Spruch
L516 2286992-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Pakistan, vertreten durch die BBU GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.01.2024, Zahl 1133517606-224021989, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A) Der Beschwerde des XXXX wird stattgegeben und ihm wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer ist pakistanischer Staatsangehöriger und stellte am 26.12.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 19.01.2024 (I.) hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG sowie (II.) hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG ab, erteilte (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ (IV.) eine Rückkehrentscheidung gem § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte (V.) fest, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei, und stellte (VI.) fest, dass gemäß § 55 Abs 1-3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage betrage.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Beschwerdeführer zur Gänze angefochten.
Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Folge am 23.07.2024 und 20.03.2025 eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer mit seiner Rechtsvertretung teilnahm; die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme und erschien nicht.
1. Sachverhaltsfeststellungen:
[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich]
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen und sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Pakistan. Er stammt aus der Stadt XXXX in der Provinz Punjab. Seine Identität steht fest. (BFA Bescheid S 9; pakistanischer Reisepass (VS 23.07.2024 S 4)
1.2 Zu seinem Gesundheitszustand
Beim Beschwerdeführer wurde nach einer Pakistan erlittenen Vergewaltigung unter anderem die folgenden Diagnosen gestellt:
* Analprolaps nach sexuellem Missbrauch. (Ambulanzblatt XXXX und XXXX (AS 59, 187)
* Komplexe PTBS (F43.1) nach schwerem psychischen und physischen Trauma nach Haft und Folter in Pakistan mit klinische relevanten Symptomen mit Flashbacks sowie eine rezidivierende depressive Störung (F33.1) bei wahrscheinlicher Retraumatisierung im Falle des Verlusts einer geschützten Lebenssituation oder einer Unterbrechung der dringendst notwendigen engmaschigen fachärztlichen, psychiatrischen und psychologischen Betreuung. (HEMAYAT, Klinisch-psychologischer Befundbericht XXXX (OZ 13); XXXX , Patientenbrief XXXX (OZ 4); XXXX , Patientenbrief XXXX (OZ 11))
Der Beschwerdeführer erhielt trotz seiner Bemühungen von Anfang an erst vor rund 8 Monaten einen Therapieplatz, befindet sich aber seither in Österreich in regelmäßiger, engmaschiger psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. (HEMAYAT, Klinisch-psychologischer Befundbericht XXXX (OZ 13); Dr XXXX , Patientenbrief XXXX (OZ 4); XXXX , Patientenbrief XXXX (OZ 11); VS 20.03.2025 S 3, 4)
1.3 Zum Ausreisegrund und bestehender Gefahr bei einer Rückkehr
Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied der religiös-extremistischen und politisch-oppositionellen Gruppierung Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP). Dem Beschwerdeführer wird jedoch von den staatlichen pakistanischen Sicherheitsbehörden unterstellt, ein Mitglied jener Gruppierung zu sein sowie zudem als solches an der Vorbereitung einer Demonstration beteiligt gewesen zu sein. XXXX Der Beschwerdeführer leidet aufgrund der von ihm in Pakistan erlebten Gewalterfahrung an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und ihm droht bei einer Rückkehr in ganz Pakistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung und Eingriffe in seine körperliche Integrität in erheblichen Ausmaß durch pakistanische Sicherheitsorgane aufgrund einer ihm unterstellten religiös-extremistischen und politisch-oppositionellen Gesinnung. (NS EV 05.09.2023 S 4 ff; Schriftliche Stellungnahme (AS 189 ff); Beschwerde S 3 ff; VS 23.07.2024 S 7 ff; VS 20.03.2025 S 4 ff)
1.4 Zur Ländersituation in Pakistan
Niederländischen Außenministeriums, General Country Of Origin Report On Pakistan, Juli 2024
Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP)
Die wichtigste konfessionelle Partei in Pakistan ist die Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP). Bei den Wahlen vom 8. Februar 2024 gelang es der TLP nicht, einen einzigen Sitz im nationalen Parlament zu gewinnen. Die Unterstützung für die Partei stieg jedoch von 2,1 Millionen Stimmen im Jahr 2018 auf 2,8 Millionen im Jahr 2024. Die extremistische muslimische Partei hat viele Anhänger und eine beträchtliche Menge an „Straßenmacht“. Eng mit der TLP verbunden ist der Tehreek Labbaik Ya Rasool Allah (TLYR), der sich an die gleichen konservativen Barelvi-Ideen hält. Die Führer beider Parteien begannen ihre radikale religiöse Bewegung zusammen in Karatschi, aber sie trennten sich über verschiedene Meinungsverschiedenheiten. Die TLP teilt die Welt in „uns“ und „sie“. In diesem Zusammenhang schließen „sie“ Westmächte ein, die angeblich Blasphemie begangen haben, oder die Elite, die als „schlechte Muslime“ bezeichnet wurden. Die TLP präsentiert sich als die einzigen Vertreter des Barelvi-Gedankens. Die unerbittliche Haltung der TLP gegen Blasphemie ermutigt die Bürger, gewalttätige Handlungen im Selbstjustizstil durchzuführen. Einigen Studien zufolge sind die meisten TLP-Anhänger junge Menschen aus armen und bürgerlichen Barelvi-Familien in Punjab. Auf Nachfrage der TLP-Führer gehen die jungen Unterstützer während der Proteste dazu über, Eigentum zu zerstören, Autos anzugreifen, Autoreifen zu verbrennen und große Durchgangsstraßen zu blockieren. In den letzten Jahren haben mehrere Personen, die behaupten, durch die Reden des TLP-Führers Rizvi motiviert zu sein, Tötungen von Zivilisten begangen. Über diese Personen sind keine weiteren Informationen bekannt. Online hat die Partei eine starke Anhängerschaft aufgebaut und führt regelmäßig Anti-Staats-, Anti-Ahmadi- und Anti-West-Kampagnen in den sozialen Medien durch.
Einer Quelle zufolge hat die hetzerische Haltung der TLP und anderer extremistischer Gruppen zu einer Verhärtung des politischen Klimas und einer Zunahme der Lynchmob-Vorfälle als Reaktion auf Blasphemievorwürfe geführt.
Auch gegen Christen können Kampagnen geführt werden. Der TLP wird vorgeworfen, die Gewalt in Jaranwala angeheizt zu haben (siehe 3.1.10.1). Die Angreifer hörten Slogans, die mit der TLP in Verbindung gebracht wurden. Die TLP soll auch Christen und Hindus zur Konversion zwingen.103 Nach dem Tod des Christen Lazar Masih Ende Mai aufgrund von Mob-Gewalt sprach die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) von einer „Welle von Mob-Gewalt“. Eric Ueland, Vizepräsident der USCIRF, erklärte: „In Pakistan gibt es eine Zunahme von Blasphemiefällen, und die USCIRF ist zutiefst besorgt darüber, dass die anstehende Änderung des Blasphemiegesetzes des Landes die derzeitigen Trends verschärfen könnte.“
Laut Human Rights Focus Pakistan (HRFP) wies der Vorfall auf ein beunruhigendes Muster in Pakistan hin, bei dem Blasphemievorwürfe zu Gewalt gegen Christen führen. Unter Berufung auf Geheimdienstberichte, die extremistische Gruppen mit mehreren Blasphemievorwürfen in Verbindung bringen, hat HRFP entschlossenes Handeln gefordert.
EUAA, Pakistan - Country Focus, Country of Origin Information Report, December 2024
Staatliche Akteure
Pakistanische Armee
Nach Angaben der CIA umfassten die pakistanischen Streitkräfte (Armee, Marine, Luftwaffe) ab 2023 630 000 aktives Personal, darunter 550 000 Armeeangehörige. Jeder dieser Dienste wird von einem Stabschef befehligt, wobei der Vorsitzende der gemeinsamen Stabschefs der ranghöchste Offizier der Streitkräfte des Landes ist. Die Truppen dienen auf freiwilliger Basis. Ende 2022 bestand die Armee Berichten zufolge aus 11 Korps und 25 Divisionen (darunter 19 Infanteriedivisionen, 2 Artilleriedivisionen, 2 Panzerdivisionen und 2 mechanisierte Divisionen). Jede Division umfasste typischerweise drei Brigaden. Zu den paramilitärischen Gruppen, die mit dem Militär verbunden sind, gehören die Khyber-Gewehre (eine Kraft, die an Sicherheitsarbeiten wie der Bekämpfung des Terrorismus beteiligt ist) und die Nationalgarde. Letztere ist Teil der Reservekräfte der Armee, zu denen auch die pakistanische Armeereserve und das mit Mol verbundene Pakistan Rangers and Frontier Corps (FC) gehören.
Inter-Services Intelligence (ISI)
Der Inter-Service Intelligence (ISI), mit Hauptsitz in Islamabad, besteht aus drei Flügeln (politisch, extern und administrativ) und wurde als nominell unter der Kontrolle des Premierministers beschrieben, wird aber tatsächlich direkt vom Militär kontrolliert und geführt. Es hat die Aufgabe, Informationen zu sammeln und zu analysieren, verdeckte Operationen durchzuführen und den Streitkräften und anderen staatlichen Stellen Informationen zur Verfügung zu stellen. Das ISI betreibt ein Netzwerk von Agenten und Informanten im Land. Es wird angenommen, dass die Streitkräfte und das ISI häufig in Nachrichten- und Sicherheitsfragen zusammenarbeiten. Quellen haben darauf hingewiesen, dass das ISI angesichts des starken Einflusses des Militärs auf das öffentliche Leben in der Lage ist, die Innenpolitik des Landes heimlich zu gestalten. Im Juli 2024 ermächtigte die Regierung das ISI förmlich, Nachrichten und Anrufe abzufangen und die Herkunft von Anrufen aus Gründen der nationalen Sicherheit über jedes Kommunikationssystem nachzuverfolgen. Im September 2024 wurde Generalleutnant Muhammad Asim Malik zum neuen Generaldirektor des ISI ernannt.
Pakistanische Polizei
Mitte 2016 gab es in Pakistan 15 Polizeiorganisationen, von denen neun unter der Kontrolle der Bundesverwaltung standen. Dazu gehörten mehrere Polizeiorganisationen, die unter dem Innenministerium (Mol) tätig sind, wie das National Police Bureau, die Federal Investigation Agency, die Frontier Constabulary und die Islamabad Capital Territory Police. Inzwischen arbeiteten sechs Polizeiorganisationen, nämlich die Punjab-Polizei, die Khyber Pakhtunkhwa-Polizei, die Sindh-Polizei, die Belutschistan-Polizei, die Gilgit-BaItistan-Polizei und die Azad- und Jammu- und Kaschmir-Polizei, unter der Kontrolle der Verwaltungen ihrer jeweiligen Provinzen und Territorien. In jedem Bezirk wird die Polizei von einem Bezirkspolizisten geleitet, der sich beim Stadtpolizisten oder Regionalpolizisten meldet, der sich wiederum bei einem Provinzpolizisten im Rang eines Generalinspekteurs meldet. Weitere an der Polizeiarbeit beteiligte Organisationen sind das National Accountability Bureau (NAB), die Anti-Narcotics Force (ANF) und verschiedene Provinzregierungsstellen, einschließlich der Abteilungen für Terrorismusbekämpfung (CTDs). Die in der Strafprozessordnung von 1898 festgelegten Strafverfahren gelten für alle Polizeiorganisationen/-behörden, aber besondere Rechtsvorschriften passen dieses allgemeine System an ihre eigenen spezifischen Anforderungen an.
Die CTDs der Provinz arbeiten eng mit der Armee und ihren paramilitärischen Tochtergesellschaften in Regionen wie Karatschi und Belutschistan zusammen. Überlappende Zuständigkeiten ziviler, militärischer und paramilitärischer Polizeibehörden haben häufig einen „Zwei-Polizei-Mechanismus“ mit militarisierten Strafstrukturen geschaffen. Die Zeitung Dawn wies darauf hin, dass die pakistanische Polizei unter einem „schwerwiegenden Mangel an angemessener Ausbildung“ leide, der für die Polizeiarbeit in zivilen Gemeinschaften erforderlich sei, was zu einer verstärkten „Abhängigkeit von Gewalt als Standardreaktionsmechanismus“ führe. Diese Situation wird durch schlechte Arbeitsbedingungen, einschließlich unzureichender Vergütung und langer Arbeitszeiten, die zu geringer Moral und hohem Stress führen können, weiter verschärft.
Ranger (Pakistan)
Die Pakistan Rangers sind eine föderale paramilitärische Kraft unter der Mol, die in den Provinzen Punjab und Sindh operiert, wo sie hauptsächlich mit der Bereitstellung von Grenzsicherheit beauftragt sind. Ranger könnten auch von den Behörden eingesetzt werden, um bei internen Sicherheitsoperationen zu helfen, und wurden mit der Sicherung wichtiger Installationen in verschiedenen Städten betraut. Nach Angaben der CIA hatten die Pakistan Rangers und das Frontier Corps (siehe oben) ab 2023 eine kombinierte Stärke von rund 150 000. Sie wurden auf Anfrage auch außerhalb von Punjab und Sindh eingesetzt.
Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation zu Pakistan aus dem COI-CMS, 01.02.2024
Sicherheitslage
Kommunale Gewalt aufgrund religiösen Fundamentalismus'
Weiters zeigt sich, dass der religiöse Extremismus, auch abseits der Terrorgruppen, eine große Herausforderung darstellt. Zum einen ist dies in den Gewalttaten von aufgestachelten Menschenmengen, sogenannten Mobs, erkennbar [Anm. siehe dazu auch Kap. Religionsfreiheit]. Zum anderen manifestiert sich dies in den gewalttätigen Protesten der politisch-religiösen Bewegung Tehreek-e-Labbaik Pakistan, TLP. Die Gewalt der TLP erreichte 2021 einen Höhepunkt, als bei Demonstrationen in den Städten des Punjab 24 Menschen ums Leben kamen, 10 davon Polizisten, und eine Polizeistation gestürmt und besetzt wurde. Sie wurden erst beigelegt, nachdem die Regierung dem Druck nachgab, den Anführer freiließ und das Verbot der Gruppe aufhob (PIPS 4.1.2022). Für 2022 zählte das Sicherheitsanalyseinstitut PIPS zwei Gewaltvorfälle auf, in denen Anhänger der TLP involviert waren und bei denen jeweils eine Person getötet wurde (PIPS 24.2.2023). 2023 war die TLP in zwei Gewaltakte durch aufgehetzte Menschenmengen gegen Minderheiten involviert (PIPS 10.1.2024).
Für das Jahr 2023 verzeichnete PIPS folgende Vorfälle kommunaler religiös-motivierter Gewaltausbrüche, also Gewalt durch religiös motiviert aufgehetzte Menschenmengen:
Im Februar stürmte im Punjab eine aufgebrachte Menschenmenge einen Polizeiposten und tötete einen inhaftierten Blasphemiebeschuldigten (AJ 16.8.2023; vgl. PIPS 8.3.2023). Ein weiterer Mob verwüstete im Sindh eine Glaubensstätte der Ahmadi in Karatschi (PIPS 8.3.2023).
Im März attackierten Anhänger einer islamistischen Partei Hindu-Studenten an einer Universität im Punjab bei einem religiösen Fest und verletzten 15 von ihnen (WION 7.3.2023; vgl. PIPS 5.4.2023).
Im Mai wurde eine Person nach angeblicher Blasphemie durch eine Menschenmenge in Khyber Pakhtunkhwa getötet (PIPS 8.6.2023).
Im August verzeichnete PIPS zwei Mob-Vorfälle mit einem Toten (PIPS 6.9.2023): Im Punjab randalierte ein aufgebrachter Mob nach Blasphemievorwürfen in einem christlichen Viertel und setzte dabei auch Kirchen und Häuser in Brand. Die Rangers wurden herangezogen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen (AJ 16.8.2023; vgl. Lowy Inst 21.9.2023, HRW 22.8.2023). In Belutschistan wurde eine Woche zuvor ein Lehrer nach Blasphemievorwürfen getötet (DAWN 7.8.2023; vgl. Lowy Inst 21.9.2023, AJ 16.8.2023).
Im September randalierten in drei Vorfällen kommunaler Gewalt aufgebrachte Menschenmengen in Glaubensstätten von Christen und Ahmadis, ein christlicher Pfarrer wurde im Punjab in Folge angeschossen und verletzt (PIPS 4.10.2023).
Für April (PIPS 6.5.2023), Juni (PIPS 5.7.2023, Juli (PIPS 4.8.2023) und November (PIPS 7.12.2023) zeichnete PIPS keine Vorfälle von religiös motivierter Mob-Gewalt auf; für Jänner 2023 zwar einen Vorfall, allerdings ohne Tote oder Verletzte (PIPS 20.2.2023).
Für Oktober wurde zwar kein derartiger Vorfall aufgezeichnet, allerdings kam es drei Mal im Kurram Tribal District von Khyber Pakhtunkhwa zu Zusammenstößen zwischen schiitischen und sunnitischen Stämmen, die zu 16 Todesopfern führten (PIPS 7.11.2023).
Für 2022 zeichnete PIPS acht Vorfälle kommunaler religiöser Gewalt auf, bei drei davon handelte es sich um Mobs aufgrund von Blasphemievorwürfen. Bei den Vorfällen wurden fünf Menschen getötet - drei Ahmadis und zwei der Blasphemie Beschuldigte - sowie ein Hindu-Tempel beschädigt (PIPS 24.2.2023).
Sicherheitsbehörden, inklusive KP Tribal Districts (ehemalige FATA)
Die Polizei ist für den größten Teil des Landes für die innere Sicherheit zuständig (USDOS 20.3.2023). Die polizeilichen Zuständigkeiten sind zwischen nationalen und regionalen Behörden aufgeteilt. Die Bundespolizei (Federal Investigation Agency / FIA) ist dem Innenministerium unterstellt. Ihre Zuständigkeit liegt im Bereich der Einwanderung, der Organisierten Kriminalität sowie der Terrorismusbekämpfung. Bei Letzterer sind auch die pakistanischen Nachrichtendienste ISI (Inter-Services Intelligence) und IB (Intelligence Bureau) aktiv. Die einzelnen Provinzen verfügen über ihre eigenen Strafverfolgungsbehörden. Gegenüber diesen Provinzbehörden ist die FIA nicht weisungsbefugt (AA 8.8.2022). Die lokale Polizei fällt somit in die Zuständigkeit der Provinzregierungen (USDOS 20.3.2023).
Außerdem sind einige paramilitärische Organisationen, die dem Innenministerium unterstehen, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zuständig. Dazu zählen das Frontier Corps für Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa (inklusive der ehemaligen Federally Administered Tribal Areas / FATA) und die Ranger im Punjab und Sindh. Die Hauptaufgabe des Frontier Corps ist die Sicherheit an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Seine Berichtspflicht besteht in Friedenszeiten gegenüber dem Innenministerium, in Kriegszeiten gegenüber der Armee (USDOS 20.3.2023).
Die militärischen und zivilen Geheimdienste unterstehen offiziell der Berichtspflicht gegenüber zivilen Behörden, doch operieren sie unabhängig und ohne effektive zivile Aufsicht. In Fällen unter dem Anti-Terrorismus Gesetz haben die Strafverfolgungsbehörden zusätzliche Befugnisse, wie Durchsuchungen und Beschlagnahmungen ohne Gerichtsbeschluss (USDOS 20.3.2023).
Die Effizienz der Polizei variiert je nach Provinz. Der Staat hat ein funktionierendes Strafjustizsystem aufgebaut, doch ist die Funktionsfähigkeit begrenzt, was im polizeilichen Bereich auf fehlende Ressourcen, schlechte Ausbildung sowie unzureichende und veraltete Ausrüstung zurückzuführen ist und zu mangelhaften Ermittlungen führen kann. Darüber hinaus wird die Effektivität der Polizei durch Einflussnahme durch Vorgesetzte, politische Akteure und Justiz beeinträchtigt (UKHO 9.2021). Der Polizei wird seit Langem ein vorurteilsbehafteter und willkürlicher Umgang bei der Aufnahme von Anzeigen vorgeworfen (FH 2022). Die Polizeikräfte sind oft in lokale Machtstrukturen eingebunden und dann nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So werden häufig Strafanzeigen gar nicht erst aufgenommen oder Ermittlungen verschleppt. Die Fähigkeiten und der Wille der Polizei im Bereich der Ermittlung und Beweiserhebung sind gering. Staatsanwaltschaft und Polizei gelingt es häufig nicht, belastende Beweise in gerichtsverwertbarer Form vorzulegen (AA 8.8.2022).
Auch die Annahme von Bestechungsgeldern, um wahre oder falsche Anzeigen aufzunehmen oder um Strafen zu vermeiden, ist laut Berichten weit verbreitet (UKHO 9.2021). Illegaler Polizeigewahrsam und Misshandlungen gehen oft Hand in Hand, um den Druck auf die festgehaltene Person bzw. deren Angehörige zu erhöhen, durch Zahlung von Bestechungsgeldern eine zügige Freilassung zu erreichen, oder um ein Geständnis zu erpressen. Zum geringen Ansehen der Polizei tragen die extrem hohe Korruptionsanfälligkeit ebenso bei, wie unrechtmäßige Übergriffe und Verhaftungen sowie Misshandlungen von in Polizeigewahrsam Genommenen (AA 8.8.2022).
Dabei stellt Straflosigkeit für Vergehen der Sicherheitskräfte ein erhebliches Problem dar. Es mangelt an effektiven Mechanismen, um Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. Die Regierung bietet begrenzt Schulungen an, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu erhöhen (USDOS 20.3.2023).
Zusätzlich binden religiöse Gewalt und Terrorismus die Ressourcen der Polizei zuungunsten allgemeiner polizeilicher Arbeit (UKHO 6.2020). Die Sicherheitskräfte stellen selbst ein Hauptziel von Anschlägen verschiedener Terrorgruppen dar (HRW 13.1.2022; vgl. PIPS 11.1.2023). So zielten von den 262 Anschlägen des Jahres 2022 69 Prozent auf staatliche Sicherheitskräfte bzw. Exekutivorgane (PIPS 11.1.2023). Auch der tödlichste Anschlag seit Langem richtete sich gegen die Polizei. 84 Personen starben bei einem Selbstmordanschlag im Jänner 2023 in Peschawar, Khyber Pakhtunkhwa (TET 7.2.2023). Ziel des Anschlags, für den die pakistanischen Taliban zwischenzeitlich die Verantwortung übernommen hatten, war eine Moschee in einem Hochsicherheitsgelände der Polizei, beinahe alle Opfer waren Polizisten (Al Jazeera 2.2.2023; vgl. Dawn 31.1.2023).
Folter
Folter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und in den Gefängnissen gilt als weit verbreitet (AA 8.8.2022; vgl. OMCT 3.2021, HRW 28.8.2022). Es kommt sehr selten zu einer Strafverfolgung von Tätern (AA 8.8.2022). Die Regierung unternimmt wenig, um Strafverfolgungsbehörden für Folter zur Verantwortung zu ziehen (HRW 12.1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022). Folter wird als unvermeidlicher Teil der Strafverfolgung in Pakistan akzeptiert. Die Straflosigkeit kann auf eine Kombination aus soziokultureller Akzeptanz, fehlenden unabhängigen Aufsichts- und Ermittlungsmechanismen, weitreichenden Befugnissen zur Festnahme und Inhaftierung, Verfahrenslücken und unwirksamen Schutzmaßnahmen zurückgeführt werden (OMCT 3.2021; vgl. Dawn 7.8.2022).
Folter ist gemäß pakistanischer Verfassung zwar grundsätzlich verboten und wird seitens der Regierung offiziell verurteilt (AA 8.8.2022). Allerdings enthielt das Strafgesetzbuch keinen speziellen Abschnitt gegen Folter (USDOS 12.4.2022). Im November 2022 trat jedoch nach Unterzeichnung der Torture and Custodial Death (Prevention and Punishment) Bill 2022 durch den Präsidenten erstmals ein Verbot von Folter in Kraft. Im August war die Gesetzesvorlage bereits von der Nationalversammlung angenommen worden. Sie kriminalisiert Folter, Vergewaltigung und Todesfälle in Haft (Dawn 2.11.2022; vgl. SenPK 1.11.2022). Das Gesetz ermächtigt die FIA Untersuchungen unter Aufsicht der staatlichen National Human Rights Commission durchzuführen (SenPK 4.11.2022).
Die Polizeiverordnung 2002 sieht bereits Strafen gegen jeden Polizeibeamten vor, der einer Person in seinem Gewahrsam "Gewalt oder Folter" zufügt. Die Vorschrift enthält keine Definition von Folter und erstreckt sich nicht auf andere Beamte. Vom System der unabhängigen Überwachung der Arbeit der Polizei, das in der Verordnung vorgesehen ist, wurden nur einige Beschwerdekommissionen eingerichtet. Die Zuständigkeit für die Entgegennahme einer Anklage (First Information Report - FIR) aufgrund von Folter unter dieser Verordnung und deren Untersuchung liegt allerdings - in Ermangelung funktionierender Überwachungsstellen - bei der Polizei selbst (OMCT 3.2021).
Die Regierung bietet begrenzt Schulungen an, um die Achtung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu erhöhen (USDOS 12.4.2022).
Haft ohne Anklage, nachgewiesene Fälle von staatlichem Verschwindenlassen
Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung begehen Armee und Sicherheitskräfte v.a. in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa regelmäßig Menschenrechtsverletzungen. Enforced Disappearances - das Verschwindenlassen von unliebsamen, v.a. armeekritischen Personen - zählen dabei zu den eklatantesten Menschenrechtsverletzungen in Pakistan - auch weil der Staat (v.a. Militär / Nachrichtendienste, insb. ISI) oftmals als Täter auftritt und seiner Schutzverantwortung nicht gerecht wird (AA 8.8.2022). Die meisten Opfer waren aus Khyber Pakhtunkhwa, der ehemaligen FATA oder Belutschistan und wurden für gewöhnlich durch die Sicherheitskräfte oder Geheimdienste incommunicado in Haft gehalten - unter dem Vorwurf des Terrorismus, staatsfeindlicher Aktivitäten, Rebellion oder Spionage (FH 24.2.2022). Bei Verdacht auf Terrorismus ist es den Sicherheitskräften rechtlich möglich, Personen ein Jahr ohne Anklage in Haft zu nehmen. Darüber hinaus verfügt das Militär in Khyber Pakhtunkhwa per Verordnung über die Befugnis, Zivilisten ohne Anklage und Benachrichtigung der Angehörigen festzuhalten (USDOS 12.4.2022).
Für das Jahr 2021 stieg die Zahl der bei der staatlichen Kommission zur Untersuchung von Verschwindenlassen neu angezeigten Fälle auf 1.460 - der dreifache Wert des Vorjahres. Davon betrafen allein 1.095 Fälle Belutschistan. Die Kommission berichtete, dass sie mit Stand 31.12.2021 seit ihrer Errichtung 2011 6.117 aller ihr vorgetragenen Fälle lösen konnte und 2.264 weiterhin anhängig sind. Bei den gelösten Fällen wurden 1.517 Personen in verschiedenen Formen der Haft aufgefunden, 3.257 waren zurückgekehrt und 228 Personen tot aufgespürt worden (HRCP 2022). Menschenrechtsaktivisten hingegen zweifeln an den offiziellen Zahlen. Eine belutschische Partei sprach von insgesamt 5.128 erzwungen verschwundenen Personen bis zum Jahr 2018 für Belutschistan (HRCP 2021). Auch pakistanische Medien gehen davon aus, dass viele Fälle nicht gemeldet werden und die tatsächlichen Zahlen höher sind (TNI 6.8.2022).
Die Internationale Juristenkommission (ICJ) kritisierte die Untersuchungskommission und wirft ihr vor, dass ihr Zugang Straflosigkeit fördert. Die Untersuchungskommission drängt demnach nicht auf ein disziplinäres Vorgehen gegenüber den Behörden, denen Verschwindenlassen nachgewiesen wurde (FH 2022). Staatlicherseits wurden Täter bislang in keinem einzigen Fall angeklagt. Eine Strafverfolgung findet nach wie vor nicht statt. Die bereits im Mai 2021 ins parlamentarische Verfahren eingebrachte Enforced Disappearances Bill, die Verschwindenlassen erstmalig strafrechtlich sanktionieren soll, wird weiterhin verschleppt (AA 8.8.2022). Im November 2021 wurde er durch die Nationalversammlung angenommen, im Juni 2022 wurde er durch Medien als "verschwunden" bezeichnet (TNI 6.8.2022; vgl. Dawn 29.6.2022). Im Oktober wurde der Gesetzesentwurf nach Änderungen erneut durch die Nationalversammlung angenommen und dem Senat weitergeleitet (Dawn 22.10.2022). Der Gesetzesentwurf sieht einen Abschnitt im Strafgesetz mit einer Definition des Verschwindenlassens, das der internationalen Übereinkunft entspricht, und Haftstrafen bis zu 10 Jahren vor (TNI 6.8.2022).
Rechtsschutz, Justizwesen
Die pakistanische Verfassung und die gesamte pakistanische Rechtsordnung basieren weitgehend auf dem britischen Rechtssystem. Wenngleich gemäß Art. 227 der Verfassung alle Gesetze grundsätzlich im Einklang mit der Scharia stehen müssen, ist deren Einfluss auf die Gesetzgebung trotz Bestehens des Konsultativorgangs "Council of Islamic Ideology" jedoch eher beschränkt, abgesehen von bestimmten Bereichen wie beispielsweise den Blasphemiegesetzen (ÖB 12.2020; vgl. BS 23.2.2022).
Der Aufbau des Justizsystems ist in der Verfassung geregelt, die folgende Organe aufzählt: Supreme Court of Pakistan - das pakistanische Höchstgericht, ein Oberstes Gericht bzw. High Court in jeder Provinz (sowie im Islamabad Capital Territory) und anderweitige Gerichte, die durch das Gesetz eingerichtet werden. Die fünf Obersten Gerichte fungieren zum einen als originäres Rechtsprechungsorgan für die Durchsetzung der Grundrechte, zum anderen als Berufungsinstanz gegen Beschlüsse und Urteile von untergeordneten Gerichten und der Spezialgerichte in allen zivilen und strafrechtlichen Angelegenheiten. Außerdem dienen sie als Aufsichts- und Kontrollorgan für alle ihnen unterstehenden Gerichte. Des Weiteren existiert gemäß der Verfassung ein Federal Shariat Court (FSC), das zur Prüfung von Rechtsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Islam angerufen oder diesbezüglich auch von sich aus tätig werden kann. Er fungiert zusätzlich zum Teil als Rechtsmittelinstanz in Delikten nach den sogenannten Hudood-Ordinances von 1979, die eine v.a. für Frauen stark benachteiligende Islamisierung des Strafrechts brachten und durch den Protection of Women (Criminal Law Amendment) Act von 2006 in Teilen etwas entschärft wurden (ÖB 12.2020; vgl. FJA 2015). Gilgit-Baltistan sowie Azad Jammu und Kaschmir haben nominell unabhängige Justizsysteme (FH 2022).
Die Systeme der Zivil-, Straf- und Familiengerichte sehen ein faires und ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren vor, die Unschuldsvermutung, das Kreuzverhör und die Berufung. Einzelpersonen können auch gegen Entscheidungen des FSC Berufung bei der "Shariat Appellate Bench" des Supreme Courts einlegen, wobei der Supreme Court noch eine weitere Berufung zulassen kann. Angeklagte haben das Recht auf Anhörung und auf Konsultation eines Anwalts, von Gerichtswegen muss allerdings nur bei Verbrechen, für deren Verurteilung die Todesstrafe droht, ein Anwalt zur Verfügung gestellt werden. In solchen Fällen wird der Anwalt auch öffentlich finanziert. Im Allgemeinen muss in den unteren Gerichten der Angklagte allerdings selbst für den Anwalt aufkommen, in den Oberen kann ein öffentlich finanzierter zur Verfügung gestellt werden. Die Verfassung erkennt das Recht auf Habeas Corpus an und erlaubt es den Oberen Gerichten, die Anwesenheit einer Person, die eines Verbrechens beschuldigt wird, vor Gericht zu verlangen. In vielen Fällen, in denen es um das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen ging, versäumten es die Behörden allerdings, die Inhaftierten gemäß den Anordnungen der Richter vorzuführen (USDOS 20.3.2023).
Die Justiz (v.a. die oberen Gerichte) versucht ihre nach Ende der Militärherrschaft zurückgewonnene Unabhängigkeit zu verteidigen und bemüht sich, den Rechtsstaat in Pakistan zu stärken – auch mit bei Regierung und Armee bisweilen unpopulären Urteilen (AA 8.8.2022; vgl. TET 26.7.2022). Gleichzeitig sieht sie sich weiterhin starkem Einfluss der Armee sowie Beeinflussungen durch die pakistanische Regierung ausgesetzt (AA 8.8.2022). Obwohl das Gesetz eine unabhängige Justiz vorsieht, unterliegt diese laut NGOs und Rechtsexperten häufig externen Einflüssen, wie z.B. der Angst vor Repressalien durch extremistische Elemente in Terrorismus- oder Blasphemiefällen und der öffentlichen Politisierung bei hochkarätigen Fällen. Zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass Richter zögern, der Blasphemie beschuldigte Personen freizusprechen, weil sie Selbstjustiz befürchten. Außerdem unterliegen Gerichte der unteren Instanzen Berichten zufolge nicht nur dem Druck höherrangiger Richter, sondern auch dem prominenter, wohlhabender, politischer und religiöser Persönlichkeiten (USDOS 20.3.2023). Anhänger konservativer und extremer Denkschulen des Islams sind bestrebt, mit Druck auf allen Ebenen die Rechtspflege zu beeinflussen (AA 8.8.2022). Gleichzeitig lassen sich in der Strafverfolgung von Korruptionsfällen Anzeichen erkennen, wonach sich die Justiz von der nationalen Politik instrumentalisieren lässt - etwa wenn Verfahren gegen mehrere wichtige Oppositionsführer verfolgt werden, während bei Mitgliedern der Regierungspartei ein Mangel an ähnlicher Strafverfolgung herrscht (FH 2022). Auch das vage und übermäßig weit gefasste Volksverhetzungsgesetz, welches auf eine britische Bestimmung aus der Kolonialzeit zurückgeht, wird oftmals gegen politische Gegner eingesetzt (HRW 12.1.2023).
Hinzu kommen Berichte über Korruption im Justizsystem, darunter auch solche, dass Gerichtsbedienstete Zahlungen für eine Beschleunigung von Verwaltungsverfahren verlangten. Gerichte der unteren Instanzen werden als korrupt angesehen, während die Oberen Gerichte und der Supreme Court bei der Bevölkerung und den Medien höhere Glaubwürdigkeit genießen. In den Medien wurde jedoch auch hierbei der Vorwurf einer Einflussnahme durch die Sicherheitsbehörden auf Richter dieser Gerichte thematisiert (USDOS 20.3.2023; vgl. BS 23.2.2022). Die Gerichte und das pakistanische Rechtssystem sind zudem hochgradig ineffizient - Tausende Verfahren sind teils Jahrzehnte lang anhängig. Mangelhafte Ausbildung, Befähigung und Ausstattung großer Teile der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Justizwesens zeigen ebenfalls nachteilige Auswirkungen (AA 8.8.2022). Der enorme Rückstau an Fällen bei niederen wie höheren Gerichten untergräbt das Recht sowohl auf einen wirksamen Rechtsmittelanspruch als auch auf ein faires und öffentliches Verfahren. Veraltete Prozessregeln, unbesetzte Richterstellen, ein mangelhaftes Fallmanagement und eine unzureichende juristische Ausbildung führen zu Verzögerungen in Zivil- und Strafverfahren. Laut der Law and Justice Commission of Pakistan waren mit Stand 31. Juli 2022 2,1 Millionen Fälle anhängig, während allein im Jahr 2021 4,1 Millionen neue Fälle vor Gericht gekommen sind (USDOS 20.3.2023).
Nach Einschätzung des UK Home Office hat der Staat somit zwar ein funktionierendes Strafjustizsystem aufgebaut, doch ist dessen Funktionsfähigkeit auch durch die genannten Probleme begrenzt (UKHO 9.2021). Erhebliche Unzulänglichkeiten im Justizapparat und Schwächen bei der Durchsetzung des geltenden Rechts bestehen fort. Pakistan bekennt sich in seiner Verfassung und auf der Ebene einfacher Gesetze grundsätzlich zur Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern. Gleichwohl fällt es Pakistan insgesamt angesichts der schwach ausgebildeten rechtsstaatlichen Strukturen und der geringen Verankerung des Rechtsstaatsgedankens in der Gesellschaft schwer, rechtsstaatlichen Entscheidungen und damit auch der Schutzpflicht Geltung zu verschaffen (AA 8.8.2022). Neben dem staatlichen Justizwesen bestehen in der Folge vor allem in ländlichen Gebieten Pakistans auch informelle Rechtsprechungssysteme und Rechtsordnungen, die auf traditionellem Stammesrecht beruhen (ÖB 12.2020; vgl. USDOS 20.3.2023, BS 23.2.2022). De facto spielt in weiten Landesteilen das staatliche Recht für die meisten Pakistaner kaum eine Rolle. Rechtsstreitigkeiten werden nach Scharia-Recht oder nach lokalen Rechtsbräuchen gelöst (AA 8.8.2022). Das World Justice Project reiht Pakistan 2022 auf Platz 129 von 140 teilnehmenden Staaten (WJP 2022).
Am 24. Jänner 2022 wurde erstmals eine Frau als Richterin am Supreme Court ernannt. Laut dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist dies ein Meilenstein für die traditionell konservative und von Männern dominierte Justiz im Land. Allerdings wurde die Bestellung wiederholt kritisiert, z.B. durch die pakistanische Anwaltskammer (BAMF 1.7.2022).
Allgemeine Menschenrechtslage
Die Menschenrechtslage in Pakistan bleibt schwierig und hat sich im Berichtszeitraum, in den auch ein Regierungswechsel fällt, insgesamt nicht verbessert. Zwar garantieren die pakistanische Verfassung und eine Reihe von Gesetzen fundamentale Bürgerrechte, Menschenrechte und politische Rechte, meist mangelt es jedoch an der Implementierung (AA 8.8.2022).
Der Raum für Zivilgesellschaft und öffentlich-kritische Debatte ist weiter eingeschränkt. Militär und Geheimdienste begrenzen den Aktionsradius von Zivilgesellschaft und Medien. Die öffentliche Thematisierung politisch und religiös sensibler Fragen wird ebenfalls eingeschränkt. Das Militär zwingt Journalisten mit Druck erfolgreich zu Selbstzensur (AA 8.8.2022). Behörden setzen Schikanierungen und gelegentlich auch Verhaftungen gegen Journalisten und andere Vertreter der Zivilgesellschaft ein, die Kritik an Regierung oder deren Maßnahmen üben. Das vage und breit auslegbare Gesetz gegen Volksverhetzung wird oft auch eingesetzt, um politische Widersacher oder Journalisten zu unterdrücken. Es gibt gewalttätige Übergriffe gegen Mitarbeiter von Medien (HRW 12.1.2023).
Politische Parteien können weitgehend frei arbeiten, jedoch üben Militär und Geheimdienste Druck auf unliebsame Parteien aus, in der Regel auf die Opposition. Institutionen und Menschen, die Kritik am Militär und am Nachrichtendienst ISI üben, müssen mit Sanktionen rechnen. Zudem nehmen Militär und Nachrichtendienste immer wieder Einfluss auf die mediale Berichterstattung (AA 8.8.2022). So gingen die Strafverfolgungsbehörden 2021 weiterhin hart gegen Demonstrationen der Bewegung zum Schutz der Paschtunen (Pashtun Tahaffuz Movement, PTM) vor, die sich gegen die Diskriminierung und außergerichtliche Hinrichtung von Paschtunen sowie gegen die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien (Racial Profiling) einsetzt (AI 29.3.2022). Es kommt außerdem immer wieder zu Verhaftungen ihrer Führer und exponierter Personen. Allerdings hat das Interesse an der Organisation stark nachgelassen. Gegenüber vormaligen Regierungsmitgliedern (auch dem vormaligen Premierminister) gab es seitens der jetzigen Regierung Drohungen hinsichtlich möglicher Strafanzeigen, u.a. wegen Hochverrats. Die Opposition bzw. in Ungnade gefallene Politiker bleiben damit von politisch motivierten Korruptionsermittlungen bedroht [siehe Unterkapitel Politisch motivierte Korruptionsermittlungen im Kapitel Korruption] (AA 8.8.2022).
Die pakistanischen Strafverfolgungsbehörden werden für Menschenrechtsverletzungen wie Haft ohne Anklage und außergerichtliche Tötungen verantwortlich gemacht (HRW 12.1.2023; vgl. EASO 10.2021). Extralegale Tötungen kommen vor allem in Form von polizeilichen Auseinandersetzungen vor, d.h. bei Zusammenstößen zwischen mutmaßlichen Straftätern, Militanten oder Terroristen und der Polizei oder paramilitärischen Sicherheitskräften. Als Begründung führt die Polizei regelmäßig an, dass die Opfer versuchten, aus dem Polizeigewahrsam zu flüchten, oder bei ihrer Verhaftung von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hätten. 2021 kamen laut der Menschenrechtsorganisation HRCP landesweit 294 Menschen bei "police encounters" ums Leben. In der Regel werden diese Fälle nicht gerichtlich untersucht (AA 8.8.2022; vgl. HRCP 2022, S.31). Die Polizei geht außerdem mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vor (AI 29.3.2022).
Folter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und in Gefängnissen ist - trotz des Folterverbots in der Verfassung - weit verbreitet. Die Todesstrafe wird vollstreckt. Seit Dezember 2019 fand jedoch keine Hinrichtung statt. In vielen Fällen beruhen die Todesurteile auf rechtsstaatlich zweifelhaften Verfahren. Willkürliche Festnahmen kommen insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Korruption innerhalb der Polizei vor. Selbst bei offensichtlich unbegründeten Beschuldigungen kann eine lange Inhaftierung erfolgen, ohne dass es dabei zu einer Haftprüfung kommt. Als Beispiel hierfür dienen die Blasphemie-Fälle. Die Sicherheitsdienste greifen in Fällen mit terroristischem Hintergrund oder in Fällen von Landesverrat auch auf willkürlichen und rechtswidrigen Gewahrsam zurück (AA 8.8.2022).
Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung begehen Armee und Sicherheitskräfte vor allem in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa regelmäßig menschenrechtsrelevante Verbrechen. Sogenannte "Enforced Disappearances" - das Verschwindenlassen von unliebsamen, v.a. armeekritischen Personen - zählen in diesem Zusammenhang zu den eklatantesten Menschenrechtsverletzungen in Pakistan - auch weil der Staat (v.a. Militär/ Nachrichtendienste) oftmals als Täter auftritt und seiner Schutzverantwortung nicht gerecht wird (AA 8.8.2022, vgl. HRCP 2022). Die Regierung unternahm zwar Schritte, um das Verschwindenlassen strafbar zu machen, doch war Straflosigkeit für dieses Verbrechen weiterhin die Regel [siehe auch Kapitel Folter] (AI 29.3.2022).
Die Regierung unternimmt nur wenig, um Strafverfolgungsbehörden bei Folter und anderen schwerwiegenden Übergriffen zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 12.1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022).
Gewalt und Missbrauch sowie soziale und religiöse Intoleranz durch militante Organisationen und andere nicht-staatliche Akteure tragen ebenfalls zu Problemen im Menschenrechtsbereich bei (USDOS 12.4.2022). Viele Menschenleben fallen den Anschlägen von islamistischen Militanten zum Opfer. Frauen, religiöse Minderheiten und Transgender waren mit Gewalt, Diskriminierung und Verfolgung konfrontiert, wobei die Behörden es oft verabsäumen, angemessenen Schutz zu bieten (HRW 12.1.2023). Übergriffe bleiben oft ungestraft, was eine Kultur der Straflosigkeit unter den Tätern - ob staatliche oder nicht-staatliche - fördert (USDOS 12.4.2022).
Staatliche Institutionen zum Schutz von Menschenrechten existieren auf Bundes- und Provinzebene. Diese bleiben jedoch schwach, da sie ohne angemessene Ressourcenausstattung operieren und zudem kein Schutz vor staatlicher Einflussnahme gegeben ist. Seit 2015 hat Pakistan eine nicht bei der GANHRI (Vereinigung nationaler Menschenrechtsinstitutionen) akkreditierte National Commission for Human Rights. Sie hat als eine dem pakistanischen Innenministerium zugeordnete Institution nur begrenzte Kapazitäten und verfügt über kein eigenes Budget. Auch die National Commission on the Status of Women, die Frauenrechte in Pakistan stärken soll, sowie die National Commission on the Rights of the Child bleiben in ihren Arbeitsmöglichkeiten stark beschränkt (AA 8.8.2022). Ein eigenständiges Ministerium für Menschenrechte wurde im Jahr 2015 wieder eingerichtet. Die ständigen Ausschüsse des Senats und der Nationalversammlung für Recht, Justiz, Minderheiten und Menschenrechte führen Anhörungen zu einer Reihe von Menschenrechtsproblemen durch (USDOS 12.4.2022).
Haftbedingungen
Die Verhältnisse in Pakistans Gefängnissen sind schlecht. Nach Einschätzung von UNODC und der NGO HRCP werden die Grundrechte der Strafgefangenen, insbesondere auf körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde, nicht gewahrt. Dies gilt besonders für zum Tode verurteilte Strafgefangene. Pakistans Gefängnisse leiden an Überbelegung. Ein Grund für die Überbelegung liegt in den extrem langen Untersuchungshaftzeiten, die sich aus langen Gerichtsverfahren ergeben. Außerdem stehen oft auch auf kleinere Vergehen Gefängnisstrafen (AA 8.8.2022). Die internationale Datenbank World Prison Brief beziffert mit Stand September 2021 die Zahl der Gefängnisinsassen mit 85.670, die offizielle Kapazität wird mit 64.099 Haftplätzen angegeben (WPB 9.2021; vgl. AA 8.8.2022). Nach Angaben der Gefängnisbehörden der Provinzen befinden sich 87.668 Insassen in landesweit 119 Gefängnissen, während die Gesamtkapazität demnach bei 65.334 liegt. Damit beträgt die Belegungsrate auch offiziell 134 Prozent (HRCP 2022). Die Behörden schätzen selbst, dass 70 Prozent der Häftlinge auf ihr Verfahren oder dessen Ausgang warten (USDOS 12.4.2022; vgl. HRCP 2022).
Die meisten Gefangenen werden in Blöcken mit ca. 50 Menschen pro Schlafsaal untergebracht, soweit sie nicht durch Bestechung des extrem korruptionsanfälligen Wachpersonals ihre Haftbedingungen verbessern können. Die medizinische Versorgung der Strafgefangenen ist unzureichend. Dies gilt auch für die Behandlung psychisch kranker Häftlinge (AA 8.8.2022). In vielen Einrichtungen sind Hygiene, sanitäre Anlagen, Belüftung, Beleuchtung und Zugang zu Trinkwasser unzureichend. Unterernährung bleibt ein Problem, insbesondere für Insassen, die nicht in der Lage sind, ihre Ernährung durch Hilfe von Familie oder Freunden zu ergänzen. Die unzureichende medizinische Versorgung und Ernährung in den Gefängnissen führt zu chronischen Gesundheitsproblemen. In einigen Gefängnissen sind die Bedingungen aufgrund all der genannten Mängel lebensbedrohlich (USDOS 12.4.2022).
Vertreter der christlichen Minderheit und der Ahmadis berichten, dass Mitglieder ihres Glaubens Gewalt durch Mithäftlinge ausgesetzt sind. Außerdem gibt es Berichte, wonach der Blasphemie Verdächtigte über lange Zeiträume in Einzelhaft gehalten werden. Die Regierung argumentiert, dass dies zu deren eigenem Schutz geschieht (USDOS 12.4.2022).
Es gibt Ombudspersonen für Gefangene mit einer Zentralstelle in Islamabad und Büros in jeder Provinz. Generalinspektoren für Gefängnisse besuchen in unregelmäßigen Abständen die Haftanstalten, um die Bedingungen zu überwachen und Beschwerden zu bearbeiten. Laut Gesetz müssen die Gefängnisbehörden den Inhaftierten erlauben, sich ohne Zensur bei den Justizbehörden zu beschweren und eine Untersuchung glaubwürdiger Vorwürfe über unmenschliche Bedingungen zu verlangen. Es gibt jedoch Berichte, wonach Gefangene davon absehen, Beschwerden einzureichen, um Vergeltungsmaßnahmen der Gefängnisbehörden zu vermeiden. Internationale Organisationen führen Kontrollbesuche in den Gefängnissen durch, berichten aber auch über Schwierigkeiten beim Zugang zu einigen Gefängnissen, insbesondere solchen mit Häftlingen, die aufgrund sicherheitsrelevanter Vergehen angeklagt sind. Der Zugang zu Gefängnissen in den am stärksten von Gewalt betroffenen Gebieten von Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan ist den Organisationen untersagt. Einigen Menschenrechtsorganisationen ist es erlaubt, die Bedingungen von Jugendlichen und weiblichen Häftlingen zu überprüfen (USDOS 12.4.2022).
Medizinische Versorgung
Insgesamt basiert das System der Gesundheitsversorgung in Pakistan auf zwei Hauptsäulen, dies sind einerseits öffentliche und andererseits private Gesundheitseinrichtungen (IOM 22.3.2023; vgl. WHO o.D.). In öffentlichen Krankenhäusern kann man sich bei Bedürftigkeit kostenlos behandeln lassen. Da Bedürftigkeit offiziell nicht definiert ist, reicht die Erklärung aus, dass die Behandlung nicht bezahlt werden kann. Allerdings trifft dies auf schwierige Operationen, z.B. Organtransplantationen, nicht zu. Hier können zum Teil gemeinnützige Stiftungen die Kosten übernehmen (AA 8.8.2022). In den privaten Einrichtungen fallen hohe Kosten für die Behandlung an. Insgesamt kann der Staat derzeit nicht allen Menschen eine gleiche und ausreichende Versorgung anbieten (IOM 22.3.2023).
Der Gesundheitssektor des Landes ist gleichermaßen durch ein Stadt-Land-Gefälle bei der Bereitstellung medizinischer Versorgung und ein Ungleichgewicht bei den Arbeitskräften im Gesundheitswesen charakterisiert. Insbesondere in ländlichen Gebieten mangelt es an medizinischen Fachkräften, Krankenpflegern, Sanitätern und qualifiziertem Gesundheitspersonal (TSOP 2020; vgl. DFAT 25.1.2022). Trotz einer ausgefeilten und umfangreichen Gesundheitsinfrastruktur leidet die Gesundheitsversorgung unter einigen zentralen Problemen wie einem hohen Bevölkerungswachstum, einem Mangel an Arbeitskräften, der ungleichen Verteilung medizinischer Fachkräfte, einer unzureichenden Finanzierung und einem begrenzten Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten (WHO o.D; vgl. Marham 6.8.2022). So entspricht im Allgemeinen die in weiten Landesteilen unzureichende Gesundheitsversorgung medizinisch, hygienisch, technisch und organisatorisch meist nicht europäischem Standards. In Islamabad und Karachi hingegen ist die medizinische Versorgung in allen Fachdisziplinen im Regelfall auf einem hohen Niveau, aber dadurch auch teuer (AA 2.2.2023). Des Weiteren gehört das pakistanische Gesundheitswesen laut Studien der NGO Transparency International zu den korruptesten Sektoren des Landes. Allgemeine Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Menschen mit den Gesundheitsdiensten, die sie erhalten, unzufrieden ist (Marham 6.8.2022; vgl. TIP 9.12.2022). Derzeit ist nach der Einschätzung von IOM der Zugang in ländlichen Gebieten besser, während die Bevölkerung in Städten vor größeren Herausforderungen, sowohl finanziell als auch logistisch, steht (IOM 22.3.2023).
Nach der Verfassung fällt das Gesundheitswesen in erster Linie in die Zuständigkeit der Provinzregierung. Der Staat stellt die Gesundheitsversorgung über ein dreistufiges Gesundheitssystem und eine Reihe von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zur Verfügung. Medizinische Grundversorgung wird durch Basic Health Units (BHUs) und Rural Health Centers (RHCs) geleistet. Notfall-, ambulante und stationäre Versorgung wird auf der sekundären Versorgungsebene durch Tehsil Headquarter Hospitals (THQs) und District Headquarter Hospitals (DHQs) angeboten. Darauf folgt die tertiäre Versorgungsebene, die auch Lehrkrankenhäuser umfasst (WHO o.D.).
Mit Stand 2020 gibt die WHO eine Ratio von 0,6 Grundversorgungseinrichtungen und 5,8 Spitalsbetten sowie 10,8 Ärzten und 4,9 Krankenpfleger bzw. Krankenpflegerinnen und Hebammen pro 10.000 Einwohner an (WHO 2022). Außerdem waren mit Stand 2019 über 100.000 Lady Health Workers tätig (WHO 2020). Diese versorgen vornehmlich den ländlichen Raum (DFAT 25.1.2022). Angesichts der wachsenden Bevölkerung versucht der private Sektor, die Lücke zwischen der steigenden Nachfrage und den begrenzten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zu schließen. Die Zahl der privaten Krankenhäuser, Kliniken und Diagnoselabors hat erheblich zugenommen. Sogenannte stand-alone clinics - meist von Einzelnen betrieben - sind die wichtigsten Anbieter ambulanter Gesundheitsversorgung (WHO o.D.). Durch die Flut 2022 wurden mehr als 2.000 Gesundheitseinrichtungen zerstört, das sind laut WHO mehr als 13 Prozent der Gesamtzahl des Landes (WHO 2023).
In Übereinstimmung mit den WHO-Empfehlungen zur allgemeinen Gesundheitsversorgung startete die Provinzregierung von Khyber Pakhtunkhwa (KP) 2015 das Sehat Sahulat Programm (SSP) (IJERPH 7.6.2022), das in ausgewiesenen Krankenhäusern zu tragen kommt (IOM 22.3.2023). Im Grunde ist das SSP eine Krankenversicherung, in der die Prämienbeiträge vollständig vom Staat übernommen werden. Es deckt die Sekundär- und Tertiärversorgung bei Unfällen und Notfällen, Diabetes, Nierenkrankheiten (einschließlich Dialyse und Transplantation), Hepatitis B und C, Krebserkrankungen sowie Herz- und Gefäßkrankheiten ab (Lancet 18.10.2022; vgl. SSP 2023b). Außerdem deckt es verschiedene Schwangerschaftsuntersuchungen, Geburtshilfe und Nachsorge ab (IOM 22.3.2023; vgl. SSP 2023b). Der Höchstbetrag ist auf 1 Million PKR (ca. 3.520 Euro) pro Jahr und Familie begrenzt (Lancet 18.10.2022; vgl. IOM 22.3.2023). Dieser gilt allerdings nur unter besonderen Umständen. Für die meisten Familien deckt das SSP bis zu 460.000 PKR (ca. 1.620 Euro) pro Jahr ab (Lancet 18.10.2022). Darüber hinaus bietet es unter bestimmten Bedingungen finanzielle Unterstützung für Lohnausfall während der Behandlung sowie für Transportkosten, Mutterschaftsgeld und Beerdigungskosten im Todesfall während des Krankenhausaufenthalts (Lancet 18.10.2022). Das SSP bietet auch eine individuelle Finanzhilfe für Personen mit schweren Krankheiten/Behinderungen, Witwen und Invalide mit unterhaltsberechtigten Kindern, Waisen, Studenten mit nachgewiesenen und beständigen akademischen Leistungen und mittellose Personen (IOM 30.3.2021). Es handelt sich um ein bargeldloses Programm, bei dem die Begünstigten nur diese Karte benötigen, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können (Dawn 18.1.2022).
Das SSP wurde in KP in drei Phasen ausgerollt (IJERPH 7.6.2022; vgl. IOM 30.3.2021). Zunächst war eine Sehat Insaf Card nur für jene erhältlich, die unter der Armutsgrenze lebten, d.h. mit einem Einkommen von weniger als 2 US-Dollar (1,68 Euro) pro Tag (IOM 30.3.2021; vgl. IJERPH 7.6.2022). Seit 2021 sind jedoch alle Bürger KPs für das SSP vollumfänglich anspruchsberechtigt (SSP 2023c).
Es sind Bemühungen im Gange, die Anwendungsmöglichkeit der Karte auch auf die Bewohner anderer Provinzen auszuweiten (Lancet 18.10.2022; vgl. TNI 12.11.2021). So berichtet IOM im März 2023, dass die Sehat Insaf Card für permanente Einwohner im Islamabad Capital Territory (ICT), in den Provinzen Punjab, Khyber Pakhtunkhwa (KP) sowie in AJK und Gilgit Baltistan (GB), im Sindh jedoch nur im District Tharparker, erhältlich ist (IOM 22.3.2023). Auch staatlich registrierten Menschen mit Behinderungen und Transgender-Personen wurde landesweit der allgemeine Zugang zum SSP angeboten (IJERPH 7.6.2022).
In der Provinz Sindh wurde erst kürzlich mit der Einführung des SSP begonnen, welches zunächst mehr als einer halben Million Familien zugutekam. Die vollständige Einführung in der Provinz steht jedoch noch aus. Auch die Provinz Belutschistan hinkt hinterher. Dort wurde das Programm in sechs Distrikten ausgerollt, in denen zunächst über hunderttausend Familien registriert worden sind (IJERPH 7.6.2022). Mit Stand 6.3.2023 sind laut Angaben der Programmadministration ca. 41 Millionen Familien für das SSP registriert, die auf eine Gesamtzahl von ca. 4,9 Millionen Krankenhausbesuche kommen (SSP 2023a).
Für permanente Einwohner aller noch nicht erfassten Standorte in Pakistan bietet allerdings die Computerized National Identity Card (CNIC) ebenso die Berechtigung für alle medizinischen Dienstleistungen, die unter das Unterstützungsprogramm der Sehat Insaf Card fallen (IOM 22.3.2023).
Die nicht-staatliche Entwicklungshilfeorganisation Aga Khan Development Network (AKDN) betreibt landesweit über 450 Kliniken, fünf weiterführende Krankenhäuser in Karatschi, Hyderabad und Gilgit sowie das Aga Khan University Hospital in Karatschi. Darüber hinaus arbeitet die Aga Khan Foundation (AKF) mit lokalen Regierungen zusammen, um eine Reihe von gesundheitsbezogenen Initiativen zu unterstützen, die den Zugang zur medizinischen Grundversorgung verbessern sollen (AKDN o.D.). Einige staatliche bzw. halbstaatliche Organisationen wie die Streitkräfte, halbstaatliche Unternehmen, die Eisenbahn, und die Employees Social Security Institution, bieten ihren Mitarbeitern und deren Angehörigen Gesundheitsdienste über ihre jeweils eigenen Systeme an, die jedoch insgesamt nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung abdecken (WHO o.D.).
Die Grundversorgung mit nahezu allen gängigen Medikamenten ist sichergestellt, diese sind für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich (AA 8.8.2022).
Psychische Gesundheit gilt in Pakistan als Tabu (Sehat Kajani 25.10.2022). Kulturell bedingt werden psychische Probleme im Allgemeinen als Werk übernatürlicher Kräfte oder als göttliche Strafe gesehen, was zu Stigmatisierung und zu Hürden beim Zugang zur Versorgung führt. Religiöse oder spirituelle Heiler sind meist der erste Ansprechpartner auf der Suche nach Hilfe (PMHC 2022; vgl. Borgen 2022, Sehat Kajani 25.10.2022). Der Zugang zu psychiatrischen Fachkräften ist minimal (Borgen 2022).
Der WHO Mental Health Atlas 2020 gibt für Pakistan die Zahl der psychiatrischen Krankenhäuser mit elf, der psychiatrischen Abteilungen in allgemeinen Krankenhäusern mit 800, der stationären Einrichtungen speziell für Kinder mit drei und der Einrichtungen, die stationär auf Gemeindeebene arbeiten, mit 578 an. Außerdem erfasst die WHO 3.729 ambulante Einrichtungen, die an Krankenhäuser angeschlossen sind und 624, die auf Gemeindeebene arbeiten. Des Weiteren beziffert sie die Zahl der Psychiater mit 300, der Psychologen mit 100, des psychologischen Gesundheitspersonals mit 200 und der Sozialarbeiter mit psychologischer Ausbildung mit 600 (WHO 15.4.2022).
Die meisten Dienstleistungen der psychischen Gesundheit müssen selbst bezahlt werden (PMHC 2022). Psychische Gesundheitsdienstleistungen werden als Luxus angesehen. Die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie und der Flut von 2022 haben die Lage der psychischen Gesundheit weiter verschlechtert (Sehat Kajani 25.10.2022). Die COVID-19-Pandemie hat allerdings auch zu einem breiten Angebot an kostenfreien Telefon-Hotlines geführt, die durch verschiedene Geberorganisationen finanziert werden und darauf abzielen, mehr Menschen Zugang zu psychischer Versorgung zu bieten. Eine durchgängige Planung fehlt allerdings. Davon abgesehen wird jegliche Behandlung und Rehabilitation über Spitäler im tertiären Sektor abgewickelt, auf primärer Versorgungsebene müssen diese erst integriert werden (PMHC 2022).
Rückkehr
Die Rückführung von pakistanischen Staatsangehörigen ist nur mit gültigem pakistanischen Reisepass oder mit einem von einer pakistanischen Auslandsvertretung ausgestellten nationalen Ersatzdokument möglich, nicht aber mit europäischen Passersatzdokumenten (AA 8.8.2022). Für pakistanische Staatsangehörige gibt es keine Einreisebeschränkungen, wenn sie freiwillig zurückkehren wollen (IOM 30.3.2021). Freiwillige Rückkehrer mit gültigen Reisedokumenten werden von den Grenzbehörden normalerweise wie alle anderen Pakistani, die aus dem Ausland einreisen, behandelt. Zwangsweise Rückgeführte erregen mehr Aufmerksamkeit und wenn vermutet wird, dass die Ausreise illegal war, werden sie von den Grenzbehörden befragt. Personen, die Pakistan mit gültigen Reisedokumenten verlassen und keine anderen Straftaten begangen haben, werden normalerweise nach einigen Stunden aus der Befragung entlassen (DFAT 25.1.2022).
Zurückgeführte haben bei ihrer Rückkehr nach Pakistan allein wegen der Stellung eines Asylantrags weder mit staatlichen Repressalien noch mit gesellschaftlicher Stigmatisierung zu rechnen. Eine über eine Befragung hinausgehende besondere Behandlung Zurückgeführter ist nicht festzustellen. Die pakistanischen Behörden erfragen lediglich, ob die Rückkehrer Pakistan auf legalem Weg verlassen haben. Im Falle einer illegalen Ausreise ist grundsätzlich eine Geld- oder Haftstrafe, bis zu sechs Monate, möglich (AA 8.8.2022). Unter gewissen Voraussetzungen verstoßen Pakistani nämlich mit ihrer Ausreise gegen die Emigration Ordinance (1979) oder gegen den Passport Act, 1974. Laut Auskunft der International Organization for Migration IOM werden Rückkehrende aber selbst bei Verstößen gegen die genannten Rechtsvorschriften im Regelfall nicht strafrechtlich verfolgt. Es sind vereinzelte Fälle an den Flughäfen Islamabad, Karatschi und Lahore bekannt, bei denen von den Betroffenen bei der Wiedereinreise Schmiergelder in geringer Höhe verlangt wurden. Rückkehrende, die nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen, um Schmiergelder zu zahlen, wurden in einigen Fällen inhaftiert (ÖB 12.2020). Nach einem anderen Bericht werden Personen, die bei der Ausreise gegen diese gesetzlichen Bestimmungen verstoßen haben und in Haft genommen wurden normalerweise nach einigen Tagen bei Bezahlung einer Strafe entlassen. Personen, die aufgrund eines Verbrechens in Pakistan gesucht werden oder im Ausland eine schwere Straftat begangen haben, werden verhaftet oder müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden. In den meisten Fällen geschieht die Ausreise aus Pakistan mit gültigen Reisepapieren (DFAT 25.1.2022). Dem deutschen Auswärtigen Amt ist kein Fall bekannt, in dem aus Deutschland abgeschobene pakistanische Staatsangehörige inhaftiert wurden. Aus Ländern wie der Türkei und aus den Staaten der Europäischen Union finden regelmäßig Abschiebungen nach Pakistan statt (AA 8.8.2022).
Personen, die nach Pakistan zurückkehren, erhalten keinerlei staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen. EU-Projekte, wie z.B. das European Return and Reintegration Network (ERRIN), sollen hier Unterstützung leisten (AA 8.8.2022). Dieses wird von einer NGO in Pakistan durchgeführt und bietet freiwillig und zwangsweise rückgeführten Personen Wiedereingliederungshilfe an, abhängig von ihrer Berechtigung, die von dem jeweiligen europäischen Land festgelegt wird. Einige Organisationen helfen bei der Gründung von Kleinunternehmen, indem sie finanzielle Unterstützung für Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, in Form von Krediten oder Mikrokrediten unterstützen, z.B. die KASHF-Stiftung oder die Jinnah Welfare Society (IOM 30.3.2021).
Das IOM Landesbüro für Österreich implementiert aktuell kein Programm zur unterstützten freiwilligen Rückkehr nach und Reintegration in Pakistan. Menschen, die aus Österreich freiwillige nach Pakistan zurückkehren möchten, können sich für das Reintegrationsprogramm von Frontex (Joint Reintegration Services/JRS) anmelden. Im Falle der Bewilligung stehen folgende Reintegrationsmaßnahmen zur Verfügung: Post-Arrival Paket zur Abdeckung des unmittelbaren Bedarfs nach der Rückkehr (z.B. für Flughafenunterstützung, Weiterreise, Unterkunft für die ersten 3 Tage sowie medizinische Unterstützung nach der Ankunft). Reintegrationspaket im Wert von 2.000 Euro für den Hauptantragsteller sowie im Wert von 1.000 Euro für jedes weitere Familienmitglied (IOM 24.1.2023).
Anfragebeantwortung zu Pakistan: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen [a-11252] vom 30. April 2020:
Zugang zu psychiatrischer Versorgung
Allgemeiner Überblick: psychiatrische Versorgung in Pakistan, gesellschaftliche Wahrnehmung und Deutungsmuster von psychischen Erkrankungen
Ein Artikel von BBC News vom September 2016 berichtet unter Bezugnahme auf Schätzungen der Non-Profit-Organisation Pakistan Association for Mental Health, dass über 15 Millionen PakistanerInnen an einer psychischen Krankheit leiden würden. Der Artikel fährt fort, dass in dem Land mit circa 180 Millionen EinwohnerInnen nur fünf von der Regierung betriebene psychiatrische Spitäler zur Verfügung stünden und weniger als 300 qualifizierte PsychiaterInnen praktizieren würden.
„More than 15 million people in Pakistan suffer from some form of mental illness, according to the latest estimate by the Pakistan Mental Health Association. But there are only five government-run psychiatric hospitals for a population of 180 million. And there are fewer than 300 qualified psychiatrists practising in Pakistan.“ (BBC News, 29. September 2016)
Die englischsprachige pakistanische Tageszeitung Dawn zitiert in einem bereits 2014 erschienenen Artikel zum Thema Vernachlässigung psychisch Erkrankter Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und geht davon aus, dass zehn bis 16 Prozent der Bevölkerung Pakistans von psychischen Erkrankungen betroffen seien, die große Mehrheit davon Frauen. Es gebe nur 400 PsychiaterInnen und fünf psychiatrische Spitäler, was ein alarmierendes Verhältnis von einem oder einer PsychiaterIn pro 500.000 EinwohnerInnen ergebe:
„The most shamefully neglected health field in Pakistan, mental illness afflicts 10 – 16 per cent of the population; with a large majority of those affected being women. According to the WHO, only 400 psychiatrists and 5 psychiatric hospitals exist within the entire country for a population exceeding 180 million. This roughly translates to an alarming psychiatrist-to-person ratio of 1 to half a million people.“ (Dawn, 20. September 2014)
Detaillierte Informationen zur Situation des pakistanischen Gesundheitssystems im Hinblick auf psychische Erkrankungen finden sich in einem bereits 2009 von der WHO und dem pakistanischen Gesundheitsministerium herausgegebenen Bericht:
WHO – World Health Organisation, Ministry of Health Pakistan: WHO-AIMS Report on Mental Health System in Pakistan, 2009. https://www.who.int/mental_health/pakistan_who_aims_report.pdf
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) veröffentlichte am 17. Juni 2018 eine Schnellrecherche zum Thema Zugang zu psychiatrischer Versorgung in Pakistan:
SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe: Pakistan: Zugang zu psychiatrischer Versorgung, 27. Juni 2018 https://www.ecoi.net/en/file/local/2018164/180627-pak-soins-psychiatriques-d.pdf
In einem Beitrag des Routledge Handbook of Psychiatry in Asia zu Pakistan, das 2016 herausgegeben wurde, beruft sich der Autor Rizwan Taj auf eine Quelle aus dem Jahr 2004 und beschreibt, dass in der pakistanischen Gesellschaft, verstärkt durch den Glauben traditioneller Wunderheiler („faith healers“), weithin angenommen werde, dass psychische Erkrankungen durch übernatürliche Kräfte wie Inbesitznahme durch Geister oder durch eine Prüfung Gottes verursacht würden. Familien von Betroffenen würden normalerweise als erstes religiöse Heiler aufsuchen. PakistanerInnen würden großes Vertrauen in religiöse Heiler und die von ihnen verwendeten koranischen Texte haben, was die Heiler in eine mächtige Position bringen würde, den Menschen bei der Lösung ihrer psychologischen Probleme zu helfen. Die traditionellen Heiler würden Talismane verwenden und sie den Familien der PatientInnen geben. Der Autor berichtet von einer Studie aus dem Jahr 2000, die ergeben habe, dass Heiler („faith healers“) eine Klassifizierung verwenden würden, die auf der Unterscheidung nach den unterschiedlichen mystischen Ursachen einer Störung basiere, wie etwa die Verursachung der Störung durch einen bösen Fluch („saya“), durch die Besessenheit von einem bösen Geist („jinn“) oder einer Hexe („churail“):
„It is widely perceived by members of the community, reinforced by the beliefs of traditional faith healers, that mental illness is caused by supernatural forces such as spirit possession or testing by God [...]. Religious healers are usually the first group of practitioners sought out by families of the mentally ill. Pakistani people have strong faith in religious healers and the Quranic texts used by them, which places these healers in a powerful position to help people solve their psychosocial problems. The traditional healers use talismans and give them to the families of the patients. [...] In a study that investigated mental disorders among attenders at faith healers, it was found that the classification used by faith healers was based on the mystic cause of disorders: saya (27 per cent), jinn possession (16 per cent) or churail possession (14 per cent). Jinn or churail are considered supernatural creatures.“ (Taj, 2016, S. 113)
The News on Sunday ist ein wöchentlich erscheinendes Magazin der englischsprachigen pakistanischen Tageszeitung The News International. The News on Sunday veröffentlichte am 16. Februar 2020 einen Artikel zum Thema Mythen über psychische Gesundheit, in dem es heißt, dass psychische Erkrankungen oft mit übernatürlichen Kräften wie Hexerei, Besessenheit und schwarzer Magie assoziiert würden. Es gebe viele Mythen über psychisch Erkrankte. So würden etwa Menschen mit Psychosen gemieden, weil sie für gewalttätig gehalten würden. Es werde auch geglaubt, dass psychische Störungen ansteckend seien, in dem Sinn, dass der im Patienten befindliche böse Geist auch mit diesem interagierende Personen plagen könne. Viele Menschen würden das Gefühl haben, dass Schreine die beste Chance auf Genesung von einer solchen Erkrankung bieten würden. Nachdem ein funktionierendes formelles Gesundheitswesen fehle, würden traditionelle spirituelle Heiler in Pakistan das Sagen haben. Gemeinhin bekannt als Baba, Pir oder Sufi, seien die spirituellen Heiler in der Gemeinschaft sehr angesehen. Sie würden in ihren Residenzen, Kliniken, Schreinen oder Moscheen praktizieren und psychische Erkrankungen mit Besessenheit von bösen Geistern oder von Feinden ausgehende magische Einflüssen erklären:
„Mental illness is often associated with supernatural forces such as witchcraft, possession, and black magic. [...] There are many myths regarding the mentally ill. People who have psychosis are shunned as violent. Secondly, it is believed that mental disorders are communicable, that is, the evil spirit of the patient can afflict the persons interacting with the patient. Thirdly, many people feel that shrines offer the best chance of recovery from the affliction. [...] In the absence of a formal functioning health system that is adequate for the needs of the population, traditional spiritual healers call the shots in Pakistan. Popularly known as baba, pir, or Sufi, the spiritual healers are well respected in the community. They practice at their residences, clinics, shrines or mosques and explain mental illness in terms of possession by an evil spirit, or by magical influences cast by enemies.“ (The News on Sunday, 16. Februar 2020)
Stigmatisierung durch die Gesellschaft, schädigende Praktiken, Wunderheiler, religiöse Aspekte
Der oben erwähnte BBC Artikel vom September 2016 berichtet, dass in konservativen Regionen oft schon dem bloßen Sprechen über psychische Erkrankungen ein soziales Stigma anhafte und psychische Erkrankungen als Charakterschwäche abgetan würden. Der Artikel zitiert einen Psychiater eines Privatspitals in Lahore, der beschreibt, dass die pakistanische Gesellschaft versuchen würde, Personen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, herabzuwürdigen, indem Betroffene entfremdet („alienated“) oder lächerlich gemacht würden. Der Psychiater erklärt weiter, dass auch die, die es sich leisten könnten, Hilfe zu suchen, Angst haben würden zuzugeben, dass sie leiden würden. Für entmachtete Arme gebe es keine Hoffnung außer auf Heilige und Aberglauben zurückzugreifen:
„In conservative areas, there is often a social stigma attached to even talking about mental illness and it is dismissed as a ‚weakness of character’. [...] Dr Usman Rasheed is the director of Fountain House, a private mental health hospital, based in Lahore. [...] ‚Our society tries to degrade anyone who is suffering from this, by alienating or ridiculing them,’ he said. ‚Even those who can afford to seek help are afraid to admit that they are suffering. What hope is there for the disempowered poor but to resort to saints and superstition?’“ (BBC News, 29. September 2016)
Der Artikel schildert weiters das Beispiel eines zwanzigjährigen Mannes mit psychischer Erkrankung, der nach der Erzählung seiner Mutter zwei Jahre lang immer wieder fortgelaufen sei und sie ihm immer nachlaufen habe müssen. Er sei durch die Straßen gezogen und die Kinder hätten ihn mit Steinen beworfen, das habe sie nicht mehr mitansehen können. Sie hätten kein Geld gehabt, um Medikamente für seine Behandlung zu bezahlen, als ihnen jemand erzählt habe, dass es nahe der Stadt Burewala, in der Provinz Punjab, einen Baba gebe, zu dem sie ihren Sohn bringen sollten. Dort würde er angekettet werden und wenn es ihm besser ginge, würde Gott die Ketten lösen, sie würden sich von selbst lösen. Die Eltern hätten ihren psychisch kranken Sohn zu diesem alten Schrein im Punjab gebracht, wo er nun [zum Zeitpunkt der Recherche der BBC, Anmerkung ACCORD] an einen alten Baum angekettet sei:
„Ahmad, 20, keeps looking to his mother as if for reassurance, his eyes wide and scared. [...] The chains around his ankle which bind him to an old tree rattle with every movement. The last of her borrowed money has been spent in travelling from her native town of Gujranwala to this ancient Punjabi shrine in the south of the province. ‚For two years, he kept running away and I ran after him until the soles of my feet were bleeding,’ she said. ‚He used to roam the alleys and children would pelt him with stones until I couldn't take it any more.’ [...] ’But then someone told us that there's a baba in Punjab, you people are poor, take your son there, they will bind him with chains and when he gets better, God will undo the chains, they will open by themselves.’ Dozens of desperate families scattered around the courtyard of Sufi saint Haji Sher Baba near the city of Burewala share the same belief.“ (BBC, 29. September 2016)
Der Artikel fährt fort, dass hunderte psychisch Kranke aus verarmten Familien ihr Leben an Bäume gekettet und auf Heilung wartend in diesem Schrein verbringen würden. In einer Gesellschaft, in der eine psychische Erkrankung oft nicht anerkannt und häufig verhöhnt werde, würde der Schrein laut den Familien einen Zufluchtsort bieten. Psychiatrische ExpertInnen würden sagen, dass die meisten Menschen, die zu dem Schrein gebracht würden, an diagnostizierbaren und behandelbaren Krankheiten leiden würden, aber dass die Familien, die hierher kämen kein Geld haben würden, um Zugang zu einer Behandlung zu bekommen, oder es ihnen am dafür nötigen Bewusstsein fehle:
„Hundreds of mentally ill individuals from impoverished families spend every season of their life here, chained to trees and waiting for a cure. In a society where mental illness is often not acknowledged and frequently ridiculed, the families say the shrine offers a sanctuary. Psychiatric experts say that most of the people brought here appear to be suffering from diagnosable and treatable mental conditions. But the people who come here do not have the money or the awareness to access this treatment.“ (BBC, 29. September 2016)
Der Wächter des Schreins würde die Lebensbedingung im Schrein gegen Anschuldigungen, dass sie zu brutal wären, verteidigen, setzt der BBC-Artikel fort. Er wird mit den Worten zitiert, dass die Betroffenen Essen und einen Platz zum Schlafen erhalten würden und man ansonsten für die Verrückten („insane“) nichts tun könne. Der Wächter beteuert, dass er einige wundersame Heilungen mit eigenen Augen gesehen habe, die Ketten würden sich automatisch öffnen, wenn die PatientInnen geheilt seien. Sie müssten aufgrund des Schwurs gegenüber Sufi Baba auf Matten schlafen und auf dem Boden sitzen. Die Zahl der „Patienten“ habe sich in den letzten Jahren verdoppelt:
„Atta Muhammad, who has been the custodian of the shrine for two decades, defends the living conditions of the people against accusations they are too harsh. ‚We give them food and a place to sleep. What else can we provide for the insane?’ He claims to have seen several of the miracle cures with his own eyes. ‚Their chains open automatically when they are cured. It's their vow to Sufi Baba that they must sleep on the mat and sit on the floor.’ He also says the number of ‚patients’ appears to have doubled over the past few years [...]“ (BBC, 29. September 2016)
Im Zeitraum November bis Dezember 2015 führten Nashi Khan et al. eine Studie durch, für die 38 Personen mit der Diagnose einer schweren depressiven Störung in Pakistan untersucht wurden. Die Studie, die Unterschiede aufgrund des sozialen Geschlechts („gender“) im Hinblick auf Diskriminierung und Stigmatisierung bei PatientInnen in Pakistan untersucht, ergab, dass unter den StudienteilnehmerInnen sowohl Männer als auch Frauen in hohem Maße aufgrund ihrer psychischen Erkrankung stigmatisiert und diskriminiert würden. Frauen würden jedoch im Vergleich zu Männern ein signifikant höheres Maß an internalisierter Stigmatisierung erfahren, insbesondere in den Bereichen Diskriminierungserfahrung und sozialer Rückzug:
„Both Men and Women experience considerably high level of associated Stigma and Discrimination due to their Mental Illness. However, Women in comparison to Men experience significantly greater level of Internalized Stigma especially in domains of Discrimination Experience and Social Withdrawal.“ (Khan, November – Dezember 2015)
Der bereits oben zitierte Artikel des Wochenmagazins The News on Sunday vom Februar 2020 berichtet, dass Familien psychische Erkrankungen oft verheimlichen würden, um die PatientInnen vor negativer Stereotypisierung zu schützen. Es werde oft berichtet, dass Betroffene als Teil einer Therapie körperlich verletzt würden. Auch Massenmedien würden psychische Erkrankungen stigmatisieren. Verstörende Enthüllungen über spirituelle Heiler in Live-Sendungen würden die Probleme bei der Behandlung von psychischen Störungen übertreiben:
„Families often hide mental illness to prevent the patient from adverse stereotyping. [...] It is frequently reported that patients are physically harmed as part of their treatment. Mass media also stigmatizes mental illness. Disturbing revelations about the spiritual healers in live telecasts exaggerate the problems in the treatment of mental disorders.“ (The News on Sunday, 16. Februar 2020)
Umgang von Institutionen/staatlichen Stellen mit psychisch Erkrankten Der englischsprachige Nachrichtensender Al Jazeera America veröffentlichte im Oktober 2015 einen Artikel, der vom problematischen Umgang Pakistans mit psychisch Erkrankten handelt. Darin wird erläutert, dass im Jahr 2001 der bis dahin gültige und noch aus Zeiten der britischen Kolonialherrschaft stammende Lunacy Act des Jahres 1912 durch die Verordnung zur psychischen Gesundheit („The Mental Health Ordinance 2001“, MHO) ersetzt worden sei (Al Jazeera America, 7. Oktober 2015). In einem Bericht der pakistanischen Regierung an den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) vom 31. März 2020 stellt die pakistanische Regierung dar, dass die Verordnung auf bessere Versorgung, Behandlung und Rehabilitation abziele, indem Gemeinden mobilisiert und ermutigt würden. Durch die Verordnung sei die Bundesbehörde für psychische Gesundheit dafür verantwortlich, die Behandlung von Personen mit psychischen Störungen, die Dauer der Festsetzung („detention“) von Personen mit psychischen Störungen zu regeln, Gerichtsverfahren für die Ernennung eines Vormunds der Person vorzusehen und Vorkehrungen zu treffen, damit grundlegende Menschenrechte von Personen mit psychischen Erkrankungen geschützt würden:
„‘The Mental Health Ordinance 2001’, repeals the Lunacy Act, 1912 with amendment in the laws relating to the treatment and care of mentally disordered persons. It emphasizes on better care, treatment, and rehabilitation service by mobilizing and encouraging communities. Through this, the federal mental health authority is responsible to regulate treatment of persons with mental disorders, duration of periods of detention of persons with mental disorders, provides for judicial proceedings for appointment of guardian of person, as well as to make provision for protection of basic human rights of persons with mental disorders.” (CRPD, 31. März 2020)
Al Jazeera America bringt in dem bereits erwähnten Artikel vom Oktober 2015 vor, dass die neue Verordnung zwar eine große Verbesserung zum rechtlichen Vorgänger von 1912 darstelle, aber nur schlecht implementiert sei. Außerdem müsse die Verordnung zur psychischen Gesundheit abgeändert werden, um sicherzustellen, dass Behörden die psychische Gesundheit von Angeklagten sowie von bereits Verurteilten untersuchen würden, um damit von der WHO festgelegten internationalen Standards zu genügen:
„In order to meet international standards set by the World Health Organization, the MHO will have to make be amended to ensure that authorities will investigate the mental health of those under trial as well as those who have been convicted.“ (Al Jazeera America, 7. Oktober 2015)
Laut einem Onlinebeitrag der international tätigen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) vom 29. November 2018 seien in Pakistan viele Personen mit schweren psychischen Erkrankungen zum Tode verurteilt worden. Der Beitrag schildert das Beispiel eines 50-jährigen Gefängnisinsassen, der seit über 17 Jahren inhaftiert sei. Seine Exekution, die für November 2017 angesetzt gewesen war, sei aufgehoben worden, da ein medizinischer Ausschuss festgestellt habe, dass er an chronischer Schizophrenie leide. Der 50-Jährige sei einer von vielen in der Todeszelle sitzenden Gefangenen mit psychosozialen Behinderungen. Im April 2018 habe der Oberste Gerichtshof Pakistans die Todesurteile von zwei weiteren Inhaftierten mit psychosozialen Behinderungen untersucht, wobei der Oberste Richter angemerkt habe, dass er aus Gründen der Vernunft und des Gefühls („sensibility“) nicht glaube, dass eine psychisch kranke Person hingerichtet werden solle. Die beiden betroffenen Personen würden laut HRW weiterhin in der Todeszelle sein. Einer dieser beiden Fälle betreffe eine der wenigen Frauen, die in Pakistan zum Tode verurteilt seien. Laut ihren Anwälten soll sie seit 12 Jahren nicht mehr gesprochen haben und weder essen noch trinken oder auf andere Weise ohne Hilfe für sich selbst sorgen können. Sie sei bereits seit 29 Jahren im Gefängnis:
„This week, a medical board confirmed that Saleem Ahmad, a prisoner on death row for 14 years, has chronic schizophrenia. Ahmad, 50, had been scheduled to be executed in November 2017, but a court suspended his execution and ordered a medical board to assess his mental health. Ahmad – who was convicted of murder – has been in prison for more than 17 years. [...] Ahmad is one of many prisoners with psychosocial disabilities on death row. In April, the Supreme Court of Pakistan reviewed the death sentences of Kaniz Fatima and Imdad Ali, death row convicts with psychosocial disabilities. During the proceedings, the Chief Justice of the Supreme Court remarked: “Neither reason nor sensibility allow me to believe that we can execute a mentally ill or disabled person.” Kaniz Fatima and Imdad Ali remain on death row. Kaniz Fatima is one of the few women on death row in Pakistan. According to her lawyers, she has not spoken for 12 years and is unable to eat, drink, or take care of herself without assistance. She has been in prison for 29 years.“ (HRW, 29. November 2018)
Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) veröffentlichte am 21. Dezember 2016 einen Bericht zum Missbrauch der Blasphemie-Gesetze. Nachforschungen für diesen Bericht haben laut AI ergeben, dass Personen mit psychischen Behinderungen einem besonderen Risiko ausgesetzt seien, der Blasphemie angeklagt zu werden. Beispielhaft führt der Bericht den Fall eines 14-jährigen, christlichen Mädchens mit Lernschwäche an, das im Jahr 2012 verhaftet und wegen Gotteslästerung angeklagt worden sei, nachdem ein muslimischer Geistlicher behauptet habe, sie habe Seiten des Koran verbrannt. Das Gericht habe den Fall aufgrund fehlender Beweise aufgehoben:
„Research gathered for this report has shown that individuals with mental disabilities are at particular risk of being accused of blasphemy. In one such example, Rimsha Masih, a 14-year-old Christian girl with a learning disability, was arrested and charged with blasphemy in 2012, following allegations by a Muslim cleric that she had burned pages of the Quran. The High Court accepted the petition and quashed the case against her for lack of evidence.“ (AI, 21. Dezember 2016)
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes und das Ergebnis der durchgeführten mündlichen Verhandlung. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, die er im Zuge des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, waren auf Grund seiner Orts- und Sprachkenntnisse nicht zu bezweifeln. Die Identität des Beschwerdeführers wurde bereits vom BFA als feststehend festgestellt und ergibt sich auch aus dem vorgelegten pakistanischen Reisepass.
2.2 Zu seinem Gesundheitszustand
Die Feststellungen zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen, zur medizinischen sowie therapeutischen Behandlung beruhen auf den bereits im Verfahren vom BFA ermittelten sowie den im Beschwerdeverfahren vorgelegten nachvollziehbaren, schlüssigen und folgerichtigen Befundberichten, ärztlichen Bestätigungen, die von einer anerkannten Einrichtung für Folteropfer, von Fachärzten, Psychologen und Psychotherapeuten stammen. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen waren schließlich auch in der mündlichen Verhandlung zu bemerken. HEMAYAT, Klinisch-psychologischer Befundbericht 22.01.2025 (OZ 13); XXXX , Patientenbrief XXXX (OZ 4); XXXX , Patientenbrief XXXX (OZ 11); VS 20.03.2025 S 3, 4)
2.3 Zum Ausreisegrund und bestehender Gefahr bei einer Rückkehr
Der Beschwerdeführer erstattete zu der von ihm vorgebrachten Furcht und seinen Erlebnissen vor seiner Ausreise von Beginn an während der Einvernahme vor dem BFA, in seinen schriftlichen Ausführungen und in der mündlichen Verhandlung ein kohärentes, im Wesentlichen auch widerspruchsfreies, jedoch nicht gleichlautendes Vorbringen, sodass ein einstudierter Vortrag auszuschließen ist. (NS EV 05.09.2023 S 4 ff; Schriftliche Stellungnahme (AS 189 ff); Beschwerde S 3 ff; VS 23.07.2024 S 7 ff; VS 20.03.2025 S 4 ff)
Bereits das BFA legte das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner Antragsbegründung der Beurteilung im angefochtenen Bescheid zugrunde und erachtete dieses nicht als unglaubhaft.
Das BFA nahm jedoch an, dass es sich im Falle des Beschwerdeführers um eine Verfolgung und Misshandlung „durch Privatpersonen“ handle, sich aus den Ausführungen des Beschwerdeführers keine Verfolgung durch staatliche Behörden ergeben habe und der Beschwerdeführer im Fall einer Bedrohung und Verfolgung durch private Dritte eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen könne. (BFA Bescheid S 49) Das BFA hielt zudem – im Rahmen der Sachverhaltsfeststellungen sowie im Rahmen der Beweiswürdigung – fest, dass der Beschwerdeführer keinen „asylrelevanten Fluchtgrund“ vorgebracht habe. (BFA Bescheid S 10, 49, 50)
Die Beurteilung des BFA, dass es sich im Falle des Beschwerdeführers um eine Verfolgung durch „private Dritte“ handle, kann bei näherer Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers vor dem BFA, in der Beschwerde und nach Durchführung des Beschwerdeverfahrens nicht aufrecht bleiben.
Dies zunächst deshalb, da der Beschwerdeführer bereits in der Einvernahme vor dem BFA dargelegt hat, dass er von der Polizei mit dem Polizeiwagen zu jenen Personen gebracht wurde, von denen er in der Folge verhört, misshandelt und im Zuge dessen auch vergewaltigt wurde. Jene Personen hätten ihm auch gesagt, dass weitere Ermittlungen durchgeführt würden und er wurde nach Informationen zu den Plänen für die bevorstehende Demonstration befragt. Ihm wurde auch vorgehalten, dass er bereits an einem Protest im Jahr 2021 teilgenommen habe, bei dem Polizisten getötet wurden. Zwar hatte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA angegeben, dass er von der Polizei an „keine Polizisten, sondern private Personen“ ausgeliefert worden sei (NS EV 05.09.2023 S 6), allerdings ergibt sich bereits aus dem Kontext seiner vollständigen Schilderung, dass die Polizei mit jenen Personen zusammengearbeitet hat und zwischen den Folterern und der Polizei ein Zusammenhang bestand und es sich um Verhöre einer Ermittlungsbehörde handelte. (NS EV 05.09.2023 S 6; Schriftliche Ausführungen (AS 193)) In der Beschwerde führte der Beschwerdeführer dann aus, dass jene Personen, zu denen Personen er gebracht wurde, „keine Polizeiuniform getragen haben“ (Beschwerde S 3), was seine Formulierung beim BFA erklärt, dass er an „private“ Personen ausgeliefert wurde. Aus dem Fehlen von Polizeiuniformen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass es sich bei den Folterern um keine Sicherheitsorgane oder Ermittlungsorgane des pakistanischen Staates gehandelt hat.
In der mündlichen Verhandlung am 23.07.2024 gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht wisse, wer jene Personen gewesen seien, von denen er misshandelt worden sei, er aber glaube, dass diese auch von der Polizei gewesen seien. Er erklärte dies damit, dass jene Funkgeräte und Waffen gehabt hätten, er auch von der Polizei an jene Personen übergeben worden sei und ihm dieselben Fragen gestellt worden seien, die seinem Vater ein Jahr davor, als jener selbst aufgrund dessen Verbindung zu Khadim Hussain Rizvi verdächtigt worden sei, von Polizisten gestellt worden seien. Und er schilderte, dass es auch nach seiner Ausreise zu einer Suche nach ihm bei seinem Vater gekommen sei. (VS 23.07.2024 S 8, 9; VS 20.03.2025 S 4) Seine Ausführungen erweisen sich als schlüssig, widerspruchsfrei und stehen mit seinen übrigen Angaben in Einklang, sodass diese ebenso als glaubhaft erachtet werden.
Schließlich ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass die pakistanische Polizei mit anderen (zT paramilitärischen) Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten zusammenarbeitet sowie in Pakistan illegale Polizeigewahrsam und Misshandlungen oft Hand in Hand gehen, um den Druck auf die festgehaltene Person bzw. deren Angehörige zu erhöhen, durch Zahlung von Bestechungsgeldern eine zügige Freilassung zu erreichen, oder um ein Geständnis zu erpressen. Auch Haft ohne Anklage, sowie Fälle von staatlichem Verschwindenlassen kommt in Pakistan immer wieder vor. Aus den Länderfeststellungen ergibt sich zudem, dass in derartigen Fällen laut den Länderfeststellungen auch kein effektiver Rechtsschutz vorhanden ist und dem Beschwerdeführer auch kein faires Verfahren offensteht, um sich gegen die zu Unrecht gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu wehren. (im Detail siehe oben 1.3)
Unter Berücksichtigung der soeben getroffenen Ausführungen ergibt sich in einer Gesamtbetrachtung sämtlicher Umstände des vorliegenden Falles, dass es sich im Falle des Beschwerdeführers um Verfolgungshandlungen staatlicher pakistanischer Sicherheitsbehörden und keineswegs um eine Verfolgung durch „private Dritte“ handelt.
Dem Beschwerdeführer droht daher bei einer Rückkehr in ganz Pakistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung und Eingriffe in seine körperliche Integrität in erheblichen Ausmaß durch pakistanische Sicherheitsorgane aufgrund einer ihm unterstellten religiös-extremistischen und politisch-oppositionellen Gesinnung.
2.4 Zur aktuellen Ländersituation in Pakistan
Die getroffenen Feststellungen zu den Verhältnissen in Pakistan beruhen auf dem Bericht der EUAA, Pakistan - Country Focus, Country of Origin Information Report, December 2024, dem Bericht des niederländischen Außenministeriums General Country Of Origin Report On Pakistan, Juli 2024 sowie den Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation zu Pakistan aus dem COI-CMS vom Februar 2024. Die herangezogenen Berichte stammen nicht nur von staatlichen, sondern auch von nichtstaatlichen Einrichtungen und internationalen Medien. Angesichts der Ausgewogenheit und Seriosität der genannten Quellen sowie der Plausibilität der weitestgehend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht für das Bundesverwaltungsgericht daher kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte zu zweifeln. Die Feststellungen zur psychiatrischen Versorgung in Pakistan ergeben sich aus der Anfragebeantwortung zu Pakistan: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen [a-11252] von ACCORD vom 30.04.2020, sowie aus der Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse Pakistan: Zugang zu psychiatrischer Versorgung vom 27.06.2018.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (§ 3 AsylG 2005)
3.1 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra 2015/19/0143).
3.2 Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
3.3 Der EGMR hat in seiner Entscheidung Bouyid vom 28.09.2015, 23.380/09 (Große Kammer) ausgesprochen, dass jeder Rückgriff auf physische Gewalt gegen eine ihrer Freiheit beraubte Person, der nicht durch deren Verhalten unbedingt erforderlich gemacht wurde, ihre Menschenwürde vermindert und daher grundsätzlich das in Art 3 EMRK vorgesehene Recht verletzt. Der Ausdruck »grundsätzlich« kann nicht dahingehend verstanden werden, dass es Situationen geben könnte, in denen eine solche Feststellung einer Verletzung nicht geboten ist, weil der gebotene Schweregrad nicht erreicht wurde. Jeder Eingriff in die Menschenwürde trifft den Kern der Konvention. Aus diesem Grund begründet jedes Verhalten von Exekutivbeamten gegenüber einer Person, das die Menschenwürde herabsetzt, eine Verletzung von Art 3 EMRK. Das gilt insbesondere für ihren Einsatz physischer Gewalt gegen eine Person, wenn dieser nicht aufgrund ihres Verhaltens absolut notwendig ist, unabhängig von seinen Auswirkungen auf die betroffene Person (vgl EGMR Bouyid, 28.09.2015, 23.380/09 (Große Kammer))
Zum gegenständlichen Fall
3.4 Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt droht dem Beschwerdeführer Verfolgung durch die pakistanischen Sicherheitsbehörden wegen einer ihm (zu Unrecht) unterstellten religiös-extremistischen und politisch-oppositionellen Gesinnung. Es droht ihm daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, eine aktuellen sowie unmittelbare persönliche und konkrete Verfolgung im Sinne eines ungerechtfertigten Eingriffes von erheblicher Intensität in seine persönliche Sphäre. Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt wurde der Beschwerdeführer bereits von Personen, die den pakistanischen Sicherheitsbehörden zuzurechnen sind, misshandelt und im Zuge dessen auch vergewaltigt. An den physischen und psychischen Folgen dieser Tortur leidet er noch heute in erheblichem Ausmaß. Bereits jegliche bloße Rückverbringung des Beschwerdeführers wäre laut den vorliegendem Befundbericht mit Sicherheit mit einer relevanten Retraumatisierung und der damit einhergehenden erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes verbunden.
Aus den Länderfeststellungen ergibt sich zudem, dass in derartigen Fällen laut den Länderfeststellungen auch kein effektiver Rechtsschutz vorhanden ist und dem Beschwerdeführer auch kein faires Verfahren offensteht, um sich gegen die zu Unrecht gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu wehren. (im Detail siehe oben 1.3)
Es kann im vorliegenden Fall auch nicht angenommen werden, dass sich der Beschwerdeführer der dargestellten Bedrohung durch Ausweichen in einen anderen Teil seines Herkunftsstaates entziehen kann; die Gebiets- und Hoheitsgewalt der pakistanischen Regierung und insbesondere der pakistanischen Sicherheitsbehörden erstreckt sich auf das gesamte pakistanische Staatsgebiet. Zudem ist der Beschwerdeführer laut den Feststellungen auf eine geschützte Lebenssituation und eine engmaschige fachärztliche, psychiatrische und psychologische Betreuung angewiesen, die in Pakistan laut Länderfeststellungen nur eingeschränkt und oftmals unzulänglich verfügbar ist und die es dem Beschwerdeführer unmöglich machen würde, sich dauerhaft verborgen zu halten und sich der Suche zu entziehen.
3.5 Im Verfahren haben sich schließlich keine Hinweise auf die in Artikel 1 Abschnitt C und F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- und Ausschlussgründe ergeben.
3.6 Im vorliegenden Fall sind somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben.
3.7 Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu B)
Revision
3.8 Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist.
3.9 Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.