Spruch
W113 2271313-2/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Katharina DAVID über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsbürger der Arabischen Republik Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.10.2024, Zahl 1312361204/241439622, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der erste Asylantrag des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 22.03.2023 als unbegründet abgewiesen und wurde dem Beschwerdeführer der Status des Subsidiär Schutzberechtigten bezüglich seines Herkunftsstaates Syrien zuerkannt. Die dagegen erhobene Bescheidbeschwerde wurde mit hg. Entscheidung vom 16.07.2024, W204 2271313-1/7E als unbegründet abgewiesen.
2. Der Beschwerdeführer stellte mit 23.09.2024 einen Asylfolgeantrag und wurde am selben Tag einer Erstbefragung und am 08.10.2024 einer Einvernahme durch die belangte Behörde unterzogen.
3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag auf Asyl gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sie bezüglich des Einberufungsbefehls von einer Fälschung ausgehe.
4. Dagegen richtet sich die vorliegende Bescheidbeschwerde an das BVwG.
5. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.04.2025 eine mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer verwies im gegenständlichen Verfahren auf die von ihm in ersten Asylverfahren vorgebrachten Fluchtgründe. Ergänzend brachte er vor wie folgt:
Er hat einen Einberufungsbefehl für das syrische Militär erhalten.
Seine Familie lebt im Libanon, dort ist es für die Familie sehr gefährlich.
Seine Frau ist 2017 in Syrien für zirka ein Monat inhaftiert worden.
Sein Vater wurde vom syrischen Militär getötet.
Es gibt in Syrien derzeit keine Sicherheit.
Er hat abstrakt Angst vor der Al Nusra Front, der HTS und den Kurden. Diese Gruppierungen haben zwar nichts gegen ihn persönlich, sie sind allerdings radikal islamistisch.
Ihm sind keine Konflikte zwischen ihm und den Gruppierungen HTS, Al Nusra Front und Kurden in Syrien bekannt.
Zur Situation im Herkunftsstaat
"Am 27.11.2024 startete unter der Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) die von der Provinz Idlib ausgehende Operation „Abschreckung der Aggression“. Am 08.12.2024 wurde Damaskus ohne Gegenwehr eingenommen und die Regierung von Bashar Al-Assad gestürzt. Russland verkündete den Rücktritt und die Flucht von al-Assad. Die HTS übernahm die Kontrolle im Land. Es wurde eine Übergangsverwaltung geschaffen. Der ehemalige Premierminister Mohammed Al-Jalali übertrug die Macht formell an Mohammed al-Bashir, den neu ernannten Übergangspremierminister, um die Fortführung der staatlichen Aufgaben zu gewährleisten. Bei Mohammed al-Bashir handelt es sich um den ehemaligen Leiter der SSG im Nordwesten Syriens, welche seinerzeit zusammen mit der HTS gegründet worden war. Die Amtszeit von al-Bashir und die der Übergangsregierung sollte am 1. März 2025 enden, allerdings gab es Ende Januar 2025 noch keinen Termin für Wahlen in Syrien. Zwischenzeitlich wurde Ahmad Al-Sharaa, der Anführer der HTS, zum De-facto-Führer Syriens ernannt. Am 29.Januar 2025 wurde Al-Sharaa zum Präsidenten für die Übergangszeit ernannt. (Staatendokumentation 10.12.2024; EUAA Syria Country Focus März 2025).
Mit Ausnahme der im Zuge der türkischen Militäroperationen 2018 und 2019 verlorengegangenen Gebiete umfasste die 2018 gegründete "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" (DAANES, auch unter Rojava bekannt) bis Dezember 2024 das gesamte Gebiet nordöstlich des Euphrats sowie darüber hinaus den Bezirk Manbij und einen südwestlich des Flusses gelegenen Teil des Gouvernements Ar-Raqqa. Im Zuge der Operation „Morgenröte der Freiheit“ (auf Arabisch رال ر ح ة يية - Fajr al-Hurriya) wurde die Region Manbij Ende 2024 durch die von der Türkei unterstützte, bisher den Norden Aleppos kontrollierenden Syrian National Army (SNA) eingenommen (Staatendokumentation 10.12.2024; ecoi.net, Informationssammlung der Staatendokumentation). Trotz des Abschlusses eines Waffenstillstandes, der den Abzug der (mit den SDF verbundenen) „Manbij Military Council Forces“ vorsah, kommt es in dieser Region weiterhin zu Auseinandersetzungen zwischen der SNA und den SDF (ecoi.net, Informationssammlung der Staatendokumentation,Stand 11.03.2025), die jedoch keine wesentlichen Veränderungen der Gebietskontrolle nach sich gezogen haben. Am 11. Dezember übernahm die Koalition ehemaliger oppositioneller Kräfte unter der Führung der HTS die vollständige Kontrolle der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor. Im Osten der Provinz Deir ez-Zor kam es zu Demonstrationen und der Forderung, die von HTS geführten Streitkräfte sollten die Kontrolle über das Gebiet übernehmen. Einige Kommandanten der SDF seien in Folge desertiert. (vgl. ecoi.net, Informationssammlung, Stand 11.03.2025 sowie Kartenmaterial vom 14.04.2025 unter https://syria.liveuamap.com/).
Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männern über 18 Jahre im Gebiet der AANES ableisten müssen. Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit. (vgl. LIB, Version 11 vom 27.03.2024).
Im Allgemeinen werden die Menschen entlassen, nachdem sie ein Jahr gedient haben, in Notsituationen kann die Dauer des Dienstes verlängert werden (vgl. DIS 6.2024; ACCORD vom 24.2.2025, a-12555-2). Mitte Jänner 2025 habe die SDF die Demobilisierung von Wehrpflichtigen, die ihre Wehrpflicht bereits abgeleistet hätten, aufgrund des bedeutenden Anstiegs an Desertionen und Überläufen in ihren Kreisen gestoppt. Ein von der SDF zwangsrekrutierter Mann habe Syria TV erzählt, dass er seinen Wehrdienst vor zwei Monaten erfüllt habe und die SDF sich ohne Angabe von Gründen weigern würde, ihn aus der Pflicht zu entlassen. Davon seien hunderte andere Personen betroffen (Syria TV, 31.Jänner2025). (vgl. zum Gesamten ACCORD vom 21.03.2025, Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen, a-12592-v2)
Die Situation bezüglich des Selbstverteidigungsdienstes ist auch vor dem Hintergrund der seit Anfang Dezember 2024 geänderten Machtverhältnisse in Syrien grundsätzlich unverändert geblieben. Laut Syria TV gebe es mit Stand Ende Jänner 2025 nur begrenzte Rekrutierungsmaßnahmen von Wehrpflichtigen, da die SDF in der derzeitigen Situation nicht zu derartigen Operationen in der Lage sei. Laut einer anonymen Quelle würde die SDF jedoch alle Optionen prüfen, um ihre Militär- und Sicherheitskräfte zu stärken, einschließlich der Vergrößerung der Anzahl ihrer Streitkräfte (Syria TV, 31. Jänner 2025). (vgl. ACCORD vom 24.2.2025, a-12555-2).
Der Versuch, der Selbstverteidigungspflicht zu entgehen, wird mit einer Verlängerung der Selbstverteidigungspflicht um einen Monat sanktioniert (vgl. Country Focus, Oktober 2024), einigen Quellen zufolge auch in Verbindung mit einer Haftstrafe für einen kürzeren Zeitraum von ein bis zwei Wochen. Von Misshandlungen der Inhaftierten berichten die Quellen nicht. Eine Verweigerung des Dienstes bei den kurdischen Selbstverteidigungskräften führt nicht zur Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung seitens der Kurden als Konfliktpartei. (vgl. DIS 6/2024)
Bei den kurdischen Einheiten dienen Wehrpflichtige in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP), eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eine eigene Militärführung verfügt. Nach der bis zu zwei Monaten dauernden Ausbildungszeit werden Wehrpflichtige verschiedenen Aufgaben in verschiedenen Zentren oder Einheiten zugewiesen, wo sie für den Rest ihres Dienstes dienen. Die Ausbildung oder Qualifikation der Wehrpflichtigen wird dabei oft berücksichtigt; beispielsweise werden Personen mit einem stärkeren Bildungshintergrund und höheren Qualifikationen Aufgaben in Ämtern oder Einrichtungen zugewiesen, die von ihren Fähigkeiten profitieren können. Wehrpflichtige mit niedrigem oder keinem Bildungshintergrund werden häufig Aufgaben im Zusammenhang mit der Bewachung oder dem Schutz öffentlicher Gebäude zugewiesen. (vgl. DIS 6/2024)
Die HXP ist eine Hilfstruppe mit der Hauptaufgabe, öffentliche Gebäude zu bewachen oder zu schützen und die SDF zu unterstützen, wird daher im Allgemeinen nicht in Kampfsituationen eingesetzt. Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz. Es kann mitunter vorkommen, dass die HXP in Kampfsituationen verwickelt wird, z.B. während der Schlacht um Afrin im Jahr 2018 oder Anfang 2025). Auch in diesen Fällen werden die Rekruten allerdings nicht an vorderster Front eingesetzt. Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sich Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müssten. Es finden sich keine Berichte über von der HXP begangene völkerrechtswidrigen Aktionen. (vgl. DIS 6/2024; ACCORD vom 24.2.2025, a-12555-2)
Die dem Board of Defence (entspricht einem Verteidigungsministerium) der AANES unterstehenden Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) sind eine Dachorganisation, die sich aus mehreren bewaffneten Gruppen zusammensetzt, darunter die Yekîneyên Parastina Gel (YPG) und Yekîneyên Parastina Jin (YPJ - Frauenverteidigungseinheit). Die SDF ist eine professionelle militärische Streitkraft, die an der Front eingesetzt wird und Kampfhandlungen durchführt. (DIS 6/2024)
Die Einstellung in den SDF erfolgt grundsätzlich auf freiwilliger Basis, zumeist wird ein Vertrag für zwei Jahre geschlossen. Viele Menschen entscheiden sich aufgrund der relativ hohen Löhne für den Beitritt zur SDF, einige um ihr lokales Gebiet zu schützen. Die Rekrutierung für die zwei großen SDF Gruppen, YPG und YPJ, erfolgt gleichfalls grundsätzlich freiwillig. Weder die PKK noch ihr militärischer Flügel HPG rekrutiert neue Mitglieder in den AANES Gebieten mit Gewalt. (vgl. DIS 6/2024, 6/2022, Country Focus, Oktober 2024).
Die kurdischen Nachrichtendienste Firat News Agency (ANF News) und Hawar News Agency (ANHA) berichten im Dezember 2024 und Jänner 2025 von einem Aufruf zur Generalmobilmachung („general mobilisation“) in Nordost-Syrien (ANHA, 18. Dezember 2024; ANF News, 10. Jänner 2025; ANF News, 11. Jänner 2025; ANF News, 14. Jänner 2025). Die Nachrichtendienste berichten von Bürger:innen aus unterschiedlichen Orten, die sich zusammenschließen würden, um die Region zu verteidigen (ANF News, 5. Jänner 2025; ANF News, 10. Jänner 2025; ANF News, 14. Jänner 2025; ANHA, 18. Dezember 2024; ANHA, 31. Dezember 2024; ANHA, 6. Jänner 2025). Laut ANF News seien diese Personen Freiwillige (ANF News, 11. Jänner 2025). (vgl. ACCORD vom 24.2.2025, a-12555-2).
Mitte März 2025 berichten Quellen von einer zwischen Ahmad Scharaa und Mazloum Abdi, dem Leiter der SDF, getroffenen Einigung, die Ende 2025 umgesetzt werden solle (DW, 11.März 2025; CNN, 11.März 2025; The Guardian, 10.März 2025). Die Vereinbarung sehe vor, alle „zivilen und militärischen Einrichtungen“ in Nordost-Syrien der Verwaltung des syrischen Staates zu unterstellen (DW, 11.März 2025, siehe auch TheGuardian, 10.März 2025). Der von CNN dazu interviewten Wissenschaftlerin am Center for Strategic and International StudiesNatasha Hall zufolge sei zu dem Zeitpunkt unklar, wie die Integrierung der SDF in die Institutionen des syrischen Staates aussehen werde. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung sei es der SDF erlaubt, ihre Struktur und ihre Waffen zu behalten (CNN, 11.März 2025).
In einem arabischsprachigen Artikel von Jänner 2025 zitiert Al Jazeera den Wissenschaftler Amir Al-Mithqal, dem zufolge die Demokratischen Kräfte Syriens (Syrian Democratic Forces, SDF) aufgrund eines Mangels an kurdischen Kräften ethnische Araber zwangsrekrutiert hätten (Al Jazeera,29.Jänner 2025). Ende Jänner 2025 berichtet Syria TV, dass seit dem Sturz der Assad-Regierung über 5.000 Männer die SDF verlassen hätten, indem sie übergelaufen oder geflohen seien. Einer der SDF nahestehenden Quelle zufolge bestehe ein Mangel an Kräften in den Reihen der SDF und diese sei nicht imstande neue Rekrutierungskampagnen in der Region zu starten. Es würden nur begrenzt Rekrutierungsoperationen durchgeführt, und zwar hauptsächlich im Gouvernement Hasaka. Der Quelle zufolge prüfe die SDF sämtliche Optionen, um ihre Militär- und Sicherheitskräfte zu stärken, unter anderem durch den Aufbau neuer Kräfte. (vgl. zum Gesamten ACCORD vom 21.03.2025, Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen, a-12592-v2)
Interimspräsident Ahmed al-Sharaa (Kampfname ‚Abu Mohammed al-Dscholani‘) führte bislang die HTS an, welche 2011 als Ableger der al-Qaida unter dem Namen Jabhat an-Nusra gegründet worden war. (BBC 8.12.2024c). Ihr Herrschaftsgebiet umfasste bis zum Sturz Al-Assads Ende 2024 die nordwestliche Provinz Idlib und die angrenzenden Teile der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo. (BBC 2.5.2023). Im Jahr 2012 hatte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen HTS] als Terrororganisation eingestuft (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen HTS als terroristische Vereinigung (AA 2.2.2024). Aber schon vor den Ereignissen im November/Dezember 2024 durchlief HTS nach Ansicht von Analysten einen Wandel, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023) und versuchte sich in den letzten Jahren als nationalistische Kraft (BBC 8.12.2024b) und pragmatische Alternative zu Al-Assad zu positionieren (BBC 8.12.2024c).
Die Organisation versuchte, der Einstufung als Terrororganisation zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte. (Alaraby 8.5.2023; vgl. CTC Sentinel 2.2023). HTS ging in ihrem Herrschaftsgebiet gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vgl. CTC Sentinel 2.2023) und regulierte die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wurde. Die HTS versuchte so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisierte so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vgl. Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021). Im Dezember 2023 wurden diese Spaltungstendenzen evident. Nach einer Verhaftungswelle, die sich über ein Jahr hinzog, floh eine Führungspersönlichkeit in die Türkei, um eine eigene rivalisierende Gruppierung zu gründen. Die HTS reagierte mit einer Militäroperation in Afrin (Etana 12.2023). HTS hatte die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtete. (vgl. zum Gesamten: LIB vom 27.03.2024, Pkt. 4 Sicherheitslage, im Zusammenhalt mit der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht).
Die Syrische Nationalarmee (SNA) setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen (CC 1.5.2023), hat sich jedoch zu einer zersplitterten Koalition unterschiedlicher bewaffneter Gruppen entwickelt (DW, 9. Dezember 2024), die mit direkter türkischer Militärunterstützung einen Gebietsabschnitt entlang der syrisch-türkischen Grenze halten (Reuters, 8. Dezember 2024). Trotz interner Spaltungen pflegen viele SNA-Fraktionen enge Bindungen zur Türkei, wie die Sultan-Suleiman-Schah-Brigade, die al-Hamza-Division und die Sultan-Murad-Brigade. Andere Fraktionen der Gruppe versuchen trotz ihrer Zusammenarbeit mit der Türkei ihre eigenen Prioritäten durchzusetzen (DW, 9. Dezember 2024). Als die HTS und verbündete Gruppen aus dem Nordwesten Anfang Dezember auf von Assads Regierung kontrolliertes Gebiet vorrückten, schloss sich ihnen auch die SNA an und kämpfte im Nordosten gegen Regierungstruppen wie auch kurdisch geführte Kräfte (Reuters, 8. Dezember 2024) – siehe auch Pkt. II.1.3. „Operation Morgenröte der Freiheit“. Der Vormarsch der Rebellen gegen Assads Regierungstruppen wurde Berichten zufolge von der Türkei mit unterstützt (ARD, 8. Dezember 2024). (vgl. zum Gesamten: LIB vom 27.03.2024, Pkt. 4 Sicherheitslage, im Zusammenhalt mit der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht).
Die Übergangsregierung schaffte die Wehrpflicht ab, außer in Situationen wie dem nationalen Notstand. Laut Samir Saleh, Mitglied des Militärkommandos im Umland von Damaskus, wird die syrische Armee eine Freiwilligenarmee sein, an der sich die Bevölkerung beteiligen soll, um die Grenzen des Landes zu sichern. Frühere Überläufer, wie z.B. Offiziere der Freien Syrischen Armee (FSA), werden in der Struktur des Verteidigungsministeriums einen besonderen Status erhalten, je nach ihrer Expertise. Am 29. Dezember wurde eine Liste mit 49 neuen militärischen Befehlshabern veröffentlicht, darunter Mitglieder der HTS, übergelaufene Offiziere der syrischen Armee und mindestens sechs Nicht-Syrer, wobei die sieben höchsten Positionen Berichten zufolge mit HTS-Mitgliedern besetzt sind.
Schließlich verpflichtete sich die Übergangsregierung, alle Rebellengruppen in das Verteidigungsministerium zu integrieren. Zwischen Januar und Februar 2025 bemühten sich die Interimsministerien für Verteidigung und Inneres, alle bewaffneten Gruppen in einer einzigen Militär- und Polizeitruppe zu vereinen. Das Verteidigungsministerium berichtete, dass über 70 Gruppierungen aus sechs Regionen der Integration zugestimmt hätten, und es wurde ein Oberster Ausschuss eingerichtet, der den Einsatz militärischer Mittel, einschließlich Personal, Stützpunkte und Waffen, steuern sollte. (vgl. zum Gesamten EUAA Country Focus Syria März 2025)
Mehrere Quellen berichten im Februar 2025, dass der Präsident der syrischen Übergangsregierung, Ahmed Al-Scharaa, erklärt habe, dass er die Wehrdienstpflicht abgeschafft habe und stattdessen auf freiwillige Rekrutierung setze (Enab Baladi, 12.Februar 2025; France 24, 10.Februar2025; siehe auch Markaz Al-Jazeera l-il-Dirasat, 30. Jänner 2025; FDD,28. Jänner 2025). Anfang Februar 2025 wurde berichtet, dass sich Scharaa zufolge tausende Freiwillige der neuen Armee anschließen würden (France 24, 10. Februar 2025; Enab Baladi, 12. Februar 2025). Dem Online-Begleittext eines Videobeitrags des schwedischen Fernsehprogramms Svtnyheter von Jänner 2025 zufolge hätte die Hayat Tahrir Al-Scham (HTS)aktiv mit intensiven Rekrutierungen für die Reihen der Polizei und des Militärs begonnen (Svt nyheter, 18.Jänner 2025). In einem undatierten arabischsprachigen Artikel bezieht sich das Swedish Center forInformation (SCI) auf den genannten Videobeitrag. Laut dem SCI-Artikel würden Berichten zufolge Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere mittels intensiver Programme rekrutiert, die von traditionellen akademischen Standards und Trainingsstandards abweichen würden. Dies habe den Zweck, die Ausbildung der Militär- und Sicherheitskräfte zu beschleunigen, um den Bedarf des neuen Staates zu decken (SCI, ohne Datum). (vgl. zum Gesamten ACCORD vom 21.03.2025, Rekrutierungspraxis der Übergangsregierung, Rekrutierungen durch andere bewaffnete Gruppen, a-12592-v2)
Zur Historie der Lage in Syrien wird anhand der Länderinformation der BFA Staatendokumentation betreffend Syrien vom 27.03.2024 sowie der Informationssammlung von ACCORD zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad vom 11. März 2025 Folgendes festgestellt:
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt waren die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 schien der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.05.2022). Das Assad-Regime kontrollierte rund 60 - 70% des syrischen Territoriums. (vgl. zum Gesamten: LIB vom 27.03.2024).
Am 27.11.2024 startete unter der Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) die von der Provinz Idlib ausgehende Operation „Abschreckung der Aggression“. Am 08.12.2024 wurde Damaskus ohne Gegenwehr eingenommen und die Regierung von Bashar Al-Assad gestürzt. Am 8. Dezember 2024 erklärten die Rebellen den Sieg in Damaskus. Der syrische Präsident Baschar al-Assad verließ noch am selben Tag das Land und beantragte Asyl in Russland, wo ihm Aufnahme gewährt wurde (Tagesschau, 8. Dezember 2024).
Die neue Führung hatte sich seit ihrer Machtübernahme verpflichtet, die Rechte der Minderheiten zu wahren (The New Arab, 7. Jänner 2025). Anfang Jänner kündigte das Bildungsministerium der Übergangsregierung auf seiner Facebook-Seite einen neuen Lehrplan für alle Altersgruppen an, der eine stärker islamische Perspektive widerspiegelt und alle Bezüge zur Assad-Ära aus allen Fächern entfernt. Zu den vorgeschlagenen Änderungen gehörte unter anderem die Streichung der Evolutionstheorie und der Urknalltheorie aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht. Aktivist·innen zeigten sich besorgt über die Reformen (BBC News, 2. Jänner 2025).
Anfang Jänner erteilten die USA eine sechsmonatige Ausnahme von den Sanktionen, eine sogenannte Generallizenz, um humanitäre Hilfe nach dem Ende der Herrschaft von Bashar al-Assad in Syrien zu ermöglichen. Die Ausnahme, die bis zum 7. Juli gültig ist, erlaubt bestimmte Transaktionen mit Regierungsinstitutionen, darunter Krankenhäuser, Schulen und Versorgungsunternehmen auf Bundes-, Regional- und lokaler Ebene sowie mit HTS verbundenen Einrichtungen in ganz Syrien. Zwar wurden keine Sanktionen aufgehoben, die Lizenz erlaubt jedoch auch Transaktionen im Zusammenhang mit dem Verkauf, der Lieferung, der Speicherung oder der Spende von Energie, einschließlich Erdöl und Strom, nach oder innerhalb Syriens. Darüber hinaus erlaubt sie persönliche Überweisungen und bestimmte energiebezogene Aktivitäten zur Unterstützung der Wiederaufbaubemühungen (Reuters, 6. Jänner 2025). Nach der Ausnahme von den Sanktionen kündigte Katar eine Hilfe bei der Finanzierung einer 400-prozentigen Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Sektor an, die die syrische Übergangsregierung zugesagt hatte (Reuters, 7. Jänner 2025).
Die Europäische Union hat am 24.02.2024 rund zweieinhalb Monate nach dem Sturz von Baschar al-Assad ihre Sanktionen gegen Syrien ausgesetzt. Die EU-Außenminister billigten einstimmig Rechtstexte, mit denen die Wirtschaftssanktionen im Banken-, Energie- und Verkehrsbereich vorläufig außer Kraft gesetzt werden. Die Außenminister wollen laut ihrer gemeinsamen Erklärung die Aufhebung weiterer Wirtschaftssanktionen prüfen. Verschlechtert sich das politische Klima in Syrien hingegen, könnten die EU-Sanktionen automatisch wieder eingesetzt werden (vgl. https://orf.at/stories/3385838/).
Am 7. und 8. März kam es laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) zu 30 „Massakern“ an Alawit·innen an der Westküste Syriens, bei denen in etwa 746 Zivilist·innen getötet wurden. Zusammen mit der Zahl der getöteten Kämpfer, die sich sowohl aus Pro-Assad-Kämpfern, wie auch aus Kämpfern der neuen Regierung zusammensetzte, stieg die Gesamtzahl der Toten auf über 1.000 Personen. Präsident Al-Scharaa rief zu Frieden und Einheit auf und versprach, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Er ging jedoch nicht direkt auf die Vorwürfe ein, dass seine Anhänger an den Morden an Zivilist·innen beteiligt waren (BBC News, 9. März 2025).
Am 13. März sagte Yasser al-Farhan, der Sprecher des Fact-Finding Committee on the Syrian Coastal Events, dass das Komitee seine Arbeit vor Ort durchführt und Listen von Zeugen und potenziellen Verdächtigen hat. Al-Farhan bestätigte, dass der Ausschuss „alle Operationen an der Küste untersuchen wird“, und stellte fest, dass „die Position der syrischen Behörden durch die Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung der Frage der Verstöße gegen die Zivilbevölkerung zum Ausdruck gebracht wurde“. (vgl. UNHCR Regional Flash Update #18, Syria situation crisis, vom 14 März 2025).
Kontrolle der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) und der Syrischen Demokratischen Kräften (SDF)
Die von der Türkei unterstütze Syrische Nationalarmee (SNA) führte ihre Offensive gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und das Gebiet der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) fort. Die SNA nahm in den vergangenen Tagen Gebiete der nordwestlichen Region Shahba sowie die Stadt Manbidsch ein. Mit 10. Dezember griffen SNA-Kämpfer den strategisch wichtigen, kurdisch-kontrollierten Tischreen-Staudamm in der Provinz Aleppo an (Rudaw, 10. Dezember 2024), und rückten auf die Stadt Kobane vor (Al-Monitor, 10. Dezember 2024). Am 11. Dezember kam es nach Vermittlungen der US-Behörden zu einem Waffenstillstand in der Stadt Manbidsch. Das Abkommen sieht den Abzug der (mit den SDF verbundenen) „Manbij Military Council Forces“ vor (SOHR, 11. Dezember 2024). Am 17. Dezember wurde dieser Waffenstillstand bis zum Ende derselben Woche verlängert (Reuters, 17. Dezember 2024). Am 18. Dezember trat ein Waffenstillstandsabkommen in der Region Ain Al-Arab (auch Kobani) in Kraft (SOHR, 18. Dezember 2024). Die SDF warfen der Türkei und ihren Verbündeten vor, sich nicht an das Waffenstillstandsabkommen zu halten und ihre Angriffe südlich von Kobani fortzusetzen. Zur gleichen Zeit gingen Einwohnerinnen der nordostsyrischen Stadt Qamischli auf die Straße, um den Widerstand der SDF gegen die Angriffe protürkischer Kämpfer in der Region zu unterstützen (France24, 19. Dezember 2024). Am 21. Dezember wurden laut SDF fünf ihrer Kämpfer bei Angriffen von der Türkei unterstützten Streitkräften auf die Stadt Manbidsch getötet (Reuters, 21. Dezember 2024). Das Pentagon erklärte am 30. Dezember, dass der Waffenstillstand zwischen der Türkei und den von den USA unterstützten SDF rund um die Stadt Manbidsch anhält (Reuters, 30. Dezember 2024). Am selben Tag behauptete die SDF, dass die Türkei zwei Militärstützpunkte in der Nähe von Manbidsch aufbaut und mehrere Militärfahrzeuge und Radarsysteme von den SDF zerstört wurden (Rudaw, 30. Dezember 2024). Zur gleichen Zeit kam es zu erneuten Schusswechseln zwischen von der Türkei unterstützen Streitkräften und den SDF. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) griffen türkische Streitkräfte und mit ihnen verbündete bewaffnete Gruppen das Dorf al-Terwaziyah südlich von Slouk im ländlichen Raqqa mit schwerer Artillerie und Maschinengewehren an, was anschließend zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führte. Spezialeinheiten der SDF drangen in Stellungen der von der Türkei unterstützen Fraktionen im Dorf Al-Reyhaniyah in der Nähe von Tel Tamer in der Provinz Hasaka ein (Kurdistan24, 30. Dezember 2024). Anfang Jänner kamen bei Zusammenstößen in mehreren Dörfern rund um die Stadt Manbidsch über hundert Menschen ums Leben (The New Arab, 5. Jänner 2025). Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von heftigen Kämpfen in der Region von Manbidsch zwischen der SNA und der SDF und steigenden Opferzahlen (Shafaq News, 9. Jänner 2025).
Human Rights Watch beschuldigt die Koalition der Türkei und SNA, am 18. Jänner ein Kriegsverbrechen begangen zu haben, nachdem eine Drohne einen Krankenwagen des kurdischen Roten Halbmonds traf (HRW, 30. Jänner 2025).
Mit 21. Jänner kommt es zu weiteren Zusammenstößen zwischen SNA und SDF. SOHR schätzt, dass zwischen 12. Dezember und 18. Jänner mindestens 423 Menschen im SNA-SDF-Konflikt getötet wurden; 41 davon Zivilist·innen, 308 SNA-Kämpfer·innen und 74 SDF-Kämpfer·innen (The New Arab, 21. Jänner 2025). Die Kämpfe setzten sich im Februar (BBC News, 26. Februar 2025) und bis Anfang März fort (North Press Agency, 1. März 2025).
Am 11. Dezember übernahm die Koalition ehemaliger oppositioneller Kräfte unter der Führung der HTS die vollständige Kontrolle über die ostsyrische Stadt Deir ez-Zor (Al Jazeera, 11. Dezember 2024). Im Osten der Provinz Deir ez-Zor kam es zu Demonstrationen und der Forderung, die von HTS geführten Streitkräfte sollten die Kontrolle über das Gebiet übernehmen. Einige Kommandanten der SDF seien in Folge desertiert (Syria Direct, 13. Dezember 2024).
Ende Februar begannen die kurdisch geführten Behörden im Nordosten Syriens, Öl aus den von ihnen verwalteten lokalen Feldern an die Zentralregierung in Damaskus zu liefern (Reuters, 22. Februar 2025).
Zur aktuelle Lage in Syrien wird sodann anhand des Berichts der EUAA, Syria: Country Focus, Country of Origin Information Report vom März 2025 Folgendes festgestellt (Nummerierung der Überschriften des englischen Original-Berichts beibehalten):
1.2.2. Regierungsführung unter der Übergangsverwaltung (S. 20-23)
(a) Politischer Übergang (S. 20-21)
Nach dem Sturz der Regierung von Bashar Al-Assad am 8. Dezember 2024 wurde eine Übergangsverwaltung geschaffen. Der ehemalige Premierminister Mohammed Al-Jalali übertrug die Macht formell an Mohammed al-Bashir, den neu ernannten Übergangspremierminister, um die Fortführung der staatlichen Aufgaben einschließlich der Zahlung der Gehälter im öffentlichen Dienst zu gewährleisten, wie Al-Jalali erklärte.
Al-Sharaa erklärte, dass die Organisation nationaler Wahlen bis zu fünf Jahre dauern könnte, da die Wahlinfrastruktur erst wieder aufgebaut werden müsse. Er versicherte ferner, dass Syrien als „Republik mit einem Parlament und einer Exekutivregierung“ strukturiert sein werde.
Am 29. Dezember skizzierte Ahmad al-Sharaa einen mehrjährigen Fahrplan, der die Ausarbeitung einer neuen Verfassung innerhalb von drei Jahren und anschließende Wahlen vorsieht, sowie Pläne für eine Konferenz des nationalen Dialogs zur Förderung von Versöhnung und Inklusion. Als Teil des Übergangsprozesses betonte Al-Sharaa die Bedeutung der Bewahrung der nationalen Einheit und lehnte den Föderalismus ab. Erste Verhandlungen wurden mit den SDF und dem Kurdischen Nationalrat (KNC) geführt, um die kurdischen Gruppierungen in den politischen Prozess einzubeziehen. Die ursprünglich für Anfang Januar geplante Konferenz für den nationalen Dialog wurde jedoch verschoben, um ein breiteres Vorbereitungskomitee einzusetzen, in dem alle Teile der syrischen Gesellschaft vertreten sind. Die Konferenz fand schließlich am 25. Februar 2025 statt, der vorbereitende Workshops auf lokaler Ebene vorausgegangen waren. Sie trat in Damaskus mit rund 600 Teilnehmern zusammen und betonte in ihrer Abschlusserklärung die territoriale Integrität Syriens, verurteilte die israelischen Angriffe und forderte einen Rückzug. Ferner wurde die Annahme einer vorläufigen Verfassungserklärung, die Bildung eines vorläufigen Legislativrats und die Ausarbeitung eines Entwurfs für eine ständige Verfassung mit Schwerpunkt auf Menschenrechten und Freiheit festgelegt. In der Abschlusserklärung wurde ferner die Bedeutung der Beteiligung von Frauen, der friedlichen Koexistenz und der Einrichtung von Mechanismen für den laufenden nationalen Dialog hervorgehoben. Die Konferenz wurde jedoch als übereilt organisiert und unzureichend repräsentativ kritisiert.
Ende Januar erklärte die Übergangsregierung die Verfassung Syriens aus dem Jahr 2012 für ungültig und löste das Parlament, das Militär und die Sicherheitsorgane der früheren Regierung auf. Al-Sharaa erklärte, er werde einen legislativen Interimsrat einrichten, der die Regierung bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung unterstützen soll.
(b) Regierungsbildung (S.21-22)
Nach der Machtübernahme in Damaskus setzte die HTS eine geschäftsführende Regierung ein, die sich hauptsächlich aus Beamten der ehemaligen Syrischen Heilsregierung (SSG) in Idlib zusammensetzte, was Al-Sharaa als eine vorübergehende Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Stabilität und Wiederherstellung der wichtigsten Dienste bezeichnete. Zunächst übernahmen Minister der SSG nationale Ministerposten, wobei einige Beamte und Staatsbedienstete der früheren Regierung in ihren Positionen blieben, um die Kontinuität zu gewährleisten.
Am 10. Dezember 2024 wurde Mohammed Al-Bashir, ein Ingenieur aus dem Gouvernement Idlib und ehemaliger Leiter der SSG im Nordwesten Syriens, die zusammen mit der HTS gegründet wurde, zum Interimspremierminister ernannt. Seine Amtszeit und die der Übergangsregierung sollte am 1. März 2025 enden, aber Ende Januar 2025 gab es noch keinen Termin für Wahlen in Syrien. In der Zwischenzeit wurde Ahmad Al-Sharaa, der Anführer der HTS, zum De-facto-Führer Syriens ernannt. Am 29. Januar 2025 wurde Al-Sharaa zum Präsidenten für die Übergangszeit ernannt.
Am 21. Dezember ernannte die Übergangsregierung Asaad Hassan Al-Shibani zum Außenminister und Murhaf Abu Qasra zum Verteidigungsminister, die beide als Verbündete von Al-Sharaa bekannt waren. Weitere Ernennungen betrafen Mohamed Abdel Rahman als Innenminister, Mohammed Yaqoub Al-Omar als Informationsminister, Mohamed Taha Al-Ahmad als Minister für Landwirtschaft und Bewässerung, Nazir Mohammed Al-Qadri als Bildungsminister und Shadi Mohammed Al-Waisi als Justizminister, die alle zuvor in der Heilsregierung tätig waren. Darüber hinaus übernahmen Fadi Al-Qassem, Mohamed Abdel Rahman Muslim, Hossam Hussein und Basil Abdul Aziz das Amt des Ministers für Entwicklung, des Ministers für lokale Verwaltung und Dienstleistungen, des Ministers für Stiftungen und des Wirtschaftsministers. Anas Khattab (auch bekannt unter seinem Pseudonym Abu Ahmad Hudood), ein früherer Führer der Nusra-Front, wurde zum Leiter des Allgemeinen Nachrichtendienstes ernannt.
(c) Militärische Reformen (S.22-23)
Vor ihrem Einzug in Damaskus am 8. Dezember verpflichtete sich die HTS, den institutionellen Rahmen Syriens beizubehalten, und erklärte später eine Generalamnestie für die Soldaten der syrischen Armee. Die Übergangsregierung leitete daraufhin einen Beilegungsprozess ein, der die Wiedereingliederung zahlreicher ehemaliger Regierungs- und Militärangehöriger erleichterte, darunter auch hochrangige Beamte, von denen einige, wie z. B. Fadi Saqr, in schwerwiegende Übergriffe während des Krieges verwickelt waren. Neben den Verfahren zur freiwilligen Wiedereingliederung verfolgte die Military Operations Administration (MOA), die übergeordnete Kommandozentrale der neuen HTS-geführten Übergangsverwaltung, Personen, die sich der Wiedereingliederung entzogen. Im Rahmen dieser Kampagnen wurden frühere Offiziere verhaftet, während andere wieder freigelassen wurden, nachdem festgestellt worden war, dass sie nicht an Übergriffen beteiligt gewesen waren. Nach Angaben von Etana gab es Bedenken wegen fehlender Verfahren, da Berichten zufolge Hinrichtungen von Milizionären auf niedriger Ebene stattfanden, die von den Behörden als vereinzelte Racheakte der Gemeinschaft dargestellt werden. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR), eine im Vereinigten Königreich ansässige Überwachungsorganisation, berichtete Mitte Januar, dass innerhalb weniger Tage 8.000 Personen in den MOA-Zentren in Sallamiyah, Hama, Versöhnungsabkommen geschlossen haben. Die Zahl der Offiziere und Angehörigen der Streitkräfte der früheren Regierung in Gefängnissen wie Adra, Hama und Harim stieg auf über 9.000, darunter 2.000, die aus dem Irak zurückgekehrt waren. Die meisten wurden verhaftet, nachdem sie bei Razzien oder an Checkpoints erwischt worden waren.
Die Übergangsregierung schaffte außerdem die Wehrpflicht ab, außer in Situationen wie dem nationalen Notstand. Laut Samir Saleh, Mitglied des Militärkommandos im Umland von Damaskus, wird die syrische Armee eine Freiwilligenarmee sein, an der sich die Bevölkerung beteiligen soll, um die Grenzen des Landes zu sichern. Frühere Überläufer, wie z. B. Offiziere der Freien Syrischen Armee (FSA), werden in der Struktur des Verteidigungsministeriums einen besonderen Status erhalten, je nach ihrer Expertise. Am 29. Dezember wurde eine Liste mit 49 neuen militärischen Befehlshabern veröffentlicht, darunter Mitglieder der HTS, übergelaufene Offiziere der syrischen Armee und mindestens sechs Nicht-Syrer, wobei die sieben höchsten Positionen Berichten zufolge mit HTS-Mitgliedern besetzt sind.
Schließlich verpflichtete sich die Übergangsregierung, alle Rebellengruppen in das Verteidigungsministerium zu integrieren. Zwischen Januar und Februar 2025 bemühten sich die Interimsministerien für Verteidigung und Inneres, alle bewaffneten Gruppen in einer einzigen Militär- und Polizeitruppe zu vereinen. Das Verteidigungsministerium berichtete, dass über 70 Gruppierungen aus sechs Regionen der Integration zugestimmt hätten, und es wurde ein Oberster Ausschuss eingerichtet, der den Einsatz militärischer Mittel, einschließlich Personal, Stützpunkte und Waffen, steuern sollte.
[…]
4.5.5. Vertreibung und Rückkehr (S.89-91)
Die Zahl der Personen, die seit dem 27. November 2024 durch Konflikte neu vertrieben wurden, verzeichnete eine anfängliche große Welle, die am 12. Dezember mit 1,1 Millionen Menschen ihren Höhepunkt erreichte. Diese anfänglichen Vertreibungen, die von der Angst vor dem eskalierenden bewaffneten Konflikt getrieben wurden, wurden hauptsächlich in Hama und Aleppo, einschließlich der Stadt Aleppo, im Westen Aleppos und insbesondere in Tall Rifaat und Manbij, nach der Übernahme der beiden Städte durch von der Türkei unterstützte bewaffnete Fraktionen verzeichnet.
UN-Quellen schätzten anschließend die Zahl der seit Ende November 2024 neu vertriebenen Flüchtlinge, die am 18. Dezember 2024 auf 859.460, am 10. Januar 2025 auf rund 627.000 und am 5. Februar 2025 auf 650.000 zurückblieben. Anfang 2025 stellte das UNOCHA zusätzliche Wellen von konfliktbedingten Vertreibungen aus dem Gebiet von Manbij fest, mit bis zu 15.000 Vertreibungen Mitte Januar 2025, gefolgt von mehr als 25.000 Vertreibungen im selben Monat. Quellen schätzten die Zahl der Menschen, die Anfang Dezember 2024 vor der SNA-Offensive in Nordsyrien geflohen waren, auf 100.000 bis 120.000.
Nach dem Sturz Assads zogen zurückkehrende Binnenvertriebene in Gebiete, die zuvor von der ehemaligen Regierung kontrolliert wurden, darunter Aleppo, Hama, Homs und Damaskus. UN-Quellen schätzen, dass die Zahl der neu vertriebenen Menschen, die in ihre Heimatbasen zurückkehren, bis zum 10. Januar 2025 auf mehr als 522.000 gestiegen ist. Gleichzeitig blieben die Rückführungsbewegungen aus Binnenvertriebenenlagern „stabil, aber minimal“, wobei der Cluster „Camp Coordination and Camp Management“ (CCCM) Ende Januar 2025 angab, dass seit dem 3. Dezember 2024 rund 57 000 Menschen aus den Lagern abgereist seien. Diese Rückkehrer bestanden hauptsächlich aus einzelnen Familien oder Männern, die zurückkehrten, um sich mit ihren Familien zu vereinigen oder den Zustand ihrer Häuser zu beurteilen.
Schätzungen des UNHCR zufolge waren bis zum 26. Februar 2025 schätzungsweise 885.294 Binnenvertriebene zurückgekehrt, während etwa 7,4 Millionen Binnenvertriebene blieben. Die Gouvernements mit dem größten Anteil an Binnenvertriebenen waren Aleppo mit 425.705 Binnenvertriebenen, gefolgt von Hama mit 155.561 und Idlib mit 116.053 Binnenvertriebenen.
Wie das UNOCHA feststellte, betrafen die gemeldeten Bedenken, die die Rückkehrentscheidungen von Binnenvertriebenen beeinflussten, die Zerstörung von Eigentum, unzureichende Infrastruktur, Unsicherheit sowie den Zugang zu Zivildokumenten und Justizdiensten, einschließlich Dokumenten zu Wohn-, Grundstücks-und Eigentumsrechten (nicht alle Zivilregister und Gerichte waren Ende Januar 2025 in Betrieb). Ein weiteres kritisches Problem, das aufgeworfen wurde, war die Kontamination mit nicht explodierten Kriegsresten.
4.5.6. Rückkehr aus dem Ausland (S.91-92)
Nach Schätzungen des UNHCR kehrten zwischen dem 8. Dezember 2024 und Ende Februar 2025 etwa 297.292 Syrer aus dem Ausland nach Syrien zurück. Von diesen Flüchtlingen kehrten 53 % aus dem Libanon, 25 % aus der Türkei und 14 % aus Jordanien zurück. Bei der freiwilligen Rückkehr aus der Türkei, die sich nach Angaben der türkischen Regierung zum 30. Dezember 2024 auf 35.114 belief, handelte es sich hauptsächlich um Syrer, die allein zurückkehrten, einschließlich Personen, die vor der Wiedervereinigung mit ihren Familien die Lage in Syrien beurteilen wollten.
Nach Angaben des UNHCR waren von Anfang 2024 bis Ende Februar 2025 die Gouvernements, in welche Rückkehrer hauptsächlich heimkehrten Aleppo (mit schätzungsweise 143.680 Rückkehrern) und Raqqa (112.951 Rückkehrern), gefolgt von Dar’a (72.007), Homs (69.624), Rural Damascus (62.738) und Idlib (46.273).
Es ist nicht klar, ob jede Rückkehr dauerhaft ist. Laut einem Bericht von Refugees International kehren viele Syrer zurück, um ihre Grundstücke zu begutachten, die Sicherheit und die wirtschaftlichen Bedingungen nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes zu bewerten oder sich mit ihrer Familie wieder zu vereinigen. Für andere ist die Rückkehr eher eine Notwendigkeit als eine Wahl, da die sich verschlechternden Bedingungen in den Aufnahmeländern – gekennzeichnet durch wirtschaftliche Not, steigende Lebenshaltungskosten und begrenzte Möglichkeiten – das Leben zunehmend untragbar gemacht haben.
[…]"
2. Beweiswürdigung:
Beweis erhoben wurde durch Einsicht in den vorgelegten Behördenakt und Einvernahme des Beschwerdeführers.
Die Feststellungen zur Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers im gegenständlichen Asylfolgeverfahren vor der belangten Behörde und dem BVwG.
Die Feststellung zum Nichtbestehen von Konflikten zwischen den aktuellen Hauptakteuren in Syrien, nämlich HTS, Al Nusra Front und Kurden, ergibt sich aus der Aussage des Beschwerdeführers vor Gericht (Protokoll S. 5: "Sie haben nichts gegen mich.").
Bei den herangezogenen Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der im vorliegenden Fall relevanten Situation in Syrien ergeben.
Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Syrien zugrunde gelegt werden konnten. Sie erweisen sich für das Vorbringen des Beschwerdeführers auch als hinreichend aktuell.
Zu A) Abweisung der Beschwerde
1. Relevante Rechtsprechung
Umgelegt auf den konkreten Fall ist zu betonen, dass der Beschwerdeführer niemals in irgendeiner Weise politisch aktiv war und niemals irgendwelche „Berührungspunkte“ mit dem syrischen Regime hatte. Insofern kann – ungeachtet der aus dem Berichtsmaterial zweifellos mehr oder weniger stark hervorgehenden Ächtung der Wehrdienstverweigerung – nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass das syrische Regime gerade dem Beschwerdeführer unterstellen würde, er habe den Wehrdienst aus einer politischen oder oppositionellen Gesinnung heraus verweigert. Eine solche Schlussfolgerung zieht der VwGH im Übrigen aus dem hier vorliegenden Berichtsmaterial explizit: „Zudem ergibt sich aus den Feststellungen - entgegen den Behauptungen des Revisionswerbers - gerade kein Automatismus, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde. Danach wird Wehrdienstverweigerung nämlich, auch wenn Wehrdienstverweigerer zuweilen „inoffiziell als Verräter gesehen werden“, „da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt ‚ihr Land zu verteidigen‘, ... nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann.“ (VwGH 08.11.2023, Ra 2023/20/0520, Rz 11)
Ergibt die Prüfung des im Folgeantrag erstatteten Vorbringens, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, ist die Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache im Hinblick auf die im österreichischen Recht nicht korrekt erfolgte Umsetzung von Unionsrecht nicht statthaft. Dies gilt im Besonderen auch dann, wenn das Vorbringen schon in einem früheren Verfahren hätte erstattet werden können und den Antragsteller ein Verschulden daran trifft, den fraglichen Sachverhalt nicht schon im früheren Verfahren geltend gemacht zu haben. Einer Berücksichtigung dieser Umstände steht nämlich entgegen, dass nach dem Urteilsspruch des EuGH zu C-18/20 (Spruchpunkt 3.) Art. 40 Abs. 4 Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden.
Das BVwG hat sich in einem Fall für die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache darauf gestützt, dass der Revisionswerber mit seinem Vorbringen zu einer drohenden Verfolgung im Herkunftsstaat wegen seiner Homosexualität einen Sachverhalt geltend gemacht habe, der bereits vor Abschluss des ersten Asylverfahrens vorgelegen sei. Erkennbar hat das BVwG dabei dem Revisionswerber auch den Vorwurf gemacht, dass es ihm schuldhaft zuzurechnen sei, dass er das nunmehr ins Treffen geführte Vorbringen nicht schon früher erstattet hatte. Der Sache nach vertritt das BVwG - durchaus im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung, die aber (soweit sie asylrechtliche Folgeanträge betrifft) im Hinblick auf die zu beachtenden maßgeblichen Vorschriften der Verfahrensrichtlinie nicht in ihrem gesamten Umfang aufrechterhalten werden kann - die Auffassung, er müsste diesen Sachverhalt mit einem Antrag auf Wiederaufnahme geltend machen. Der Verweigerung der Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz mit einer solchen Begründung stehen die unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 40 Verfahrensrichtlinie entgegen. Diesen kann am Boden der geltenden Rechtslage nur so nachgekommen werden, dass hinkünftig von einer solchen Begründung für die Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache - und damit in diesem Umfang auch von einer Anwendung des § 68 Abs. 1 AVG - Abstand zu nehmen ist (VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006).
2. In der Sache
Verfahrensgegenständlich ist die Frage, ob dem neuen Vorbringen des Beschwerdeführers ein glaubhafter Kern zu entnehmen ist, der eine Verfolgungswahrscheinlichkeit zumindest möglich erscheinen lässt. Nach der obzitierten Judikatur des VwGH hat die Frage der nova producta bzw. nova reperta außer Acht zu bleiben.
2.1. Einberufung zum syrischen Militär
Bereits vor dem Umsturz in Syrien entsprach es der ständigen (s. Punkt 1. oben) Judikatur des VwGH, dass die Verweigerung des bzw. Entziehung vom Wehrdienst nicht automatisch mit der Unterstellung einer politischen Gesinnung verbunden war. Aus den aktuellen Länderberichten ergibt sich nicht, dass diese Judikatur nicht mehr anwendbar wäre. Es ergibt sich somit für den Beschwerdeführer, der keine Probleme mit den aktuellen Hauptakteuren in Syrien hat, im Zusammenhang mit der Wehrpflicht in Syrien kein Konnex zu den Konventionsgründen der GFK.
2. Familie des Beschwerdeführers
Aus der allgemeinen Sicherheitslage der Familie des Beschwerdeführers, die nicht im österreichischen Asylverfahren verhaftet ist und sich in einem Drittstaat befindet, ergibt sich jedenfalls für den Beschwerdeführer kein Konnex zu Konventionsgründen der GFK.
3. Inhaftierung der Frau des Beschwerdeführers in Syrien
Aus diesem Vorbringen ergeben sich für den Beschwerdeführer nach Ansicht des Gerichts keine Anhaltspunkte für einen Konnex zu Konventionsgründen der GFK. Dass er selbst aufgrund der Inhaftierung seiner Frau von den syrischen Behörden (auch nach dem Umsturz des vergangenen Jahres) gesucht würde, hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht.
4. Tötung des Vaters durch das syrische Militär
Dieses Vorbringen greift primär die prekäre Sicherheitslage in Syrien während des Bürgerkrieges auf, ein Konnex zu Konventionsgründen der GFK ist nicht ersichtlich. Dass aus der Tötung des Vaters für den Beschwerdeführer eine Gefahr der Tötung, beispielsweise aufgrund Sippenhaftung oder unterstellter politischer Überzeugung, bestehe, wurde nicht vorgebracht. Vielmehr hat der Beschwerdeführer vor Gericht vorgebracht, dass keine Probleme mit den Gruppierungen HTS, Al Nusra Front und Kurden bestehen.
5. Sicherheitslage Syrien, Al Nusra Front, HTS und Kurden
Durch die Gewährung von subsidiärem Schutz ist der Beschwerdeführer vor Eingriffen in seine Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK effektiv geschützt. Ein Konnex zu den Konventionsgründen der ERMK durch die allgemeine Sicherheitslage in Syrien bzw. die politische Ausrichtung der genannten Akteure wurde weder vorgebracht noch ist ein solcher sonst hervorgekommen.
6. Conclusio
Dem Beschwerdeführer ist es nicht gelungen, durch das neue Vorbringen die Möglichkeit einer asylrelevanten Verfolgung darzutun. Der Zurückweisung des Asylfolgeantrags durch die belangte Behörde war somit nicht entgegenzutreten.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.