JudikaturBVwG

W278 2291366-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
03. Februar 2025

Spruch

W278 2291366-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Richter Mag. Dominik HABITZL über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.03.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.01.2025, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein volljähriger Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 24.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 25.10.2022 fand unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari die Erstbefragung des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.

Am 21.11.2022 erfolgte eine Einvernahme zur Feststellung des Alters des BF, im Zuge derer er angab, XXXX Jahre alt zu sein und eine Tazkira in Kopie vorlegte.

Am 08.03.2023 erfolgte unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari die niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder BFA). Der BF legte der belangten Behörde im Nachgang die Tazkira im Original vor.

Mit dem im Spruch genannten Bescheid vom 28.03.2024 wies das Bundesamt den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.). Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der BF eine Verfolgung aus dem Grund der Blutrache nicht glaubhaft habe machen können, es drohe ihm auch keine individuelle Verfolgung durch die Taliban oder aufgrund des Krieges. Aufgrund der prekären Versorgungslage und seiner individuellen Lebenssituation sei dem BF subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Der Bescheid wurde am 05.04.2024 rechtswirksam zugestellt.

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der BF am 30.04.2024 durch seine damalige rechtliche Vertretung fristgerecht Beschwerde wegen unrichtiger Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF aufgrund seiner politischen und religiösen Einstellung gegen die Taliban nach deren Machtergreifung verfolgt werde. Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Die Beschwerdevorlage vom 02.05.2024 und der Verwaltungsakt langten bei der Gerichtsabteilung W278 des Bundesverwaltungsgerichts (in der Folge: BVwG) am 03.05.2024 ein.

Am 22.01.2025 fand vor dem BVwG in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, des BF, und der nunmehr bevollmächtigten, ausgewiesenen Vertreterin eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der BF ausführlich zu seinen persönlichen Lebensumständen und seinen Fluchtgründen befragt wurde. Das Bundesamt verzichtete mit Schreiben vom 23.12.2024 auf die Teilnahme an der Verhandlung. Im Zuge der Verhandlung wurden dem BF und seiner Vertretung die herangezogenen Länderberichte, darunter die Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan, Version 11 vom 10.04.2024 (LIB), sowie weitere relevante Berichte zur Kenntnis gebracht. Die Rechtsvertretung verzichtete auf eine Stellungnahme dazu.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Erstsprache ist Dari. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF wurde im Dorf XXXX (auch protokolliert unter der Schreibweise: XXXX ), Distrikt XXXX (auch protokolliert unter der Schreibweise: XXXX ), Provinz Baghlan (Afghanistan) geboren und wuchs dort im Familienverband mit seinen Eltern und Geschwistern (zumindest fünf Brüder und zwei Schwestern) auf, später zog die Familie in die Stadt XXXX . Der BF besuchte in seinem Herkunftsstaat zehn Jahre lang unregelmäßig die Schule und arbeitete als Tagelöhner sowie im familieneigenen Geschäft. Vor seiner Ausreise wohnte er bei einer Tante mütterlicherseits in Kabul.

Der BF reiste zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt in die Islamische Republik Iran aus, wo er einige Zeit lebte und im Baugewerbe arbeitete. Danach reiste er in die Türkei, wo er sich ebenfalls einige Zeit aufhielt und ebenfalls im Baugewerbe und in der Landwirtschaft arbeitete. Von dort reiste er schlepperunterstützt über Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich, er befindet sich seit 24.10.2022 im Bundesgebiet.

Der BF ist gesund, er benötigt weder ärztliche noch medikamentöse Behandlung, er ist arbeitsfähig.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten und verfügt in Österreich über den Status eines subsidiär Schutzberechtigten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der BF reiste unrechtmäßig nach Österreich ein und stellte am 24.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF wird in Afghanistan weder von einer privaten Person wegen Blutrache, noch von den Taliban verfolgt und bedroht.

Der BF verließ Afghanistan wegen des bewaffneten Konflikts und der damit einhergehend prekären Sicherheits- und Wirtschaftslage. Der BF war in Afghanistan in der Vergangenheit keiner individuellen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt.

Der BF ist im Fall einer fiktiven Rückkehr nach Afghanistan auch aus sonstigen Gründen keiner konkreten Verfolgungsgefährdung oder der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:

Im Verfahren wurden folgende aktuelle Quellen zum Herkunftsstaat des BF herangezogen:

Länderinformationen der Staatendokumentation zu Afghanistan, Version 11, vom 10.04.2024

EUAA, Country Guidance: Afghanistan (May 2024)

IPC acute food insecurity analysis, September – März 2025

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation zu Afghanistan, Version 11, vom 10.04.2024, wiedergegeben:

„3 Politische Lage

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023a). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023a) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023a). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).

Darstellung der vorläufigen Regierung der Taliban mit Namen und politischen Positionen

Quelle: BBC 7.9.2021

Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).

Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).

[…]

Quellen: […]

[…]

4 Sicherheitslage

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).

[…]

Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 20.6.2023), wobei diese nach Einschätzung der Vereinten Nationen den Taliban die Kontrolle über ihr Gebiet nicht streitig machen können (UNGA 1.12.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront (AFF) im Distrikt Salang in der Provinz Parwan, bei derBerichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).

Ca. 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle des Jahres 2023 entfielen auf die Regionen im Norden, Osten und Westen wobei die Provinzen Nangarhar, Kunduz, Herat (UNGA 20.6.2023), Takhar (UNGA 18.9.2023) und Kabul am stärksten betroffen waren (UNGA 1.12.2023).

Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).

Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022), so nahmen auch diese im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023; vgl. UNAMA 22.1.2024). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).

Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Quellen: […]

4.1 Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).

Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).

Quellen: […]

5 Regionen Afghanistans

Karte Afghanistan aufgeteilt in fünf Regionen. Hauptverkehrswege sowie internationale Flughäfen dargestellt

Quelle: STDOK-OSIF 7.9.2023a

Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 1.2.2024) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 1.2.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 1.2.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 26.6.2023; vgl. EUAA 12.2023).

Quelle: NSIA 4.2022

[…]

Quellen: […]

[…]

5.2 Nord-Afghanistan

Karte der Region Nordafghanistan mit Aufteilung in Provinzen, Hauptverkehrswegen und Flughafen Quelle: STDOK-OSIF 8.9.2023a

Im Norden Afghanistans beginnt die zentralasiatische Steppe - grasbewachsene Ebenen, die bis nach Russland reichen. Bis zur Fertigstellung des Salang-Tunnels Mitte der 1960er-Jahre war diese Region durch den Hindukusch vom übrigen Afghanistan relativ isoliert. Mazar-e Sharif ist die größte Stadt in Nord-Afghanistan. In der Region leben u. a. viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen (NPS o.D.b).

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Quellen: […]

6 Zentrale Akteure

6.1 Taliban

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).

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7.1.1 Eheschließung und Registrierung der Ehe / Scheidung

Eheschließung

Sowohl nach dem Zivilgesetzbuch Artikel 70 (ZGB 2014) wie auch nach dem schiitischen Personenstandsregister ist das legale Heiratsalter für Frauen 16 Jahre und für Männer 18 Jahre (SPSR 4.2009; vgl. RA KBL 19.2.2024). Allerdings sind Eheschließungen nach dem Gesetz auch unter dem gesetzlichen Mindestalter in beiden Fällen möglich (Musawa 2.2020). So kann nach Artikel 71 des Zivilgesetzes der Vater oder das zuständige Gericht die Heirat von Mädchen unter 16 Jahren erlauben, wobei die absolute Untergrenze bei 15 Jahren liegt (ZGB 2014; vgl. Musawa 2.2020). Das schiitische Personenstandsregister schreibt vor, dass ein Vormund Mädchen oder Jungen die Ehe unter 16 bzw. unter 18 Jahren erlauben kann, wenn "die Eheschließung notwendig und im besten Interesse des Kindes ist". Das schiitische Personenstandsregister legt kein absolutes Mindestalter fest, unter dem eine Eheschließung nicht genehmigt werden darf (Musawa 2.2020; vgl. SPSR 4.2009).

Laut afghanischem Zivilgesetzbuch Artikel 77 ist eine Ehe ein rechtsgültiger Vertrag, wenn alle rechtlichen Bedingungen und Bestimmungen erfüllt sind (RA KBL 19.2.2024). Dies sind:

Angebot und Annahme müssen von den Vertragsparteien oder ihren Vormündern oder Vertretern korrekt vorgenommen werden

Anwesenheit zweier Zeugen

Fehlen eines dauerhaften oder vorübergehenden rechtlichen Hindernisses zwischen den heiratenden Parteien (RA KBL 19.2.2024)

Im Allgemeinen wird eine Ehe zu Hause oder in einem Hotel von den Paaren vor einem religiösen Geistlichen (Mullah) geschlossen, wenn die oben genannten Bedingungen erfüllt sind (RA KBL 19.2.2024).

Darüber hinaus werden bei einer Eheschließung folgende Punkte berücksichtigt:

Anwesenheit beider Parteien (Ehemann und Ehefrau) oder ihrer Vertreter, in fast allen Fällen wird die Ehefrau durch einen Vertreter vertreten

Willensbekundung und Absicht der Parteien, die Ehe zu schließen

Einigung der Parteien oder ihrer Vertreter über die Höhe der Mitgift des Mannes an die Frau

Anwesenheit von Zeugen für die Zeugenaussage

Erledigung der religiösen Formalitäten

Ausstellen einer traditionellen (inoffiziellen) Heiratsurkunde (RA KBL 19.2.2024)

Ehen, die außerhalb Afghanistans geschlossen wurden, sind gültig wenn die einschlägigen Gesetze und Vorschriften des Landes, in dem die Eheschließung stattfindet, eingehalten bzw. angewendet und die Artikel 70, 71 und 77 des afghanischen Zivilgesetzbuches eingehalten wurden (RA KBL 19.2.2024).

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Quellen: […]

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13 Allgemeine Menschenrechtslage

Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022a, AI 15.8.2022).

Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).

Quellen: […]

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19.2 Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus (MRG 5.2.2021b; vgl. AA 26.6.2023). Sie üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite, die über ein beträchtliches Vermögen innerhalb der Gemeinschaft verfügt. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG 5.2.2021b).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG 5.2.2021b). Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle Dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).

Quellen: […]

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23 Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan

23.1 Iran

Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention mit Vorbehalten unterzeichnet. Die Regierung ist restriktiv in der Vergabe des Flüchtlingsstatus, jedoch bietet die Islamische Republik Iran seit Jahrzehnten Millionen von afghanischen (SEM 30.3.2022) sowie irakischen Flüchtlingen und Migranten Zuflucht und Unterstützung (AA 30.11.2022). Iran duldet viele afghanische Staatsangehörige, die sich irregulär im Land aufhielten. Ein beträchtlicher Anteil befindet sich im Rahmen der Arbeitsmigration in Iran, die ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für das Land ist. Im Rahmen verschiedener Regularisierungsinitiativen haben die iranischen Behörden einigen von ihnen einen regulären Aufenthalt bzw. eine Duldung ermöglicht (SEM 30.3.2022).

Die Behörden arbeiten mit UNHCR zusammen, um Flüchtlingen, aus Iran nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlingen, Asylwerbern und anderen Personen Hilfe bereitzustellen (USDOS 12.4.2022b), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 8.11.2022). Die Regierung unterstützt eine integrative und progressive Politik gegenüber Flüchtlingen, die bei der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse vor großen Herausforderungen stehen (UNHCR 31.3.2022). Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021).

Die iranische Regierung ist über das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (Bureau for Aliens and Foreign Immigrant´s Affairs, BAFIA) für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus in Iran gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig. UNHCR in Iran nimmt keine Asylanträge an und entscheidet nicht über diese (UNHCR 26.9.2021).

Grundsätzlich haben Asylsuchende in Iran die folgenden regulären Aufenthaltsmöglichkeiten: Flüchtlingsstatus (Afghanen: Inhaber der Amayesh-Karte; Iraker: Hoviat-Karte (UNHCR o.D.a)), Aufenthalt mit Visa, oder Duldung durch Registrierung (sog. headcount von Ausländern ohne Aufenthaltsstatus) (SEM 30.3.2022). Im Jahr 2022 beherbergte Iran über vier Millionen Afghanen, darunter 750.000 afghanische Flüchtlinge (Inhaber der Amayesh-Karte) und fast 600.000 Afghanen mit afghanischen Pässen und iranischen Visa. Hinzu kamen rund 2,6 Millionen Afghanen ohne Papiere, die bei einer Ende Juni 2022 abgeschlossenen Zählung und Registrierung erfasst wurden und "Laissez-passers" als zeitlich befristeten Schutz vor Rückführungen erhalten haben. Weitere 500.000 Afghanen, die sich laut den iranischen Behörden ohne Papiere im Land aufhalten, haben nicht an der Zählung teilgenommen. Hinzu kamen mit Stand 31.12.2022 rund 12.000 irakische Inhaber von Hoviat-Karten, welche in Iran leben (UNHCR 31.12.2022).

Seit der Machtübernahme der Taliban hat die traditionell hohe Migration von afghanischen Staatsangehörigen nach Iran zugenommen. Regulär einreisen kann, wer im Besitz eines gültigen Passes und Visums für Iran ist. Iran hatte seine konsularischen Dienste nach Machtübernahme der Taliban vorübergehend teils eingestellt (z. B. in Herat), sodass keine neuen Visa mehr beantragt werden konnten. Inzwischen können wieder regulär Visumsanträge gestellt werden. Dennoch findet die große Mehrheit der Einreisen nach Iran irregulär statt. Die meisten afghanischen Flüchtlinge gelangen über die südliche Route – über den Schmuggel-Drehpunkt Zaranj direkt oder häufiger über Pakistan – nach Iran. Genaue Zahlen zu irregulären Einreisen liegen nicht vor (SEM 30.3.2022). Nach vorläufigen Schätzungen der iranischen Behörden kamen im Jahr 2021 zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Afghanen neu nach Iran. Aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der Verschlechterung der Menschenrechtssituation, wie auch der sozio-ökonomischen Lage in Afghanistan, hielten die Ankünfte im Jahr 2022 an (UNHCR 29.9.2022), wobei UNHCR für das Jahr 2022 rund 57.000 Neuankünfte von Afghanen vermeldete, die um internationalen Schutz ansuchten (UNHCR 31.12.2022).

Amnesty International (AI) berichtete über Fälle von Rückschiebungen von Afghanen durch die iranischen Sicherheitsbehörden an der Grenze, ohne dass deren individueller Bedarf an internationalem Schutz bewerten worden wäre (AI 31.8.2022). Neu geflüchtete Personen können beim BAFIA ein Asylgesuch stellen, erhalten mit wenigen Ausnahmen de facto jedoch kein Asyl. In der Regel hindert die Regierung sie an einer Registrierung (SEM 30.3.2022). Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan bestand die übliche Strategie der iranischen Regierung darin, Neuankömmlinge in Lagern unterzubringen, indem neue Standorte in den Grenzgebieten eingerichtet wurden. Es kamen viele neue Flüchtlinge aus Afghanistan in den Lagern an und benötigten dringend humanitäre Hilfe (IOM 4.5.2022). Aufgrund der bis zu 1,5 Millionen Personen, die laut Angaben der iranischen Behörden aus dem Nachbarland nach Iran gekommen waren - wobei UNHCR diese Zahl aufgrund mangelnden Zugangs zur Grenzregion nicht verifizieren kann - forderte Iran substanzielle finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft (AA 30.11.2022).

Amayesh-Programm

Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Im Jahr 2001 begann man mit den Vorregistrierungen und im Jahr 2003 wurde die erste Amayesh-Runde durchgeführt. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die unter anderem das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen. Die Amayesh-Karten haben eine begrenzte Gültigkeit, und um ihren legalen Status in Iran nicht zu verlieren, müssen sich Amayesh-registrierte Personen bei jeder Registrierungsrunde, die in Iran durchgeführt wird, erneut registrieren (Migra 10.4.2018; vgl. UNHCR o.D.a). Der Prozess zur erneuten Registrierung ist immer noch mit Schwierigkeiten und unterschiedlichen Ausgaben verbunden, die in den verschiedenen Provinzen variieren können. Normalerweise geschieht die Erneuerung jedes Jahr (Migra 10.4.2018). Bei der jüngsten Registrierungsrunde ("Amayesh 17") lagen die Registrierungskosten für eine Familie mit fünf Personen bei 13,625.000 Rial [offizieller Umrechnungskurs: rund 325 Euro, am freien Markt (Stand 11.4.2023) rd. 24 Euro] (Shahrara 19.7.2022; EUAA 1.12.2022). Hierin sind die Kosten für die Arbeitserlaubnis für eine Person sowie die Provinzsteuer inkludiert. Die iranischen Behörden geben im Internet bekannt, wenn es Zeit für eine neue Amayesh-Runde ist. Sie informieren auch über andere Regeln online und erwarten, dass sich die Betroffenen auf dem Laufenden halten, was nicht immer der Fall ist. Hilfsorganisationen richten sich mit Sonderinformationen an die am meisten schutzbedürftigen Gruppen, damit sie nicht verpassen, sich erneut für eine neue Amayesh-Karte oder den Schulbesuch der Kinder zu registrieren (Migra 10.4.2018).

Die Afghanen, die vor 2001 nach Iran gekommen sind, werden – vorausgesetzt, dass sie sich bei sämtlichen Amayesh-Registrierungen registriert haben – von den iranischen Behörden als Flüchtlinge betrachtet. Das Amayesh-System ist aber kein offenes System, was bedeutet, dass neu eingereiste Afghanen kein Asyl in Iran beantragen können. Seit 2001 werden im Prinzip keine Neuregistrierungen mehr vorgenommen. Zu den Ausnahmen gehören wenige, besonders schutzbedürftige Fälle. Kinder von Amayesh-registrierten Eltern werden registriert. Wenn eine Person ihren Amayesh-Status infolge einer verpassten Registrierung verliert, gibt es keine Möglichkeit zur erneuten Registrierung. Amayesh-Registrierte verlieren ihren Status, wenn sie Iran verlassen, weil der Amayesh-Status keine Ausreise erlaubt (Migra 10.4.2018). Inhaber von Amayesh- (und Hoviat)-Karten, welche außerhalb der Provinz reisen wollen, in welcher sie registriert sind, müssen dafür bei der BAFIA-Niederlassung in ihrer Provinz um ein temporäres Laissez-Passer ansuchen, und es gibt designierte Gebiete, in welche die Karteninhaber nicht reisen dürfen (UNHCR o.D.b).

Registrierung von Personen ohne Aufenthaltsstatus

Als Teil der Bestrebungen der iranischen Behörden, Kontrolle über die sich illegal im Land aufhaltenden Afghanen zu bekommen, wurde 2017 ein Programm zur Identifikation und Registrierung afghanischer Staatsbürger durchgeführt. Dieser sogenannte 'headcount' richtete sich zu Beginn nur auf Afghanen, wurde aber später auch auf irakische Staatsbürger im Land ausgeweitet. Hinsichtlich sich illegal im Land aufhaltender Afghanen wurde das Hauptaugenmerk in der ersten Runde auf drei besondere Kategorien gelegt:

1. Unregistrierte Afghanen mit in die Schule gehenden Kindern;

2. Unregistrierte Afghanen, die mit Amayesh-registrierten Personen verheiratet sind;

3. Unregistrierte Afghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind (Migra 10.4.2018).

Personen aus diesen Kategorien, die eine dem Programm entsprechende Identifikation durchlaufen haben, haben einen Papierbeleg (headcount slip) erhalten, der sie bis auf Weiteres davor schützt, aus Iran deportiert zu werden (Migra 10.4.2018). Beim letzten Zählungszyklus für Afghanen, der im Juni 2022 endete, wurden drei Kategorien von Berechtigten registriert:

1. Besitzer von Papierbelegen der Zählung von 2017;

2. Afghanische Staatsangehörige ohne Papiere, die bereits ihre "Impfeinführungsbriefe" von Kefalat-Zentren erhalten haben und nicht an der Zählung von 2017 teilgenommen haben;

3. Ausländer ohne Papiere, die an keiner der bisherigen Zählungen/Impfplänen teilgenommen haben (UNHCR o.D.c).

Die iranischen Behörden kündigten an, dass die Registrierten eine zeitweilige Aufenthaltserlaubnis von sechs Monaten erhalten, die erneuert werden kann (AJ 12.6.2022). Die Kosten für die Registrierung und Teilnahme von Afghanen ohne Aufenthaltsstatus an der Zählung belaufen sich auf 270.000 Rial pro Person [Anm.: mit Stand Februar 2023 rd. 6 Euro], wenn die Person sich an die Pishkhan-Zentren wendet, und auf 310.000 Rial pro Person [rd. 6,80 Euro], wenn die Person ein Impfzertifikat besitzt und sich an die Kefalat-Zentren wendet (UNHCR o.D.c). Pishkan- und Kefalat-Zentren sind lokale Servicezentren, die von den iranischen Behörden in Kooperation mit privaten Anbietern eingerichtet wurden (Landinfo 5.1.2021, UNHCR o.D.a).

Im Juli 2022 kündigte BAFIA an, dass sich Afghanen, die an der im Juni abgeschlossenen Zählung teilgenommen haben und vorübergehenden Schutz mit sechsmonatiger Gültigkeit (bis zum 22.10.2022) genießen, nur in der Provinz ihres Wohnsitzes (die zum Zeitpunkt der Teilnahme an der Zählung registrierte Provinz) aufhalten und sich innerhalb dieser bewegen dürfen. In der Mitteilung der Regierung wird darauf hingewiesen, dass Reisen in andere Gebiete und Provinzen untersagt sind, eine Verletzung dieser Regelung wird laut Ankündigung "die Abschiebung der betroffenen Personen auf dem Rechtsweg zur Folge haben" (UNHCR 3.8.2022).

Rechte und Zugang zu Leistungen

Während Afghanen unabhängig von ihrem Status beispielsweise freien Zugang zum Schulwesen haben und viele von ihnen die versteckten Subventionen nutzen können, die die Regierung zur Kontrolle der Preise für Lebensmittel, Medikamente und Benzin bereitstellt, sind Personen ohne Aufenthaltsstatus beispielsweise nicht in der Lage, Bankkonten zu eröffnen oder Wohnungen und SIM-Karten für Mobiltelefone zu kaufen (AJ 12.6.2022). Amayesh- und Hoviat-Karteninhaber (UNHCR o.D.b) sowie durch den headcount registrierte Afghanen sind in ihrer Bewegungsfreiheit im Land eingeschränkt (UNHCR 3.8.2022). Besitzer gültiger Visa können sich dagegen frei im Land bewegen (IOM 4.5.2022). Im Dezember 2023 kündigte ein Behördenvertreter an, dass es afghanischen Staatsbürgern entsprechend einer neuen Direktive verboten sei, in 16 iranische Provinzen [Anm.: von insg. 31] zu reisen, dort zu wohnen oder zu arbeiten (RFE/RL 4.12.2023; vgl. IRINTL 3.12.2023). Der Beamte berichtete auch über die Verhaftung von Arbeitgebern in der Provinz Kermanshah, die zuwiderhandelnde Personen eingestellt hatten (IRINTL 3.12.2023).

Von iranischer Seite gibt es einige NGOs, die sich um afghanische Flüchtlinge kümmern. Die iranischen Behörden haben den Spielraum dieser unabhängigen Organisationen in den letzten Jahren eingeschränkt. Betroffen war besonders die Imam Ali Society, ehemals eine der größten NGOs in Iran, die sich u. a. um afghanische Flüchtlinge gekümmert hat. Ihr Gründer wurde 2020 festgenommen und die Organisation 2021 gerichtlich aufgelöst. Sie scheint jedoch nach wie vor aktiv zu sein. Folgende Organisationen unterstützen beispielsweise ebenfalls afghanische Flüchtlinge bzw. speziell Frauen als Gewaltopfer: die landesweit tätige Organization for Defending Victims of Violence und Association for Protection of Refugee Women and Children (HAMI) oder die in Teheran aktive Omid-Mehr Foundation; die Society for Recovery Support (SRS) und die Rebirth Charity Organization im Bereich Drogensucht; und weitere Organisationen wie die World Relief Foundation (WRF), die Chain of Hope (COH); das Pars Development Activists Institute (PDA), die Iranian Life Quality Improvement Association (ILIA) oder die Kiyana Cultural and Social Group (KIYANA) (SEM 30.3.2022).

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Arbeitsmöglichkeiten

Amayesh-registrierte Afghanen im Alter von 18 bis 60 Jahren können mit der Amayesh-Verlängerung eine Arbeitsgenehmigung erhalten (Diaran 25.7.2022). Männer in diesem Alter sind dazu verpflichtet, dies in Zusammenhang mit der Amayesh-Registrierung zu tun. Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen – oft zu Hause. Der Arbeitsmarkt für Afghanen in Iran ist reguliert, und Afghanen haben das Recht, in 87 verschiedenen Berufen zu arbeiten. Ein Problem für Amayesh-registrierte, ausgebildete Personen ist, dass die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten können, dass sie nicht in dem Bereich arbeiten können, für den sie ausgebildet sind. In einzelnen Fällen, wo eine Amayesh-registrierte Person eine gewisse Berufskompetenz besitzt, die nicht unter die 87 erlaubten Berufe fällt, kann eine Ausnahme gestattet werden (Migra 10.4.2018). Die meisten Flüchtlinge gehen eher minderwertigen und schlecht bezahlten Arbeiten v. a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach, die offiziell versicherungspflichtig sind (AA 30.11.2022). Afghanen, die keine Amayesh-Karte und kein bestehendes Arbeitsvisum besitzen, müssen das folgende Verfahren durchlaufen: Rückkehr nach Afghanistan, um sich bei der iranischen Botschaft in Afghanistan ein Arbeitsvisum ausstellen zu lassen, dann können sie auf der Grundlage des Arbeitsvisums wieder nach Iran einreisen. Dieses Verfahren ist für viele Migranten aufgrund von Sicherheitsbedenken und der Tatsache, dass nicht garantiert ist, dass sie nach der Ausreise aus Iran ein Arbeitsvisum für die Wiedereinreise erhalten können, schwierig anzuwenden. Daher verbleiben viele afghanische Migranten in ihrer derzeitigen Situation und arbeiten illegal im informellen Sektor (IOM 4.5.2022).

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Weitere Aspekte

Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen (ÖB Teheran 11.2021). Die iranischen Behörden sind sich jedoch uneins darüber, wie sie mit der wachsenden Zahl illegaler afghanischer Einwanderer umgehen sollen (IRINTL 28.9.2023). Iranische Behörden fürchten einerseits einen noch größeren Zustrom von Afghanen und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran, die schlechte Wirtschaftslage angesichts der US-Sanktionen und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Es werden Spannungen zwischen ansässiger Bevölkerung und Neuankömmlingen befürchtet (ÖB Teheran 11.2021). Bereits bisher werden Afghanen teilweise diskriminiert (ÖB Teheran 11.2021; vgl. Stimson 24.10.2023), und es kommt zu anti-afghanischen Protesten (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IRINTL 14.10.2023), z. B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder in Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Im Oktober 2023 wurde auch von zwei Vorfällen gewalttätiger Angriffe auf Afghanen berichtet (IRINTL 14.10.2023; vgl. RFE/RL 18.10.2023). Andererseits werben manche Hardliner-Medien auch angesichts der gesunkenen Geburtenrate und gestiegenen Emigration von Iranern um eine Akzeptanz der Afghanen (IRINTL 28.9.2023). Die meisten Flüchtlinge gehen gering qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeiten v. a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach (AA 30.11.2022) und sehen sich mit Vorurteilen und negativen Stereotypen konfrontiert (Stimson 24.10.2023). Sie sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 30.11.2022). Die Tötung zweier schiitischer Geistlicher in Maschhad Anfang April 2022 hat reflexartige anti-afghanische und anti-sunnitische Vorurteile offenbart (AA 30.11.2022; vgl. AJ 12.6.2022). Es wurde von Rassismus gegen Afghanen berichtet (Inkstick 6.1.2023) und im Jahr 2022 kam es in Afghanistan zu anti-iranischen Protesten, nachdem im Internet mehrere Videos veröffentlicht wurden, die angeblich zeigen, wie Flüchtlinge von iranischen Grenzsoldaten geschlagen werden (AJ 12.6.2022; vgl. Inkstick 6.1.2023).

Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befinden (FH 24.2.2022b; vgl. USDOS 12.4.2022b).

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Quellen: […]

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27 Dokumente

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020; vgl. SEM 12.4.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.4.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.4.2023; vgl. MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.4.2023).

Mit Stand Februar 2024 können Reisepässe, Tazkira und e-Tazkira laut einem Rechtsanwalt in Kabul in allen Provinzen Afghanistans beantragt werden. Die Ausstellung von Reisepässen kann jedoch bis zu einem Jahr dauern. Reisepässe sehen noch genauso aus wie früher. Die e-Tazkira werden jedoch mit einigen Änderungen in Bezug auf das Layout ausgestellt. Auf der Vorderseite der e-Tazkira steht nicht mehr "Innenministerium", sondern "Nationale Behörde für Statistik und Information" in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Vorder- und Rückseite der e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, was vorher nicht der Fall war (RA KBL 19.2.2024). Zusätzlich sind neben der Religion auch die Nationalität, der Stamm und die ethnische Zugehörigkeit vermerkt (USDOS 15.5.2023). IOM weißt jedoch darauf hin, dass Reisepässe nicht in allen Provinzen erhältlich sind. Das Innenministerium der Taliban hat in 15 der 34 Provinzen (Farah, Nimroz, Badghis, Paktika, Samangan, Laghman, Uruzgan, Kunar, Takhar, Zabul, Jawzjan, Bamyan, Panjsher, und Baghlan) Passämter wiedereröffnet und verlangt von den Antragstellern, dass sie sich in ihrer Herkunftsprovinz einen Pass besorgen. Die Funktionsfähigkeit dieser Abteilungen ist jedoch nach wie vor unklar. Verlängerungen von Reisepässen sind laut IOM möglich, unterliegen jedoch denselben geografischen Einschränkungen wie bei der Beantragung eines neuen Passes. Laut IOM gibt es in Afghanistan insgesamt 74 Verteilungszentren für elektronische Personalausweise und alle 34 Provinzen verfügen über solche Einrichtungen (IOM 22.2.2024).

Andere Dokumente wie Heiratsurkunden können nach Angaben von IOM nur in sieben Provinzen ausgestellt werden: in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Balkh, Herat, Paktia, Kandahar und Khost. Einwohner aus anderen Provinzen müssen in eine dieser Provinzen reisen, um diese Dokumente zu erhalten (IOM 22.2.2024).

Tazkira

Um eine Tazkira oder e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller ein (online-) Antragsformular ausfüllen, das die folgenden Informationen/Unterlagen/Überprüfungen erfordert:

Persönliche Informationen des Antragstellers

Tazkira des Vaters des Antragstellers (falls der Antragsteller unter 18 Jahre alt ist)

Lichtbild des Antragstellers

Bestätigung des Gebietsvertreters

Um eine e-Tazkira zu erhalten, ist zusätzlich die Papier-Tazkira des Antragstellers notwendig (RA KBL 11.3.2024). Falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist für Antragsteller unter 18 Jahren eine Geburtsurkunde erforderlich. Für Personen, die älter als 18 Jahre sind, ist die Tazkira (entweder elektronisch oder auf Papier) eines der Hauptverwandten des Antragstellers vorzulegen (Vater, Bruder, Onkel ... usw.) und zwei andere Personen müssen die Identität des Antragstellers bescheinigen (RA KBL 11.3.2024). In weiterer Folge muss der Antragsteller bei der e-Tazkira-Ausgabestelle erscheinen, um seine biometrischen Daten erfassen zu lassen und die entsprechende Gebühr (diese wurde vor Kurzem von 800 AFN auf 1.000 AFN angehoben) zu zahlen (RA KBL 19.2.2024). Nach Angaben von IOM liegen die Kosten für den Erhalt einer Tazkira bei 700 AFN (IOM 22.2.2024).

[…]

Quellen: […]

2. Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA sowie des Gerichtsaktes des BVwG, insbesondere aus der mündlichen Verhandlung und dem persönlichen Eindruck, den der erkennende Richter dort gewinnen konnte.

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellung zu der vom BF geführten Identität (Name, Staatsangehörigkeit und Geburtsdatum) beruht auf seinen Angaben im Verfahren und insbesondere der vorgelegten und in Kopie zum Akt genommenen Tazkira, anhand derer das Geburtsjahr des BF entgegen seiner Angaben in der Erstbefragung festgestellt wurde (vgl. Aktenvermerk zur Altersfeststellung AS 29; Kopie Tazkira AS 81; BFA-Bescheid, S 9).

Die Feststellungen zu Volksgruppenzugehörigkeit, Religionsbekenntnis und den Sprachkenntnissen des BF ergeben sich aus den gleichbleibenden und unbedenklichen Ausführungen während des Verfahrens. Ferner konnten die Einvernahmen des BF jeweils unter Beiziehung eines Dolmetschers in der Sprache Dari durchgeführt werden.

Nachdem der BF zunächst in der Erstbefragung angegeben hatte, noch nicht volljährig und ledig zu sein (vgl. EB, AS 5), brachte er in der Einvernahme vor dem BFA abweichend vor, verheiratet zu sein (vgl. EV BFA, AS 61). Auf Nachfrage gab er an, dass seine Frau etwa XXXX Jahre alt sei, sie sei seine Großcousine väterlicherseits. Sie seien sehr jung verlobt worden, geheiratet habe er im Jahr 2020 „gleich als wir von unserem Heimatdorf in die Hauptstadt gezogen sind. Zwei oder drei Monate waren wir gemeinsam, danach war ich weg.“ (vgl. EV BFA, AS 61 f). Dies widerspricht seinen Angaben, dass er vor der Ausreise mit seiner Familie etwa zwei bis zweieinhalb Jahre in der Stadt gelebt habe (vgl. EV BFA, AS 61). In der mündlichen Verhandlung brachte er auf die Frage zu seinem Familienstand vor, verheiratet zu sein (VHS, S 4) und führte auf Nachfrage aus: „Ich war sehr, sehr klein, als ich geheiratet habe. Weil in Afghanistan den Brauch gibt, dass Kinder von Kindheit versprochen werden. Nachgefragt: Ich war sehr jung, ich weiß nicht wie als ich war und das war eine versprochene Ehe.“, Unterlagen zur Eheschließung habe er nicht (vgl. VHS, S 5). Es wird dem BF aufgrund dieser widersprüchlichen Angaben, die er auch auf Nachfrage nicht aufklären konnte, nicht geglaubt, dass er tatsächlich verheiratet ist. Aus den Länderberichten geht hervor, dass nach afghanischem Recht eine Ehe ein rechtsgültiger Vertrag ist, der in Anwesenheit zweier Zeugen vor einem religiösen Geistlichen (Mullah) geschlossen wird. Nach den entsprechenden Willensbekundungen, den Zeugenaussagen, der Einigung über die Höhe der Mitgift und der Erledigung der religiösen Formalitäten wird eine traditionelle (inoffizielle) Heiratsurkunde ausgestellt (LIB, Pkt. 7.1.1.). Dass sich der BF daran nicht erinnern kann und keine näheren Angaben zu seiner angeblichen Heirat machen konnte, ist nicht nachvollziehbar, wenn es tatsächlich zu einer Eheschließung gekommen wäre.

Die Feststellung, dass der BF keine Kinder hat, beruht auf seinen gleichbleibenden Angaben im Verfahren (vgl. EB, AS 7; EV BFA, AS 61; VHS, S 5).

Die Feststellung zum Geburtsort des BF war aufgrund seiner Angaben, der vorgelegten Tazkira und der unbestritten gebliebenen Feststellungen des BFA zu treffen. Der BF konnte jedoch nicht schlüssig angeben, wann die Familie vom Dorf in die Stadt gezogen ist. Vor dem BFA brachte er vage vor, dass er bereits zwei bis zweieinhalb Jahre vor seiner Ausreise in der Stadt gelebt habe (vgl. EV BFA, AS 61). In der mündlichen Verhandlung brachte er zu seinen Aufenthaltsorten befragt vor: „Ich bin in Provinz bzw. im Bezirk XXXX , im Dorf XXXX geboren. Mein Geburtsdatum weiß ich nicht. Ich habe meine Geburtsurkunde vorgelegt. Dann sind wir in die Distriktstadt XXXX umgezogen. Ich war jung in Afghanistan. Ich arbeitete als Verkäufer im Familiengeschäft, war 10 Jahre in der Schule und nebenbei habe ich als Verkäufer im Familiengeschäft mitgearbeitet.“ (VHS, S 6). Zumal auch der Zeitpunkt der Ausreise aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben nicht festgestellt werden konnte (siehe Ausführungen weiter unten), kann auch nicht festgestellt werden, wann der BF von seinem Geburtsort in die Stadt verzogen ist.

Zum Schulbesuch gab der BF an, dass er zehn Jahre lang die Schule im Heimatdorf besucht habe (vgl. EV BFA, AS 60; VHS, S 5). Auf Nachfrage, weshalb er dann angäbe, nicht Lesen und Schreiben zu können (vgl. EV BFA, AS 60), brachte er vor, dass er die Schule wegen des Krieges nicht regelmäßig besuchen habe können (vgl. EV BFA, AS 60). In der mündlichen Verhandlung gab er dazu befragt ebenfalls an: „Wenn Sie sich vorstellen, wie die Schulbildung in Afghanistan vor sich geht, dann können Sie sich auch vorstellen, was man in der Schule in Afghanistan lernt. Aufgrund der Kriegshandlungen waren die Schulen fast immer geschlossen, ein Tag war offen, für 2 Monate geschlossen. Die Schule war in einem Dorf und nicht in der Stadt und wegen der Kampfhandlungen war sehr oft geschlossen.“ (vgl. VHS, S 5). Es war daher von einem zwar zehnjährigen, aber unregelmäßigen Schulbesuch auszugehen. Zur beruflichen Tätigkeit des BF ist auszuführen, dass er laut der vorgelegten Tazkira als Tagelöhner gearbeitet hat (vgl. Übersetzung in EV BFA, AS 60), der BF selbst gab an, im Geschäft der Familie als Verkäufer gearbeitet zu haben (vgl. EV BFA, AS 60; VHS, S 6). Im Iran und der Türkei habe er als Tagelöhner auf Baustellen und in der Landwirtschaft gearbeitet (vgl. VHS, S 11). Zu seiner Tätigkeit im Geschäft der Familie wird auch auf die Ausführungen zum Fluchtgrund unter Pkt. II.2.2. verwiesen. Sein Aufenthalt in Kabul war aufgrund seiner Angaben vor dem BFA festzustellen (vgl. EV BFA, AS 61 und 65).

Die Angaben des BF zu seinen Familienangehörigen und deren Aufenthaltsorten waren widersprüchlich: In der Erstbefragung gab er an, dass seine Eltern, fünf Brüder und zwei Schwestern in Afghanistan leben würden (vgl. EB, AS 7). Vor dem Bundesamt gab er etwa fünf Monate später im März 2023 an, dass er acht Geschwister habe, zwei Brüder und sechs Schwestern (vgl. EV BFA, AS 61). Seine Eltern, zwei Schwestern und zwei Brüder würden noch in Afghanistan leben, ebenso Onkel und Tanten mütterlicherseits (vgl. EV BFA, AS 62). Auf Nachfrage, wo die anderen Geschwister seien, gab er an, dass drei Brüder im Iran und ein Bruder in der Türkei seien (vgl. EV BFA, AS 62), demnach sprach er von insgesamt sechs Brüdern. Er habe auch regelmäßig Kontakt zu seinen Verwandten, zuletzt zu seiner Mutter vor etwa zwanzig Tagen oder einem Monat. Das Leben sei nicht einfach, aber im Allgemeinen gehe es ihnen gut (vgl. EV BFA, AS 62). In der mündlichen Verhandlung gab er dazu abweichend an, dass seine Kernfamilie nicht mehr in Afghanistan lebe, nur noch ein Onkel väterlicherseits sei dort (vgl. VHS, S 7). Auf Nachfrage, wann und weshalb die Kernfamilie weggezogen sei, gab er an, dass er den genauen Zeitpunkt nicht wisse. Er wisse nur, dass seine Eltern, zwei Brüder und „zwei meiner Schwestern“ derzeit im Iran aufhältig seien. Befragt nach den anderen Brüdern gab er an, dass einer in der Türkei arbeite, zwei weitere würden in der Türkei in einem Camp leben. Auf Nachfrage, wann seine Brüder ausgereist seien, brachte der BF vor: „Ein Bruder hat vor der Machtübernahme der Taliban in die Türkei eingereist. 2 andere haben gleich nach der Machtübernahme von Taliban in die Türkei eingereist. Meine Eltern und die 2 Brüder und die 2 Schwestern haben nach meiner Ausreise aus Afghanistan verlassen und in den Iran eingereist.“ (vgl. VHS, S 7). Auf Vorhalt seiner Angaben in der Erstbefragung gab der BF an: „Ich weiß überhaupt nicht, was ich für Antworten zu den Fragen bei der EB gegeben habe.“ (vgl. VHS, S 7). Selbst wenn er sich nicht an seine Angaben in der Erstbefragung erinnern könnte, bleibt der Widerspruch zu seinen Angaben vor dem Bundesamt im März 2023, wo er angab, dass seine Eltern und einige Geschwister noch in Afghanistan seien (vgl. EV BFA, AS 62). Es ist daher nicht glaubhaft, dass seine Eltern und Geschwister alle spätestens nach seiner Ausreise den Herkunftsstaat verlassen haben. Zumal der BF unterschiedliche Angaben zur Anzahl seiner Brüder und deren Aufenthaltsorten machte, konnte hinsichtlich der Brüder keine zweifelsfreie Feststellung zu deren Aufenthaltsort getroffen werden. Aufgrund der widersprüchlichen und nicht glaubhaften Angaben in Zusammenschau mit dem persönlichen Eindruck des Richters im Zuge der mündlichen Verhandlung wird davon ausgegangen, dass der BF nach wie vor über ein familiäres Netz in Afghanistan verfügt, welches er im gegenständlichen Verfahren jedoch nicht offenlegen wollte.

Auch die Angaben zum Ausreisezeitpunkt aus Afghanistan und seinen weiteren Aufenthaltsorten bis zur Einreise in das österreichische Bundesgebiet waren widersprüchlich: In der Erstbefragung, die gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient, gab der BF an, dass er vor ca. fünf Monaten den Heimatort in Afghanistan verlassen habe (vgl. EB, AS 8). Auf seinem Weg sei er durch den Iran durchgereist, in der Türkei sei er etwa fünf Monate aufhältig gewesen, durch Bulgarien sei er durchgereist, eine Woche sei er in Serbien gewesen und schließlich durch Ungarn nach Österreich gereist (vgl. EB, AS 9). Abweichend dazu gab er vor dem Bundesamt an, dass er im März oder April 2020 ausgereist sei (vgl. EV BFA, AS 61). Auf Nachfrage gab er auch an, dass er sich ca. vier Monate im Iran aufgehalten habe (vgl. EV BFA, AS 63), er habe dann keine Arbeit mehr gefunden und habe Angst gehabt, abgeschoben zu werden, weil er sich illegal im Iran aufgehalten habe, deshalb sei er in die Türkei weitergereist (vgl. EV BFA, AS 66). In der Türkei sei er ca. eineinhalb Jahre gewesen, weil zuletzt vermehr Afghanen festgenommen und abgeschoben worden seien, sei er weitergereist (vgl. EV BFA, AS 67). In der mündlichen Verhandlung gab er an, dass er glaube, im Jahr 2020 ausgereist zu sein, und auf Vorhalt seiner Angabe in der Erstbefragung: „Bei der EB habe ich nicht gewusst, was ich für Antworten zu den Fragen gegeben habe.“ (vgl. VHS, S 11). Der BF konnte zu seinen vorgebrachten längeren Aufenthalten im Iran und der Türkei auch keine Nachweise vorlegen (vgl. VHS, S 11), sodass aufgrund des Widerspruchs seiner Angaben zur Erstbefragung, der Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte; ebenso nicht glaubhaft waren seine Angaben zu den Zeiten, die er im Iran und in der Türkei verbracht habe, da diese ebenfalls nicht mit der Erstbefragung übereinstimmten. Die Reiseroute war in Bezug auf die durchreisten Länder aufgrund seiner diesbezüglich gleichbleibenden Angaben festzustellen (vgl. EB, AS 9; EV BFA, AS 66 f; VHS, S 11). Der Zeitpunkt der Einreise nach Österreich steht aufgrund des Erstbefragungsprotokolls fest (vgl. EB, AS 6).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF ergeben sich aus seinen Angaben in der Einvernahme vor dem BFA und der mündlichen Beschwerdeverhandlung und wurden zudem keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, aus welchen körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, regelmäßige medizinische Behandlungen oder eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit abzuleiten wären. Dementsprechend war festzustellen, dass der BF gesund und arbeitsfähig ist.

Die Unbescholtenheit des BF geht aus dem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug hervor. Sein aufrechter Status des subsidiär Schutzberechtigten ergibt sich unstrittig aus der Aktenlage.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Die Feststellung zur unrechtmäßigen Einreise und dem Zeitpunkt der Antragstellung ergibt sich aus dem Erstbefragungsprotokoll.

Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde sowie dem vor dem BVwG geführten Verfahren und im Besonderen der mündlichen Verhandlung ergibt sich, dass der BF ausreichend Zeit und Gelegenheit hatte, eventuelle Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen sowie allfällige Beweismittel und geeignete Nachweise zur Untermauerung seines Vorbringens vorzulegen. Er wurde auch mehrmals zur umfassenden und detaillierten Schilderung seiner Fluchtgründe und ausdrücklich zur Vorlage von Beweismitteln aufgefordert sowie über die Folgen unrichtiger Angaben belehrt. Der erkennende Richter geht davon aus, dass der BF in Afghanistan im Fall einer (hypothetischen) Rückkehr nicht individuell und konkret bedroht oder verfolgt würde. Dies ergibt sich aus nachstehenden Erwägungen:

Der BF brachte in der Erstbefragung lediglich vor, aufgrund des Krieges und der Taliban geflohen zu sein (vgl. EB, AS 10).

In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt brachte er im Rahmen der freien Erzählung zusammengefasst vor, dass seine Familie einen Lebensmittelladen gehabt habe, der zwischen dem Dorf und der Bezirksstadt gelegen sei. Es sei üblich gewesen, dass Leute Einkäufe bei ihm im Laden gelassen hätten und diese erst am Rückweg abgeholt hätten. Eines Tages seien drei Personen mit dem Auto gekommen, die ihm drei Säcke zur Aufbewahrung bis zum nächsten Tag überlassen hätten. Wenige Stunden später sei die Polizei gekommen, habe nach diesen Säcken gefragt und diese kontrolliert. Er sei dann festgenommen worden, weil sich in den Säcken Explosionsmittel befunden hätten und verhört worden. Nach zwei oder drei Stunden sei er wieder freigelassen worden, unter der Auflage, am nächsten Tag sein Geschäft normal zu öffnen. Am nächsten Tag sei wieder ein Auto gekommen, zwei Personen seien ausgestiegen, einer davon bewaffnet. Zwischen den Männern und der Polizei sei es zu einer Schießerei gekommen und sei der bewaffnete Mann getötet worden. Er sei erneut festgenommen worden, nach drei Tagen sei er unschuldig gesprochen und entlassen worden. Zu Hause habe ihm seine Familie gesagt, dass der Bruder des Verstorbenen nach ihm gefragt habe, er befürchte, dass dieser ihn umbringen wolle (vgl. EV BFA, AS 64 f). Auf Nachfrage erklärte er, dass er selbst nicht in die Säcke hineingesehen habe, die Polizisten hätten ihm gesagt, dass darin Bomben, Waffen und Drogen wären (vgl. EV BFA, AS 66). Befragt, wovor er konkret Angst habe, brachte der BF vor, dass er sich vor dem Bruder des Verstorbenen fürchte, „weil er ist aktuell der Sicherheitskommandant unserer Provinz“ (vgl. EV BFA, AS 67).

Dieses Vorbringen wiederholte der BF in der mündlichen Verhandlung nahezu wortident, wobei er abweichend vorbrachte, dass sich in den Säcken Rauschgift befunden habe (vgl. VHS, S 8 f). Befragt, weshalb er die Bedrohung durch den Bruder des Getöteten nicht der Polizei gemeldet habe, gab er nur vage an: „Dort wo wir lebten, haben die Taliban die Kontrolle gehabt und wenn ich zur Polizei gegangen wäre und das bei der Polizei gemeldet hätte, hätte meine Familie Konsequenzen dafür büßen müssen.“, und auf Nachfrage, weshalb: „Das ist die Natur der Taliban. Wenn Taliban erfährt, dass jemand etwas gegen ihren Willen gemacht hat, wird sich Taliban an seinen Verwandten rächen.“ (vgl. VHS, S 10). Auf Vorhalt, dass er die Taliban nun erstmals in Zusammenhang mit seinem Fluchtvorbringen in der Verhandlung erwähne, und was diese mit seinem bisherigen Vorbringen zu tun hätten, gab der BF an: „Wem gehört der Rauschgift? Außer den Taliban kann es niemanden gehören, nur die Taliban handeln mit Rauschgift.“ (vgl. VHS, S 10). Der BF wurde auch befragt, weshalb er Angst vor dem Bruder des Verstorbenen habe, da er nach seinem Vorbringen diesen nicht getötet habe, und gab der BF dazu an: „Stimmt, dass ich seinen Bruder nicht umgebracht habe, aber in Afghanistan wird so gedacht, nachdem er seine Säcke in meinem Geschäft zur Aufbewahrung gegeben hat, werde ich dafür verantwortlich gemacht.“ (vgl. VHS, S 11). Außerdem sei der Bruder des Getöteten in einer hohen Position bei den Taliban, er wisse nicht genau, was für eine Position dieser habe, seine Eltern hätten ihm davon erzählt, den Namen wisse er auch nicht (vgl. VHS, S 13).

Auf den ersten Blick wirkt das Fluchtvorbringen zwar konsistent, jedoch hat sich der BF in wesentlichen Punkten widersprochen und entstand der Eindruck, dass er seine Fluchtgeschichte auswendig gelernt hat, zumal er auf Nachfragen nicht spontan konsistent antworten konnte. So sprach er vor dem BFA zuerst davon, dass sich in Säcken „Explosionsmittel“ befunden hätten (vgl. EV BFA, AS 64), später erweiterte er auf Nachfrage seine Angaben auf „Bomben, Waffen und Drogen“ (vgl. EV BFA, AS 66), wohingegen er in der mündlichen Verhandlung ausschließlich von „Rauschgift“ sprach (vgl. VHS, S 8 und 10). Des Weiteren erwähnte er vor der belangten Behörde mit keinem Wort, dass er eine Verfolgung durch die Taliban fürchte (vgl. EV BFA, AS 57 bis 70), wohingegen er dies in der mündlichen Verhandlung zum einen mit dem Inhalt der Säcke begründete und auch damit, dass der Bruder des bei dem Vorfall getöteten Mannes eine hohe Position bei den Taliban innehabe (vgl. VHS, S 10 und 12 f), wobei er nicht genau wisse, welche Position (vgl. VHS, S 13), was wiederum seinen Angaben vor dem Bundesamt widerspricht, da er dort vorbrachte, dass der Bruder des Verstorbenen aktuell Sicherheitskommandant in seiner Provinz sei (vgl. EV BFA, AS 67), wobei er auch hierbei das Wort „Taliban“ nicht erwähnte. Aufgrund dieser Widersprüche und seinen divergierenden Angaben im Verfahren zu seinem Ausreisezeitpunkt, seinem Alter, seiner behaupteten Eheschließung in Zusammenschau mit dem persönlichen Eindruck, den der erkennende Richter in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, ist davon auszugehen, dass der BF persönlich unglaubwürdig ist, er taktierte und versuchte sein Vorbringen auf die gestellten Fragen im Laufe des Verfahrens anzupassen, um eine Asylrelevanz seines Vorbringens herzustellen.

Zusammengefasst konnte der BF weder durch die Beschwerde – die nur allgemein und nicht auf den BF bezogen auf eine Gefährdung durch die Taliban seit der Machtübernahme verwies – (vgl. Beschwerde, AS 177 bis 185), noch durch sein persönliches Vorbringen in der Einvernahme vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung eine drohende Verfolgung in Afghanistan glaubhaft machen, weder durch die Taliban, noch durch eine dritte Person in Zusammenhang mit Blutrache. Der BF verließ Afghanistan daher aufgrund des bewaffneten Konflikts und der damit einhergehend prekären Sicherheits- und Wirtschaftslage, jedoch nicht wegen einer individuell konkreten Bedrohung oder Verfolgung.

Im Verfahren sind auch keine Hinweise hervorgekommen, aus denen sich eine Bedrohung oder Verfolgung des BF aus einem sonstigen Grund ergeben könnte. Somit steht fest, dass der BF im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner konkreten Gefährdung oder Bedrohung ausgesetzt ist.

2.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen, insbesondere auf die Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan in der Fassung vom 10.04.2024. Da dieser aktuelle Länderbericht auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruht und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbietet, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2011/95/EU (in der Folge: Status-RL) verweist).

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN). Auf den Entscheidungszeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 18.03.2021, Ra 2020/18/0450, mwN).

Der VwGH hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 14.04.2021, Ra 2020/18/0126, mwN).

3.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

3.1.2.1. Die Bestimmung der Heimatregion des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm – sollte dies der Fall sein – im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht (vgl. etwa VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442). Der BF wurde im Jahr XXXX im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan in Afghanistan geboren, wuchs dort im Familienverband auf und besuchte dort die Schule, bevor die Familie in die Stadt XXXX im selben Distrikt zog. Der BF konnte keine konkreten zeitlichen Angaben machen, wann die Familie das Dorf verlassen hat, es ist daher nicht klar, wie langer er im Dorf bzw. in der Stadt lebte. Zumal die Familie in demselben Distrikt blieb, wirkt sich dies auch nicht wesentlich auf die Feststellung seiner Heimatregion aus und ist das Distrikt XXXX in der Provinz Baghlan seine Heimatregion. Dem BF wurde seitens der belangten Behörde bereits rechtskräftig subsidiärer Schutz zuerkannt, weshalb die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr zu prüfen war.

3.1.2.2. Der BF konnte – wie zuvor festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt – keine individuelle konkrete Verfolgung durch die Taliban oder in Verbindung mit Blutrache durch eine dritte Person glaubhaft machen. Der BF widersprach sich in wesentlichen Punkten seines weitgehend auswendig gelernten Vorbringens, er war nicht in der Lage, spontan und konsistent auf Fragen zu antworten. Der BF war sowohl bezüglich seines Fluchtvorbringens, als auch in Hinblick auf seine persönlichen Umstände unglaubwürdig und erweckte den Eindruck, seine Geschichte aufgrund der Nachfragen zur Herstellung einer Asylrelevanz taktisch abzuändern bzw. zu steigern.

Im gegenständlichen Fall sind somit die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine "begründete Furcht vor Verfolgung" im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK, nicht gegeben. Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen. Sohin kann nicht erkannt werden, dass dem BF aus den von ihm ins Treffen geführten Gründen im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.

Zur Abweisung des Asylantrages sei erwähnt, dass auch ein wirtschaftlicher Nachteil unter bestimmten Voraussetzungen als Verfolgung im Sinne der GFK zu qualifizieren sein kann, im Ergebnis jedoch nur dann, wenn durch den Nachteil die Lebensgrundlage massiv bedroht ist und der Nachteil in einem Kausalzusammenhang mit den Gründen der Flüchtlingskonvention steht. Eine solche Bedrohung der Lebensgrundlage ist den Feststellungen zufolge nicht gegeben und ein derartiger Kausalzusammenhang ist im vorliegenden Fall auch nicht ersichtlich.

Dem BF wurde bereits von der belangten Behörde der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ist damit ein befristetes Aufenthaltsrecht in Österreich verbunden.

Auch sonst haben sich im Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung des BF aus asylrelevanten Gründen im Herkunftsstaat maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen. Die allgemeine Lage in Afghanistan ist nicht dergestalt, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.

Entsprechend den oben getätigten Ausführungen ist es dem BF nicht gelungen, darzutun, dass ihm im Herkunftsstaat Afghanistan asylrelevante Verfolgung droht, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen war.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen der Höchstgerichte.

Rückverweise