Spruch
W127 2258332-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Dr. FISCHER SZILAGYI über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Kapferer, Dr. Lechner und Dr. Dellasega, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.07.2022, Zl. 1273687410/211430062, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich Zuerkennung des Status von Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.); der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG 2005 zuerkannt (Spruchpunkt II.) und es wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
2. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.
3. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 16.08.2022 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
4. In einer Stellungnahme vom 10.11.2022 wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer seit einem Autounfall geistig eingeschränkt und zu 60 % behindert sei. Zum Nachweis wurden der österreichische Behindertenpass, ein neurologischer Kurzbefund vom 09.08.2022 und Fotos von Medikamentenpackungen vorgelegt.
5. Am 16.11.2022 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt.
6. Mit Beschluss vom 25.01.2023 setzte das Bundesverwaltungsgericht das Beschwerdeverfahren bis zu Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes vom 14.09.2022, Zln. EU 2022/0016-1 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017-1 (Ra 2022/20/0028) vorgelegten Fragen aus.
7. Am 11.03.2025 wurde ein Bericht über einen Kontrolltermin bei der Universitätsklinik für Neurologie vom 21.02.2025 übermittelt.
8. Am 12.03.2025 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. In dieser legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an weiteren medizinischen Befunden sowie einen aktuellen österreichischen Behindertenausweis vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und den Fluchtgründen:
Der bereits bei der Einreise nach Österreich volljährige männliche Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, ist im Iran geboren und aufgewachsen. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie der Religionsgruppe der Schiiten.
Er reiste am 18.09.2021 legal mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern im Wege der Familienzusammenführung (Vater) mittels österreichischem Visum in das österreichische Bundesgebiet ein.
Dem Vater, XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.12.2016, Zahl 1050804501/150101535, der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
Der Mutter, XXXX und den Geschwistern wurde jeweils mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.02.2025 der Status von Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005, zum Teil in Verbindung mit § 34 AsylG 2005, erteilt.
Der Beschwerdeführer leidet seit Geburt an einer Hirnfehlbildung und erlitt 2008 zusätzlich aufgrund eines Unfalles ein Schädelhirntrauma – zur genauen Diagnose, insbesondere auch der Epilepsie, siehe Bericht der Universitätsklinik zuletzt vom 27.02.2025. Er ist physisch und psychisch eingeschränkt und weist sichtbare Anzeichen einer Behinderung, insbesonbdere betreffend den Bewegungsapparat, das Sehvermögen und das Sprechvermögen auf.
Der Beschwerdeführer lebt im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern und wird von diesen versorgt. Er besucht regelmäßig eine Betreuungseinrichtung.
Der Beschwerdeführer hat sich bisher nie in Afghanistan aufgehalten und kennt keine Verwandten in Afghanistan.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer würde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, wegen seiner äußerlich erkennbaren psychischen Beeinträchtigung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan im gesamten Staatsgebiet physischen und/oder psychischen Eingriffen von erheblicher Intensität ausgesetzt zu sein.
1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat
Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan, Version 12, vom 31.01.2025:
„[…]
Taliban
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023a; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).
Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. PJIA/Rehman 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, PJIA/Rehman 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).
Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).
[...]
Folter und unmenschliche Behandlung
Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.6.2023, vgl. HRW 11.1.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.8.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.6.2023 vgl. HRW 11.1.2024, AI 7.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 8.6.2023).
Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 1.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), Kandahar (KaN 17.1.2023; vgl. KP 17.1.2023) und Helmand (KP 2.2.2023; vgl. KaN 2.2.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).
[...]
Allgemeine Menschenrechtslage
Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).
Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).
Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023a, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).
Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022, AI 15.8.2022).
Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).
[...]
Relevante Bevölkerungsgruppen
Personen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen
Menschen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen gehören zu den durch die Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen Personengruppen in Afghanistan (HRW 12.2.2024; vgl. HC 18.3.2024). Aufgrund des jahrzehntelangen Konflikts und der schlechten Gesundheitsversorgung von Müttern gibt es in Afghanistan eine der größten Populationen von Menschen mit Behinderungen in der Welt (HRW 12.2.2024). Nach Angaben von Health Cluster leidet jeder zweite Afghane unter psychischen Problemen und jeder fünfte ist aufgrund seiner psychischen Gesundheit beeinträchtigt (HC 18.3.2024; vgl. Oniya/Alekozai 2022). Der Mangel an Hilfsgeldern hat dazu geführt, dass einige Einrichtungen, die Dienstleistungen für beeinträchtigte Menschen angeboten haben, nicht mehr tätig sind. Finanzielle Leistungen für Mitglieder der Streitkräfte der ehemaligen Regierung, die im Krieg eine Behinderung erlitten haben, bleiben unter den Taliban aus. Auch die durch die Taliban eingeführten Einschränkungen für Frauen, die entweder selbst behindert sind oder mit Behinderten Menschen arbeiten, wirken sich auf den Zugang zur Versorgung dieser Gruppe negativ aus (HRW 12.2.2024). Ein Mitarbeiter einer NGO, die mit Menschen mit Beeinträchtigungen in Afghanistan arbeitet, führt neben finanziellen Problemen auch bürokratische Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den Talibanbehörden an. Viele Mitarbeiter hätten das Land verlassen und Mitarbeiterinnen können nur online arbeiten (NGO AFGH 3.2.2023).
Generell mangelt es in Afghanistan an Bewusstsein für psychische Erkrankungen und deren Behandlung, und die Betroffenen und ihre Familien sind einer starken Stigmatisierung ausgesetzt (IOM 12.1.2023; vgl. ICRC 3.12.2022). Menschen mit Behinderungen erhalten nur eingeschränkte Dienstleistungen und es fehlt ein gesetzlicher oder institutioneller Rahmen zur Gewährleistung ihrer Grundrechte (HRW 17.10.2022). Eine im Exil arbeitende Gründerin einer Organisation, die sich für die Rechte von beeinträchtigten Personen einsetzt, befürchtet, dass diese durch die Rückkehr der Taliban verstärkt diskriminiert werden (HRW 8.9.2022). Aufgrund der weitverbreiteten Kontamination durch Kampfmittel sowie durch Verkehrsunfälle sind die Verletzungsfälle weiterhin zahlreich. Zwischen Januar und September 2022 wurden 169.293 Verletzungen behandelt (UNOCHA 1.2023).
Nach Angaben von IOM bieten einige Krankenhäuser und NGOs Dienstleistungen für Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen an. Darunter die International Psychosocial Organisation (IPSO), Action Contre la Faim (ACF), INTERSOS, Premiere Urgence Internationale (PUI), HealthNet TPO und die International Medical Corps (IMC). Darüber hinaus bietet ICRC und Handicap International Hilfe für Menschen mit Behinderungen an (IOM 22.2.2024). Die Accessibility Organization for Afghan Disabled (AOAD) ist laut ihres Facebook-Accounts ebenso weiterhin in Afghanistan aktiv (AOAD/FB 1.2.2023). Die WHO hat ihre Unterstützung für die psychosoziale Versorgung des Landes ausgeweitet, um den Zugang zu den von der Notlage betroffenen Menschen in Afghanistan zu verbessern. Im Dezember 2022 begann die WHO mit der Unterstützung des nationalen Krankenhauses für psychische Gesundheit in Kabul mit 100 Betten, der einzigen Einrichtung im Land, die eine tertiäre psychiatrische Versorgung anbietet. In Khost hat die WHO vier MHPSS-Teams eingesetzt, um den vom Erdbeben am 22.5.2022 betroffenen Menschen psychosoziale Beratungsdienste anzubieten (WHO 16.1.2023).
[...]
Medizinische Versorgung
Die drastische Kürzung der finanziellen und technischen Entwicklungshilfe für das öffentliche Gesundheitssystem Afghanistans seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat das Gesundheitssystem des Landes schwer geschädigt (HRW 12.2.2024; vgl. MaA 29.6.2023). Der daraus resultierende Mangel an ausreichenden Gesundheitsdiensten betrifft Millionen von Afghanen und macht die Bevölkerung anfällig für Krankheiten und andere Folgen unzureichender medizinischer Versorgung (HRW 12.2.2024; vgl. MSF 18.12.2023).
Hilfsorganisationen haben versucht, den Wegfall internationaler Mittel für das öffentliche Gesundheitswesen auszugleichen, und haben mit dem Rückgang der Mittel für humanitäre Hilfe nach 2022 ihren Schwerpunkt auf unmittelbare Hilfsmaßnahmen verlagert. Durch die vorübergehende Unterstützung der öffentlichen Krankenhäuser unmittelbar nach August 2021 konnte ein völliger Zusammenbruch verhindert werden. Dennoch mussten aufgrund fehlender Mittel Kliniken schließen und lokale Hilfsgruppen berichten von Engpässen bei Medikamenten und Ausrüstung (HRW 12.2.2024). Auch eine Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan berichtet davon, dass der Zugang zu Medikamenten sehr begrenzt ist. Während Antibiotika, Schmerzmittel und allgemeine Gesundheitsmedikamente noch eingeführt werden, sind spezifische Medikamente, z. B. jene zur Behandlung von Krebs, in Afghanistan nicht erhältlich. Menschen können auch nicht mehr so einfach wie früher in die Nachbarländer reisen, um sich behandeln zu lassen und Medikamente zu kaufen (MaA 29.6.2023).
In den öffentlichen Krankenhäusern, die unter direkter Aufsicht der afghanischen Regierung stehen, sind seit dem Regimewechsel sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Zahl der Mitarbeiter erheblich zurückgegangen (IOM 12.1.2023). Die Kapazität des Gesundheitspersonals im öffentlichen Sektor ist gering (HC 31.12.2022; vgl. UNOCHA 1.2023), auch aufgrund der Einschränkungen von Frauen im Hinblick auf Beschäftigung und Bewegungsfreiheit (HRW 12.2.2024; vgl. MaA 29.6.2023). Ebenso konzentrieren sich die am besten qualifizierten Gesundheitsfachkräfte in den Städten und den gut ausgestatteten Provinzen. Gleichzeitig können Bevölkerungsverschiebungen und die Abwanderung in städtische Zentren die bestehenden Gesundheitsdienste in städtischen Gebieten überlasten. Obwohl es in den städtischen Zentren zahlreiche Gesundheitseinrichtungen gibt, gab die städtische Bevölkerung häufig an, dass Medikamente oder Behandlungen für sie zu teuer seien (UNOCHA 1.2023). Eine Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan weißt in diesem Zusammenhang auf den generellen Mangel an (vor allem weiblichen) Ärzten hin. Viele seien auch unterqualifiziert bzw. praktizieren, ohne ihre Ausbildung abgeschlossen zu haben (MaA 29.6.2023).
Durch die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Afghanen sind diese nicht mehr in der Lage, ihre medizinischen Ausgaben zu bestreiten (HRW 12.2.2024) oder sich und ihre Familien ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Viele Afghanen leiden daher an Unterernährung (HRW 12.2.2024; vgl. WFP 7.2.2024), von welcher nach Einschätzung von Human Rights Watch auch Millionen von Kindern betroffen sind (HRW 12.2.2024). UNICEF schätzte die Zahl der von akuter Unterernährung betroffenen Kinder für das Jahr 2023 auf rund 2,3 Millionen (UNICEF 7.8.2023).
In Afghanistan gibt es Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie beispielsweise Masern, akute Atemwegsinfektionen (ARI) oder akute wässrige Diarrhöe (AWD) (WHO 18.3.2024). Infektionskrankheiten wie AWD und Cholera sind die Folge von und ein Katalysator für schlechte humanitäre Bedingungen, einschließlich schlechter sanitärer Einrichtungen, Wasserqualität und -menge, Unterernährung, geringeren Schulbesuchs, schlechten Gesundheitszustands und geringeren Einkommens. Besonders betroffen sind Kinder in ländlichen Haushalten, was teilweise auf Unterschiede in der sanitären Infrastruktur zurückgeführt werden kann (UNOCHA 1.2023). So wurden im Jahr 2023 beispielsweise 25.856 Fälle von Masern und 6,8 Millionen Fälle von AWD berichtet (UNICEF 2024).
[...]“
Auszug aus der EUAA Country-Guidance Afghanistan, Stand Mai 2024:
„Persons living with disabilities and persons with severe medical issues
Under the former government, most healthcare was provided by NGOs due to the lack of government funds. A very expensive healthcare private sector was also in place. Conflictrelated security incidents however caused the destructions and closures of healthcare facilities in several provinces, as well as incidents of violence against medical personnel.
Mental healthcare facilities were also often under-equipped and qualitative mental healthcare was scarce [KSEI 2020, 2.6., pp. 46-48; 2.6.2., pp. 49-52; 2.6.3., pp. 55-56]. After the Taliban takeover the already weak public health system was heavily impacted by the suspension in aid flows. The Director-General of World Health Organisation (WHO) described the Afghan health system as ‘on the brink of collapse’ and pointed out the cuts in donor support leading to reduced operations and health facilities shutting down. WHO warned that the lack of funding of the humanitarian assistance programme in 2023 will leave 8 million people without essential health assistance, 450 000 with little to no trauma care services, and 1.6 million people with mental health issues without access to consultations and psychosocial support [Country Focus 2023, 3.5., pp. 53-55; Country Focus 2022, 1.2.1., p. 21].
In Afghanistan, people with mental and physical disabilities are often stigmatised. Their condition is at times considered to have been ‘related to God’s will’. Mistreatment of those people by society and/or by their families has occurred. Women, displaced persons and returned migrants with mental health issues are particularly vulnerable. There is also lack of appropriate infrastructure and specialist care that covers the needs of people with disabilities. The existing structures were largely concentrated in a few urban centres [KSEI 2020, 2.6.6., p. 59].
Conclusions and guidance
The lack of personnel and adequate infrastructure to appropriately address the needs of individuals with (severe) medical issues fails to meet the requirement of Article 6 QD regarding the existence of an actor that inflicts persecution or serious harm, unless the individual is intentionally deprived of healthcare.
The actor requirement may be satisfied in specific cases of denial of healthcare, such as in the case of women denied access to healthcare due to not being accompanied by a mahram, not wearing a hijab, or not being allowed to be seen by a male healthcare professional.
For persons living with mental and physical disabilities, the individual assessment whether discrimination and mistreatment by society and/or by the family could amount to persecution should take into account the severity and/or repetitiveness of the acts or whether they occur as an accumulation of various measures
[...]“
Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation psychisch Erkrankter, insbesondere nach der Machtübernahme durch die Taliban (a-11815) vom 11.02.2022:
„Im Rahmen eines Zoom-Interviews am 2. Februar 2022 teilte Dr. Aria Wais, afghanischer Experte für psychische Gesundheit und Gründer einer afghanischen NGO für psychosoziale Gesundheit, mit, dass seines Wissens, für Menschen mit psychischen Erkrankungen kein erhöhtes Risiko bestehe, aufgrund ihrer Krankheit von den Taliban verfolgt zu werden. Die Taliban würden sich nicht wirklich um das Thema der psychischen Gesundheit kümmern, weil sie „nicht wirklich daran glauben“ würden. Sie seien nicht ausdrücklich gegen diese Form der Gesundheitsversorgung, aber sie würden sie auch nicht unterstützen. Konkret hänge das Risiko einer Verfolgung aber immer vom Hintergrund der jeweiligen Person ab. Als Beispiel nannte Dr. Aria Wais Menschen, die einen LGBTIQ-Hintergrund haben und unter psychischen Problemen leiden. Diese hätten beispielsweise durchaus berechtigten Grund, sich vor Repressionen durch die Taliban zu fürchten. Auch der Umgang der Taliban mit Menschen, die drogen- oder alkoholabhängig sind, sei anders: Diese Menschen würden sehr hart behandelt, sie würden geschlagen und inhaftiert (Dr. Wais Aria, 2. Februar 2022).
Amnesty International (AI) veröffentlichte im Dezember 2021 einen Bericht zu den während der Eroberung Afghanistans durch die Taliban verübten Verbrechen und zivilen Opfern. Darin heißt es, dass die AI zur Verfügung stehenden Unterlagen darauf hindeuten würden, dass Menschen mit Behinderungen und insbesondere manche Menschen mit psychosozialen Erkrankungen bei Angriffen der Taliban 2021 einem erhöhten Risiko ausgesetzt gewesen seien. AI räumte allerdings ein, dass hierzu weitere Untersuchungen erforderlich seien. Als Beispiele damit in Zusammenhang stehender Vorfälle nannte AI die Hinrichtung zweier Männer mit schweren psychischen Erkrankungen beim Überfall auf das Dorf Mundarakht im Distrikt Malistan durch die Taliban (AI, Dezember 2021, S. 6). Einer der Männer habe an einer schweren Depression gelitten, sei alleine aus dem Dorf geflohen und von den Taliban durch einen Kopfschuss getötet worden. Der andere Dorfbewohner soll an einer nicht diagnostizierten psychischen Erkrankung, eventuell Schizophrenie, gelitten haben. Er sei nicht mit den anderen Dorfbewohner·innen geflohen und ebenso durch einen Kopfschuss getötet worden. Ein Augenzeuge habe angegeben, dass die Bewohner·innen die Taliban gefragt hätten, warum sie den Mann getötete hätten. Diese hätten geantwortet, dass in Konflikten alle sterben würden, egal ob sie bewaffnet seien oder nicht. AI wies zudem darauf hin, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen in bewaffneten Konflikten von Menschenrechtsverletzungen besonders bedroht seien. Sie seien oftmals weniger willens oder weniger leicht in der Lage zu fliehen und würden häufig mit sozialer Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert, was die Wahrscheinlichkeit erhöhe, zur Zielscheibe zu werden (AI, Dezember 2021, S. 16).
Weitere aktuelle Informationen speziell zum Umgang der Taliban mit psychisch Erkrankten konnten nicht gefunden werden. Die folgenden Informationen konzentrieren sich auf die generelle Lage sowie die medizinische Versorgung von psychisch Erkrankten in Afghanistan seit der Machtergreifung der Taliban im August 2021. Am Ende der Anfragebeantwortungen finden sich weiterführende Informationen zum Umgang der Taliban mit drogenabhängigen Personen.
Im Jänner 2022 wies UN OCHA darauf hin, dass mit dem Ende der unmittelbaren gewalttätigen Konflikte in Afghanistan im August 2021 der Mangel an Nahrung und Wasser Hauptgrund für den Bedarf humanitärer Hilfe sei. Diese Faktoren würden sich auf das physische und psychische Wohlergehen der Bevölkerung auswirken und Millionen von Menschen in eine Krise stürzen (UN OCHA, Jänner 2022, S. 36). Eine Vielzahl an Quellen aus Wissenschaft, Medien sowie dem NGO-Bereich verwiesen auf eine besonders hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen innerhalb der afghanischen Bevölkerung (Kovess-Masfety et al., 22. Juni 2021; Saleem et al., November 2021; Latifi, 6. September 2021; Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Im von jahrzehntelangem Krieg, politischer Gewalt, Instabilität und Armut gezeichneten Afghanistan sei jeder Haushalt mit psychischen Problemen konfrontiert (Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Die Bevölkerung Afghanistans sei in erheblichem Maße traumatischen Ereignissen ausgesetzt gewesen (Kovess-Masfety et al., 22. Juni 2021; Healthnet TPO, 6. Oktober 2021), die von erlebter Gewalt, Verletzungen, Todesfällen in der Familie bis hin zu Vertreibung reichen würden (Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Laut einer im November 2021 veröffentlichten Studie würde mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung unter Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen leiden (Saleem et al., November 2021).
Auch Dr. Wais Aria erklärte während des bereits erwähnten Zoom-Interviews, dass die psychische Gesundheitsversorgung bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 eine der größten Herausforderungen in Afghanistan dargestellt habe. Der Bedarf an psycho-sozialer Unterstützung sei sehr hoch, derartige Dienste aber nur sehr begrenzt verfügbar gewesen. Die meisten der verfügbaren Dienste seien von humanitären Organisationen bereitgestellt und von internationalen Gebern finanziert worden. Die afghanische Regierung habe demgegenüber nur über sehr begrenzte Kapazitäten und Budgetmittel im Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung verfügt. Personen mit chronischen psychischen Problemen seien in der Regel von den Behörden an von humanitären Organisationen betriebene Einrichtungen verwiesen worden. Durch die Machtübernahme der Taliban sei die Prävalenz psychischer Probleme noch weiter gestiegen. Die Menschen würden sich nicht sicher fühlen und darüber hinaus sehr unter der Wirtschaftskrise leiden. Familien seien teilweise zu negativen Bewältigungsstrategien gezwungen, um ihr Überleben sichern zu können. Dies würde wiederum die psychische Belastung der Bevölkerung enorm erhöhen. Gleichzeitig hätten die meisten großen Geberländer ihre Unterstützung eingestellt und viele Organisationen, die psychosoziale Hilfe geleistet hätten, seien nicht mehr in Afghanistan tätig. Diejenigen Dienste, die nach wie vor in Afghanistan tätig seien, könnten nur eingeschränkt agieren. Viele Menschen hätten Angst, derartige Dienste oder Kliniken aufzusuchen. Frauen sei es derzeit nicht einmal gestattet, Einrichtungen allein aufzusuchen. Außerdem fehle vielen das Geld, um die Arztkosten bezahlen zu können (Dr. Wais Aria, 2. Februar 2022).
Mit der neuerlichen Machtübernahme der Taliban im August 2021 habe sich die Situation in Bezug auf die psychische Gesundheit der afghanischen Bevölkerung noch weiter verschärft (BBC News, 20. September 2021; Business Insider, 3. Oktober 2021; Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Ein Forschungsartikel, der im November 2021 im renommierten Fachjournal Nature Medicine veröffentlicht wurde, konstatierte, dass der Zusammenbruch der Regierung Ghanis und der Vormarsch der Taliban zu einer Katastrophe im Bereich der öffentlichen Gesundheit geführt habe (Jain et al., 8. November 2021). Gegenüber der afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News (PAN) habe Dr. Azizuddin Himmat, ein Spezialist für psychische Gesundheit und Vorsitzender der afghanischen Psychologenvereinigung, Ende September 2021 erklärt, dass die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen höher sei als vom afghanischen Gesundheitsministerium angegeben. Im Hinblick auf den Machtwechsel in Afghanistan und die in verschiedenen Lebensbereichen auftretenden Probleme habe Himmat darauf hingewiesen, dass diese Faktoren der Bevölkerung psychisch stark zusetzen würden und habe davor gewarnt, dass sich die Anzahl der Menschen, die eine Behandlung aufgrund psychischer Probleme benötigen verdoppeln werde, wenn diesen Faktoren nicht entgegengewirkt werde (PAN, 30. September 2021). Dr. Wais Aria habe gegenüber der US-Nachrichtenseite Business Insider darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme, darunter die kollabierende Wirtschaft, katastrophale soziale Veränderungen und die drohende Gewalt, die ohnehin unterfinanzierte Infrastruktur für psychische Gesundheit in Afghanistan belaste (Business Insider, 3. Oktober 2021). BBC News verwies in einem Artikel auf einen Arzt im Westen Herats, der angab, dass es seit der Machtübernahme der Taliban zu einem drastischen Anstieg an psychischen Erkrankungen gekommen sei. Der von BBC News zitierte Arzt habe zudem angegeben, dass man es mit extrem hilfsbedürftigen Menschen und gleichzeitig mit äußerst begrenzten Ressourcen zu tun habe (BBC News, 20. September 2021). Das afghanische Gesundheitssystem, das bereits mit COVID-19, akuter Ernährungsunsicherheit und schwerer Dürre zu kämpfen gehabt habe, stehe nun vor neuen Herausforderungen, zumal die Offensive der Taliban mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben habe und viele Mitarbeiter·innen des Gesundheitswesens fliehen hätten müssen (Jain et al., 8. November 2021). Auch die aktuell so dringend benötigten Psycholog·innen würden das Land verlassen (Business Insider, 3. Oktober 2021).
Aufgrund der wirtschaftlichen Instabilität des Landes mangle es zudem an Medikamenten und medizinischem Material. Medizinisches Personal habe teils seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (Jain et al., 8. November 2021; Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Der Wegfall der Finanzierung durch internationale Geber habe das von der internationalen Gemeinschaft abhängige Gesundheitssystem zum Zusammenbruch gebracht (Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Im Jänner 2022 berichtete HRW, dass der Zusammenbruch des Gesundheitswesens für viele Afghan·innen den Verlust des Großteils der physischen und psychischen Gesundheitsversorgung bedeutet habe (HRW, 13. Jänner 2022). Auch die niederländische Organisation für Entwicklungszusammenarbeit Healthnet TPO erklärte im Oktober 2021, dass die aktuelle Lage den Zugang zu psychosozialen Diensten noch weiter erschwert habe. Wenn die medizinische Grundversorgung bedroht sei, bedeute dies oft, dass die psychiatrischen Dienste als erstes gestrichen würden (Healthnet TPO, 6. Oktober 2021).
Der Bedarf für psychosoziale Unterstützung sei aktuell sehr hoch, doch die Angebote stark begrenzt, so Dr. Wais Aria. Expert·innen zufolge sei die psychische Gesundheitsversorgung Afghanistans nicht in der Lage der Vielzahl an Erkrankten zu helfen. Der ehemalige afghanische Gesundheitsminister habe zudem erklärt, dass dem Land eine Selbstmordwelle drohe. Andere Quellen hätten beschrieben, dass verzweifelte Afghan·innen teilweise versuchen würden sich mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln selbst zu therapieren. Laut Dr. Wais Aria würden viele Therapeut·innen und Ärzt·innen das Land verlassen, weil sie sich nicht sicher fühlen würden. Aria selbst sei Ende August aus Afghanistan in die USA geflohen, weil er befürchtet habe, durch seine Zusammenarbeit mit NGOs als Psychiater ins Visier der Taliban zu geraten (Business Insider, 3. Oktober 2021). In Bezug auf die von ihm gegründete humanitäre Organisation TABISH, die in Kabul, Jalalabad, Masar-e Scharif und Kandahar psycho-soziale Unterstützung angeboten habe, habe Aria erklärt, dass er nicht glaube, dass TABISH unter den Taliban überleben werde (Verywellmind, 14. September 2021). Dr. Judy Kuriansky, die Vertreterin der International Association of Applied Psychology bei den Vereinten Nationen, habe angegeben, dass sie Psychiater·innen bei der Flucht aus Afghanistan unterstütze, da deren Leben in Gefahr sei (Business Insider, 3. Oktober 2021). Der britische Guardian berichtet im November 2021, dass Dr. Nader Alemi, einer der prominentesten Psychiater Afghanistans, im September 2021 entführt und im November 2021 tot aufgefunden worden sei. Alemi war eine bekannte Persönlichkeit in Masar-e Scharif, wo er ein Krankenhaus betrieben habe. Er habe als der einzige Paschtu-sprechende Psychiater in Nordafghanistan gegolten, zu seinen Patient·innen hätten auch Taliban-Kämpfer gezählt (The Guardian, 19. November 2021).
Zu den vorherrschenden Mängeln in der Versorgungslage psychisch Erkrankter komme hinzu, dass manche Betroffenen sich nicht trauen würden, derartige Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen stelle nach wie vor ein großes Hindernis dar. Psychische Gesundheit gelte als Tabuthema, weshalb Menschen ihre psychischen Probleme oftmals verheimlichen würden (Healthnet TPO, 6. Oktober 2021). Psychische Erkrankungen würden oft mit Schwäche oder Behinderung gleichgesetzt (Verma, 7. Dezember 2021) oder als Strafe Gottes, Besessenheit oder eine Form schwarzer Magie interpretiert. In Afghanistan würden psychisch Kranke im Allgemeinen von ihren Familien betreut. Diejenigen, die keine Familie hätten, würden entweder auf der Straße oder, wenn sie Glück hätten, in einer der wenigen Notunterkünfte („Marastoon“) landen (Latifi, 6. September 2021).
Im Oktober 2021 und Jänner 2022 berichteten Medien über den Umgang der Taliban mit Drogensüchtigen, die auf den Straßen Kabuls leben würden (siehe AP News, 7. Oktober 2021; Gandhara, 7. Jänner 2022; France 24, 11. Jänner 2022). Im Oktober hätten laut AP News Mitglieder der Taliban Hunderte Heroin- und Methamphetamin-abhängige Obdachlose aufgegriffen, verprügelt und zwangsweise in Behandlungszentren gebracht. In den Zentren fehle es an alternativen Opioiden, die normalerweise bei Drogenentzugstherapien eingesetzt würden (AP News, 7. Oktober 2021).
[…]“
Anfragebeantwortung von ACCORD zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Personen mit psychischen Erkrankungen, Stigmatisierung, schädigende Praktiken, religiösen Aspekten, Wunderheilung, Umgang von staatlichen Stellen/Institutionen mit psychischen Erkrankten, Diskriminierung (a-11251) vom 07.05.2020:
Die international tätige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) weist in einem Artikel vom Oktober 2019 darauf hin, dass Afghanistan vom gewaltsamen Konflikt verwüstet worden sei und hält fest, dass Schätzungen zufolge die Hälfte der Bevölkerung unter Depressionen, Angstzuständen oder posttraumatischem Stress leide, was katastrophale Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen haben könne. Trotzdem gebe die Regierung nur etwa 0,26 US-Dollar (etwa 0,24 Euro, Anmerkung ACCORD) pro Kopf für psychische Gesundheit aus. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wären für ein für einkommensschwache Staaten wie Afghanistan angemessenes psychisches Gesundheitssystem Investitionen von 3 bis 4 US-Dollar (etwa 2,77 bis 3,70 Euro, Anmerkung ACCORD) pro Kopf erforderlich. Die internationalen Geldgeber hätten zwar stark in das Gesundheitssystem investiert, hätten jedoch ihre Aufmerksamkeit auf die physische und nicht auf die psychische Gesundheit gerichtet:
„Afghanistan has been devastated by violence, and it is estimated that half the population experiences depression, anxiety, or post-traumatic stress, which can have a disastrous impact on people’s mental health and the well-being of their relatives and friends. Despite this, the government only spends about US$0.26 per capita on mental health, out of $7spent annually per capita on health services in general. The World Health Organization says an appropriate mental health system in low-income countries such as Afghanistan would require an investment of $3 to $4 per capita. International donors have invested heavily in health services but focused their attention on physical, rather than mental health.” (HRW, 7. Oktober 2019a)
In einem anderen Artikel, ebenfalls vom Oktober 2019 schreibt HRW, dass dadurch, dass weite Teile des Landes mit bewaffneten Konflikten, einem schwachen Gesundheitssystem und einem Mangel an professionellen Gesundheits- und SozialarbeiterInnen konfrontiert seien, die Bedürfnisse der Bevölkerung an psychosozialen Dienstleistungen weitgehend nicht gedeckt seien. Besonders betroffen seien Menschen in ländlichen Gebieten, die etwa 75 Prozent der Bevölkerung ausmachen würden. Diskriminierende soziale Normen würden zusätzliche Barrieren für Frauen und Mädchen schaffen. Auch die Personalressourcen seien begrenzt. In ganz Afghanistan stehe laut Afghanistans nationaler Strategie für psychische Gesundheit für die Jahre 2019 bis 2023 lediglich ein psychosozialer Berater pro 46.000 Einwohner zur Verfügung. Dabei werde deren Kompetenz, eine erfolgreiche Therapie durchzuführen, durch ihre mangelnde Erfahrung und begrenzte Ausbildung beeinträchtigt. Laut WHO habe das Land nach eigenen Angaben nur etwa einen Psychiater pro 435.000 Einwohner und nur einen Psychologen pro 333.000 Einwohner. In öffentlichen psychiatrischen Einrichtungen würden nur 200 Betten zur Verfügung stehen, also ein Bett pro 172.500 Einwohner:
„With large parts of the country facing armed conflict, a weak health system, and a lack of professional health and social workers, mental health services are largely failing to meet the population’s needs. People in rural areas, about 75 percent of the population, are particularly affected. Discriminatory social norms create extra barriers for women and girls. […] Human resources available for mental health programming are also limited. Across Afghanistan, only one psychosocial counselor is available for every 46,000 people, according to Afghanistan’s National Strategy for Mental Health for 2019-2023. Their ability to conduct successful therapy is affected by their lack of experience and limited training. The WHO [World Health Organization] says the country has roughly only one psychiatrist for every 435,000 people and one psychologist for every 333,000 people. Only 200 beds are available in public mental health facilities, or one for every 172,500 Afghans.” (HRW, 7. Oktober 2019b)
Laut einem Eintrag auf der Website der WHO zur psychischen Gesundheit in Afghanistan vom April 2020 seien im Land nur 320 Spitalsbetten in öffentlichen und privaten Einrichtungen für Menschen mit psychischen Problemen verfügbar. Zwar gebe es eine hohe Anzahl an unter psychischen Gesundheitsproblemen leidenden Menschen im Land, jedoch seien die entsprechenden Leistungen für solche Personen beschränkt und von schlechter Qualität:
„Nationwide, only 320 hospital beds in the public and private sector are available for people suffering from mental health problems. […] Despite the high number of people suffering from mental health problems in the country, the mental health services available are limited and of low quality.” (WHO, 23. April 2020)
HRW schreibt im Oktober 2019, dass nur wenige AfghanInnen, die angeben würden, psychologische Auswirkungen des Konflikts zu spüren, professionelle psychiatrische Dienste in Anspruch nehmen würden. Eine von der Europäischen Union im Jahr 2018 in Auftrag gegebene landesweite Umfrage zur psychischen Gesundheit habe ergeben, dass 88 Prozent aller Befragten, von denen die Hälfte psychosoziale Stresssituationen erlebt hätten, nie psychosoziale Hilfe in Anspruch genommen hätten. Von den 12 Prozent, die Hilfe in Anspruch genommen hätten, hätten 47 Prozent angegeben, dass sie einen Arzt konsultiert hätten, 36 Prozent hätten sich an in der jeweiligen Gemeinde tätige SozialarbeiterInnen aus dem Gesundheitsbereich („community health workers“) gewandt und 17 hätten einen Imam konsultiert:
„[F]ew Afghans who describe experiencing the psychological impact of the conflict will seek professional mental health services. A 2018 EU-commissioned nationwide mental health survey found that 88 percent of the total respondents, half of whom had experienced psychosocial distress, never sought mental health assistance. Of the 12 percent who sought assistance, 47 percent said they consulted a doctor, 36 percent went to see community health workers, and 17 consulted an imam (prayer leader in a mosque).” (HRW, 7. Oktober 2019b)
Die afghanische Online-Zeitung Khaama Press hält in einem Artikel vom März 2019 fest, dass Leistungen für psychisch Kranke in Afghanistan so gut wie nicht existent seien, und dass es im Land kaum heimische Kapazitäten zur Prävention oder Behandlung psychischer Erkrankungen gebe, was eine bemerkenswerte Schwäche der afghanischen Gesundheitspolitik darstelle. Gleichzeitig würden psychische Störungen zu den am meisten missverstandenen Leiden in der afghanischen Gesellschaft gehören. Traditionelle medizinische Praktiken und irrationale Überzeugungen würden dominieren. In den meisten Fällen würden psychisch Kranke von Mullahs behandelt werden, und in ernsten Fällen würden sie in ein traditionelles Heilzentrum gebracht:
„Mental health services are almost non-existent and there is little domestic capacity to prevent or treat mental illness in Afghanistan; this is a remarkable weakness in the health policy of the Ministry of Public Health in Afghanistan. On the other hand, mental disorders are one of the most misunderstood afflictions in Afghan society as they are exclusively tied to traditional medicine practices and irrational beliefs. In most cases, people who are mentally ill are treated by mullahs and, in severe cases, they are brought to traditional healing centers.” (Khaama Press, 10. März 2019)
The National, eine englischsprachige Tageszeitung aus Abu Dhabi erwähnt in einem Artikel vom Juli 2019, dass Dienstleistungen für psychisch Kranke rar seien und dass es eine Ausnahme darstelle, wenn jemand solche Dienste in Anspruch nehmen würde. Das Aufsuchen solcher Dienste sei in einer konservativen Gesellschaft, in der die Familienehre an erster Stelle stehe und persönliche Probleme nicht diskutiert würden, verpönt.
„Afghan housewife Farida suffered in silence for years as her husband repeatedly beat and raped her. One day last year, she decided she could bear it no longer. ‘I climbed up to our roof to jump down and kill myself,’ Farida recalled, sitting in the living room of her two-storey home in Herat, a cup of green tea in her hand. Ascending the ladder, one slow step at a time, it was the image of her six children that eventually held her back. Now, it is talking to her psychologist that helps her to keep going through life, she said. But Farida is an exception in Afghanistan, where mental health services are scarce and seeking help can be frowned upon in a conservative society where family honour is paramount and personal problems are not discussed.” (The National, 2. Juli 2019)
[…]
Stigmatisierung durch die Gesellschaft (bis hin zu "Sanktionen"), schädigende Praktiken, Selbstmorde, Wunderheiler, religiöse Aspekte, Unterlassung von Hilfeleistung
Khaama Press hält in dem bereits erwähnten Artikel vom März 2019 fest, dass das weit verbreitete Stigma, das mit psychischen Störungen verbunden sei, die Weiterentwicklung und Umsetzung einer psychische Erkrankungen betreffenden Gesundheitspolitik gefährde. Stigmatisierung und Diskriminierung seien Barrieren, die Interventionen zur Behandlung der Betroffenen erschweren würden, insbesondere treffe dies auf die ländlichen Gebiete Afghanistans zu. Khaama Press erwähnt weiters, dass es in Afghanistan einige kulturelle und soziale Barrieren gebe, die den meisten Opfern den Zugang zu psychosozialen Diensten verwehren würden, wie z.B. das Unvermögen, für die Behandlung zu bezahlen, mangelnde Unterstützung durch Familienmitglieder und Freunde sowie Selbststigmatisierung aufgrund der negativen und falschen Vorstellungen über psychische Erkrankungen: „The widespread stigma tied to mental disorders jeopardizes the development and implementation of mental health policy. Stigmas and discrimination are barriers that make intervention for treatment difficult, especially in rural areas of Afghanistan.” (Khaama Press, 10. März 2019)
„There are some cultural and social barriers that deny most victims access to mental health services, such as inability to pay for treatment, lack of support from family members and friends, and self-stigmatization due to people’s negative and inaccurate believes about mental illnesses.” (Khaama Press, 10. März 2019)
Die WHO schreibt im April 2020 auf ihrer Website, dass Menschen mit psychischen Störungen Stigma und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt seien. Auch Gesundheitsdienstleister würden berichten, davon betroffen zu sein:
„People with mental health and substance abuse disorders are not the only ones who experience stigma and human rights violations: mental health care providers in the formal and informal sectors also report this.” (WHO, 23. April 2020) […]
In einer im medizinischen Journal Transcultural Psychiatry im Februar 2013 veröffentlichten Studie der AutorInnen Jean-Francois Trani und Parul Bakhshi von der Washington University in St. Louis zum Thema Vulnerabilität und psychische Gesundheit in Afghanistan finden sich folgende Informationen zur Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen: Soziale Ausgrenzung sei das häufigste Schicksal von Personen mit angeborener Beeinträchtigung, einer sogenannten „Mayub“. In dem Begriff Mayub würde das Vorliegen von unerklärten religiösen und übernatürlichen Ursachen für die Beeinträchtigung mitschwingen, wie etwa „Gottes Wille, Geister, Dschinn (übernatürliche Wesen, Anmerkung ACCORD), schwarze Magie, Schicksal“. Im Gegensatz dazu könnten ''erworbene'' Formen der Beeinträchtigung („Malul“ genannt) auf einen konkreten Vorfall zurückgeführt werden (z.B. Kriegsverletzung, Arbeitsunfall etc.). Diese Unterscheidung zwischen Mayub und Malul beeinflusse alle Lebensbereiche: soziale Akzeptanz und Selbstachtung, Integration in Bildung, Zugang zu Beschäftigung sowie Ehe. Mayub würden systematisch ausgestoßen, da ihre Beeinträchtigung als schicksalshaft gelten würde und die Gesellschaft sie infolgedessen dafür verantwortlich mache. Soziale Feindseligkeit äußere sich in verbalen Beschimpfungen: Mayub würden als "nicht gesund" oder "halb menschlich" angesehen. Feindseligkeit und Scham würden wiederum zu weiterer Isolation führen. Mütter hätten zum Beispiel Angst, dass ihre beeinträchtigten Kinder in der Schule misshandelt werden könnten. Menschen mit jeglicher Art von psychischer Erkrankung, von Geisteskrankheit bis hin zu Depressionen würden mit dem umgangssprachlichen Begriff Dewana bezeichnet, was übersetzt bedeute, dass etwas im Zusammenhang „mit dem Geist falsch sei“. Ein mangelndes Verständnis dieser unterschiedlichen Zustände und die mangelnde Fähigkeit, mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung umzugehen, führe zu Vorurteilen und in der Folge zu Ausgrenzung und Marginalisierung:
„Social exclusion is most commonly the fate of persons who were born with impairment: the mayub. The term itself also evokes religious and supernatural causes that are unexplained (God’s will, spirits, jinns, black magic, destiny, etc.), in contrast to ‘acquired’ forms of impairment (malul) that can be traced to an identified incident (war injury, work accident, etc.). This distinction between mayub and malul influences all spheres of life: social acceptance and self-esteem, integration into education, access to employment, as well as marriage. Mayub are systematically cast out as their impairment is considered linked to fate and as a result society holds them responsible for it. Social hostility translates into use of verbal abuse: mayub seen as ‘unhealthy’ or ‘half human.’ Hostility and shame lead to more isolation. For instance, mothers are afraid their disabled children would be mistreated at school. People with any kind of learning or mental condition, from mental illness to depression, and people with hearing impairment as well, are designated with the colloquial term of dewana, which translates as having something wrong related to the mind (asab). Lack of understanding of these different conditions and the lack of ability to deal with people with a mental condition leads to prejudice and as a result exclusion and marginalisation.” (Trani/Bakhshi, Februar 2013, S. 111-112)
Khaama Press schreibt im bereits erwähnten Artikel vom März 2019, dass psychisch kranke Personen in den meisten Fällen von Mullahs behandelt und in schweren Fällen in traditionelle Heilzentren gebracht würden. Es gebe einen berühmten Schrein namens Mia Ali in der Stadt Dschalalabad, die im Osten Afghanistans liege. Menschen würden dort Familienmitglieder hinbringen, denen es geistig nicht gut gehe, da sie glauben würden, dass psychische Gesundheitsprobleme durch eine am Schrein durchgestandene schwere Qual geheilt werden könnten. Diese traditionellen Heilszentren würden über keine Einrichtungen wie etwa Toiletten verfügen. Kranke Menschen seien an diesen heiligen Stätten tage- oder sogar monatelang angekettet:
„[M]ental disorders are one of the most misunderstood afflictions in Afghan society as they are exclusively tied to traditional medicine practices and irrational beliefs. In most cases, people who are mentally ill are treated by mullahs and, in severe cases, they are brought to traditional healing centers. There is a famous shrine called Mia Ali in Jalalabad city, located in eastern Afghanistan. People take family members who are not mentally well there as they believe that mental health problems can be cured by stern ordeal at the shrine. These traditional healing centers do not have facilities—not even the very basic requirements for defecating. Ill individuals are chained within these shrines for days, and even months.” (Khaama Press, 10. März 2019)
Die britische Tageszeitung The Telegraph berichtet in einem Artikel vom Oktober 2019 über eine traditionelle Einrichtung zur Behandlung von psychischen Erkrankungen in Samarkhel, einem Dorf in der Provinz Nangarhar, wo sich ein Schrein namens Mia Ali Sahib befinde. Für eine tägliche Gebühr von 250 pakistanischen Rupien (etwa 1,44 Euro, Anmerkung ACCORD) würden die psychisch kranken Personen in unmittelbarer Nähe des Schreins festgekettet und erst nach 40 Tagen wieder befreit und entlassen:
„In a dusty graveyard behind nameless tombstones, six men sit with their hands and feet chained to trees, the heavy locks leaving marks and bruises on their skin. Here, at Mia Ali Sahib shrine in Samarkhel, a village in Afghanistan’s eastern Nangarhar province, Shafirkullah Mia, 45, says he has ‘cured‘ more than 600 people over the past decade. The century-old tradition has families from all over Afghanistan – and even neighbouring Pakistan – bring people struggling with mental illnesses to the shrine, believing that they will be healed after restraining them for 40 days and giving them only dry bread, salt, pepper and water to eat and drink. Considered a holy site, people pay a daily fee of 250 Pakistani rupees (£1.30) per person – the currency predominantly used in Nangarhar due to its close proximity and strong trade links to Pakistan – to have their ill family members treated, believing that Mia Ali Sahib, a ‘local saint and good, influential leader‘ buried in the graveyard, continues to spread his supernatural healing powers. Shafirkullah Mia, who previously worked as a baggage loader at Jalalabad airport, about an hour’s drive west from Samarkhel, says that he has received no formal training to treat his ‘patients‘. ‘I’m a descendant of Sahib and our family is famous in all of Afghanistan because we continue to be able to treat severe cases of mental illness, ‘ he explains, while catering to the six men. ‘Sometimes we have more patients, other times less, but people keep coming, even women. They trust me because of my family lineage – it doesn’t require me to learn about my job because I’m a relative of Sahib’s. ‘ […] The area behind the graves sits in the shade of trees and smells of urine and unwashed clothes. While all of them sleep on the floor outside during the hot summer months, small cave-like rooms, empty and built out of brick, provide shelter during cooler, rainier winters. The chains are never taken off during their 40-day stay. […] Shafirkullah Mia sits with his ‘patients‘ all day and even sleeps there at night - some of whom have come from far away provinces. ‘They are not supposed to talk to each other, so when they do, I yell at them, or I hit them, ‘ he says. After 40 days, most men leave quietly, broken. The practise of chaining people in health facilities was only abolished across Afghanistan in 2008, with Mia Ali Sahib shrine being one of the last places to continue with the method. This however still means that hundreds of people are victim to it each year. ‘It’s a religious place and people believe that the dead can perform supernatural wonders, ‘ explains psychiatrist Dr. Bashir Ahmad Sarwari, Director of the Department of Mental Health at Afghanistan’s Ministry of Public Health. […] ‘In rural areas, many still believe in ghosts and jinns. Our culture has to adapt in order to prevent practises such as restraining people, ‘ she says. ‘It’s dangerous, ‘ [Lyla] Schwartz [psychologist and researcher] says. ‘Going through something so extreme can prevent the hippocampus – the part of the brain which stores memories – from forming new neurones due to high levels of stress, which can cause memory loss and affect the ability to regulate feelings.’” (The Telegraph, 22. Oktober 2019)
In einem beim Springer-Verlag erschienenen Buch zu Jugend und psychischer Gesundheit mit Beiträgen zu unterschiedlichen Ländern findet sich auch ein Beitrag zu den psychischen Auswirkungen von Pädophilie auf afghanische Buben (AutorInnen: Soheila Pashang, Sharifa Sharif, et al.). Darin wird unter Verweis auf verschiedene, zum Teil ältere Quellen festgehalten, dass viele AfghanInnen etwaige mit psychischen Erkrankungen zusammenhängende Probleme angehen würden, indem sie mit Familienmitgliedern sprechen würden, oder beten würden, oder indem sie sich bei religiösen Führern oder traditionellen Heilern in Behandlung begeben würden. Es werde angenommen, dass psychische Gesundheitsprobleme durch böse Geister oder durch Dschinn, durch Hexerei oder den bösen Blick verursacht würden, die durch Heirat oder 40-tägige Kräuterbehandlungen und eingeschränkte Diäten vertrieben werden müssten. In schweren Fällen würden Familien ihre Angehörigen in Zentren und heilige Stätten in ländlichen Gebieten führen, wo Menschen an Mauern oder Bäume gekettet würden. Der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt habe jedoch dazu geführt, dass sogar die Dienste dieser traditionellen Heilungszentren eingeschränkt hätten werden müssen, bzw. dass die Kontinuität der Dienste unterbrochen hätte werden müssen.
Die begrenzt verfügbaren psychischen Versorgungseinrichtungen in den Krankenhäusern Afghanistans würden dem traditionellen Versorgungsmodell folgen („follow the traditional model of care“), das Personal sei in Bezug auf posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) nur begrenzt geschult:
„Traditionally, many Afghans address their mental health related issues by approaching family members or through prayer or reliance on religious leaders and traditional healers for treatment (Bolton Betancourt, 2004; Damsleth, 2003; van de Put, 2002; WHO, 2005). Mental health problems are believed to be caused by bad spirits or ‘Jinns,’ witchcraft, or the evil eye, which must be driven away through marriage or 40-day treatments of herbs and restricted diets (Damsleth, 2003; Reed et al., 2014; van de Put, 2002). In severe cases, families take their loved ones to centers and shrines located in rural area with little resources where individuals are chained to wall or trees (Damsleth, 2003; van de Put, 2002). However, decades of war and conflict have even limited the services of traditional healing centers or have interrupted their continuity of care (van de Put, 2002). The limited mental health care facilities in hospitals follow the traditional model of care, with staff having limited training in post-traumatic stress disorder (PTSD).” (Pashang/Sharif/et al., 2018, S. 47)
Canadian Women for Women in Afghanistan, eine kanadische nicht profitorientierte Organisation, die sich nach eigenen Angaben für afghanische Frauen und deren Familien einsetzt, schreibt in einem auf ihrer Website veröffentlichten undatierten Artikel, dass in Afghanistan das Thema psychische Erkrankungen wie in den meisten Gesellschaften häufig falsch verstanden werde und die Erkrankungen stigmatisiert seien, was den Zugang zu Behandlung und Unterstützung für Menschen mit psychischen Erkrankungen noch schwieriger mache. Inmitten einer unregulierten pharmazeutischen Industrie würde diese Situation zu Selbstmedikationen führen, was wiederum eine hohe Abhängigkeitsrate von angstlösenden Medikamenten wie Benzodiazepinen, sowie auch von illegalen Drogen wie Opium und Heroin zur Folge habe:
„In Afghanistan, mental illness is often misunderstood and stigmatized, as it is in most societies, making it even more difficult for people living with mental illness to access treatment and support. Self-medicating amidst an unregulated pharmaceuticals industry has led to high rates of addiction to anti-anxiety drugs such as benzodiazepines, as well as illegal drugs like opium and heroin.” (Canadian Women for Women in Afghanistan, ohne Datum, S. 1-2)
Umgang von Institutionen/staatlichen Stellen, Diskriminierung bis hin zu Stigmatisierung im Gesundheitswesen und durch staatliche Akteure
Im Artikel von HRW vom Oktober 2019 findet sich die Information, dass die Regierung in den letzten 15 Jahren (vor Veröffentlichung des Artikels) etwa 750 psychosoziale BeraterInnen ausgebildet habe, die grundlegende psychosoziale Beratung anbieten würden und Überweisungen von PatientInnen zur Behandlung erleichtern könnten. Doch weniger als 10 Prozent der Bevölkerung würden diese Dienste in Anspruch nehmen. Personen, die sie in Anspruch nehmen würden, könne passieren, dass sie Missbrauch ausgesetzt würden, wie etwa in Form von Zwangseinweisungen oder Zwangsbehandlungen:
„Over the past 15 years, the government has trained roughly 750 psychosocial counsellors who can provide basic mental health counselling and facilitate referrals. But less than 10 percent of the population is using these services. Those who do use them can suffer abuse, such as forced hospitalizations and treatments.” (HRW, 7. Oktober 2019a)
In einem Artikel der US-amerikanischen Medienorganisation NPR (National Public Radio) vom Februar 2018, der vorwiegend auf den Recherchen einer BBC-Reporterin basiert, wird über eine in der Stadt Herat befindliche psychiatrische Einrichtung namens „Red Crescent Secure Psychiatric Institution“ berichtet. Laut Artikel handle es sich dabei um die einzige psychiatrische Hochsicherheitseinrichtung des Landes, sie werde von der Organisation Roter Halbmond betrieben. Laut der BBC-Reporterin Sahar Zand würden sich darin die „300 gefährlichsten PatientInnen“ des Landes befinden. PatientInnen würden dort laut dem Artikel häufig angekettet oder sediert werden. Laut Zand würden einige Menschen dort angeben, dass sie „gar nicht hier sein sollten“, dass sie aber bleiben würden, weil es außerhalb der Einrichtung einen Mangel an ambulanter Versorgung für psychisch Kranke gebe. Es sei schwierig in diesem Krankenhaus angenommen zu werden, aber noch schwieriger sei es, wieder herauszukommen. Viele PatientInnen würden im Krankenhaus festsitzen, weil ihre Familie entweder in dem Konflikt getötet worden oder in Nachbarländer ausgewandert seien. Laut Zand seien einige der dort lebenden PatientInnen in Wahrheit bereits geheilt. Solange sie ihre Medikamente nehmen würden, würden sie keine Bedrohung mehr für die Gesellschaft darstellen. Aber damit diese PatientInnen entlassen werden könnten, müsse jemand kommen und sie abholen. Infolgedessen würden PatientInnen mit schweren psychischen Problemen wie Psychosen, Schizophrenie und posttraumatischen Belastungsstörungen, die außerhalb des Krankenhauses „aufblühen könnten“, im Grunde für immer „dort festsitzen", so Zand. Unter den PatientInnen würden sich ehemalige Terroristen, Kämpfer und andere Personen befinden, die Familienmitglieder in dem Konflikt verloren hätten. Die meisten von ihnen würden sich als direkte Folge des Krieges im Krankenhaus befinden. In einem Hof der Einrichtung habe Zand zwei Männer gesehen, die aneinander gekettet gewesen seien: ein ehemaliger Taliban-Kämpfer und „sein Feind“, ein ehemaliger Mudschahedin. Die beiden Männer „seien durch ihre Krankheiten miteinander verbunden“, so Zand:
„Afghanistan has only one high-security psychiatric facility, where many of the patients are often chained and sedated. The Red Crescent Secure Psychiatric Institution houses almost 300 patients considered to be the ‘most dangerous,’ says Sahar Zand, a reporter for the BBC who reported from the facility in Herat, the third-largest city in the country. […] Some people in the Red Crescent psychiatric hospital say they shouldn't even be there, Zand says, but because there is a lack of adequate outpatient mental health services, they remain. […] It's hard to be accepted into the hospital, but it's even harder to get out once patients receive sufficient treatment, Zand says. Many patients are stuck in the hospital because their family was either killed in the conflict or migrated to neighboring countries, such as Iraq and Pakistan. […] ‘Even thinking about it now — it still sends shivers down my spine — is the fact that some of the patients in there are actually cured,’ Zand says. ‘As long as they take their medication, they would no longer be a threat to the society. ... But for these patients to get discharged, somebody needs to come and pick them up.’ […] As a result, patients with severe psychological problems, such as psychosis, schizophrenia and post-traumatic stress disorder, who could thrive outside of the hospital, are ‘basically stuck in there forever,’ she says. Among the patients are former terrorists, militants and others who lost family members in the conflict, Zand says. They come from all different walks of life, but most of them are in the hospital as a direct result of the war. In an outdoor courtyard, Zand met two men who were chained together: a former Taliban fighter and his enemy, a former mujahideen. The two men are bound together by their illnesses, she says.” (NPR, 14. Februar 2018) […]
Das Afghanistan Analysts Network (AAN), eine unabhängige, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, sendet im Mai 2020 auf eine Anfrage von ACCORD zu der oben erwähnten Einrichtung Red Crescent Secure Psychiatric Institution einige relevante Informationen. AAN habe mit vier Quellen über die Einrichtung gesprochen - mit einem in Herat stationierten Psychiater, einem ebenfalls in Herat stationierten klinischen Psychologen, einem kürzlich diplomierten klinischen Psychologen und einem Mitarbeiter der Provinzdirektion für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte. Alle seien sich einig gewesen, dass diese Einrichtung (noch) existiere und weiterhin in Betrieb sei. Tatsächlich existiere die Einrichtung seit etwa drei Jahrzehnten. Gemäß den Erhebungen von AAN seien die Arbeitsbedingungen dort sehr schlecht. Zur Veranschaulichung dessen habe er zwei Gespräche niedergeschrieben (siehe Originaltext, Anmerkung ACCORD).
In den Aufzeichnungen von AAN zum Gespräch mit dem Psychiater finden sich unter anderem die Informationen, dass man laut dem Psychiater diese Einrichtung weder „Krankenhaus“ noch „Institution“ nennen könne, es handle sich dabei einfach um einen Ort an dem etwa 300 psychisch Kranke aus unterschiedlichen Gebieten Afghanistans untergebracht seien. Für all diese Menschen gebe es lediglich einen Psychiater und zwei bis drei KrankenpflegerInnen. Die Einrichtung stehe nicht unter der Aufsicht des Gesundheitsministeriums, sondern werde vom Afghanischen Roten Halbmond geleitet. Der Psychiater habe weiters angegeben, dass er dort PatientInnen gesehen habe, die angekettet gewesen seien, wobei er zuletzt im Jahr 2017 in dieser Einrichtung gewesen sei.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen in Punkt 1.1.:
Diese Feststellungen gründen sich auf den schlüssigen und übereinstimmenden Angaben sowie auf den vorgelegten Unterlagen der beschwerdeführenden Partei und sind nicht bestritten worden.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der beschwerdeführenden Partei ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
Aufgrund der wahrnehmbaren Behinderung des Beschwerdeführers wird dieser im alltäglichen Leben unweigerlich als beeinträchtigt wahrgenommen. Diese Beeinträchtigungen sind unveränderbar und werden von der Umwelt als andersartig wahrgenommen. In der afghanischen Gesellschaft wird er daher aufgrund der weit verbreiteten Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung, vor allem, wenn diese seit Geburt besteht, im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffen von erheblicher Intensität ausgesetzt sein. In diesem Zusammenhang ist noch erschwerend zu beachten, dass der Beschwerdeführer, der noch nie in Afghanistan aufhältig war, keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan hat, welche ihm unterstützend zur Seite stehe könnten. Auch unter Zugrundelegung der vorliegenden Länderinformationen besteht die Gefahr, dass wenn der Beschwerdeführer alleine nach Afghanistan zurückkehren würde, er den Taliban aufgrund seiner nach außen in Erscheinung tretender Behinderung auffallen und dadurch in eine menschenunwürdige Situation gelangen würde.
Weiters ist den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass eine entsprechende medizinische Versorgung sowie Betreuung des Beschwerdeführers in Afghanistan nicht gewährleistet ist und psychisch Kranke dort im Allgemeinen von ihren Familien betreut werden, was im verfahrensgegenständlihen Fall jedoch nicht möglich ist.
Aufgrund all dessen ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass im konkreten Einzelfall der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung im Sinne einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschrechte droht.
2.2. Zu den Feststellungen in Punkt 1.2.:
Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten, insbesondere dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – das basierend auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan, insbesondere betreffend die Lage von behinderten Personen, gewährleistet.
Angesichts der Seriosität und Aktualität der genannten Quellen sowie der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden können.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zur Zuständigkeit und Kognitionsbefugnis:
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl das Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt Einzelrichterzuständigkeit vor.
Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen (§ 28 Abs. 1 VwGVG).
Zu Spruchpunkt A)
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Artikel 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
In Fällen mit Personen mit geistiger Behinderung in Afghanistan sind diese vielfach von einer systematischen sozialen Ausgrenzung betroffen, mit der auch Misshandlungen und unmenschliche Behandlungsversuche einhergehen. In diesen Fällen bedarf es einer genauen Prüfung der Umstände des Einzelfalles. Insbesondere ist auf die bei der Rückkehr zu erwartenden persönlichen Lebensumstände der Person (wie ihrer Einbettung in ein familiäres und soziales Umfeld und der Gestaltung ihres Tagesablauf) einzugehen, um nachvollziehbar prognostisch beurteilen zu können, welche Risiken der betroffenen Person mit geistiger Behinderung bei Rückkehr in ihre Herkunftsregion begegnen würden und ob ihr solcherart mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte droht. Dabei kommt zweifelsfrei auch die Frage, welches Ausmaß die psychische Behinderung der Person hat, maßgebliche Bedeutung zu (VwGH 14.02.2019, Ra 2018/18/0442).
Gesamtheitlich betrachtet ist im konkreten vorliegenden Fall daher davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer in diesem konkreten Einzelfall der beschwerdeführenden Partei bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner nach außen in Erscheinung tretenden physischen und psychischen Behinderung aktuell Gefahr droht, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein.
Anhaltspunkte für Asylausschlussgründe oder Asylendigungsgründe haben sich nicht ergeben.
Eine Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).
Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist auf den vorliegenden Fall übertragbar.