Spruch
W169 2291601-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2024, Zl. 1337588905-223949959, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.10.2024 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Somalia, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 17.12.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, zu welchem sie am Folgetag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurde. Sie gab an, der Religionsgemeinschaft der Muslime und der Volksgruppe der Somalier anzugehören. Sie stamme aus der Stadt Qoryooley, habe sechs Jahre die Grundschule besucht und sei keinem Beruf nachgegangen. Ihre Eltern seien verstorben, ihre Schwester lebe in Somalia. Das Land habe sie im Jahr 2020 legal mit dem Flugzeug in die Türkei verlassen, wo sie ihren Reisepass verloren habe. Ihre Schleppung sei „von anderen“ bezahlt worden. Zu ihrem Ausreisegrund gab sie zu Protokoll, dass sie in ihrer Heimat gegen ihren Willen zwangsverheiratet worden sei. Diese Familie habe sie in die Türkei geschickt, damit sie dort eine Großmutter pflege. Die Frau sei in der Türkei verstorben, woraufhin die Beschwerdeführerin nach Europa geflohen sei, bevor sie zurück zu dieser Familie gehe. Im Falle einer Rückkehr habe die Beschwerdeführerin Angst, dass die Familie sie zu dem Mann zurückbringe bzw. sie versklave. Sie habe keine Familie mehr in Somalia.
2. Anlässlich ihrer Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 11.03.2024 gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime und dem Clan der Madhiban, Subclan Mohamed Barre, angehöre. Sie stamme aus der Stadt Qoryooley, wo sie sechs Jahre die Schule besucht habe. Ihre Mutter sei früh verstorben und sie habe dort mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter gelebt. Ihr Vater sei im Jahr 2021 auch verstorben. Ihre verheiratete Schwester lebe mit ihrer eigenen Familie in der Nähe der Stadt. Die Beschwerdeführerin habe als Kellnerin im Restaurant ihrer Stiefmutter und später als Putzfrau gearbeitet.
Zu ihrem Ausreisegrund führte die Beschwerdeführerin in freier Erzählung aus, dass ihre Stiefmutter von einem alten Mann Geld genommen habe und sie zwangsverheiraten habe wollen. Das habe die Beschwerdeführerin nicht wollen. Sie sei weggelaufen, weil ihre Stiefmutter sie umbringen habe wollen, und habe diesen Job (gemeint: als Putzfrau) gefunden. Die Chefin sei krank geworden und sie sei eine sehr nette Frau gewesen. Die Beschwerdeführerin sei mit ihr (gemeint: in die Türkei) ausgereist.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und monierte nach Angabe der Gründe ihrer Ausreise unter Ausführung näherer Gründe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung.
5. Am 25.10.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt nicht erschienen. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde die Beschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt (s. Verhandlungsprotokoll).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest. Sie ist eine Staatsangehörige von Somalia und gehört der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie der berufsständischen Minderheit der Madhibaan an. Sie stammt aus der in der Region Lower Shabelle gelegenen Stadt Qoryooley.
Entgegen den von ihr angegebenen Ausreisegründen wurde die Beschwerdeführerin in Somalia weder zwangsverheiratet noch war sie davon bedroht. Eine solche droht ihr auch nicht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsort. Der nach WHO-Typ III beschnittenen Beschwerdeführerin droht in Somalia keine weitere Genitalverstümmelung in Form einer Reinfibulation sowie kein gesellschaftlicher Ausschluss oder eine sonstige Diskriminierung oder Gefährdung aufgrund der in Österreich vorgenommenen Defibulation. Sie ist in Somalia keine alleinstehende Frau.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Somalia wird Folgendes festgestellt:
1. Frauen
Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten (USDOS 12.4.2022, S. 40). Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär (AA 28.6.2022, S. 17). Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet (LIFOS 16.4.2019, S. 10; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 40). Sie genießen nicht die gleichen Rechte und den gleichen Status wie Männer und werden diesen systematisch untergeordnet. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (USDOS 12.4.2022, S. 40).
Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst (ICG 27.6.2019, S. 3). Frauen sind das ökonomische Rückgrat der Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie (SIDRA 6.2019b, S. 2). Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (TE 11.3.2019; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 11). Außer bei großen Betrieben spielen Frauen eine führende Rolle bei den Privatunternehmen. In Mogadischu und Bossaso gehören ca. 45 % aller formellen Unternehmen Frauen (WB 22.3.2022).
Politik: Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben (AA 28.6.2022, S. 18). Die eigentlich vorgesehene 30-%-Frauenquote für Abgeordnete im somalischen Parlament wird nicht eingehalten. Aktuell liegt diese bei 20 % (UNSC 13.5.2022, Abs. 2; vgl. ÖB 11.2022, S. 12) im Unterhaus und 26 % im Oberhaus (14 von 54 Sitzen) (USDOS 12.4.2022, S. 31; vgl. ÖB 11.2022, S. 12; UNSC 8.2.2022, Abs. 12). In der neuen Regierung nehmen Frauen 10 Sitze ein, was einen Anteil von 13 % ausmacht (UNSC 1.9.2022, Abs. 9).
Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37), bleiben häusliche (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze (USDOS 12.4.2022, S. 34/37).
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs (FH 2022a, G3; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34ff, ÖB 11.2022, S. 11). Im Jahr 2021 kam es zu einem Anstieg an derartigen Fällen, oft werden Opfer auch getötet (HRW 13.1.2022; vgl. UNFPA 14.4.2022). Auch im Jahr 2022 ist die Zahl an Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter gestiegen. Im Jahr 2021 setzten sich die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wie folgt zusammen: 62 % physische Gewalt; 11 % Vergewaltigungen; 10 % sexuelle Übergriffe; 7 % Verweigerung von Ressourcen; 6 % psychische Gewalt; 4 % Zwangs- oder Kinderehe. 53 % der Fälle ereigneten sich im Wohnbereich der Opfer. 2021 war eine hohe Rate an Partnergewalt zu verzeichnen; mit der Rücknahme von Covid-19-bedingten Einschränkungen ist die Rate an Partnergewalt zuletzt gesunken. 74 % aller registrierten Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs (UNFPA 14.4.2022). Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert (USDOS 12.4.2022, S. 35).
Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen. Klassische Muster sind: a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure; und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete. Nach anderen Angaben wiederum ereignet sich der Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der Covid-19-Maßnahmen zugenommen hat. Alleine im Juli 2021 wurden von der UN 168 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert - darunter auch Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen. Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt (USDOS 12.4.2022, S. 35f). Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können (TE 11.3.2019). Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt (AA 28.6.2022, S. 17).
Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings handelt es sich um ein Vergehen gegen Anstand und Ehre - und nicht gegen die körperliche Integrität (HRW 13.1.2022). Die Strafandrohung beträgt 5-15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod (USDOS 12.4.2022, S. 34). Das Problem im Kampf gegen sexuelle Gewalt liegt insgesamt nicht am Mangel an Gesetzen – sei es im formellen Recht oder in islamischen Vorschriften (SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Woran es mangelt, ist der politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen (SIDRA 6.2019b, S. 5ff; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34). Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert (AA 28.6.2022, S. 17). Hinsichtlich einer Strafverfolgung von Vergewaltigern gibt es keine Fortschritte (UNSC 13.5.2022, Abs. 60).
Bei Vergewaltigungen kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. BS 2022, S. 19). Generell herrscht Straflosigkeit (USDOS 12.4.2022, S. 35; vgl. ÖB 11.2022, S. 11). Nach anderen Angaben nimmt die Zahl erfolgreicher Strafverfolgung bei Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt zu. Mädchen und Frauen haben demnach Vertrauen gewonnen und zeigen Fälle an. Trotzdem gibt es noch zahlreiche Mängel und Hürden, wenn Opfer Gerechtigkeit suchen (UNFPA 14.4.2022).
Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind (SIDRA 6.2019b, S. 2). Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung (USDOS 12.4.2022, S. 36). Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet (TE 11.3.2019). Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. UNFPA 14.4.2022; UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur zögerlich; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen (USDOS 12.4.2022, S. 36).
Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt (USDOS 12.4.2022, S. 36; vgl. AA 28.6.2022, S. 18; UNSC 10.10.2022, Abs. 132), was u. a. an der Angst vor Rache, vor Stigmatisierung und am schwachen Justizsystem und der allgemeinen Straflosigkeit der Täter liegt (UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers (SIDRA 6.2019b, S. 5ff), oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen (TE 11.3.2019; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 36). Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft (SEM 31.5.2017, S. 49; vgl. ÖB 11.2022, S. 11; SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Manchmal übergibt die Polizei ohne Zustimmung des Opfers oder der Familie des Opfers einen Vergewaltigungsfall an traditionelle Rechtsinstrumente (UNSC 6.10.2021).
Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden (UNSC 13.5.2020, Abs. 56f). Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (UNSC 13.11.2020, Abs. 49).
Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet (USDOS 12.4.2022, S. 35). In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert (UNSC 13.5.2020, Abs. 48/58). Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias (UNSC 10.8.2021, Abs. 48). In Baidoa wurde ein Mann, der eine Frau ermordet hatte, zum Tode verurteilt und Anfang Juni 2022 öffentlich von einem Erschießungskommando exekutiert (GN 7.6.2022). In zwei Vergewaltigungsfällen an Minderjährigen in Jubaland und Galmudug wurden die Täter (ein Soldat und ein Clanmilizionär) verhaftet, die Opfer wurden medizinisch versorgt (UNSC 1.9.2022, Abs. 61).
Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können (USDOS 12.4.2022, S. 37). Zudem gibt es nur wenig Unterstützung in Fällen von Vergewaltigung, da es kaum spezialisierte Anbieter hinsichtlich psycho-sozialer Unterstützung oder zur Behandlung von Traumata gibt (UNFPA 14.4.2022). Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste (UNICEF 29.6.2021). UNFPA unterstützt insgesamt 31 solche Einrichtungen sowie 16 Gesundheitseinrichtungen, welche für Opfer spezialisierte Behandlungen anbieten (UNFPA 5.2022). In ganz Somalia sind 74 NGOs und internationale Organisationen aktiv, um Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. In Mogadischu und in Puntland sind z.B. jeweils mehr als 20 Organisationen aktiv. Im Jahr 2021 wurden durch diese Anbieter ca. 51.000 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt, fast 10.000 Opfern wurde ein safe space zur Verfügung gestellt (UNFPA 14.4.2022). In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung (USDOS 12.4.2022, S. 35). Insgesamt mangelt es allerdings an Schutzeinrichtungen. In Puntland gibt es einige Frauenhäuser, im Süd-/Zentralsomalia hingegen gibt es nur sehr wenige derartige Einrichtungen für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt (UNFPA 14.4.2022).
Sexuelle Gewalt - Puntland: Nur in Puntland gibt es ein entsprechendes Gesetz hinsichtlich sexueller Übergriffe (UNFPA 14.4.2022). Dort haben die Behörden zudem Maßnahmen getroffen, um die Straflosigkeit im Bereich sexualisierter Gewalt effektiver bekämpfen zu können. Bei der Generalstaatsanwaltschaft wurde eine eigene Abteilung eingerichtet (AA 18.4.2021, S. 16). Bei drei Vergewaltigungsfällen Ende 2021 und Anfang 2022 in den Bezirken Bossaso, Galkacyo und Garoowe wurden Verdächtige verhaftet (UNSC 8.2.2022, Abs. 62). Insgesamt blieb die Umsetzung des Gesetzes bislang begrenzt (AA 18.4.2021, S. 16), und der Regierung wird vorgeworfen, in Fällen sexueller Gewalt zu intervenieren oder Untersuchungen zu verhindern (HRW 13.1.2022). In Puntland gibt es eine von UNFPA unterstützte, mobile Rechtshilfe-Klinik, die Frauen und Mädchen aus vulnerablen und marginalisierten Gruppen berät und rechtlich unterstützt (GN 10.11.2022b).
Frauen - al Shabaab: In den von ihr kontrollierten Gebieten gelingt es al Shabaab, Frauen und Mädchen ein gewisses Maß an physischem Schutz zukommen zu lassen. Die Gruppe interveniert z. B. in Fällen häuslicher Gewalt (ICG 27.6.2019, S. 2/6). Al Shabaab hat Vergewaltiger – mitunter zum Tode – verurteilt (USDOS 12.4.2022, S. 37). Dies ist auch ein Grund dafür, warum es in den Gebieten der al Shabaab nur vergleichsweise selten zu Vergewaltigungen kommt (ICG 27.6.2019, S. 6; vgl. DI 6.2019, S. 9).
Andererseits legen Berichte nahe, dass sexualisierte Gewalt von al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird (AA 28.6.2022, S. 18). Die Zahl an Zwangs- und Frühehen durch al Shabaab hat zugenommen (UNSC 6.10.2021). Dabei zwingt al Shabaab Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren zur Ehe. Diese sowie deren Familien haben generell kaum eine Wahl. Solche Zwangsehen gibt es nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten (USDOS 12.4.2022, S. 37). Nach anderen Angaben werden die meisten Ehen mit Mitgliedern der al Shabaab freiwillig eingegangen, auch wenn der Einfluss von Eltern und Clan sowie das geringe Alter bei der Eheschließung nicht gering geschätzt werden dürfen. Eine solche Ehe bietet der Ehefrau und ihrer Familie ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität, selbst Witwen beziehen eine Rente (ICG 27.6.2019, S. 8). Demgegenüber stehen Berichte, wonach viele Eltern ihre Töchter in Städte gebracht haben, um sie vor dem Zugriff durch al Shabaab in Sicherheit zu bringen (DI 6.2019, S. 9).
Al Shabaab schränkt die Freiheit und die Möglichkeiten von Frauen auf dem Gebiet unter ihrer Kontrolle signifikant ein (TE 11.3.2019). Die Anwendung einer extremen Form der Scharia resultiert in einer entsprechend weitgehenden Diskriminierung von Frauen (AA 28.6.2022, S. 18). Diese werden etwa insofern stärker ausgeschlossen, als ihre Beteiligung an ökonomischen Aktivitäten als unislamisch erachtet wird (USDOS 12.4.2022, S. 40). Nach anderen Angaben hat al Shabaab einen pragmatischen Zugang. Da immer mehr Familien vom Einkommen der Frauen abhängig sind, tendiert die Gruppe dazu, sie ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen zu lassen. Und dies, obwohl Frauen nominell das Verlassen des eigenen Hauses nur unter Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) erlaubt ist (ICG 27.6.2019, S. 11).
Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 11.2022, S. 10). Es gibt keine Zivilehe (LI 14.6.2018, S. 7). Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38). Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (LI 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).
Ehe-Alter / Kinderehe: Generell sind die Ausdrücke "Erwachsener" und "Kind" in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert (SPA 1.2021). Zwar ist gemäß somalischem Zivilrecht für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen (ICG 27.6.2019, S. 8), doch Scharia und Tradition nehmen eine Heiratsfähigkeit bei Erreichen der Pubertät an (LI 14.6.2018, S. 7). Generell herrscht unter den relevanten Stakeholdern keine Einigkeit darüber, wann denn nun eigentlich das Heiratsalter erreicht ist (UNFPA 14.4.2022) - und dies, obwohl Somalia die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, die eigentlich gegen eine Ehe vor dem Alter von 18 Jahren spricht (Sahan 19.9.2022). Laut Gesetzen sollen beide Ehepartner das "age of maturity" erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen (USDOS 12.4.2022, S. 42; vgl. Sahan 19.9.2022). Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 42; vgl. FH 2022a, G3) – gerade in ärmeren, ländlichen Gebieten (ICG 27.6.2019, S. 8; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27; LI 14.6.2018, S. 7). Denn die Scharia, in der kein Mindestalter vorgesehen ist, hat das Familiengesetz weitestgehend ersetzt (Sahan 19.9.2022). Oft werden Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht (FIS 5.10.2018, S. 27). Eltern ermutigen Mädchen zur Heirat, in der Hoffnung, dass die Ehe dem Kind finanzielle und soziale Absicherung bringt und dass diese die eigene Familie finanziell entlastet. Zudem wird eine frühe Ehe als kulturelle und religiöse Anforderung wahrgenommen (UNFPA 14.4.2022). Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist (AV 7.2017, S. 36). Schätzungen zufolge heiraten 45 % der Mädchen vor ihrem 18. und 8 % vor ihrem 15. Geburtstag. Die Dürre hat das Risiko für viele Mädchen erhöht, bereits in jungen Jahren einer Ehe zugeführt zu werden. Es ist zu einem starken Anstieg der Zahl an Kinderehen gekommen. Viele durch die Dürre verarmte Familien holen Töchter aus den Schulen und verheiraten diese, um vom Brautgeld (yarad) leben zu können. In einem unsicheren Umfeld – etwa in einem IDP-Lager – wollen Eltern u.U. auch die Tochter vor Missbrauch schützen, indem sie diese verheiraten (Sahan 19.9.2022).
Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (LI 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 28.6.2022, S. 18). Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal (SPA 1.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr (USDOS 12.4.2022, S. 43). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (LI 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. LI 14.6.2018, S. 10).
Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (LI 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. LI 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (LI 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der "runaway marriages", bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LI 14.6.2018, S. 11).
Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich (LI 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (LI 14.6.2018, S. 18). Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (LI 14.6.2018, S. 19). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019, S. 9).
In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (LI 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021
AV - Africa’s Voices (7.2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report
DI - Development Initiatives (6.2019): Towards an improved understanding of vulnerability and resilience in Somalia
FH - Freedom House (2022a): Freedom in the World 2022 – Somalia
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
GN - Goobjoog News (10.11.2022b): Reclaiming hope and justice for survivors of sexual violence during drought and hunger crisis in Somalia
GN - Goobjoog News (7.6.2022): Man who killed woman in Baidoa and dumped body in sewer executed by firing squad
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Somalia
ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency
LI - Landinfo [Norwegen] (14.6.2018): Somalia: Marriage and divorce
LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia
Sahan - Sahan / Somali Wire Team (19.9.2022): Worsening drought in Somalia leads to rise in child marriages, in: The Somali Wire Issue No. 453, per e-Mail
SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten
SIDRA - Somali Institute for Development Research and Analysis (6.2019b): Rape: A rising Crisis and Reality for the Women in Somalia
SPA - Somali Public Agenda (1.2021): A comparative review of Somalia’s controversial Sexual Offences Bills
TE - The Elephant / Rasna Warah (11.3.2019): The Invisible Clan: Is Somalia Ready for a Women’s Revolution?
UNFPA - UN Population Fund (5.2022): UNFPA Response in Somalia, Situation Report, Issue #5
UNFPA - UN Population Fund (14.4.2022): Overview of Gender Based Violence Situation in Somalia
UNICEF (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region
UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754]
UNSC - UN Security Council (1.9.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665]
UNSC - UN Security Council (13.5.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/392]
UNSC - UN Security Council (8.2.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/101]
UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849)
UNSC - UN Security Council (10.8.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/723]
UNSC - UN Security Council (13.11.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/1113]
UNSC - UN Security Council (13.5.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/398]
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
WB - Weltbank / Sophia Friedson-Ridenour (22.3.2022): Voices of women entrepreneurs in a changing Somalia
2. Weibliche Genitalverstümmelung und Bescheidung (FGM/C) allgemein
Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (Crawford 2015, S.65f). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM vor:
a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (gudniinka fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; Crawford 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 68).
b) Andererseits die Sunna (gudniinka sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. Crawford 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29) bzw. laut einer dritten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (Crawford 2015, S. 41ff/66f). Denn die Sunna wird nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (sunna kabir) und die kleine Sunna (sunna saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. Crawford 2015, S. 41ff/66f). De facto kann unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).
Formen von FGM/C in Somalia nach Crawford (Crawford 2015, S. 66ff):
(Crawford 2015, S. 66ff)
Laut einer in Puntland gemachten Studie gibt es auch noch andere Namen für FGM, etwa Dhufaanid (Kastration) oder Tolid (Zunähen) (UNFPA 4.2022).
Durchführung: Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (LI 14.9.2022, S. 11). Diese "Medizinisierung" von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021). FGM/C wird also zunehmend im medizinischen Bereich durchgeführt – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. Die Durchführung durch medizinisches Personal ist teilweise schon gängige Praxis – in Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für "FGM clinics". Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen. Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (Crawford 2015, S. 73f). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).
Verbreitung: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und bleibt die Norm (LI 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von "mehr als 90 %" (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC Yussuf 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022).
Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017).
(STC 9.2017)
Diese Rückläufigkeit wird auch von einer anderen Quelle bestätigt:
DNS 2020, S. 220
Sowohl der finanzielle wie auch der Bildungshintergrund spielen bei der Entscheidung hinsichtlich der Form des Eingriffs eine Rolle:
DNS 2020, S. 214
Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (Crawford 2015, S. 69). Vielen Menschen – v.a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2017 haben 40,6 % angegeben, von einer Infibulation betroffen zu sein (AV 2017, S. 29). Jedenfalls ist die Quote an Infibulationen im ganzen Land rückläufig (Crawford 2015, S. 70). Während in der ältesten Altersgruppe vier von fünf Frauen eine Infibulation erlitten haben, ist es bei der jüngsten Altersgruppe nicht einmal eine von zwei (28TM o.D.). Generell geht der Trend in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022).
FGM kann als gesellschaftliche Konvention erachtet werden, die von den meisten Menschen als selbstverständliche angesehen wird. Daher stellt sich üblicherweise nicht die Frage, ob der Eingriff durchgeführt wird. Vielmehr geht es um die praktischen Aspekte der Umsetzung (LI 14.9.2022). Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; LI 14.9.2022, S. 11; Crawford 2015, S. 85). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Dabei geht es bei dieser Entscheidung weniger um das "ob" als vielmehr um das "wie und wann" (LI 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022). Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter maßgeblich in die Entscheidung involviert (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26). Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt (FIS 5.10.2018, S. 31).
In der Diaspora lebende Mädchen werden „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Allerdings nimmt in der Diaspora die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (LI 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich Teile der Bevölkerung gegen jegliche Art von FGM. Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (Crawford 2015, S. 65; vgl. LI 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Überhaupt ist der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, der Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden (Crawford 2015, S. 82). Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (Crawford 2015, S. 73). Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41). Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. LI 14.9.2022, S. 11). Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig", eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und sichert die Heirat (LI 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Dahingegeben werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder un-somalisch (LI 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (Crawford 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden mitunter in der Schule gehänselt und drangsaliert und sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier buurya qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (LI 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).
Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach anderen Angaben stellt der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung dar, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen FGM ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (LI 14.9.2022).
Eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, wird versuchen, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). Nur wenige Mütter "bekennen", dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (Crawford 2015, S. 65). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Natürlich werden nicht ständig die Genitalien von Mädchen überprüft. Aber Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41). Da gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden, ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht (LI 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (Crawford 2015, S. 83). Spätestens bei der Verheiratung ist der physische Status jedenfalls klar (ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f).
Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen ein Alter von 5-10 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39), UN News nennt ein Alter von 5-9 Jahren (UNN 4.2.2022); in Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (28TM o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 28.6.2022, S. 19). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Laut einer Quelle ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna in Somaliland auf 5-8 Jahre gesunken (PC 1.2018, S. 22). Eine weitere Quelle bestätigt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022).
Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (LI 14.9.2022). Im Jahr 2018 hat man über vier Mädchen aus Galmudug und Puntland erfahren, dass diese im Zuge einer FGM bzw. an deren Folgen verstorben sind. Diese Mädchen waren 10 - 11 Jahre alt. Ein weiteres Mädchen, das fast gestorben wäre, war bei der Vornahme der FGM sieben Jahre alt (CNN 11.10.2018). Die somalische Regierung gibt in einer Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2020 folgende Zahlen an:
DNS 2020, S. 221
Quellen:
28TM - 28 Too Many (o.D.): Somalia
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021
AV - Africa’s Voices (2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender
BMC Yussuf - BMC Health Services Research / Mohammed Yussuf et al. (2020): Exploring the capacity of the Somaliland healthcare system to manage female genital mutilation / cutting-related complications and prevent the medicalization of the practice: a cross-sectional study
CARE (4.2.2022): Somalia - Betroffene von Genitalverstümmelung werden immer jünger
CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.
CNN / Jessica Neuwirth (11.10.2018): Opinion - Four girls under 10 have died recently from FGM, it's time to act
Crawford, S. / Ali, S. / HEART - Health and Education Advice and Resource Team (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia
DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting
DNS - Directorate of National Statistics, Federal Government of [Somalia] (2020): The Somali Health and Demographic Survey 2020
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
GN - Goobjoog News (3.11.2022): Somali refugees in Germany strive to leave old practices behind
LI - Landinfo [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]
LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
PC - Population Council / Powell, Richard A. / Yussuf, Mohamed (1.2018): Changes in FGM/C in Somaliland: Medical narrative driving shift in types of cutting. Evidence to End FGM/C: Research to Help Women Thrive
STC - Safe the Children (9.2017): Changing Social Norms in Somalia: Exploring the Role of Community Perception in FGM/C, Fact Sheet No. 6
UNFPA - UN Population Fund (4.2022): Community Knowledge, Attitudes and Practices on FGM Puntland
UNICEF (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region
UNN - UN News (4.2.2022): Daughters of Somalia, a continuous pledge to end female genital mutilation
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
3. Weibliche Genitalverstümmelung und Bescheidung (FGM/C) in Süd-/Zentralsomalia und Puntland
In der Übergangsverfassung steht, dass eine Beschneidung von Mädchen der Folter gleichkommt und daher verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. UNICEF 29.6.2021; LIFOS 16.4.2019, S. 28f; ÖB 11.2022, S. 12). Allerdings mangelt es an einer Definition von "Beschneidung", und es wird kein Strafmaß genannt. Das Strafgesetz von 1964 sieht zwar Strafen für die Verletzung einer Person vor, es sind aber keine Fälle bekannt, wo FGM/C dahingehend einer Strafverfolgung zugeführt worden wäre – selbst dann, wenn ein Mädchen an den Folgen der Verstümmelung verstorben ist (LIFOS 16.4.2019, S. 28f). Insgesamt gibt es jedenfalls keine nationale Gesetzgebung, welche FGM ausdrücklich verbietet oder kriminalisiert (LI 14.9.2022; vgl. TEA 17.12.2022).
Generell mangelt es den Behörden landesweit an Integrität und Kapazität, um eine für die Beschneidung eines Mädchens verantwortliche Person rechtlich zu verfolgen. Es gibt folglich auch keine Beispiele dafür, wo eine solche Person bestraft worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 42).
Die Regierung bemüht sich, gegen die Praxis vorzugehen (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings gibt es kein spezifisches Gesetz gegen FGM/C (UNFPA 5.3.2021; vgl. UNN 4.2.2022; UNICEF 29.6.2021). Unklar bleibt, ob ein künftiges Gesetz alle Formen von FGM verbieten wird, oder nur eine abgemilderte Form der Beschneidung vorsehen würde (AA 28.6.2022, S. 19). Die Frage, ob nur eine bestimmte oder alle Formen von FGM/C verboten werden sollen, hat die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes (auf Bundesebene) seit 2016 verzögert (TRF 27.2.2019). Gesetzesvorschläge scheiterten wiederholt an der fehlenden Zustimmung des Parlaments (AA 28.6.2022, S. 19). Denn es gibt zwei unterschiedliche Agenden: Die eine will jegliche Form von FGM/C ausrotten. Die andere richtet sich gegen die schweren Formen und ist für die Erhaltung der Sunna (WHO Typ I). Diese divergierenden Ansichten haben zu einem Stillstand bei der Entwicklung einer nationalen FGM/C-Politik geführt (PC 1.2018, S. 24). Der Staat und religiöse Führer haben insgesamt zwar wichtige Schritte gesetzt, um FGM zu kriminalisieren und auszurotten. Allerdings stellen Ineffizienz, Korruption und Nepotismus im Rechtsstaat bedeutende Hindernisse bei der Umsetzung dar. Außerdem gibt es nach wie vor religiöse Führer, die sich gegen ein Verbot der Sunna aussprechen (LIFOS 16.4.2019, S. 41f).
In Puntland hingegen wurde im Juni 2021 die sogenannte FGM Zero Tolerance Bill vom Präsidenten unterzeichnet und vom Ministerkabinett verabschiedet. Damit sind alle Formen von FGM verboten worden. Nicht nur Beschneiderinnen, sondern auch an einer FGM beteiligtes medizinisches Personal, Eltern und Helfershelfer werden mit dem Gesetz kriminalisiert (UNFPA 6.10.2021). Schon 2013 hatten religiöse Führer und Akademiker eine Fatwa veröffentlicht, wonach jede Form von FGM verboten ist (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 29; CEDOCA 9.6.2016, S. 22). Das neue Gesetz hatte bislang allerdings wenig praktische Änderungen zur Folge (AA 28.6.2022, S. 18).
Al Shabaab hatte ursprünglich jede Form von FGM verboten. Mittlerweile gilt das Verbot für die Infibulation, während die Sunna akzeptiert wird (LIFOS 16.4.2019, S. 22/41f). Generell ist al Shabaab nicht Willens, dieses Verbot auf dem von ihr kontrollierten Gebiet auch umzusetzen. Die Gruppe unterstützt die Tradition nicht, geht aber auch nicht aktiv dagegen vor (DIS 1.2016, S. 8). So zeigt das Verbot auf dem Gebiet von al Shabaab kaum einen Effekt (LI 31.3.2022, S. 15).
Internationale und lokale NGOs führen Sensibilisierungsprogramme durch (UNFPA 4.2022; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 22f), landesweit bemühen sich die Regierungen, die Verbreitung von FGM einzuschränken (AA 2.4.2020, S. 16) – speziell jene der Infibulation (LIFOS 16.4.2019, S. 41f). Mit durch internationale Organisationen finanzierten Kampagnen wird landesweit gegen FGM angekämpft, auch einige Ministerien sind aktiv. UNFPA gibt an, dass 890 somalische Gemeinden zwischen 2014 und 2017 die Durchführung von FGM aufgegeben haben (LIFOS 16.4.2019, S. 31). UNFPA führt die Kampagne „Dear Daughter“, mit welcher Eltern – und v.a. Mütter – hinsichtlich der Folgen von FGM sensibilisiert werden (TEA 17.12.2022). Auch Medien, Prominente und religiöse Persönlichkeiten werden in Kampagnen eingebunden (CEDOCA 9.6.2016, S. 24f). Während das Thema früher als Tabu erachtet wurde, sprechen Politiker und Persönlichkeiten sich heute öffentlich gegen FGM aus (TEA 17.12.2022).
Bereits im Jahr 2011 erhobene Zahlen für Puntland zeigten eine rückläufige FGM-Rate. In der Altersgruppe 45-49 waren 2011 97,8 % der Frauen von irgendeiner Form von FGM betroffen, in jener von 15-19 Jahren waren es 97,3 %, in der Gruppe 10-14 waren es 82,3 % (CEDOCA 9.6.2016, S. 15). Die Infibulationsrate ist von 93,2 % im Jahr 2005 auf 86,7 % im Jahr 2011 zurückgegangen (CEDOCA 9.6.2016, S. 10; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 14). Im Jahr 2011 waren ca. 90 % der über 25-Jährigen, 85,4 % der 20-24-Jährigen und 79,7 % der 15-19-Jährigen von einer Infibulation betroffen (CEDOCA 9.6.2016, S. 10). Auch eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Infibulationsrate in Puntland zurückgeht - und auch die Sunna Kabir. Die Sunna Saghir (im Sinne einer moderaten Beschneidung der Klitoris) hingegen ist auf dem Vormarsch (CEDOCA 9.6.2016, S. 10; vgl. Crawford 2015, S. 70). Dementgegen gaben bei einer puntländischen Studie im Jahr 2018 nur 65 % der befragten Frauen an, selbst beschnitten zu sein; nur ein Drittel gab an, dass die eigene Tochter beschnitten sei (LIFOS 16.4.2019, S. 20).
Schon 1985 hat ein Trend eingesetzt, mit dem sich die Sunna nunmehr zur üblichsten Form der Beschneidung entwickeln konnte (FIS 5.10.2018, S. 30f). Obwohl es sich bei der Infibulation immer noch um das am weitesten verbreitete Verfahren handelt, ist der Anteil der Mädchen, die infibuliert werden, in letzter Zeit zugunsten weniger umfangreicher Verfahren - etwa der Sunna - zurückgegangen. Letztere trifft auf gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz (LI 14.9.2022). So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt (Crawford 2015, S. 70). Gemäß Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2017 ist in Mogadischu kaum ein unter 18-Jähriges Mädchen infibuliert; dagegen kommen sowohl große als auch kleine Sunna breitflächig zur Anwendung. Insgesamt waren bei dieser Studie rund ein Viertel der beschnittenen Unter-18-Jährigen von Infibulation, die große Mehrheit von kleiner und großer Sunna betroffen. Die Infibulation ist also insgesamt zurückgedrängt worden (STC 9.2017), dies wird von mehreren Quellen bestätigt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f/39; vgl. DIS 1.2016, S. 7; FIS 5.10.2018, S. 30f; PC 1.2018, S. 22ff; BMC Yussuf 2020, S. 1f). Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus (AV 2017, S. 19). Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („community“) FGM nicht durchgeführt wird (AV 2017, S. 25). Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab (CEDOCA 9.6.2016, S. 7). Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken (BMC Yussuf 2020, S. 2). Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt (RE 15.2.2021). Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht soweit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als "Sunna" bezeichnet wird (Crawford 2015, S. 70).
Schlussendlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia auch noch Bevölkerungsgruppen oder Gemeinschaften, wo generell keine Infibulation durchgeführt wird. Dies betrifft etwa einige ländliche Gemeinden der Rahanweyn sowie einige Bantugruppen an der äthiopischen Grenze, aber auch die städtischen Gemeinschaften der Reer Xamar und Reer Baraawe. Dort gibt es zwar eine Beschneidung (Sunna), nicht aber eine Infibulation. Jedenfalls sind solche Gruppen die Ausnahme und nicht die Regel (Crawford 2015, S. 71f).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
AV - Africa’s Voices (2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender
BMC Yussuf - BMC Health Services Research / Mohammed Yussuf et al. (2020): Exploring the capacity of the Somaliland healthcare system to manage female genital mutilation / cutting-related complications and prevent the medicalization of the practice: a cross-sectional study
CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.
Crawford, S. / Ali, S. / HEART - Health and Education Advice and Resource Team (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia
DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
LI - Landinfo [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]
LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia
PC - Population Council / Powell, Richard A. / Yussuf, Mohamed (1.2018): Changes in FGM/C in Somaliland: Medical narrative driving shift in types of cutting. Evidence to End FGM/C: Research to Help Women Thrive
RE - Radio Ergo (15.2.2021): Fewer Somali girls in Adado being subjected to full cut
STC - Safe the Children (9.2017): Changing Social Norms in Somalia: Exploring the Role of Community Perception in FGM/C, Fact Sheet No. 6
TEA - The East African (17.12.2022): Alarm as 20 Somali girls subjected to FGM in Somalia's Kismayu
TRF - Thomson Reuters Foundation (27.2.2019): Somali refugee's fight against 'silent killer' of FGM inspires film
UNFPA - UN Population Fund (4.2022): Community Knowledge, Attitudes and Practices on FGM Puntland
UNFPA - United Nations Population Fund (6.10.2021): A tribute to Puntland for bold actions to eliminate Female Genital Mutilation
UNFPA - UN Population Fund (5.3.2021): Overview of Gender Based Violence in Somalia
UNICEF (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region
UNN - UN News (4.2.2022): Daughters of Somalia, a continuous pledge to end female genital mutilation
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices – Somalia
4. Reinfibulation und Defibulation
Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs (LIFOS 16.4.2019, S. 35/12; vgl. LI 14.9.2022, S. 9/12) oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIFOS 16.4.2019, S. 32; vgl. LI 14.9.2022, S. 12). Quellen der norwegischen COI-Einheit berichten, dass es anekdotische Berichte von Fällen gibt, in denen eine neue Intervention durchgeführt wird, weil die Familie eine umfassendere Intervention als die ursprüngliche wünscht (LI 14.9.2022).
Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen (DIS 1.2016, S. 23). Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f) kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich eine Reinfibulation zu unterziehen (Crawford 2015, S. 73/76; vgl. CEDOCA 13.6.2016, S. 9). Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht (TRF 27.2.2019; vgl. LI 14.9.2022, S. 12). Es kann auch vorkommen, dass Eltern oder Verwandte eine bestehende Infibulation als zu gering erachten und ein Mädchen deswegen zu einem zweiten Eingriff geschickt wird (Crawford 2015, S. 74). Es gibt anekdotische Berichte über Fälle, in denen unverheiratete Mädchen oder junge Frauen aus der Diaspora nach Somalia geschickt wurden, um eine Reinfibulation durchzuführen (LI 14.9.2022).
Stellt nämlich der Ehemann in der Hochzeitsnacht fest, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt, kann dies Folgen haben – bis hin zur sofortigen Scheidung. Letztere kann zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z. B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S. 40f).
Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (Crawford 2015, S. 76; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 11).
Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist (LIFOS 16.4.2019, S. 40). Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (CEDOCA 13.6.2016, S. 6).
Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i. d. R. der Entscheidung der betroffenen Frau (LIFOS 16.4.2019, S. 40; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 26). Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt (CEDOCA 9.6.2016, S. 26), und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (CEDOCA 13.6.2016, S. 9f). Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation (Crawford 2015, S. 73/75f). Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten eher unüblich (FIS 5.10.2018, S. 29). Die Verbreitung variiert offenbar auch geografisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation (CEDOCA 9.6.2016, S. 13f). Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt (LI 14.9.2022, S. 12f). Eine Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit FGM in Somalia auseinandersetzt, sieht keine Grundlage dafür, dass nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Im somalischen Kontext wird demnach eine Infibulation durchgeführt, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu „beweisen“. Dementsprechend macht es keinen Sinn, eine verheiratete Frau nach der Geburt zu reinfibulieren (LI 14.9.2022).
Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann natürlich auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko eine Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f). Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 41).
Quellen:
CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (13.6.2016): Somalië - Defibulatie en herinfibulatie bij geïnfibuleerde vrouwen in Zuid- en Centraal-Somalië; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.
CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.
Crawford, S. / Ali, S. / HEART - Health and Education Advice and Resource Team (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia
DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
LI - Landinfo [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]
LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
TRF - Thomson Reuters Foundation (27.2.2019): Somali refugee's fight against 'silent killer' of FGM inspires film
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Mangels Vorlage unbedenklicher Dokumente steht die Identität der Beschwerdeführerin nicht fest. Zumal sie aber zweifellos aus dem somalischer Kulturraum stammt, kann ihr in ihren im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben zu ihrer Staats-, Religions- und Clanzugehörigkeit ebenso gefolgt werden wie zu ihrer örtlichen Herkunft.
Zu ihrem Ausreisegrund gab die Beschwerdeführerin in der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 18.12.2022 zu Protokoll, dass sie gegen ihren Willen zwangsverheiratet worden sei. „Diese Familie“ habe sie in die Türkei geschickt, um dort „eine Großmutter“ zu pflegen. Da diese in der Türkei verstorben sei, sei die Beschwerdeführerin weiter nach Europa geflohen, um nicht zurück zu „dieser Familie“ zu gehen. Im Falle einer Rückkehr habe sie Angst vor „der Familie“, dass diese sie zu dem Mann „zurückbringen“ bzw. sie versklaven würden. Sie habe keine Familie mehr in Somalia (AS 11). Die Beschwerdeführerin machte also geltend, dass sie zwangsverheiratet worden und von jener Familie dann zur Pflege einer Angehörigen in die Türkei geschickt worden sei, wobei sie nach deren Tod nicht zu ihrem Mann zurückkehren habe wollen. Gänzlich konträr hierzu führte sie jedoch in der folgenden Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 11.03.2024 aus, dass ihre Stiefmutter sie gegen Geld zwangsverheiraten habe wollen, was sie selbst aber nicht gewollt habe. Die Beschwerdeführerin sei daraufhin weggelaufen, weil ihre Stiefmutter sie umbringen habe wollen, und habe einen Job als Putzfrau gefunden. Ihre Arbeitgeberin sei dann krank geworden und sie sei freiwillig gemeinsam mit ihr und ihrem Sohn in die Türkei ausgereist, um auf sie aufzupassen. Dort sei ihre Arbeitgeberin nach einer Operation verstorben und die Beschwerdeführerin sei weiter nach Europa gereist (AS 56 ff). Hier führte die Beschwerdeführerin also aus, dass sie (lediglich) zwangsverheiratet hätte werden sollen, davor aber innerhalb von Somalia geflohen sei, wobei ihre neue Arbeitgeberin sie zur Pflege in die Türkei mitgenommen habe. Die Beschwerdeführerin widersprach sich somit gravierend zum Kern ihres Fluchtvorbringens. In der Einvernahme mit diesem Widerspruch konfrontiert, meinte sie lediglich, dass ihre Angaben in der Erstbefragung nicht stimmen würden (AS 59), wobei sie in der gegenständlichen Beschwerde weiter erläuterte, dass sie während der Erstbefragung Probleme gehabt habe, die Rückübersetzung zu verstehen (AS 247). Diese Rechtfertigung ist jedoch als untaugliche Schutzbehauptung zu verwerfen, gab die Beschwerdeführerin doch sowohl zu Beginn als auch zum Schluss ihrer Erstbefragung an, den Dolmetscher zu verstehen, und bestätigte sie nach einer Rückübersetzung die Richtigkeit des Protokolls mit ihrer Unterschrift. Die Erstbefragung wurde dabei erst etwa 24 Stunden nach ihrer Antragstellung vorgenommen und lagen die (jedenfalls behaupteten) Ereignisse, von denen die Beschwerdeführerin in der Erstbefragung berichtete, bereits mehrere Monate zurück. Es ergab sich somit kein Anhaltspunkt dafür, dass die Beschwerdeführerin in der Erstbefragung physisch oder psychisch nicht in der Lage gewesen wäre, korrekte Angaben zu machen und der Befragung aufmerksam zu folgen. Von einem derart groben Missverständnis – zumal alleine ihren Ausreisegrund betreffend, während zum restlichen Protokoll keinerlei Verständigungsschwierigkeiten moniert wurden – kann daher nicht ausgegangen werden. Die Beschwerdeführerin sprach in der Erstbefragung auch nicht bloß einmal, sondern mehrfach von einer Familie, von der sie nach der Zwangsverheiratung in die Türkei geschickt worden sei und zu der sie nicht zurückkehren wolle, zumal diese sie zu dem Mann „zurückbringen“ würde. Sie brachte somit eindeutig eine bereits erfolgte Zwangsverheiratung vor. Die Beschwerdeführerin gab hier somit fraglos andere Ereignisse als in der Einvernahme durch das Bundesamt an und tauschte somit ihr Fluchtvorbringen in wesentlichen Teilen aus. Dieses Fluchtvorbringen änderte sie im weiteren Verlauf des Verfahrens zudem nochmals ab. Denn während sie in der Einvernahme wie auch in der Beschwerde mehrmals angab, dass ihre Stiefmutter Geld für ihre Verheiratung genommen habe (AS 58, 59, 238), sagte sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 25.10.2024 aus, dass ihre Mutter Schulden gehabt habe und sie gleichsam zu deren Tilgung ihre Verheiratung vereinbart habe (Verhandlungsprotokoll S. 6). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Motivation der Zwangsverheiratung war somit nicht kongruent. Auf der anderen Seite erklärte die Beschwerdeführerin im Zuge ihrer freien Erzählung in der Einvernahme durch das Bundesamt, dass sie weggelaufen sei, weil ihre Stiefmutter sie – gemeint wohl: aufgrund ihrer Verweigerung der Verheiratung – umbringen habe wollen (AS 58), erwähnte diesen Umstand jedoch nie wieder im Verfahren, obwohl es sich bei dieser Todesdrohung doch offenkundig um keine Nebensächlichkeit handeln würde. Überhaupt blieb das Vorbringen der Beschwerdeführerin über das gesamte Verfahren hinweg lediglich vage und oberflächlich. Weder zu ihrer angedrohten Zwangsverheiratung, noch zu den darauffolgenden Tagen bis zu ihrer Flucht nach Mogadischu, noch zu dieser Reise, noch zu ihrem Aufenthalt in Mogadischu oder letztlich in der Türkei erwähnte die Beschwerdeführerin Details, die auf tatsächlich selbst erlebte Geschehnisse schließen lassen würden, sondern blieb sie stets beim bloßen Rahmen einer Erzählung. Letztendlich ist anzuführen, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin sich auch insoweit als unplausibel gestaltete, als nicht nachvollziehbar ist, dass ihre Stiefmutter über diese Zwangsverheiratung entschieden habe, obwohl im islamischen Recht, welches in Somalia gilt, doch nur ein männlicher Vormund – konkret also ihr Vater – die Entscheidungshoheit über derartige Angelegenheiten hätte. Dass , wie sie in der Einvernahme durch das Bundesamt einsilbig ausführte, ihr Vater gemeint habe, dass die Beschwerdeführerin machen müsse, was ihre (zumal lediglich) Stiefmutter sage und diese die „Chefin“ sei (AS 59), ist damit nicht vereinbar und auch gemessen an der konservativ-patriarchalen Gesellschaft in Somalia wie auch den Länderberichten zur Lage der Frauen in Somalia, wie sie von der Beschwerdeführerin selbst zitiert wurden, nicht lebensnah. Insgesamt betrachtet ist anhand dieser Erwägungen das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin über eine vorgenommene oder angedrohte Zwangsverheiratung daher nicht glaubhaft. Folglich ist – auch in Beachtung der allgemeinen Lage der Frauen in Somalia – kein konkreter Grund hervorgekommen, aus dem ihr eine solche Zwangsverheiratung im Falle einer Rückkehr drohen würde.
Weiters erzählte die Beschwerdeführerin in der Einvernahme durch das Bundesamt, dass sie im Alter von acht und 13 Jahren beschnitten worden sei, wobei sie nicht wisse, weshalb dies zweimal geschehen sei (AS 52). Gleichzeitig legte sie einen ärztlichen Befund vor, wonach eine Genitalverstümmelung nach WHO-Typ III vorliege (AS 63). Darauf bezogene Befürchtungen im Falle einer Rückkehr gab sie weder in dieser Einvernahme noch in der gegenständlichen Beschwerde an. Erst mit Stellungnahme vom 21.10.2024 machte die Beschwerdeführerin erstmals geltend, dass sie die berechtigte Sorge habe, im Falle einer Rückkehr erneut beschnitten zu werden. Weitere Ausführungen machte sie nicht, legte jedoch eine Ambulanzkarte vor, wonach sie an Menstruationsschmerzen leide und eine Defibulation wünsche (OZ 6). Zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erklärte sie dann – wohlgemerkt erst auf konkrete Nachfrage ihrer Rechtsvertretung, nachdem sie zuvor zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt nichts Derartiges erwähnte – ,dass sie befürchte, noch einmal „zugenäht“ zu werden. Das würde ihre Familie, konkret ihre Stiefmutter, veranlassen. Man würde sie anschauen und sie fragen, was sie „angestellt“ habe. So sei das in Somalia. Außerdem würde sie niemand heiraten, wenn sie die Beschneidung „rückgängig“ mache (Verhandlungsprotokoll S. 8). Mit Eingabe vom 29.11.2024 legte die Beschwerdeführerin schließlich einen Patientenbrief über eine erfolgte Defibulation vor (OZ 10). Wenn nun die Beschwerdeführerin also eine Reinfibulation auf Betreiben ihrer Stiefmutter vorbringt, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass bereits aus den oben genannten Erwägungsgründen der im Verfahren dargetanen schlechten Behandlung durch ihre Stiefmutter nicht gefolgt werden kann. Weder war nämlich die (angedrohte) Zwangsverheiratung glaubhaft, noch brachte die Beschwerdeführerin – auch wenn sie das stellenweise insinuierte – in einer ihrer Befragungen eine sonstige schlechte Behandlung oder gar Misshandlung durch ihre Stiefmutter vor. Im Gegenteil erzählte sie zu ihrem Leben lediglich, dass sie – für Frauen und schon gar solchen, die einer Minderheit angehören, keinesfalls selbstverständlich – sechs Jahre die Schule besuchen habe dürfen und im Restaurant ihrer Stiefmutter mitgearbeitet habe (AS 55). Die Beschwerdeführerin konnte auch trotz der notorisch erheblichen Kosten ohne zwingenden Grund aus Somalia in die Türkei ausreisen und eine Schleppung weiter nach Österreich in Anspruch nehmen. Dass diese Kosten von ihren Angehörigen zumindest mitfinanziert wurden, ist sehr wahrscheinlich, wenn die Beschwerdeführerin lediglich im Betrieb ihrer Stiefmutter mitgearbeitet habe und daher kein eigenes Einkommen lukriert hätte. Auch daher ist nicht anzunehmen, dass ihre Angehörigen in Somalia ihr schlecht gesonnen wären. Ebenso wenig lässt sich selbst bei Wahrunterstellung aus der – lediglich oberflächlichen – Angabe der Beschwerdeführerin, zweimal beschnitten worden zu sein, eine Böswilligkeit ableiten, zumal sie keine Angaben zum näheren Hintergrund machen konnte oder wollte, obgleich anzunehmen wäre, dass ihr eine im Alter von 13 Jahren – also nicht mehr im kleinkindlichen Alter – vorgenommene (weitere) Veränderung durchaus bewusst und erinnerlich sein müsste, sodass sie angeben könnte, worum konkret es sich zumindest bei diesem zweiten Eingriff gehandelt hätte. Aus den beigezogenen Länderberichten geht wiederum hervor, dass eine Defibulation vor der (ersten) Eheschließung zwar ungewöhnlich, aber möglich ist, und zwar etwa dann, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten. Den von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Unterlagen ist zu entnehmen, dass sie die Defibulation wegen wiederkehrender Menstruationsschmerzen – und somit aufgrund eines auch in Somalia denkbaren Grundes – wünschte. Aus der Zusammenschau des gewürdigten Vorbringens der Beschwerdeführerin und den Länderberichten kann es daher nicht als hinreichend wahrscheinlich angesehen werden, dass die inzwischen über 30-jährige und somit weit volljährige Beschwerdeführerin insbesondere von ihren Angehörigen – zumal nämlich unter Androhung von Sanktionen – zu einer Reinfibulation gedrängt oder gar gezwungen werden würde. Laut den Länderberichten sind auch keine Fälle einer zwangsweisen Reinfibulation defibulierter Rückkehrerinnen bekannt. Nun mag es zwar sein, dass die Beschwerdeführerin durch die Defibulation einen potentiellen Mann, der eine Infibulation wünscht, nicht heiraten könnte, doch zeigen die Länderberichte, dass auch andere Formen der Genitalverstümmelung/Beschneidung, die keine Infibulation umfassen, in Somalia weitverbreitet sind (WHO-Typen I und II). Laut diesen Berichten wird etwa im urbanen Mogadischu seit Jahren kaum noch eine Infibulation durchgeführt. Dass diese Frauen deswegen einer Diskriminierung ausgesetzt wären, ist den Länderberichten nicht zu entnehmen und wäre angesichts der großen Zahl auch nicht denklogisch. Die Beschwerdeführerin stammt zwar nicht aus Mogadischu, aber auch nicht aus einem ländlichen Dorf mit einer womöglich konservativeren gesellschaftlichen Einstellung und beschränkteren Möglichkeiten, sondern aus dem urbanen Qoryooley. Bedenkt man weiters, dass sich eine Genitalverstümmelung nach dem WHO-Typ III letztlich durch die zusätzlich vorgenommene Infibulation – also das „Zusammennähen“ – von jener nach dem WHO-Typ II unterscheidet, unterscheidet sich der Status der nun defibulierten Beschwerdeführerin nicht maßgeblich von jenem einer Frau mit einer Genitalverstümmelung nach dem WHO-Typ II, weshalb nicht anzunehmen ist, dass die Beschwerdeführerin hierdurch vom Heiratsmarkt ausgeschlossen wäre. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass nach diesen Länderberichten derartige Beschneidungen in Somalia ohnedies in verschiedensten Formen vorkommen, da weder Beschneiderinnen noch die allgemeine Bevölkerung eine genaue Vorstellung davon haben, wie eine Beschneidung auszusehen hat. Die Situation der defibulierten Beschwerdeführerin ist somit keineswegs mit jener einer unbeschnittenen Frau zu vergleichen, welcher unter Umständen mit gesellschaftlicher Diskriminierung zu rechnen hätte. Sie läuft daher nicht Gefahr, aufgrund der Defibulation in Somalia in maßgeblicher Weise gesellschaftlich diskriminiert oder sonst bedroht zu werden.
Obgleich schließlich die Beschwerdeführerin noch in der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes davon sprach, keine Familie mehr in Somalia zu haben (AS 11), und sie auch in der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen von einer nun erwähnten Stiefmutter und einer verheirateten Schwester – jegliche Verwandtschaft verneinte (AS 55), eröffnete sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, desweiteren eine Tante mütterlicherseits, drei Cousins väterlicherseits sowie ihre Halbgeschwister in Somalia zu haben (Verhandlungsprotokoll S. 4 f). Es zeigt sich dadurch, dass die Beschwerdeführerin ihre Bindungen zu Somalia verdeckt, wodurch ihre verneinenden Angaben nicht glaubhaft sind. Vielmehr folgt hieraus, dass die Beschwerdeführerin – auch männliche – Anknüpfungspunkte hat, wobei von diesen Angehörigen und Verwandten, wie eben ausgeführt, keine Gefahr für die Beschwerdeführerin ausgeht und sie nicht vor ihnen flüchtete. Sie ist daher in ihrem Herkunftsort, wo ihr Elternhaus steht, nicht als schutzlose, alleinstehende Frau zu betrachten.
Sonstige Fluchtgründe oder Rückkehrbefürchtungen wurden von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich verneint (Verhandlungsprotokoll S. 8) und sind per se auch vor dem Hintergrund der Länderberichte zur Lage in Somalia nicht hervorgekommen.
2.2. Zu den Feststellungen der maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Situation in Somalia beruhen auf den angeführten Quellen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Somalia vom 08.01.2024 (Version 6). Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Ein Vergleich mit dem kürzlich aktualisierten Länderinformationsblatt vom 16.01.2025 hat keine für das Verfahren relevante Änderung der Lage in Somalia ergeben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Das Vorbringen des Antragstellers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 10.08.2019, Ra 2018/20/0314).
Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist Diskriminierung mit Verfolgung gleichzusetzen. Dies wäre nur der Fall, wenn die Diskriminierungsmaßnahmen Konsequenzen mit sich brächten, welche die betroffene Person in hohem Maße benachteiligen würden, z.B. eine ernstliche Einschränkung des Rechts, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder des Zugangs zu den normalerweise verfügbaren Bildungseinrichtungen. In Fällen, in denen die Diskriminierungen an sich noch nicht allzu schwer wiegen, können sie trotzdem die Ursache verständlicher Furcht vor Verfolgung sein, wenn sie bei der betroffenen Person ein Gefühl der Furcht und Unsicherheit im Hinblick auf ihre Zukunft hervorrufen; ob solche Akte der Diskriminierung einer Verfolgung gleichkommen, muss unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden. Das Vorbringen einer Furcht vor Verfolgung wird umso eher begründet sein, wenn eine Person bereits eine Reihe diskriminierender Akte dieser Art zu erdulden hatte und daher ein kumulatives Moment vorliegt (UNHCR Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Dezember 2003, Paragraph 54 f).
Wie beweiswürdigend dargelegt, ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin über eine (angedrohte) Zwangsverheiratung nicht glaubhaft. Sie ist in Somalia auch keine schutzlose, alleinstehende Frau. Es droht ihr dort keine weitere Genitalverstümmelung. Sonstige Gründe einer asylrelevanten Bedrohung sind im Verfahren nicht hervorgekommen. Es besteht somit keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer asylrechtlichen Verfolgung der Beschwerdeführerin in Somalia aus Konventionsgründen.
Die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl war daher im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.