). FGM/C erfolgt also zunehmend im medizinischen Bereich – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. In Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für "FGM Clinics". Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73f).
Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73f). Auch eine somaliländische Quelle berichtet, dass die Beschneidung mit einer Feier in der Nachbarschaft verbunden ist (MoHDSL/UNFPA 2021). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).
Alter bei der Beschneidung: Diesbezüglich gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos sowie UNFPA nennen ein Alter von 5-10 bzw. 5-9 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39; vgl. UNFPA 8.10.2023). Eine größere Studie aus dem Jahr 2020 nennt für Somalia folgende Zahlen: 71 % der Frauen im Alter von 15-49 Jahren ist im Alter von 5-9 Jahren beschnitten worden, 28 % im Alter von 10-14 Jahren und jeweils unter 1 % unter 5 und über 15 Jahren (DNS/Gov Som 2020). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (FGMCRI o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt demnach auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (Landinfo 14.9.2022).
In Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). In einer Studie aus dem Jahr 2020 werden für Somaliland folgende Zahlen genannt: 57 % der Mädchen wurden im Alter von 5-9 Jahren beschnitten, 41 % zwischen 10 und 14 Jahren, 1 % noch danach (MoPNDSL 2021).
Eine Quelle erklärt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022). Auch in der Studie aus dem Jahr 2020 ist dieser Trend zu erkennen. Unter den 40-49-jährigen Frauen wurden 67 % im Alter von 5-9 Jahren beschnitten, bei der Gruppe der 15-19-jährigen sind es hingegen 73 % (DNS/Gov Som 2020). Auch in Somaliland ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna laut Angaben einer Quelle auf 5-8 Jahre gesunken (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22). In den Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2020 ist ein derartiger Trend hingegen nicht ablesbar (MoPNDSL 2021).
Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6).
Abolition: In der Diaspora nimmt die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (Landinfo 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften z. B. in Borama, Garoowe oder Mogadischu, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich die Haushalte gemeinschaftlich gegen jegliche Art von FGM (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65). Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65; vgl. Landinfo 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41). So kann es auch vorkommen, dass in der Diaspora lebende Mädchen „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen werden, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Andererseits nimmt der Druck in der jüngeren Generation ab, manche junge Menschen sehen keinen Grund für die Stigmatisierung und Diskriminierung von Unbeschnittenen (MoHDSL/UNFPA 2021).
Eine andere Quelle erklärt, dass der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung darstellt, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen eine Beschneidung ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (Landinfo 14.9.2022). Jedenfalls gibt es trotz aller Widrigkeiten sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9) und auch Frauen, die sich offen dazu bekennen. So berichtet etwa eine Studienteilnehmerin, dass sie als Kind sehr an ihrer Verstümmelung gelitten hat. Deswegen hat sie ihre Töchter nicht beschneiden lassen und drängt auch andere Eltern zu diesem Schritt. Einige wenige Teilnehmerinnen an der besagten Studie haben offen erklärt, ihre Töchter nicht anrühren zu wollen (MoHDSL/UNFPA 2021). Manche Mütter in Gemeinden, wo Aufklärung hinsichtlich der negativen Folgen einer Genitalverstümmelung stattgefunden hat, bekennen sich offen dazu, dass an ihren Töchtern eine solche nicht vorgenommen worden ist (ÖB Nairobi 10.2024).
Mehrere Studien zeigen, dass 2-4 von 100 Frauen nicht beschnitten sind (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. DNS/Gov Som 2020). Beschneiderinnen berichten von einem geringeren Einkommen, weil Eltern ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen (MoHDSL/UNFPA 2021).
Leben ohne Beschneidung: Laut Quellen der finnischen FFM im Jahr 2018 ist es gerade in Städten kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen. Demnach steigt dort die Zahl unbeschnittener Mädchen (FIS 5.10.2018, S. 31). Nach anderen Angaben hängt die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). Eine weitere Quelle erklärt, dass es in der Stadt kein Problem ist, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das demnach anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach älteren Angaben "bekennen" nur wenige Mütter, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65).
Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 11). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig" (Landinfo 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Folglich werden unbeschnittene Frauen mitunter als schmutzig oder un-somalisch (Landinfo 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden u. a. in der Schule gehänselt und drangsaliert, sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier Buurya Qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (Kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).
Eine andere Option ist es, dass eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, versucht, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Es kommt zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen (DIS 1.2016, S. 12f; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 41). Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist (DIS 1.2016, S. 12f). Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Nach anderen Angaben ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht. Grund dafür ist, dass gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 83).
Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f). Eine Mutter berichtet in einer somaliländischen Studie, dass sie von den eigenen Töchtern zu einer Beschneidung gedrängt worden ist. Sie hat diese in eine medizinische Einrichtung gebracht, wo u. a. unter Verwendung von Fake-Anästhetika und Kunstblut ein Eingriff vorgegaukelt worden ist. Seither gelten die Töchter als beschnitten (MoHDSL/UNFPA 2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021
AV - Africa's Voices (2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender
BMC/Yussuf/et al. - BMC Health Services Research (Herausgeber), et al. (Autor), Mohamed Yussuf (Autor) (2020): Exploring the capacity of the Somaliland healthcare system to manage female genital mutilation / cutting-related complications and prevent the medicalization of the practice: a cross-sectional study
CARE - CARE International (4.2.2022): Somalia - Betroffene von Genitalverstümmelung werden immer jünger
CEDOCA - Center for Documentation and Research of the Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.
DIS - Danish Immigration Service [Denmark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting
DNS/Gov Som - Directorate of National Statistics [Somalia] (Autor), Federal Government of Somalia [Somalia] (Herausgeber) (2020): The Somali Health and Demographic Survey 2020
FGMCRI - FGM/C Research Initiative (o.D.): Somalia
FIS - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
GN - Goobjoog News (3.11.2022): Somali refugees in Germany strive to leave old practices behind
HEART/Crawford/Ali 2 - Health and Education Advice and Resource Team (Herausgeber), Sheena Crawford (Autor), Sagal Ali (Autor) (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]
LIFOS - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
MoHDSL/UNFPA - Ministry of Health Development [Somaliland], United Nations Population Fund (2021): Looking Beyond Numbers. Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) Study Report
MoPNDSL - Ministry of Planning and National Development, Central Statistics Department [Somaliland] (2021): The Somaliland Health and Demographic Survey 2020
ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia
Omer2/ALRC - Ahmed Omer 2, Africa Legal Risk Control Ltd (17.3.2023): Somali Family Law Practice. An Expert Report (Bericht i.A. der österreichischen und deutschen Botschaften in Nairobi); per e-Mail
PC/Powell/Yussuf - Richard A. Powell (Autor), Mohamed Yussuf (Autor), Population Council (Herausgeber) (1.2018): Changes in FGM/C in Somaliland: Medical narrative driving shift in types of cutting. Evidence to End FGM/C: Research to Help Women Thrive
RE - Radio Ergo (15.2.2021): Fewer Somali girls in Adado being subjected to full cut
STC - Save the Children (9.2017): Changing Social Norms in Somalia: Exploring the Role of Community Perception in FGM/C, Fact Sheet No. 6
UNFPA - United Nations Population Fund (8.10.2023): Landmark innovation bootcamp empowers girls to fight FGM in Somalia
UNFPA - United Nations Population Fund (4.2022): Community Knowledge, Attitudes and Practices on FGM Puntland
UNICEF - United Nations International Children’s Emergency Fund (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region
UNN - UN News (4.2.2022): Daughters of Somalia, a continuous pledge to end female genital mutilation
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
7. Reinfibulation, Defibulation
Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs (LIFOS 16.4.2019, S. 35/12; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 9/12) oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIFOS 16.4.2019, S. 32; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt zudem anekdotische Berichte, wonach eine neue Intervention durchgeführt wurde, weil die Familie eine umfassendere Intervention als die ursprüngliche gewünscht hat (Landinfo 14.9.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 74).
Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen (DIS 1.2016, S. 23). Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f), kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich einer Reinfibulation zu unterziehen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/76; vgl. CEDOCA 13.6.2016, S. 9). Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht (HO 27.2.2019; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt anekdotische Berichte über Fälle, in denen unverheiratete Mädchen oder junge Frauen aus der Diaspora nach Somalia geschickt wurden, um eine Reinfibulation durchzuführen (Landinfo 14.9.2022).
Eine Quelle gibt an, dass es Folgen - bis hin zur Scheidung - haben kann, wenn ein Ehemann in der Hochzeitsnacht feststellt, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt. Eine Scheidung kann in diesem Fall zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z. B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S. 40f).
Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 76; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 11).
Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist (LIFOS 16.4.2019, S. 40). Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (CEDOCA 13.6.2016, S. 6).
Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i.d.R. der Entscheidung der betroffenen Frau (LIFOS 16.4.2019, S. 40; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 26). Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (CEDOCA 13.6.2016, S. 9f/26). Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/75f). Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten aber eher unüblich (FIS 5.10.2018, S. 29). Die Verbreitung variiert offenbar auch geographisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation (CEDOCA 9.6.2016, S. 13f). Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt. Eine Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit FGM in Somalia auseinandersetzt, sieht keine Grundlage dafür, dass nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Im somalischen Kontext wird demnach eine Infibulation durchgeführt, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu „beweisen“. Dementsprechend macht es keinen Sinn, eine verheiratete Frau nach der Geburt zu reinfibulieren (Landinfo 14.9.2022, S. 12f).
Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko einer Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 41).
Quellen
CEDOCA - Center for Documentation and Research of the Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien] (13.6.2016): Somalië - Defibulatie en herinfibulatie bij geïnfibuleerde vrouwen in Zuid- en Centraal-Somalië; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf
CEDOCA - Center for Documentation and Research of the Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf
DIS - Danish Immigration Service [Denmark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting
FIS - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
HEART/Crawford/Ali 2 - Health and Education Advice and Resource Team (Herausgeber), Sheena Crawford (Autor), Sagal Ali (Autor) (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia
HO - Hiiraan Online (27.2.2019): Somali refugee’s fight against ’silent killer’ of FGM inspires film
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]
LIFOS - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Mangels Vorlage unbedenklicher Dokumente steht die Identität der Beschwerdeführerin nicht fest. Zumal die Beschwerdeführerin aber zweifellos aus dem somalischen Kulturraum stammt, kann ihr in ihren im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben zu ihrer Staats-, Religions- und Clanzugehörigkeit sowie auch zu ihrer örtlichen Herkunft gefolgt werden. Dass die Beschwerdeführerin in Somalia vier Jahre die Koranschule besuchte, im Haushalt mithalf, nach dem Tod ihrer Mutter mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und den Halbbrüdern im gemeinsamen Haushalt lebte und ihr Vater für den Lebensunterhalt der Familie sorgte, ergibt sich ebenfalls aus ihren glaubhaften und gleichbleibenden Angaben im Verfahren.
Zu ihrem Ausreisegrund führte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen aus, dass sie von ihrem Vater nach dem Tod ihrer Schwester mit ihrem verwitweten Schwager zwangsweise verheiratet worden sei. Der Beschwerdeführerin ist zwar zugutezuhalten, dass sie in der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 06.05.2024 ein durchaus breites und weitläufiges Vorbringen erstatten konnte, doch ist ihr letztlich aufgrund ihres Aussageverhaltens in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 11.02.2025 die Glaubhaftigkeit zu versagen. Es ist nämlich erstaunlich, dass die Beschwerdeführerin, die in der Einvernahme noch viel erzählen konnte und auch keine Hemmungen zeigte, sich neun Monate später in der mündlichen Verhandlung augenscheinlich nur noch an den Rahmen dieser Erzählung erinnern konnte und Schwierigkeiten hatte, diesen mit konkreten Einzelheiten zu füllen. Ein lebensnaher Grund, aus dem sie in der mündlichen Verhandlung nicht mehr dazu in der Lage gewesen wäre, ihr Fluchtvorbringen erneut entsprechend zu schildern, wenn es der Wahrheit entspräche, lässt sich nicht nachvollziehen und wurde auch nicht behauptet. So erzählte die Beschwerdeführerin insbesondere noch in der Einvernahme durch das Bundesamt von sich aus nicht nur breit, dass sie von ihrem Ehemann vergewaltigt und misshandelt worden sei, sondern schilderte auch von sich aus die Umstände dieser (AS 45 sowie nochmals AS 49). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hingegen berichtete sie nicht nur von keinen derartigen oder sonstigen Misshandlungen, sondern führte zum einen auf die Frage, weshalb sie ihren Ehemann verlassen habe, lediglich an, dass dieser viel älter gewesen sei und sie ihn nicht heiraten habe wollen („Er war viel älter als ich und ich wollte ihn nicht heiraten.“) und brachte zum anderen auf die weitere Frage, wie das Eheleben mit ihrem Ehegatten gewesen sei, lediglich ihre ökonomische Situation vor („Wir lebten unter ärmlichen Verhältnissen. Er hat immer wenig ausgegeben.“). Auch die dritte Nachfrage, ob die Beschwerdeführerin sonstige, noch nicht erwähnte Probleme gehabt habe, verneinte sie ausdrücklich (Verhandlungsprotokoll S. 10 f). Wäre die Beschwerdeführerin aber tatsächlich, wie sie zunächst noch im Administrativverfahren angab, (ständig) von ihrem Ehemann misshandelt und vergewaltigt worden, so hätte sie die Nachfrage in der mündlichen Verhandlung zu ihrem Asylantrag (!) nach ihrem Eheleben wohl kaum lapidar lediglich mit ihrer – diesfalls doch völlig irrelevanten – wirtschaftlichen Situation beantwortet, sondern wäre sie auf ihre Misshandlungen eingegangen oder hätte sie doch wenigstens erwähnt. Es muss der rechtsvertretenen Beschwerdeführerin, die auch zu Beginn der mündlichen Verhandlung entsprechend belehrt wurde, bewusst gewesen sein, dass der Sinn und Zweck dieser Verhandlung in der Ermittlung ihres Fluchtvorbringens liegt, sodass ihr gänzliches Schweigen zu einer Misshandlung – selbst auf wiederholte Nachfragen in diese Richtung – nur als bedeutender Anhaltspunkt für die Unglaubhaftigkeit ihres Fluchtvorbringens gewertet werden kann.
Daneben sind aber auch verfahrenserhebliche Widersprüche und Unplausibilitäten zu ihrer Zwangsverheiratung zutage getreten. Zunächst brachte die Beschwerdeführerin in der Einvernahme durch das Bundesamt vor, dass ihr „kurz“ nach dem Tod ihrer Schwester – wann dieser gewesen sei, konnte die Beschwerdeführerin auch auf mehrfache Nachfrage nicht einmal ungefähr angeben – der Plan ihrer Verheiratung Ende September 2023 mitgeteilt worden sei und die Ehe sodann konkret am 02.11.2023 geschlossen worden sei (AS 41, 43, 46 f). In der gegenständlichen Beschwerde meinte sich die Beschwerdeführerin zumindest zu erinnern, dass ihre Schwester zum Todeszeitpunkt über 40 Jahre alt gewesen sei, erklärte aber, dass sie kulturell bedingt nichts Näheres sagen könne, da kaum jemand in Somalia selbst seinen eigenen Geburtstag kenne, zumal dieser nicht aufgezeichnet werde (AS 152). Diese Rechtfertigung ist, nebenbei bemerkt, schon insoweit schwer nachzuvollziehen, als die Beschwerdeführerin zu Verfahrensbeginn ihren eigenen Geburtstag angeben konnte. In der mündlichen Verhandlung aber erzählte die Beschwerdeführerin insbesondere im mehrfachen Widerspruch, dass ihre Schwester, die bei ihrem Tod (nun) etwa 30 Jahre alt gewesen sei, im Juni oder Juli 2023 verstorben sei und die Beschwerdeführerin ein Monat danach (bereits) Anfang September 2023 geheiratet habe (Verhandlungsprotokoll S. 8 f). Vor allen Dingen gab die Beschwerdeführerin in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in weiterer Folge zu Protokoll, dass sie am Tag ihrer (zwangsweisen) Vermählung ins Haus ihres Ehemannes gebracht worden sei (AS 45 sowie nochmals AS 47 f), wohingegen sie in der mündlichen Verhandlung behauptete, sich nicht mehr genau erinnern zu können, wieviel Zeit zwischen der Vermählung und ihrem Einzug ins Haus ihres Ehemannes vergangen sei, sie aber glaube, dass es eine Woche gewesen sei (Verhandlungsprotokoll S. 10). Wiederum lässt sich diese zeitliche Divergenz nicht erklären, wenn die Beschwerdeführerin von wahren, selbst erlebten Ereignissen schildern würde. Es kann nicht unterstellt werden, dass die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung nicht nur nicht mehr wüsste, dass sie noch am selben Tag ihrer Vermählung zu ihrem Ehemann gebracht worden wäre, sondern sogar nun mehrere Tage dazwischen legte. Wäre sie hingegen tatsächlich bereits am Tag ihrer Vermählung zu ihrem Ehemann gebracht worden, so hätte sich das zweifellos in ihr Gedächtnis eingebrannt. Während die Beschwerdeführerin desweiteren in der Einvernahme aussagte, dass sie im Dezember 2023 nach einem Monat Eheleben geflohen sei (AS 50), gab sie in der mündlichen Verhandlung wiederum erheblich widersprüchlich an, dass sie bereits Anfang November 2023 – das bedeutet nach zwei Monaten des Zusammenlebens – vor ihm geflohen sei (Verhandlungsprotokoll S. 10). Auch hier kann insbesondere nicht unterstellt werden, dass die Beschwerdeführerin, würde sie von wahren Ereignissen berichten, sich nicht erinnern könnte, ob sie einen Monat oder aber zwei Monate mit ihrem Mann zusammengelebt hätte. Bemerkt wird auch, dass die Beschwerdeführerin in der Einvernahme zu Protokoll gab, dass nach ihrer Flucht zu ihrer Tante in Buhoodle ihr Vater konkret am zweiten sowie am zwanzigsten Tag gekommen und nach der Beschwerdeführerin gesucht habe (AS 52 f), wohingegen sie in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich meinte, dass er am zweiten oder dritten Tag sowie eine Woche danach – also etwa am zehnten Tag – gekommen sei (Verhandlungsprotokoll S. 3 f). Die Beschwerdeführerin verstrickte sich somit in mehrfache, erhebliche Widersprüche, die, soweit sie zeitlicher Natur sind, (nochmals) nicht damit erklärt werden können, dass die Beschwerdeführerin generelle – wie in der Beschwerde zumindest insinuiert, kulturell bedingte – Schwierigkeiten mit Zeitangaben hätte, zumal sie doch selbst in ihrer Einvernahme mehrfach ganz konkrete Daten angab. Da die Einvernahme der Beschwerdeführerin bereits etwa ein halbes Jahr nach diesen behaupteten Ereignissen und die mündliche Verhandlung wiederum lediglich neun Monate nach der Einvernahme stattfanden, könnte der Beschwerdeführerin auch nicht zugutegehalten werden, dass viel Zeit seit ihrer Flucht vergangen wäre, durch welche ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigt wäre, sondern müssten diese Erinnerungen im Gegenteil noch sehr frisch sein. Dies, zumal es sich bei den gewürdigten Umständen – vor allen Dingen zum Tag, an dem sie verheiratet bzw. zu ihrem Ehemann gebracht worden sei, und zur Dauer des Zusammenlebens – um doch erhebliche Ungereimtheiten handelt.
Wenig nachvollziehbar ist im Übrigen, dass die Beschwerdeführerin in der Einvernahme aussagte, dass ihr Ehemann „ XXXX “ heiße (AS 41), sie dies auch in der Beschwerde wiederholte (AS 144), in der mündlichen Verhandlung dann aber im Widerspruch behauptete, dass er „ XXXX “ heiße und die Dolmetscherin in der Einvernahme dies falsch als „ XXXX “ übersetzt habe (Verhandlungsprotokoll S. 8). Wenn die Dolmetscherin dies falsch übersetzt (gemeint wohl: falsch verstanden) hätte, so wäre aber zum einen zu erwarten gewesen, dass die Beschwerdeführerin dies bereits im Rahmen der Rückübersetzung des Einvernahmeprotokolls oder aber doch in ihrer gegenständlichen Beschwerde gerügt hätte, und zum anderen unterschlug die Beschwerdeführerin dennoch in der mündlichen Verhandlung den in der Einvernahme noch angegebenen zweiten Namensteil.
Ebenso schwer nachzuvollziehen ist letztlich das Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Einvernahme, wonach in der ersten Nacht nach ihrer Verheiratung ihr Ehemann zwar versucht habe, mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben bzw. sie zu vergewaltigen, sie aber jedes Mal, wenn er sie angreifen habe wollen, weggelaufen und im Haus herumgelaufen sei. Ihr Ehemann sei schließlich alleine ins Bett gegangen (AS 50). Dieses Vorbringen ist insoweit schwer zu fassen, als die Beschwerdeführerin gleichzeitig an dieser Stelle angab, dass das Haus aus lediglich einem Zimmer bestanden habe, sodass zufolge der offenkundig beengten Verhältnisse nicht erklärlich ist, wie die Beschwerdeführerin in diesem einem Zimmer vor ihrem Mann weglaufen hätte können.
Insgesamt betrachtet ergibt sich aus diesen Erwägungen, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Behauptung, in Somalia zwangsverheiratet worden zu sein, nicht glaubhaft ist. Insoweit hat sich aber auch kein belastbarer Anhaltspunkt dafür ergeben, dass ihr eine solche im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsort drohen würde.
Die Beschwerdeführerin gab zudem in der Einvernahme durch das Bundesamt zu Protokoll, dass sie in ihrer Kindheit „pharaonisch“ – d.h. nach WHO-Typ III – beschnitten worden sei. Aufgrund ihrer Zwangsverheiratung sei die „Beschneidung aufgemacht“ worden, d.h. es sei eine Defibulation vorgenommen worden (AS 44 f). Ein weiteres darauf bezogenes Vorbringen wurde nicht erstattet und ebenso wenig wurde eine Befundung vorgelegt. Zunächst kann als wahr unterstellt werden, dass die Beschwerdeführerin nach dem WHO-Typ III beschnitten wurde, da dieses Vorbringen vor dem Hintergrund der festgestellten Länderberichte, wonach eine derartige Genitalverstümmelung den gesellschaftlichen Traditionen in Somalia entspricht, durchaus plausibel ist. Da nun aber das Vorbringen über eine Zwangsverheiratung aus den erwähnten Gründen nicht glaubhaft ist, sie demgemäß eine ledige, kinderlose Frau ist (s. auch unten), muss in logischer Konsequenz daraus geschlossen werden, dass entgegen ihrem Vorbringen keine Defibulation vorgenommen wurde. Wenn nämlich die Zwangsverheiratung der einzige Grund für ihre Defibulation gewesen wäre, diese Zwangsverheiratung aber nicht stattgefunden hat, so kann auch keine Defibulation vorgenommen worden sein. Einen anderen Grund für eine Defibulation nannte die Beschwerdeführerin auch nicht. Demnach besteht bei der Beschwerdeführerin eine Genitalverstümmelung nach dem WHO-Typ III bei bestehender Infibulation. Vor dem Hintergrund der Länderberichte ergibt sich damit keine darauf bezogene Bedrohungssituation einer weiteren Genitalverstümmelung im Falle einer Rückkehr, zumal es sich bei dieser Art der Genitalverstümmelung bereits um die schwerste praktizierte Form handelt. Eine solche wurde von der Beschwerdeführerin aber auch nicht behauptet. Auch wurde kein Vorbringen dahingehend erstattet und ist auch sonst nicht hervorgekommen, dass die Beschwerdeführerin wegen der erlittenen Genitalverstümmelung entsprechende psychische Beeinträchtigungen erlitten hätte oder deswegen Therapien in Anspruch nehme (vgl. UNHCR Guidance Note on Refugee Claims Relating to Female Genital Mutilation, Mai 2009 Rn. 15).
Wie die Beschwerdeführerin selbst stets angab, leben in ihrem Herkunftsort zumindest ihr Vater, ihre Stiefmutter sowie fünf Halbbrüder. Da ihr Vorbringen über eine Zwangsverheiratung nicht glaubhaft war, ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin selbst ledig und – zumal sie nie angab, Kinder zu haben – kinderlos ist. In der Einvernahme gab die Beschwerdeführerin an, dass der Kontakt nach Somalia abgebrochen sei, da der Schlepper ihr das Handy, auf dem die Telefonnummer ihrer Tante – welche nach ihrem Vorbringen ihre Ausreise organisiert habe – eingespeichert gewesen sei, weggenommen habe (AS 44). Ein Grund, aus dem der Schlepper ihr das Handy weggenommen hätte, ist aber nicht ersichtlich, würde dieser doch keinen ersichtlichen Vorteil daraus ziehen. Im Gegenteil ist gerichtsbekannt, dass gerade bei eher teureren Schleppungen – wie das anhand der Reiseroute per Flugzeug bis auf den europäischen Kontinent, dem Zusammenhang nach offenbar nach Serbien, und der äußerst schnellen Schleppung von Somalia bis Österreich binnen eines Monats im Falle der Beschwerdeführerin augenscheinlich der Fall war (vgl. AS 19) – in der Regel ein Teil des Schlepperlohns erst bei Bestätigung der erfolgreichen Ankunft der geschleppten Person im Zielland ausbezahlt wird, was aber dementsprechend einen Kontakt voraussetzt und zeigt, dass der Schlepper (jedenfalls bei derartigen Schleppungen) kein Interesse an einem Kontaktabbruch haben kann. Interessanterweise bejahte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Frage, ob ihre Angehörigen „nach wie vor“ in ihrem Herkunftsort leben (Verhandlungsprotokoll S. 7), obwohl sie das mangels Kontakt doch nicht wissen könnte. Dies schien ihr auch erst in der Folge bewusst geworden zu sein, als sie nachschob, dass sie aber keinen Kontakt habe, damit aber nicht auflöste, woher sie den aktuellen Aufenthaltsort ihrer Angehörigen andernfalls kennen würde (vgl. dazu auch in der Einvernahme durch das Bundesamt, wo die Beschwerdeführerin sehr wohl noch meinte, den aktuellen Aufenthaltsort ihres Ehemannes nicht zu kennen, AS 42). Bedenkt man weiters, dass die Beschwerdeführerin zufolge der Unglaubhaftigkeit ihrer Fluchtgründe nicht tatsächlich aus Somalia floh, besteht auch vor diesem Hintergrund wenig Grund zur Annahme, dass im Zuge ihrer organisierten Ausreise nicht für den Weiterbestand des Kontakts vorgesorgt worden wäre. Es ist daher insgesamt nicht glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin keinen Kontakt zu ihren Angehörigen, d.h. auch zu ihrer Familie im Herkunftsort, hat. Ein Grund, aus dem die Beschwerdeführerin von ihren Angehörigen – insbesondere auch von ihren männlichen Angehörigen – nicht wieder aufgenommen werden würde, ist zufolge der bereits erwähnten Unglaubhaftigkeit ihrer Fluchtgründe nicht hervorgekommen. Wenn die Beschwerdeführerin somit in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gab, dass sie befürchte, von ihrem Vater oder ihren Brüdern umgebracht zu werden, weil sie aus ihrer Zwangsverheiratung geflohen sei (Verhandlungsprotokoll S. 11), kann das nicht als wahr unterstellt werden, weil diese Zwangsverheiratung schließlich unglaubhaft ist. Zwar brachte die Beschwerdeführerin im Verfahren auch vor, von ihrer Stiefmutter stets schlecht behandelt worden zu sein, eine Verstoßung aus der Familie behauptete sie aber nie. Die Beschwerdeführerin kann demzufolge im Falle einer Rückkehr wieder bei ihren Angehörigen unterkommen und kann dort den Schutz dieser wie auch jenen ihres Mehrheitsclans in Anspruch nehmen. Sie wäre demzufolge nicht als alleinstehende, schutzlose Frau geschlechtsspezifischer Gewalt besonders ausgesetzt.
Sonstige Fluchtgründe, Rückkehrbefürchtungen bzw. individuell gegen sie gerichtete Bedrohungs- oder Gefährdungslagen in Somalia wurden von der Beschwerdeführerin weder in der Erstbefragung, noch in der Einvernahme, noch in der Beschwerde, noch in der mündlichen Verhandlung behauptet noch ergäbe sich Derartiges per se aus den Länderberichten. Im Gegenteil verneinte sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht explizit sonstige Probleme (Verhandlungsprotokoll S. 11).
2.2. Zu den Feststellungen der maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Situation in Somalia beruhen auf den angeführten Quellen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Somalia vom 16.01.2025 (Version 7). Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Gemäß Art. 9 Abs. 1 Status-RL (RL 2011/95) („Verfolgungshandlungen“) muss eine Handlung, um als Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A GFK zu gelten, aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).
Gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. d Status-RL („Verfolgungsgründe“) gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn (erstens) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (zweitens) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Das Vorbringen des Antragstellers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 10.08.2019, Ra 2018/20/0314).
Wie beweiswürdigend dargelegt, ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin über eine Zwangsverheiratung nicht glaubhaft. Eine solche würde ihr auch nicht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsort drohen. Auch droht ihr keine weitere Genitalverstümmelung. Es handelt sich bei der Beschwerdeführerin um keine alleinstehende, schutzlose, geschlechtsspezifischer Gewalt besonders ausgesetzte Frau, da sie in ihrem Herkunftsort insbesondere auch männliche Angehörige hat sowie selbst dem lokalen Mehrheitsclan angehört, deren Schutz sie in Anspruch nehmen kann. Sonstige Gründe einer asylrelevanten Bedrohung wurden weder von der Beschwerdeführerin behauptet, noch sind sie im Verfahren hervorgekommen.
Anzumerken ist, dass auch dem allgemeinen Vorbringen der Beschwerdeführerin, von ihrer Stiefmutter schlecht behandelt worden zu sein, keine Asylrelevanz zukommt. Selbst wenn man darin eine Verfolgungshandlung sähe, so wäre sie doch keinem Konventionsgrund zu unterstellen. Es ist offenkundig, dass eine derartige Behandlung nicht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität oder der politischen Gesinnung erfolgte. Aber auch die Subsumption als soziale Gruppe scheidet aus, denn auch wenn die Beschwerdeführerin als Stieftochter einen unveränderbaren Hintergrund hat, so mangelt es doch am Kriterium der deutlich abgegrenzten Identität in der umgebenden Gesellschaft. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Stieftöchter von der Gesellschaft in Somalia (oder auch nur eines Teils von Somalia) als andersartig wahrgenommen werden würden, zumal sowohl Polygamie als auch Scheidungen in Somalia verbreitet sind. Alleine, dass ihre Stiefmutter – also die hypothetische Verfolgerin – die Beschwerdeführerin als andersartig ansähe, gereicht nicht zur Begründung einer sozialen Gruppe (vgl. etwa auch EuGH 27.03.2025, C-217/23, zum Thema der Familie als soziale Gruppe).
Es besteht somit keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer asylrechtlichen Verfolgung der Beschwerdeführerin in Somalia aus Konventionsgründen.
Die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl war daher im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.