Spruch
L501 2305102-1/8E IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene ALTENDORFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei (in der Folge „bP“), eine syrische Staatsangehörige, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 12.09.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zum Fluchtgrund befragt, gab sie im Rahmen der Erstbefragung an, dass in Syrien Krieg herrsche und sie zum Militärdienst müsste, weil sie im wehrdienstfähigen Alter sei. 2014 sei sie illegal zu Fuß in die Türkei gereist. Im Falle einer Rückkehr habe sie Angst vor der Einberufung.
Am 12.02.2024 wurde die bP durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „BFA“ bzw. „belangte Behörde“) niederschriftlich einvernommen. Zum Fluchtgrund befragt, erklärte sie, sie sei ausgereist wegen des Krieges und weil es keine Sicherheit gegeben habe. Sie habe nicht mit 18 einrücken wollen. Befragt zur ihren Rückkehrbefürchtungen meinte sie, im Moment ihrer Ankunft in Syrien werde sie unverzüglich festgenommen, inhaftiert oder im Krieg eingesetzt.
Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der bP auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Begründend führte das BFA – auf das Wesentliche zusammengefasst – unter Verweis auf die Berichtslage und unter Berücksichtigung der Richtlinien des UNCHR und der EUAA aus, dass die von der bP angekündigte bloße Wehrdienstverweigerung per se nicht asylrelevant sei, da das syrische Regime darin keine oppositionelle Haltung sehe.
In ihrer fristgerecht erhobenen Beschwerde bringt die bP ergänzend vor, dass einer ihrer Onkel an Demonstrationen teilgenommen habe und in XXXX inhaftiert gewesen sei, 2018 habe die Familie von seinem Tod erfahren. Ein weiterer Onkel sei ebenfalls inhaftiert gewesen, aber wieder entlassen worden; einer von dessen Söhnen sei desertiert, ein anderer politisch aktiv. Ein in Deutschland asylberechtigter Cousin poste politische Inhalte. Zum Beleg legte sie ein Foto ihres Onkels und einen Screenshot vor. Sie lehne die Beteiligung an Kampfhandlungen, egal auf welcher Seite, aus Gewissensgründen ab und drohe ihr im Zusammenhang mit der Wehrdienstverweigerung, der politischen Aktivität ihrer Angehörigen sowie der illegalen Ausreise und Antragstellung in Europa Verfolgung aus politischen Gründen. Die Türkei habe sie verlassen, da es zu rassistischen Vorfällen gekommen sei.
Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.01.2025 wurden der bP im Verfahren herangezogene Länderinformationen zur Kenntnis gebracht und ihr die Möglichkeit eingeräumt, sich hierzu zu äußern. Mit ihrer Stellungnahme vom 20.01.2025 brachte die bP eine Kopie ihres Zivilregisterauszugs in Vorlage und hob unter Verweis auf die aktuelle Position des UNCHR insbesondere die unsichere Lage in Syrien hervor.
Am 27.01.2025 führte das erkennende Gericht im Beisein der bP und eines Dolmetschers für die arabische Sprache eine mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Die am XXXX in XXXX , Gouvernement Aleppo, geborene bP führt den im Kopf angeführten Namen, ist syrische Staatsangehörige arabischer Abstammung und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Sie spricht Arabisch als Muttersprache und hat Türkischkenntnisse. Ihre Identität steht nicht fest.
Die bP leidet an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankungen, sie steht auch nicht in medikamentöser Behandlung. Sie ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Die bP ist seit XXXX in Österreich erwerbstätig.
Die bP wuchs in XXXX auf und besuchte dort fünf Jahre lang die Grundschule, schloss sie aber nicht ab. Ende 2014 bzw. Anfang 2015 verließ sie im Alter von etwa 15 Jahren Syrien zu Fuß Richtung Türkei, wo sie im Familienverbund lebte und als Schmiedin erwerbstätig war. Mitte 2023 reiste die bP über Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo sie am 12.09.2023 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die Eltern der bP, zwei ihrer Brüder sowie ihre beiden Schwestern leben nach wie vor in der Türkei, zwei weitere Brüder sind seit XXXX bzw. XXXX in Österreich, einer ist in Deutschland asylberechtigt. Die bP steht mit ihren Eltern in der Türkei in Kontakt.
Für die bP ist eine sichere und rechtmäßige Einreise und Weiterreise in ihren Heimatort XXXX über den Flughafen von Damaskus möglich. Allenfalls könnte sie auch über ein Drittland, z.B. die Türkei, zurückkehren. Ihr drohen weder bei der Einreisekontrolle bzw. dem Grenzübertritt in ihren Herkunftsstaat, noch bei der Weiterreise in die Heimatregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen nach asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten.
II.1.2. Die bP hat Syrien als Jugendliche verlassen und war vor ihrer Ausreise aus Syrien keiner Verfolgung ausgesetzt. Sie stammt aus XXXX , einem Dorf im Südosten der Stadt Aleppo, das sich von Dezember 2015 bis Dezember 2024 unter Kontrolle des syrischen Regimes befand und nunmehr von den neuen Machthabern unter Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) beherrscht wird. Diese hatten nach monatelanger Vorbereitung und Training Anfang Dezember 2024 die Operation „Abschreckung der Aggression“ gestartet und der Regierung von Präsident Bashar al-Assad innerhalb von 11 Tagen ein Ende gesetzt. Am 08.12.2024 wurde Damaskus ohne Gegenwehr eingenommen; das Armeekommando hatte die Soldaten außer Dienst gestellt. Russland verkündete den Rücktritt und die Flucht von al-Assad (Staatendokumentation 10.12.2024).
Eine Verfolgung der bP oder ihrer Familie durch das gestürzte syrische Regime aufgrund einer allenfalls unterstellten oppositionellen Gesinnung oder sonstigen Gründen ist somit ausgeschlossen.
II.1.3. Die HTS wurde 2011 als Ableger der al-Qaida unter dem Namen Jabhat an-Nusra gegründet. Im Jahr 2017 brach die Gruppierung ihre Verbindung mit der Al-Qaida und hat in den letzten Jahren versucht, sich als nationalistische Kraft und pragmatische Alternative zu al-Assad zu positionieren. Bisher kontrollierte sie einen Teil des Gouvernements Idlib im Nordwesten, wo die mit ihr verbundene „Syrische Heilsregierung“ (Syrian Salvation Government, SSG) die Regierungsgeschäfte leitete. Seit der Machtübernahme ist die HTS um eine Konsolidierung der Verhältnisse bemüht. Der Leiter der SSG wurde am 10. Dezember 2024 als Interimspremierminister mit der Leitung der Übergangsregierung des Landes bis zum 1. März 2025 beauftragt, die Minister übernahmen vorerst die nationalen Ministerposten. Am 29.12.2025 wurde die Ernennung des bisherigen Anführers der HTS, Ahmed al-Scharaa, zum „Präsidenten für die Übergangsphase“ bekanntgegeben. Die neue Führung hat sich seit ihrer Machtübernahme verpflichtet, die Rechte der Minderheiten zu wahren und plant, neben den bereits in die Reihen des Verteidigungsministeriums integrierten Rebellenfraktionen auch die kurdischen Streitkräfte zu integrieren.
Eine oppositionelle Haltung der bP bzw. ihrer Familie gegenüber den verbliebenen Akteuren des Bürgerkriegs, insbesondere den nunmehr ihren Herkunftsort kontrollierenden Kräften unter Führung der HTS, ist nicht hervorgekommen und besteht diesbezüglich keine Verfolgungsgefahr. Die bP war und ist nicht politisch tätig und auch sonst nicht in das Blickfeld der HTS oder anderer Konfliktparteien geraten.
II.1.4. Die bP ist im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt.
Die bP wird im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion auch keiner anderweitigen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung, psychischen und/oder physischen Gewalt oder Strafverfolgung ausgesetzt sein. Sie unterliegt insbesondere keiner individuellen Gefährdung aufgrund ihrer sunnitisch-arabischen Identität, ihrer Familien- bzw. Stammeszugehörigkeit bzw. der Zuerkennung der Asylberechtigung ihrer Brüder, wegen ihrer allgemeinen Wertehaltung oder wegen der Ausreise aus Syrien sowie des in Österreich durchlaufenen Asylverfahrens oder des Aufenthaltes in Europa.
II.1.5. Zur (allgemeinen) Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber der bP offen gelegten Quellen getroffen:
II.1.5.1. Politische Lage
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 schien der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.05.2022). Das Assad-Regime kontrollierte rund 70% des syrischen Territoriums.
II.1.5.1.1. Ereignisse im Dezember 2024 [Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht]
Nach monatelanger Vorbereitung und Training (NYT 1.12.2024) starteten islamistische Regierungsgegner unter der Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) (Standard 1.12.2024) die Operation „Abschreckung der Aggression“ – auf نن Arabisch: ردع العدوا - Rad’a al-‘Adwan (AJ 2.12.2024) und setzten der Regierung von Präsident Bashar al-Assad innerhalb von 11 Tagen ein Ende. Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der einzelnen Akteure am 26.11.2024 vor Beginn der Großoffensive:
Quelle: AJ 8.12.2024
Am 30.11. nahmen die Oppositionskämpfer Aleppo ein und stießen weiter in Richtung der Stadt Hama vor, welche sie am 5.12. einnahmen. Danach setzten sie ihre Offensive in Richtung der Stadt Homs fort (AJ 8.12.2024). Dort übernahmen sie die Kontrolle in der Nacht vom 7.12. auf 8.12. (BBC 8.12.2024).
Am 6.12. zog der Iran sein Militärpersonal aus Syrien ab (NYT 6.12.2024). Russland forderte am 7.12. seine Staatsbürger auf, das Land zu verlassen (FR 7.12.2024). Am 7.12. begannen lokale Milizen und Rebellengruppierungen im Süden Syriens ebenfalls mit einer Offensive und nahmen Daraa ein (TNA 7.12.2024; Vgl. AJ 8.12.2024), nachdem sie sich mit der Syrischen Arabischen Armee auf deren geordneten Abzug geeinigt hatten (AWN 7.12.2024). Aus den südlichen Provinzen Suweida und Quneitra zogen ebenfalls syrische Soldaten, sowie Polizeichefs und Gouverneure ab (AJ 7.12.2024). Erste Oppositionsgruppierungen stießen am 7.12. Richtung Damaskus vor (AJ 8.12.2024). Am frühen Morgen des 8.12. verkündeten Medienkanäle der HTS, dass sie in die Hauptstadt eingedrungen sind und schließlich, dass sie die Hauptstadt vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben (Tagesschau 8.12.2024). Die Einnahme Damaskus’ ist ohne Gegenwehr erfolgt (REU 9.12.2024), die Regierungstruppen hatten Stellungen aufgegeben, darunter den Flughafen (Tagesschau 8.12.2024). Das Armeekommando hatte die Soldaten außer Dienst gestellt (Standard 8.12.2024).
Russland verkündete den Rücktritt und die Flucht von al-Assad (BBC 8.12.2024). Ihm und seiner Familie wurde Asyl aus humanitären Gründen gewährt (REU 9.12.2024).
Kurdisch geführte Kämpfer übernahmen am 6.12.2024 die Kontrolle über Deir ez-Zour im Nordosten Syriens, nachdem vom Iran unterstützte Milizen dort abgezogen waren (AJ 7.12.2024), sowie über einen wichtigen Grenzübergang zum Irak. Sie wurden von den USA bei ihrem Vorgehen unterstützt (AWN 7.12.2024).
Die von der Türkei unterstützten Rebellengruppierungen unter dem Namen Syrian National Army (SNA) im Norden Syriens starteten eine eigene Operation gegen die von den Kurden geführten Syrian Democratic Forces (SDF) im Norden von Aleppo (BBC 8.12.2024). ج فف ج Im Zuge der Operation „Morgenröte der Freiheit“ (auf Arabisch رال ر ح ة يية - Fajr al-Hurriya) nahmen diese Gruppierungen am 9.12.2024 die Stadt Manbij ein (SOHR 9.12.2024). Die Kampfhandlungen zwischen Einheiten der durch die Türkei unterstützten Syrian National Army (SNA) auf der einen Seite und den SDF auf der anderen Seite dauerten danach weiter an. Türkische Drohnen unterstützten dabei die Truppen am Boden durch Luftangriffe (SOHR 9.12.2024b).
Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der einzelnen Akteure nach der Machtübernahme durch die Oppositionsgruppierungen:
Quelle: AJ 8.12.2024
Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge sind seit Beginn der Offensive 910 Menschen ums Leben gekommen, darunter 138 Zivilisten (AAA 8.12.2024). Beim Vormarsch auf Homs waren tausende Menschen Richtung Küste nach Westen geflohen (AJ 6.12.2024). Bei der Offensive gegen Manbij wurden hingegen einige Zivilisten in Richtung Osten vertrieben (SOHR 9.12.2024).
In Damaskus herrschte weit verbreitetes Chaos nach der Machtübernahme durch die Opposition. So wurde der Sturz von Assad mit schweren Schüssen gefeiert und Zivilisten stürmten einige staatliche Einrichtungen, wie die Zentralbank am Saba-Bahrat-Platz, das Verteidigungsministerium (Zivilschutz) in Mleiha und die Einwanderungs- und Passbehörde in der Nähe von Zabaltani, außerdem wurden in verschiedenen Straßen zerstörte und brennende Fahrzeuge gefunden (AJ 8.12.2024b). Anführer al-Joulani soll die Anweisung an die Oppositionskämpfer erlassen haben, keine öffentlichen Einrichtungen anzugreifen (8.12.2024c) und erklärte, dass die öffentlichen Einrichtungen bis zur offiziellen Übergabe unter der Aufsicht von Ministerpräsident Mohammed al-Jalali aus der Assad-Regierung bleiben (Rudaw 9.12.2024).
Gefangene wurden aus Gefängnissen befreit, wie aus dem berüchtigten Sedanaya Gefängnis im Norden von Damaskus (AJ 8.12.2024c).
Die Akteure
Syrische Arabische Armee (SAA): Die Syrische Arabische Armee kämpfte gemeinsam mit den National Defense Forces, einer regierungsnahen, paramilitärischen Gruppierung. Unterstützt wurde die SAA von der Hisbollah, Iran und Russland (AJ 8.12.2024).
Die Einheiten der syrischen Regierungstruppen zogen sich beim Zusammenstoß mit den Oppositionskräften zurück, während diese weiter vorrückten. Viele Soldaten flohen oder desertierten (NZZ 8.12.2024). In Suweida im Süden Syriens sind die Soldaten der Syrischen Arabischen Armee massenweise desertiert (Standard 7.12.2024). Am 7.12. flohen mehrere Tausend syrische Soldaten über die Grenze in den Irak (Arabiya 7.12.2024; vgl. Guardian 8.12.2024). Präsident al-Assad erhöhte am 4.12. die Gehälter seiner Soldaten, nicht aber dasjenige von Personen, die ihren Pflichtwehrdienst ableisteten (TNA 5.12.2024). Dieser Versuch, die Moral zu erhöhen, blieb erfolglos (Guardian 8.12.2024).
Die Opposition forderte die Soldaten indes zur Desertion auf (TNA 5.12.2024). Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte beobachteten, dass Hunderte Soldaten ihre Militäruniformen ausgezogen haben, nachdem sie entlassen wurden (SOHR 8.12.2024). Offiziere und Mitarbeiter des Regimes ließen ihre Militär- und Sicherheitsfahrzeuge in der Nähe des Republikanischen Palastes, des Büros des Premierministers und des Volkspalastes unverschlossen stehen, aus Angst von Rebellen am Steuer erwischt zu werden (AJ 8.12.2024b).
Opposition: Obwohl Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) den plötzlichen Vormarsch auf Aleppo gestartet hat und treibende Kraft der Offensive war, haben auch andere Rebellengruppierungen sich gegen die Regierung gewandt und sich am Aufstand beteiligt (BBC 8.12.2024c).
Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS): Die HTS wurde 2011 als Ableger der al-Qaida unter dem Namen Jabhat an-Nusra gegründet (BBC 8.12.2024c). Im Jahr 2017 brach die Gruppierung ihre Verbindung mit der Al-Qaida (CSIS 2018) und formierte sich unter dem Namen Hay’at Tahrir ash-Sham neu, gemeinsam mit anderen Gruppierungen (BBC 8.12.2024c). Sie wird von der UN, den USA, der Europäischen Union (AJ 4.12.2024) und der Türkei als Terrororganisation eingestuft (BBC 8.12.2024c). Der Anführer der HTS, der bisher unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Joulani bekannt war, hat begonnen wieder seinen bürgerlichen Namen, Ahmad ash-Shara’a zu verwenden (Nashra 8.12.2024). Er positioniert sich als Anführer im Post-Assad Syrien (BBC 8.12.2024c). Die HTS hat in den letzten Jahren versucht, sich als nationalistische Kraft (BBC 8.12.2024b) und pragmatische Alternative zu al-Assad zu positionieren (BBC 8.12.2024c).
Der Gruppierung werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen (BBC 8.12.2024c). Einem Terrorismusexperten zufolge gibt es bereits erste Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld, die ein Kalifat aufbauen wollen (WiWo 9.12.2024).
National Liberation Front (NFL): Eine Reihe kleinerer Kampfgruppen, aus denen sich die NFL zusammensetzt, nahmen an der Operation „Abschreckung der Aggression“ teil, darunter die Jaish al-Nasr, das Sham Corps und die Freie Idlib-Armee. Die 2018 in Idlib gegründete NFL umfasst mehrere nordsyrische Fraktionen, von denen einige auch unter das Dach der Freien Syrischen Armee fallen (AJ 2.12.2024b).
Ahrar al-Sham Movement: Die Ahrar al-Sham-Bewegung ist hauptsächlich in Aleppo und Idlib aktiv und wurde 2011 gegründet. Sie definiert sich selbst als „umfassende reformistische islamische Bewegung, die in die Islamische Front eingebunden und integriert ist“ (AJ 2.12.2024b).
Jaish al-Izza: Übersetzt: „Die Armee des Stolzes“ ist Teil der Freien Syrischen Armee und konzentriert sich auf den Norden des Gouvernements Hama und einige Teile von Lattakia. Im Jahr 2019 erhielt die Gruppierung Unterstützung aus dem Westen, darunter auch Hochleistungswaffen (AJ 2.12.2024b).
Nur Eddin Zinki-Bewegung (Zinki): Diese Gruppierung entstand 2014 in Aleppo, versuchte 2017, sich mit der HTS zusammenzuschließen, was jedoch nicht funktionierte. Die beiden Gruppierungen kämpften 2018 gegeneinander, und „Zinki“ wurde Anfang 2019 von ihren Machtpositionen in der Provinz Aleppo vertrieben. Ein Jahr später verhandelte „Zinki“ mit der HTS, und ihre Kämpfer kehrten an die Front zurück, und seitdem ist die Gruppe unter den oppositionellen Kämpfern präsent (AJ 2.12.2024b).
Milizen in Südsyrien: Gruppierungen aus südlichen Städten und Ortschaften, die sich in den letzten Jahren zurückhielten, aber nie ganz aufgaben und einst unter dem Banner der Freien Syrien Armeekämpften, beteiligten sich am Aufstand (BBC 8.12.2024c). In Suweida nahmen Milizen der syrischen Minderheit der Drusen Militärstützpunkte ein (Standard 7.12.2024).
Syrian Democratic Forces (SDF): Die SDF ist eine gemischte Truppe aus arabischen und kurdischen Milizen sowie Stammesgruppen. Die kurdische Volksschutzeinheit YPG ist die stärkste Miliz des Bündnisses und bildet die militärische Führung der SDF (WiWo 9.12.2024). Sie werden von den USA unterstützt (AJ 8.12.2024). Im kurdisch kontrollierten Norden liegen die größten Ölreserven des Landes (WiWo 9.12.2024).
Syrian National Army (SNA): Diese werden von der Türkei unterstützt (BBC 8.12.2024c) und operieren im Norden Syriens im Grenzgebiet zur Türkei (AJ 8.12.2024). Der SNA werden mögliche Kriegsverbrechen, wie Geiselnahmen, Folter und Vergewaltigung vorgeworfen. Plünderungen und die Aneignung von Privatgrundstücken, insbesondere in den kurdischen Gebieten, sind ebenfalls dokumentiert (WiWo 9.12.2024).
II.1.5.1.2. Neueste Entwicklungen [Quelle: ecoi.net, Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, Stand 13.01.2025]
Die neue Übergangsregierung und Ahmed Al-Sharaa (Führer der HTS)
Mohammed Al-Baschir, der bis zum Sturz Baschar Al-Assads die mit Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) verbundenen Syrischen Heilsregierung im Nordwesten Syriens geleitet hatte, wurde am 10. Dezember 2024 als Interimspremierminister mit der Leitung der Übergangsregierung des Landes bis zum 1. März 2025 beauftragt (MEE, 10. Dezember 2024; siehe auch: Al Jazeera, 10. Dezember 2024). Die Minister der Syrischen Heilsregierung übernahmen vorerst die nationalen Ministerposten. Laut dem Congressional Research Service (CRS) seien einige RegierungsbeamtInnen und Staatsangestellte der ehemaligen Regierung weiterhin im Regierungsapparat beschäftigt (CRS, 13. Dezember 2024). Am 21. Dezember ernannte die Übergangregierung Asaad Hassan Al-Schibani zum Außenminister und Murhaf Abu Qasra zum Verteidigungsminister. Beide seien Verbündete des HTS-Anführers Ahmed Al-Scharaa (Al-Jazeera, 21. Dezember 2024). Am 29. Dezember legte Al-Sharaa in einem Interview mit dem saudischen Fernsehsender Al-Arabiyya dar, dass es bis zu vier Jahren dauern könne, bis Wahlen stattfinden werden, da die verschiedenen Kräfte Syrien einen politischen Dialog führen und eine neue Verfassung schreiben müssten (AP, 29. Dezember 2024).
Al-Sharaa erklärte am 17. Dezember, dass alle Rebellenfraktionen aufgelöst und in die Reihen des Verteidigungsministeriums integriert würden (The Guardian, 17. Dezember 2024). Am 29. Dezember sagte Al-Sharaa in einem Interview aus, dass das syrische Verteidigungsministerium plant auch die kurdischen Streitkräfte in seine Reihen aufzunehmen. Es gebe Gespräche mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) zur Lösung der Probleme im Nordosten Syriens (nähere Details zu den Problemen finden Sie unten) (Kurdistan24, 29. Dezember 2024). Am 10. Jänner 2025 bestätigte der Kommandeur der SDF, Mazloum Abdi, dass sich seine Streitkräfte in ein umstrukturiertes syrisches Militär integrieren würden (Shafaq News, 10. Jänner 2025). AFP berichtete am 8. Jänner, dass laut einem Sprecher des Southern Operations Room, einer Koalition bewaffneter Gruppen aus der südlichen Provinz Daraa, die am 6. Dezember gebildet wurde, um beim Sturz Assads zu helfen, die Kämpfer Südsyriens nicht mit einer Auflösung ihrer Gruppen einverstanden seien. Sie könnten sich jedoch eine Integration in das Verteidigungsministerium in ihrer momentanen Form vorstellen (France24, 8. Jänner 2025).
Am 29. Dezember wurde eine Liste mit 49 Personen, die zu Kommandeuren der neuen syrischen Armee ernannt wurden, veröffentlicht. Unter den Namen seien einige Mitglieder der HTS, sowie ehemalige Armeeoffiziere, die zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs desertierten. Laut Haid Haid, beratender Mitarbeiter beim britischen Think Tank Chatham Haus, wurden die sieben höchsten Ränge von HTS-Mitgliedern besetzt. Laut einem weiteren Experten seien auch mindestens sechs Nicht-Syrer unter den neuen Kommandeuren (France24, 30. Dezember 2024).
Die neue Führung hatte sich seit ihrer Machtübernahme verpflichtet, die Rechte der Minderheiten zu wahren (The New Arab, 7. Jänner 2025). Anfang Jänner kündigte das Bildungsministerium der Übergangsregierung auf seiner Facebook-Seite einen neuen Lehrplan für alle Altersgruppen an, der eine stärker islamische Perspektive widerspiegelt und alle Bezüge zur Assad-Ära aus allen Fächern entfernt. Zu den vorgeschlagenen Änderungen gehörte unter anderem die Streichung der Evolutionstheorie und der Urknalltheorie aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht. AktivistInnen zeigten sich besorgt über die Reformen (BBC News, 2. Jänner 2025).
Am 29.01.2025 wurde der De-facto-Herrscher Ahmed al-Scharaa von der Übergangsregierung zum „Präsidenten für die Übergangsphase“ ernannt. Der frühere Militärkommandeur, Anfang 40, gibt sich seit dem Machtwechsel betont moderat. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur SANA soll Scharaa als nächsten Schritt einen legislativen Rat für die Übergangsphase gründen, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet worden ist. Die Entscheidungen trafen den Angaben zufolge Vertreter der früheren Aufständischen bei einer „Siegeskonferenz“ (vgl. https://orf.at/stories/3383332/).
Kontrolle der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF)
Die von der Türkei unterstütze Syrische Nationalarmee (SNA) führte ihre Offensive gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und das Gebiet der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) fort. Die SNA nahm in den vergangenen Tagen Gebiete der nordwestlichen Region Shahba sowie die Stadt Manbidsch ein. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von heftigen Kämpfen in der Region von Manbidsch zwischen der SNA und der SDF und steigenden Opferzahlen (Shafaq News, 9. Jänner 2025).
Am 11. Dezember übernahm die Koalition ehemaliger oppositioneller Kräfte unter der Führung der HTS die vollständige Kontrolle der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor (Al Jazeera, 11. Dezember 2024). Im Osten der Provinz Deir ez-Zor kam es zu Demonstrationen und der Forderung, die von HTS geführten Streitkräfte sollten die Kontrolle über das Gebiet übernehmen. Einige Kommandanten der SDF seien in Folge desertiert (Syria Direct, 13. Dezember 2024).
Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der Akteure mit Stand 30.01.2025:
II.1.5.1.3. Gebiete unter bisheriger Kontrolle der Syrischen Interimsregierung und syrischen Heilsregierung
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG war nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckte sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia wurden dann von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) war früher als Jabhat al-Nusra bekannt, die 2011 in Syrien als Al-Qaida-Mitglied gegen die GoS gegründet wurde. Jabhat Al-Nusra wurde schnell zu einer fähigen Organisation, die eine wachsende Anzahl von Kämpfern anzog. Jabhat al-Nusra war in der Lage, aufständische Angriffe durchzuführen und wirtschaftliche Einnahmen, hauptsächlich von Gebern aus den Golfstaaten, sowie aus Steuern und der Beschlagnahme von Vermögenswerten in den von der Organisation kontrollierten Gebieten zu erzielen. Im Jahr 2016 wurde Jabhat al-Nusra aufgelöst und stattdessen Jabhat Fatah al-Sham gegründet. Im Jahr 2017 fusionierte Jabhat Fatah al-Sham jedoch mit mehreren anderen islamistischen Gruppen wie Harakat Nour al-Din al-Zinki, Liwa al-Haq, Jaysh al-Sunna und Jabhat Ansar al-Din. Infolgedessen wurde al-Nusra umbenannt und neu organisiert, um sich als Hay’at Tahrir al-Sham zu etablieren. (DIS 12.2022)
Seit 2017 versuchte die HTS, sich von einer Fraktion der globalen Dschihad-Bewegung und einem Al-Qaida-Mitglied in eine de facto militärische und regierende konservative Macht im Nordwesten Syriens zu verwandeln. Seitdem bestand das Hauptziel der HTS darin, die islamische Herrschaft in den von ihr kontrollierten Gebieten zu etablieren, indem sie die GoS und die iranischen Milizen bekämpfte, Nordsyrien verteidigte und bewahrte und die Einheit zwischen dschihadistischen Gruppen im Nordwesten Syriens anstrebte. (DIS 12.2022)
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, war bis Dezember 2024 die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergte Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste war (MEI 26.4.2022). Im Jahr 2017 bildete die HTS die syrische Heilsregierung, die aus zehn Ministerien besteht, darunter Ministerien für Inneres, Justiz, Stiftungen, Bildung, Gesundheit, lokale Verwaltung und Dienstleistungen, Wirtschaft und Ressourcen, Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten, Hochschulbildung und Landwirtschaft. Die Organisation funktionierte somit eher wie eine quasi-staatliche Einheit mit einer zentralen Führung, die die verschiedenen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte und Komponenten der HTS kontrollierte (DIS 12.2022). Mit der syrischen Heilsregierung hatte die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. In dem Gebiet wurden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte wurden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versuchte in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, war HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen waren nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfiel. Zu den anderen Aspekten gehörten der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022). Laut einer syrischen Menschenrechtsorganisation war die HTS viel organisierter als die SNA. Die Bereiche, die sie kontrollierte, waren ungefährlicher und sicherer im Vergleich zu den Bereichen, die von SNA kontrolliert wurden. (DIS 12.2022)
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
II.1.5.2. Sicherheitslage
Die militärische Landkarte Syriens hatte sich seit mehreren Jahren nicht substantiell verändert. Das Regime kontrollierte rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet waren (UNGeo 1.7.2023):
UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wie sie bis Anfang Dezember 2024 bestanden haben, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren wurden. Im Nordosten kam es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen.
CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. Das Erdbeben 2023 in der Türkei und Nordsyrien machte die tatsächliche Regierung fast unmöglich, weil die Opposition Schwierigkeiten hatte, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen (CFR 24.1.2024).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der SDF und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022; vgl. CFR 24.1.2024). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022). Die Türkei bombardierte auch im Oktober 2023 kurdische Ziele in Syrien als Reaktion auf einen Bombenangriff in Ankara durch die PKK (Reuters 7.10.2023; vgl. AA 2.2.2024).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Die Anit-Terror-Koalition unter der Führung der USA gibt an, dass 98 Prozent des Gebiets, das der IS einst in Syrien und Irak kontrollierte, wieder unter Kontrolle der irakischen Streitkräfte bzw. der SDF sind (CFR 24.1.2024). Der Sicherheitsrat der VN schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien (AA 2.2.2024). IS-Kämpfer waren in der Wüste von Deir ez-Zor, Palmyra und Al-Sukhna stationiert und konzentrieren ihre Angriffe auf Deir ez-Zor, das Umland von Homs, Hasakah, Aleppo, Hama und Raqqa (NPA 15.5.2023). Der IS war im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022).
Aktuelle Lageentwicklung [Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht]
Israel hat Gebäude der Syrischen Sicherheitsbehörden und ein Forschungszentrum in Damaskus aus der Luft angegriffen, sowie militärische Einrichtungen in Südsyrien, und den Militärflughafen in Mezzeh. Israelische Streitkräfte marschierten außerdem in al-Quneitra ein (Almodon 8.12.2024) und besetzten weitere Gebiete abseits der Golan-Höhen, sowie den Berg Hermon (NYT 8.12.2024). Die israelische Militärpräsenz sei laut israelischem Außenminister nur temporär, um die Sicherheit Israels in der Umbruchphase sicherzustellen (AJ 8.12.2024d). Am 9.12.2024 wurden weitere Luftangriffe auf syrische Ziele durchgeführt (SOHR 9.12.2024c). Einer Menschenrechtsorganisation zufolge fliegt Israel seine schwersten Angriffe in Syrien. Sie fokussieren auf Forschungszentren, Waffenlager, Marine-Schiffe, Flughäfen und Luftabwehr (NTV 9.12.2024). Quellen aus Sicherheitskreisen berichten indes, dass Israelisches Militär bis 25km an Damaskus in Südsyrien einmarschiert wäre (AJ 10.12.2024).
Das US-Central Command gab an, dass die US-Streitkräfte Luftangriffe gegen den Islamischen Staat in Zentralsyrien geflogen sind (REU 9.12.2024). Präsident Biden kündigte an, weitere Angriffe gegen den Islamischen Staat vorzunehmen, der das Machtvakuum ausnützen könnte, um seine Fähigkeiten wiederherzustellen (BBC 7.12.2024).
Russland versucht, obwohl es bis zum Schluss al-Assad unterstützte, mit der neuen Führung Syriens in Dialog zu treten. Anstatt wie bisher als Terroristen bezeichnen russische Medien die Opposition mittlerweile als „bewaffnete Opposition“ (BBC 8.12.2024d).
Sozio-Ökonomische Lage [Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht; ecoi.net, Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, Stand 13.01.2025]:
Die Opposition versprach, den Minderheiten keinen Schaden zuzufügen und sie nicht zu diskriminieren, egal ob es sich um Christen, Drusen, Schiiten oder Alawiten handle. Gerade letztere besetzten unter der Führung Al-Assad’s oft hohe Positionen im Militär und den Geheimdiensten (TNA 5.12.2024).
Für alle Wehrpflichtigen, die in der Syrischen Arabischen Armee gedient haben, wurde von den führenden Oppositionskräften eine Generalamnestie erlassen. Ihnen werde Sicherheit garantiert und jegliche Übergriffe auf sie wurden untersagt (Presse 9.12.2024). Ausgenommen von der Amnestie sind jene Soldaten, die sich freiwillig für den Dienst in der Armee gemeldet haben (Spiegel 9.12.2024).
Die syrischen Banken sollen ihre Arbeit am 10.12.2024 wiederaufnehmen, die Bediensteten wurden aufgefordert, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren (Arabiya 9.12.2024).
Die HTS, die weiterhin auf der Terrorliste der UN steht, ist seit 2016 von Sanktionen des UN-Sicherheitsrates betroffen. Diplomaten zufolge war die Streichung der HTS von der Sanktionenliste kein Thema bei der jüngsten Ratssitzung (REU 10.12.2024).
Bevor der Wiederaufbau zerstörter Städte, Infrastruktur und Öl- und Landwirtschaftssektoren beginnen kann, muss mehr Klarheit über die neue Regierung Syriens geschaffen werden (DW 10.12.2024)
Am 18. Dezember startete der erste kommerzielle Flug seit dem Sturz von Baschar Al-Assad, ein Inlandsflug nach Aleppo, vom Flughafen Damaskus (Al-Jazeera, 18. Dezember 2024).
Am 7. Jänner 2025 landete der erste internationale Flug seit der Absetzung von Al-Assad auf dem international Flughaften von Damaskus (Al-Jazeera, 7. Jänner 2025).
Anfang Jänner erteilten die USA eine sechsmonatige Ausnahme von den Sanktionen, eine sogenannte Generallizenz, um humanitäre Hilfe nach dem Ende der Herrschaft von Bashar al-Assad in Syrien zu ermöglichen. Die Ausnahme, die bis zum 7. Juli gültig ist, erlaubt bestimmte Transaktionen mit Regierungsinstitutionen, darunter Krankenhäuser, Schulen und Versorgungsunternehmen auf Bundes-, Regional- und lokaler Ebene sowie mit HTS verbundenen Einrichtungen in ganz Syrien. Zwar wurden keine Sanktionen aufgehoben, die Lizenz erlaubt jedoch auch Transaktionen im Zusammenhang mit dem Verkauf, der Lieferung, der Speicherung oder der Spende von Energie, einschließlich Erdöl und Strom, nach oder innerhalb Syriens. Darüber hinaus erlaubt sie persönliche Überweisungen und bestimmte energiebezogene Aktivitäten zur Unterstützung der Wiederaufbaubemühungen (Reuters, 6. Jänner 2025). Nach der Ausnahme von den Sanktionen kündigte Katar eine Hilfe bei der Finanzierung einer 400-prozentigen Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Sektor an, die die syrische Übergangsregierung zugesagt hatte (Reuters, 7. Jänner 2025).
Jüngst hat sich auch die EU auf eine stufenweise Lockerung der Sanktionen geeinigt (vgl. etwa https://www.derstandard.at/story/3000000254717/eu-aussenminister-wollen-syrien-sanktionen-teilweise-aussetzen?ref=rss).
Erklärungen der UN-Organisationen (Sicherheit, Sozioökonomische Situation, Flüchtlinge) [Quelle: ecoi.net, Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, Stand 13.01.2025]
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtet, dass zwischen dem Beginn der Offensive am 27. November und dem 11. Dezember etwa eine Million Menschen aus den Provinzen Aleppo, Hama, Homs und Idlib vertrieben wurden. Es liegen keine Zahlen vor, Berichten zufolge kehrten im selben Zeitraum Tausende syrischer Flüchtlinge aus dem Libanon ins Land zurück. Auch aus der Türkei kehrten Flüchtlinge in den Nordwesten Syriens zurück. Gleichzeitig flohen einige SyrerInnen in den Libanon (UNHCR, 11. Dezember 2024).
Der UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher berichtet am 17. Dezember über kritische Engpässe bei Nahrungsmitteln, Treibstoff und Vorräten aufgrund unterbrochener Handelsrouten und Grenzschließungen (UN News, 17. Dezember 2024).
Laut UNICEF benötigen 7,5 Million Kinder in Syrien humanitäre Hilfe. Mehr als 2,4 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und eine weitere Million Kinder laufen Gefahr, die Schule abzubrechen. Auch die Gesundheitsversorgung sei fragil. Fast 40 Prozent der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen sind teilweise oder vollständig funktionslos. Fast 13,6 Millionen Menschen benötigen Wasser, Sanitäranlagen und Hygienedienste; und 5,7 Millionen Menschen, darunter 3,7 Millionen Kinder, benötigen Ernährungshilfe (ecoi.net unter Verweis auf UNICEF, 18. Dezember 2024). Als Reaktion auf jüngste Eskalationen hat UNICEF 185 mobile medizinische Teams entsandt, Bildung für 10.000 gefährdete Kinder mit 12 vorgefertigten Schulen ermöglicht und über 3 Millionen Menschen Zugang zu sauberem Wasser verschafft (UNICEF, 18. Dezember 2024).
Die UN berichtet, dass es in der Woche vom 23. Dezember weiterhin zu Feindseligkeiten und Unsicherheiten in den Provinzen Aleppo, Homs, Hama, Latakia, Tartus, Deir-ez-Zor und Quneitra kam. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage waren humanitäre Einsätze mit 30. Dezember in mehreren Gebieten weiterhin ausgesetzt. Im November hatten rund zwei Millionen Menschen in ganz Syrien Nahrungsmittelhilfe in unterschiedlicher Form erhalten. Die instabile Sicherheitslage in den ländlichen Gebieten von Hama, Quneitra, Latakia und Tartous beeinträchtigte die Möglichkeit des Schulbesuchs für Kinder (UN News, 30. Dezember 2024).
Mit 29. Dezember haben 94 der 114 von UNHCR unterstützten Gemeindezentren in ganz Syrien ihre Arbeit wiederaufgenommen. Sei dem 27. November haben sich 58,500 Personen an die Gemeindezentren gewandt, um sich anzumelden und um Zugang zu Schutzdiensten zu erhalten. Laut UNHCR kehrten zwischen 8. und 29. Dezember 58,400 Personen nach Syrien (hauptsächlich aus dem Libanon, Jordanien und der Türkei) zurück. Seit Anfang 2024 (bis zum 29. Dezember) kehrten ungefähr 419,200 syrische Flüchtlinge zurück; die Mehrheit von ihnen nach Raqqa (25%), Aleppo (20%) und Daraa (20%) (UNHCR, 30. Dezember 2024).
Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, erklärte in seinem Briefing an den UN-Sicherheitsrat am 8. Jänner 2025, dass sich die Sicherheitssituation in einigen Regionen zwar verbesserte, es jedoch weiterhin zu Unruhen in den Küstenregionen, Homs und Hama kam. Bewaffnete Gruppen, darunter das Terrornetzwerk Islamischer Staat – und über 60 Gruppen mit widersprüchlichen Agenden – stellten ebenfalls eine anhaltende Bedrohung für die territoriale Integrität Syriens dar. Pederson berichtete weiters über den oben beschriebenen Konflikt zwischen SNA und SDF, sowie die Verstöße Israels. Auch die humanitäre Lage war nach wie vor kritisch: Fast 15 Millionen Syrer benötigten Gesundheitsversorgung, 13 Millionen waren von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen und über 620.000 waren Binnenflüchtlinge. Die am Tischreen-Staudamm verursachten Schäden schränkten die Wasser- und Stromversorgung für mehr als 400.000 Menschen ein (UN News, 8. Jänner 2025).
II.1.5.2.1. Gebiete unter der ehemaligen Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Syrien war bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert geblieben. In vielen Fällen wurde die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ehemals ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung war nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bediente sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollierten rund 20 Prozent der Grenzen des Landes.
Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 2.2.2024). Damaskus, insbesondere im Zentrum sowie die Provinz Latakia galten als Gebiete mit relativ stabiler Sicherheitslage (NMFA 8.2023).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versuchte der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen 'Hort der Ruhe' in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vgl. EUAA 9.2022). Nach mehreren Anschlägen in den Jahren zwischen 2020 bis 2023, bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020; vgl. COAR 25.10.2021) und mehreren Anschlägen im Zeitraum von April 2022 bis Juli 2022, bei denen mehrere Personen mit Regimenähe ins Visier genommen wurden (AN 1.7.2022), war die Sicherheitslage vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums zufolge in Damaskus Stadt mit Stand August 2023 relativ stabil. Die Syrische Regierung hatte sogar alle Checkpoints aus der Innenstadt entfernt, weil die Sicherheitslage sich insbesondere im Zentrum so stark gebessert hat (NMFA 8.2023).
II.1.5.2.2. Nordwest-Syrien
Im Jahr 2015 verlor die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib und diverse rivalisierende oppositionelle Gruppierungen übernahmen die Macht (BBC 18.2.2020), wobei die Freie Syrische Armee (FSA) manche Teile der Provinz schon 2012 erobert hatte (KAS 4.2020).
Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vgl. Brookings 27.1.2023). Die Anwesenheit der Türkei brachte ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden von bewaffneten Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Duldung des Missbrauchs und der Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
Das Gebiet unter Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS)
In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befand sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wurde von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchläuft, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023). Das Gebiet beherbergte aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hatte die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtete. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Sham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterschied sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hatte keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hatte sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, war Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, waren in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Unter dem Kommando der HTS stehen zwischen 7.000 und 12.000 Kämpfer, darunter ca. 1.000 sogenannte Foreign Terrorist Fighters (UNSC 25.7.2023). Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichten derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Der IS sieht den Nordwesten als potenzielles Einfallstor in die Türkei und als sicheren Rückzugsort, wo seine Anhänger sich unter die Bevölkerung mischen (UNSC 25.7.2023). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 sind neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).
Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen HTS als terroristische Vereinigung (AA 2.2.2024). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führt sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vgl. CTC Sentinel 2.2023). HTS ging gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vgl. CTC Sentinel 2.2023) und regulierte nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versuchte so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisierte so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vgl. Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021). Im Dezember 2023 wurden diese Spaltungstendenzen evident. Nach einer Verhaftungswelle, die sich über ein Jahr hinzog, floh eine Führungspersönlichkeit in die Türkei, um eine eigene rivalisierende Gruppierung zu gründen. Die HTS reagierte mit einer Militäroperation in Afrin (Etana 12.2023). HTS verfolgte eine Expansionsstrategie (UNSC 25.7.2023).
II.1.5.3. Rechtsschutz/Justizwesen
II.1.5.3.1. Gebiete unter der Kontrolle des ehemaligen syrischen Regimes
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Art. 1, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Art. 33-49), Rechtsstaatlichkeit (Art. 50-53), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Art. 57) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen waren von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut Verfassung war der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.3.2023).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Der Konflikt in Syrien hat das bereits zuvor schwache Justizsystem weiter ausgehöhlt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Umsetzung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hatte diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt.
Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitete in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 2.2.2024). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 20.3.2023).
Die Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung machte Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig war. BürgerInnen im Ausland riskierten, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und hatten kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung wurden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und waren so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger mussten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).
II.1.5.3.2. Ehemalig außerhalb der Kontrolle des Regimes liegende Gebiete unter HTS- oder SNA Dominanz
In ehemaligen Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes war die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich (AA 2.2.2024). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen. Manche Gruppen folgten dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgten dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwandten. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Doch wurden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Gerichte extremistischer Gruppen verhängten in ihren religiösen Gerichten harte Strafen wegen in ihrer Wahrnehmung religiösen Verfehlungen (FH 9.3.2023). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultierten manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 20.3.2023).
In Idlib übernahmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der HTS Verwaltungsaufgaben (AA 2.2.2024) und verfügten auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhielt auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwarf ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen wurden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen konnten keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sahen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellte in ihrem Bericht vom Februar 2022 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 2.2.2024).
Für ganz Syrien gilt, dass nicht gewährleistet ist, dass justizielle und administrative Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen, summarische Gerichtsverfahren und extralegale Strafen finden durch alle Kriegsparteien statt (FH 9.3.2023).
II.1.5.3.3. Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (ehemals regimekontrollierte Gebiete)
Personenstandsgesetz von 1953 (mit Nivellierungen)
Im muslimisch dominierten multireligiösen und multiethnischen Syrien haben die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften seit Langem das Recht, bestimmte Angelegenheiten des Familienrechts entsprechend ihren jeweiligen religiösen Vorschriften zu regeln (SLJ 3.10.2019). Im Allgemeinen wird das Familienrecht durch das Personenstandsgesetz (qanun al-ahwal al-shakhsiyya) von 1953 geregelt, eine Kodifizierung islamischen Rechts. Das Gesetz gilt für alle Syrer, aber bestimmte Ausnahmen gelten für Drusen, Christen und Juden, die ihre eigenen religiösen Gesetze in Bezug auf Heirat, Scheidung, Kindesunterhalt, Mitgift, Testamente und Erbschaft anwenden können (MPG 2018). Andere Bereiche wie Vormundschaft und Vaterschaft gelten jedoch für alle Syrer, unabhängig von ihrer Religion - nach einer zeitweisen Ausnahme für Katholiken (Landinfo 22.8.2018). Das Personenstandsrecht und die Scharia-Gerichte, die dieses Recht anwenden, haben Vorrang gegenüber den nicht-muslimischen Gerichten (Eijk 2013).
Nicht nur die verschiedenen Religionsgruppen, auch die unterschiedlichen Konfessionen haben eine jeweils eigene Gesetzgebung in bestimmten rechtlichen Angelegenheiten den Personenstand betreffend (Eijk 2013). So existiert ein kodifiziertes Familienrecht für Katholiken, Protestanten sowie für die Armenisch-, Griechisch- sowie Syrisch-Orthodoxen Kirchen u. a. in verschiedenen Personenstandsgesetzen (MPG 2018). Das Gesetz unterscheidet hingegen nicht zwischen den verschiedenen islamischen Konfessionen und gilt für Sunniten, Alawiten und andere schiitische Gruppen gleichermaßen (ausgenommen sind hiervon Drusen, wenn man diese als muslimische Gruppe ansieht) (Eijk 2016).
Am 25.3.2021 ist mit der Unterschrift des Präsidenten das Gesetz Nr. 13/2021 zum Erlass eines neuen Personenstandsgesetzes (PSG) verabschiedet worden. Das neue Gesetz ersetzt das Personenstandsgesetz von 2007. Gegenstand der enthaltenen Neuerungen sind insbesondere die Automatisierung und Informatisierung von Registerprozessen und ihre Vereinfachung; u. a. soll es Erleichterungen bei der Beantragung von Urkunden geben (VfSt 30.3.2021). Bezüglich Heirat, Scheidung, Kinderobsorge und Erbschaft sind Frauen weiterhin im Personenstandsgesetz diskriminiert (HRW 11.1.2024).
Außerhalb der regimekontrollierten Gebiete
Der militärische und politische Zerfall Syriens hat auch Auswirkungen auf das Familienrecht, weil die einzelnen politischen Gruppen in ihren Herrschaftszonen zum Teil eigene Normensysteme gebildet haben und anwenden (MPG 2018).
II.1.5.4. Wehr- und Reservedienst bei den syrischen Streitkräften
Für männliche syrische Staatsbürger war im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007).
II.1.5.4.1. Die Umsetzung der Wehrpflicht:
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendete die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer wurden in einer zentralen Datenbank erfasst. (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023). Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
II.1.5.4.2. Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts:
Das syrische Wehrdienstgesetz sah vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen konnten den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020).
II.1.5.4.3. Rekrutierung durch andere Organisationen
Bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) legten Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichteten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023).
Rekrutierungspraxis der HTS:
Die Rekrutierung von HTS erfolgt typischerweise in Moscheen und über örtliche Scheichs und Geistliche. Der Schwerpunkt bei diesen Rekrutierungsprozessen liegt darauf, sicherzustellen, dass neue Rekruten die gleiche islamistische Ideologie wie HTS teilen. HTS hat hauptsächlich durch Rekrutierungskampagnen, bei denen Männer ab 18 Jahren ermutigt werden, sich der militärischen Abteilung von HTS anzuschließen, rekrutiert. Zu diesen Kampagnen gehören die Verteilung von Flugblättern und Ankündigungen auf Social-Media-Plattformen wie Telegram und Twitter. (DIS 12.2022)
HTS hat auch aus von der SNA kontrollierten Gebieten über Familien- oder Stammesverbindungen rekrutiert. Allerdings erlaubt HTS ehemaligen Oppositionsgruppenkämpfern, wie z.B. ehemaligen SNA-Kämpfern, nicht, dem HTS beizutreten. Sie erlaubt Oppositionsgruppen auch nicht, Rekrutierungsbüros und Ausbildungsstützpunkte in von HTS kontrollierten Gebieten zu eröffnen. (DIS 12.2022)
HTS verfügt über eine große Anzahl von Kämpfern, da sich viele Männer, die in HTS-Gebieten leben, ihrem militärischen Zweig anschlossen. Allerdings ist die genaue Anzahl der Kämpfer, die HTS zur Verfügung stehen, laut der Online-Medienveröffentlichung Al-Monitor nicht bekannt. Eine syrische Menschenrechtsorganisation schätzt, dass HTS derzeit aus etwa 80.000 Kämpfern bestand. Laut Fabrice Balanche bestand HTS im Oktober 2022 aus 30.000 bis 50.000 Kämpfern. Im Oktober 2018 verfügte HTS über eine Kampftruppe von 12.000 bis 15.000 Kämpfern. (DIS 12.2022)
Junge Männer schlossen sich HTS vor allem wegen der attraktiven Anreize an, die die Organisation ihren Kämpfern bietet. HTS betrachtet seine Kämpfer als wichtigen Teil seiner Organisation, was insgesamt einen wichtigen Motivationsfaktor für den Beitritt zu HTS darstellt. Neben der Zahlung von Gehältern stellt HTS seinen Mitgliedern auch Lebensmittelkörbe und Unterkünfte zur Verfügung. (DIS 12.2022)
Zwei der befragten Quellen gaben an, dass sich auch viele junge Männer der HTS angeschlossen haben, weil sie die ideologischen und religiösen Überzeugungen der Organisation teilen. (DIS 12.2022)
Dem Bericht des Danish Immigration Service (DIS) vom Dezember 2022 war zu entnehmen, dass Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) im Allgemeinen keine Zwangsrekrutierung einsetzt. HTS hat keine Rekruten benötigt, da eine große Anzahl von Männern bereitwillig der Organisation beitritt. Darüber hinaus setzt HTS keine Zwangsrekrutierung ein, da es für HTS von wesentlicher Bedeutung ist, dass ihre Rekruten motiviert und loyal gegenüber der Organisation sind.
Es ist möglich, in von HTS kontrollierten Gebieten zu leben, ohne bei der HTS dienen zu müssen. Männer, die sich dafür entscheiden, HTS nicht beizutreten, werden keine Probleme mit HTS haben, weil sie nicht beitreten. Sie können als Zivilisten in den vom HTS kontrollierten Gebieten leben. In Idlib leben 100.000 Menschen, die arbeiten und sich frei bewegen und nicht vom HTS rekrutiert werden. (DIS 12.2022)
Allerdings hat HTS in einigen Fällen bei der Einstellung von Mitarbeitern Gewalt oder Nötigung angewendet. Laut Al-Ghazi zwingt HTS Personen mit militärischer Erfahrung dazu, sich HTS anzuschließen. Darüber hinaus haben örtliche HTS-Polizeieinheiten gelegentlich Männer unter Druck gesetzt, sich HTS anzuschließen, insbesondere im Zusammenhang mit den Angriffen der syrischen Regierung auf Idlib. Allerdings gibt es keine systematische Praxis dieser Art der Rekrutierung. Es gab auch Fälle von Zwangsrekrutierung von Männern aus IS-Schläferzellen, um eine feste Kontrolle über diese Kämpfer zu erlangen. (DIS 12.2022)
HTS erlaubt es Kämpfern nicht, aufzuhören oder zu entscheiden, ob sie an bewaffneten Kämpfen teilnehmen möchten. Über diese Angelegenheiten entscheiden ausschließlich die Leiter von HTS. Laut SNHR kann Männern, die in der HTS-Militärabteilung dienen und aufhören wollen, ein höheres Gehalt angeboten werden, wenn sie erfahrene Kämpfer sind. Wenn sie jedoch kündigen, werden sie höchstwahrscheinlich als Verräter wahrgenommen und vor ein HTS-Militärgericht gestellt. (DIS 12.2022)
Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).
II.1.5.5. Bewegungsfreiheit:
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
II.1.5.6. Ein- und Ausreise, Rückkehr
Minderjährige Kinder konnten nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befanden (STDOK 8.2017).
SyrerInnen, die im Ausland leben, können ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten erneuern. (USDOS 20.3.2023).
Der neue syrische Regierungschef Mohammed al-Baschir hat nunmehr syrische Flüchtlinge in der ganzen Welt ausdrücklich dazu aufgerufen, in ihre Heimat zurückzukehren (vgl. etwa https://orf.at/stories/3378627/ vom 13.12.2024). Mit Stand 10. Jänner 2025 sind laut Schätzungen des UNCHR bereits mehr als 125.000 Syrer zurückgekehrt (UNHCR-Update 10.01.2025). Das UNHCR hält fest, dass jedermann das Recht auf eine Rückkehr in sein bzw. ihr Heimatland hat und die Organisation bereit sei, über die Lage voll informierte syrische Flüchtlinge, die sich für eine freiwillige Rückkehr entscheiden, zu unterstützen und hat bereits eine Reihe an Gemeinschaftszentren in Syrien wieder in Betrieb genommen, wenn auch eine groß angelegte freiwillige Rückkehr aufgrund der vielen Herausforderungen derzeit nicht beworben wird (vgl. UNHCR 12.2024, UNHCR-Update 10.01.2025).
Laut dem türkischen Innenminister sind mit Stand 09.01.2025 seit 8. Dezember 52.622 Personen frewillig aus der Türkei zurückgekehrt, der Prozess würde von der UNHCR überwacht. (UNHCR Update 10.01.2025). Die Regierung bestätigte ferner, dass Go-and-See-Besuche vom 1. Januar bis 1. Juli 2025 über zwei Grenzübergänge (Zeytindalı/Jinderes in Hatay und Çobanbey/Al Rai in Kilis) durchgeführt werden können. Diese Möglichkeit sei zwischen 01. und 08. Jänner von 1.766 Personen genutzt worden (UNHCR-Update 10.01.2025).
Rückkehrbewegungen erfolgen auch über die Grenzübergänge zu den übrigen Nachbarstaaten, wie dem Libanon oder Irak vgl. im Einzelnen UNHCR Update 10.01.2025). Auch der Flughafen Damaskus hat den Betrieb wieder aufgenommen (ecoi.net, Informationssammlung Stand 13.01.2025]:
Das UNHCR prognostiziert im Zeitraum von Jänner bis Juli 2025 die Rückkehr von bis zu einer Million Flüchtlinge (UNHCR Voluntary Return 17.01.2025).
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakt und Einvernahme der bP in der vor dem erkennenden Gericht durchgeführten mündlichen Verhandlung, ferner durch Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, sowie schließlich im Wege der Einsichtnahme in die vom erkennenden Gericht in das Verfahren eingebrachten und der bP unter Angabe der Quellen bekanntgegebenen und übermittelten Länderberichte zur Lage im Herkunftsstaat, insbesondere (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021; EUAA COI-Report Syria, Targeting of Individuals, September 2022; The Danish Immigration Service, COI-Brief Report Syria: Recruitment to Oppostion Groups, December 2022; Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien, 27.03.2024; EUAA Country Guidance: Syria, April 2024; EUAA COI-Report Syria – Country Focus, October 2024; EUAA COI-Report Syria – Security Situation, October 2024; Kurzinformation der Staatendokumentation zu Syrien - Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht, 10.12.2024; Auszug aus ecoi.net zu Syrien – Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, 13.01.2024; UNHCR Position on returns to the Syrian Arab Republic, December 2024; UNHCR Bericht Preparedness and Response - Voluntary Return of Syrian Refugees (January - June 2025); UNHCR Regional Flash Update #8, #9 – Syria situation crisis, 02.01. bzw. 10.01.2025; Anfragebeantwortung zu Syrien: Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte: Auftreten, Ziele, Rolle, Verhältnis zu den Demokratischen Kräften Syriens (Syrien Democratic Forces, SDF), Übergriffe auf Mitglieder durch SDF und deren Verbündete [a-12530-3] vom 23. Jänner 2025).
Die Beweiswürdigung stützt sich neben den Länderinformationen insbesondere auf das Vorbringen der bP in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie die aus dem Verfahrensakt hervorgehenden Aussagen der bP vor den Organen des Öffentlichen Sicherheitsdienstes (siehe Erstbefragung vom 14.09.2023) und dem Bundesamt (siehe niederschriftliche Einvernahme vom 12.02.2024) und zieht auch das in der Beschwerde sowie in der Stellungnahme vom 20.01.2025 erstattete Vorbringen mit ein. Hinsichtlich der Verwertbarkeit der im Akt erliegenden Protokolle wurden keine Einwendungen erhoben und ergeben sich auch aus dem Akteninhalt keine Bedenken.
II.2.2. Die Feststellungen zur Person
Feststellungen zur Person der bP, ihrer Staatsangehörigkeit, Abstammung, den Familienverhältnissen sowie ihren persönlichen und familiären Lebensumständen beruhen auf ihren insoweit stringenten Angaben im Verfahren erster Instanz und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Ergänzend wurden vom erkennenden Gericht elektronische Abfragen in den österreichischen Registern durchführt. In Bezug auf das Geburtsdatum der bP ist anzumerken, dass aus der von ihr mit der Stellungnahme vom 20.01.2025 vorgelegten Kopie ihres Zivilregisterauszugs samt Übersetzung hervorgeht, dass bei der Erfassung ihres Geburtsdatums wahrscheinlich ein „Zahlendreher“ unterlaufen ist. (vgl. auch VH S. 5). Mangels Vorlage im Original kann die Identität der bP bzw. das Geburtsdatum auf Basis dieses erst am 13.10.2024 ausgestellten Dokuments jedoch nicht festgestellt werden. Im Original hat die bP zum Nachweis ihrer Identität lediglich ein handschriftlich ausgefülltes, auf den 27.09.2015 datiertes Dokument vorgelegt (vgl. AS. 55), dessen Authentizität bzw. Ausstellungsmodalitäten im Zuge der Dokumentenüberprüfung nicht festgestellt werden konnten (vgl. AS. 65 ff, 81 ff); laut Beschwerdevorbringen werden solche Dokumente „meist vom Dorfvorsteher“ ausgestellt und hat es ein Cousin der bP 2016 ebenfalls nachträglich für sie besorgt.
Die bP legte im Laufe des Verfahrens im Hinblick auf ihren gesundheitlichen Zustand dar, dass es ihr gut gehe. Ausgehend davon und ob des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks ist daher festzustellen, dass die bP gesund ist.
Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit der bP in Österreich beruhen auf der durchgeführten elektronischen Abfrage beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (OZ. 2) in Zusammenschau mit der im Akt befindlichen Beschäftigungsbewilligung des AMS Wien vom 23.05.2024 (AS. 73).
Die zur Lage im Herkunftsstaat unter dem Punkt II.1. getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen, die der bP mit Schreiben vom 09.01.2024 bzw. im Rahmen der mündlichen Verhandlung und unter gleichzeitiger Angabe der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme bekanntgegeben wurden. In Anbetracht des Umstands, dass das aktuelle Länderinformationsblatt, Version 11, vom 27.03.2024 stammt, wurden in Bezug auf die jüngsten Ereignisse neben den – der medialen Berichterstattung zu entnehmenden – notorischen Informationen insbesondere auch die einschlägige Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024 sowie die aktuelle Position des UNHCR zur Rückkehr nach Syrien herangezogen. Die Ausführungen in den Berichten wurden seitens der bP weder in ihrer am 20.01.2025 erstatteten Stellungnahme noch in der mündlichen Verhandlung in Abrede gestellt.
Zum Zweck einer einheitlichen Darstellung unter Einbeziehung der neuen Situation seit Anfang Dezember 2024 wurden die einschlägigen Inhalte des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation gestrafft und betreffend insbesondere die neuen Machthaber, die aktuelle politische Lage und Rückkehrsituation um den Inhalt der diesbezüglichen Spezialberichte erweitert. Bei den angeführten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der im vorliegenden Fall relevanten Situation in Syrien ergeben.
Für die Feststellungen zur aktuellen Situation sowie zu den potentiellen Einreisemöglichkeiten in die Herkunftsregion wurde unter Bedachtnahme auf die aktuelle mediale Berichterstattung primär auf die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024 sowie die unter https://www.ecoi.net/de/laender/arabische-republik-syrien/themendossiers/informationssammlung-zu-entwicklungen-zum-sturz-von-praesident-assad/ abrufbare laufend aktualisierte Informationssammlung zurückgegriffen und Einsicht in das tagesaktuelle Kartenmaterial unter https://syria.liveuamap.com/ genommen. Speziell zur Rückkehr wurden die vom UNHCR bereitgestellten aktuellen Informationen berücksichtigt, darunter insbesondere die aktuelle Position des UNHCR vom Dezember 2024, welche die aus dem Jahr 2021 stammenden UNHCR-Erwägungen zu Syrien ersetzt.
Die bP gab im Laufe des gesamten Verfahrens vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht durchgehend an, dass sie aus XXXX stammt, wo sie sich bis zu ihrer Ausreise in die Türkei 2014/2015 aufhielt.
Die Machtverhältnisse in der Herkunftsregion der bP sind nicht strittig. Sie ergeben sich aus den jüngsten Berichten über den Sturz Assads und die Zeit danach sowie einer Einsichtnahme in das von den einschlägigen Websites (https://syria.liveuamap.com/; https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html) abgerufene, in das Verfahren eingeführte und der bP zur Kenntnis gebrachte Kartenmaterial in Zusammenschau mit den Darstellungen und Ausführungen im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation bzw. den sonstigen bekanntgegebenen Quellen. Es gibt nicht einmal ansatzweise Anhaltspunkte für einen neuerlichen umfassenden Machtwechsel in den nunmehr von der HTS kontrollierten Gebieten, wobei sich seit der Machtübernahme nur punktuell Widerstand gegen die HTS formiert hat. In den letzten Tagen haben die nunmehrigen Machthaber zudem die im Zuge des Umsturzes von den kurdischen Streitkräften eroberten Gebiete im Süden des Gouvernements Raqqa unter ihre Kontrolle gebracht.
Die zum Wehrdienst und zur Rekrutierungspraxis der HTS getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in Kombination mit dem dem Report des Danish Immigration Service vom Dezember 2022 („Recruitment to Opposition Groups“).
II.2.3. Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte vor Ort zu verifizieren, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153; 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).
Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein Vorbringen im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden kann, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650).
II.2.4. Zur vorgebrachten Gefahr einer Verfolgung durch die syrische Regierung ist Folgendes auszuführen:
II.2.4.1. Eingangs ist festzuhalten, dass der vorgebrachten Verfolgung durch die Regierung Assad durch den Zusammenbruch des syrischen Regimes die Grundlage entzogen wurde. Dementsprechend wurden die Erwägungen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, jüngst durch eine Position zur Rückkehr ersetzt, die ausdrücklich festhält, dass Risiken in Bezug auf die Verfolgung durch die frühere Regierung aufgehört haben (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in die Arabische Republik Syrien vom Dezember 2024).
Die diesbezüglichen Feststellungen unter Punkt II.1.2. und II.1.3. ergeben sich neben der notorischen medialen Berichterstattung insbesondere aus der aktuellen Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, aus der unter anderem auch hervorgeht, dass die Regierungstruppen ihre Stellungen aufgaben, flohen oder desertierten. Am 08.12.2024 wurde vermeldet, dass das Armeekommando die Soldaten außer Dienst gestellt hatte.
II.2.4.2. Lediglich der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass sich aus dem Vorbringen auch in Bezug auf die Situation vor Dezember 2024 ergeben hat, dass die bP Syrien nicht aus Furcht vor politischer Verfolgung durch das Regime, sondern aufgrund der dort herrschenden Sicherheitslage verlassen hat. Dies trat – nachdem die bP im Zusammenhang mit ihrem Fluchtgrund bereits in der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA primär auf den Krieg verwiesen hatte (vgl. AS. 10: „In Syrien herrscht Krieg und ich müsste zum Militärdienst, weil ich im wehrdienstfähigen Alter bin.“ bzw. AS. 57: „Wegen des Krieges und es gab keine Sicherheit. Ich wollte nicht mit 18 einrücken.“) – insbesondere in der mündlichen Verhandlung deutlich zu Tage: „RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. […] Wann haben Sie Syrien verlassen? bP: Ich bin in Alhader geboren. Ich habe die Schule bis zur 5. Schulstufe besucht. Danach hat der Krieg angefangen. Ich bin kurz danach ausgereist. Ich war dann in der Türkei. […] – RI: Unter wessen Kontrolle stand Ihr Herkunftsort zum Zeitpunkt Ihrer Ausreise aus Syrien? bP: Die FSA damals. […] RI: Schildern Sie bitte, warum Sie Syrien verlassen haben? bP: Weil es Luftangriffe gab und die Lage gefährlich war.“ (vgl. VH S. 7, 8). Die Angst vor einer Einberufung, geschweige denn eine nicht durch die Furcht vor der Beteiligung an Kampfhandlungen motivierte Verweigerung des Wehrdienstes, findet hier nicht einmal Erwähnung. Dies überrascht insofern nicht, als die bP in der mündlichen Verhandlung den Zeitpunkt ihrer Ausreise wiederholt auf Ende 2014 bzw. Anfang 2015 und damit einen Zeitpunkt datierte, an dem sie sich einerseits mit etwa 15 Jahren noch nicht im wehrpflichtigen Alter befand, und andererseits klar darlegte, dass ihr Herkunftsort zum fraglichen Zeitpunkt nicht unter Kontrolle des syrischen Regimes stand. Auch aus dem der bP im Zuge der Verhandlung vor Augen geführten Kartenmaterial geht hervor, dass dieses erst im Dezember 2015 die Kontrolle über ihren Herkunftsort erlangte, was die bP nicht bestritt: „Der bP wird ein Ausschnitt der auf der website https://www.cartercenter.org/news zu ihrem Herkunftsort veröffentlichten Daten gezeigt und erläutert. […] bP: Kurz nach der Ausreise hat das Regime die Kontrolle über den Herkunftsort übernommen. – RI: Das würde bedeuten, dass Sie Ende 2015 ausgereist sind. Ist das korrekt? bP: Mit kurz danach meinte ich Monate. Ich bin Ende 2014, Anfang 2015 ausgereist.“ (vgl. VH S. 7 f)
Abgesehen davon hat die bP im gesamten Verfahren keine politische Gesinnung irgendwelcher Art vorgebracht und ergaben sich im gesamten Verfahren auch sonst keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen durch die Behörden bzw. Verbündeten der Regierung Assad: Die bP hatte keinen Kontakt zu Behörden oder Militär (AS. 57) und hat in Syrien auch an keinen Kampfhandlungen teilgenommen (AS. 59). Auch die Fragen nach strafrechtlichen Verfolgungshandlungen wurden von ihr ausdrücklich verneint (vgl. AS. 59). Ebensowenig ergaben sich aus den Angaben der bP in Bezug auf ihre Familie bzw. ihre nahen Angehörigen Hinweise darauf, dass diese sich oppositionell betätigt hätten oder etwa aufgrund der Umstände ihrer Ausreise in den Blickpunkt des syrischen Regimes geraten wären. Allein die Tatsache, dass drei ihrer Brüder – die sich wie der Rest der Kernfamilie bis zu ihrer Reise nach Europa mehrere Jahre lang nicht Syrien aufgehalten hatten – nunmehr in Österreich bzw. Deutschland Asyl erhalten haben, hätte vor dem Hintergrund der Berichtslage nicht darauf schließen lassen, dass der bP eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt wird (vgl. bereits VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147, Rz. 15). Zu dem – ausschließlich – im Beschwerdeschriftsatz enthaltenen ergänzenden Vorbringen, dass entfernte Verwandte sich oppositionell betätigt hätten, sei angemerkt, dass sich daraus allein keine asylrelevante Verfolgung der bP ableiten hätte lassen.
II.2.4.3. Abschließend ist aber nochmals zu betonen, dass eine Verfolgung durch das syrische Regime seit dem Umsturz ohnehin nicht mehr in Betracht kommt. Nunmehr ist die neue Regierung unter Führung der HTS in der Herkunftsregion der maßgebliche Kontrollakteur und sind – wie bereits unter Punkt II.2.2. dargelegt – diesbezüglich auch keine Veränderungen zu erwarten.
Die Gefahr einer Rekrutierung durch die HTS wurde nicht einmal vorgebracht; wie sich der Berichtslage entnehmen lässt, legte die HTS Zivilisten in den von ihr bisher kontrollierten Gebieten generell auch keine Wehrdienstpflicht auf. Sie verfügte über genügend Kämpfer und es herrschte kein Mangel an Männern, die bereit waren, sich ihr anzuschließen, was ausweislich der Länderberichte auch der Grund war, warum keine Zwangsanwerbungen von Personen durchgeführt wurden. Wirtschaftliche Motive waren der Hauptgrund, den Einheiten der HTS beizutreten, die islamische Ideologie ein weiterer Anreiz. Darüber hinaus setzte HTS keine Zwangsrekrutierung ein, da es für HTS von wesentlicher Bedeutung ist, dass seine Rekruten motiviert und loyal gegenüber der Organisation sind. Folglich war es ohne weiteres möglich, in von der HTS kontrollierten Gebieten zu leben, ohne der Organisation militärisch beitreten zu müssen. Es gab zwar vereinzelt Berichte über Zwangsrekrutierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des bewaffneten Konflikts in Syrien. Allerdings handelte es sich hierbei um spezielle Einzelfälle bzw. um Rekruten mit einem besonderen Profil. Beispielsweise zwang HTS Personen mit militärischer Erfahrung dazu, sich ihr anzuschließen. Darüber hinaus haben örtliche HTS-Polizeieinheiten gelegentlich Männer unter Druck gesetzt, sich HTS anzuschließen, insbesondere im Zusammenhang mit den Angriffen der syrischen Regierung auf Idlib. Allerdings gab es keine systematische Praxis dieser Art der Rekrutierung. Umso weniger ist anzunehmen, dass die HTS nunmehr – nach Wegfall ihres Hauptgegners und Übernahme der Staatsgewalt – in großem Stil beginnen sollte, Zwangsrekrutierungen von Zivilisten durchzuführen.
Freilich wurde bereits eine 2021 angekündigte Zulassung von Freiwilligenmeldungen dahingehend gedeutet, dass HTS in den von ihr beherrschten Gebieten lange vor der nunmehr erfolgten Machtübernahme mit der Einführung einer „Wehrpflicht“ liebäugelte, um eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung zu präsentieren. Entscheidend ist jedoch, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 29.02.2024, Ra 2023/18/0298, mwN). Dies ist gegenständlich nicht der Fall.
Selbst unter der Annahme, dass die neue syrische Gesetzgebung bzw. Regierung unter Führung der HTS das Milizsystem grundsätzlich weiter beibehält und auch tatsächlich beginnen sollte, Männer ab 18 Jahren einzuziehen, ist zu bedenken, dass die bP mittlerweile bereits 24 Jahre alt ist; darüber, ob eine neu ausgestaltete Wehrpflicht rückwirkend auf jene Personen erstreckt wird, die sich der Einberufung durch die bisherige syrische Armee entzogen haben, könnten nur Mutmaßungen angestellt werden. Im Übrigen ist zu betonen, dass die Verpflichtung zur Wehrdienstleistung als solche ihre rechtliche Deckung in dem grundsätzlichen Recht eines souveränen Staates findet, seine Angehörigen zur Militärdienstleistung zu verpflichten und einzuziehen (vgl. VwGH 14.10.2024, Ra 2024/20/0491). Die Einberufung zum Militärdienst und eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes bzw. wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung ist – ohne Zusammenhang zu einem Konventionsgrund – nicht als Bedrohung iSv § 3 AsylG anzusehen (vgl. bereits VwGH 05.04.2002, 2001/18/0255). Die Angaben der bP ließen diesbezüglich nicht einmal im Ansatz erkennen, dass sie den Dienst an der Waffe als solchen aus politischen oder Gewissensgründen ablehnen würde.
Zudem weist die bP auch kein gefahrenerhöhendes Profil auf: Sie hat Syrien im Alter von etwa 15 Jahren verlassen und war zuvor weder politisch aktiv noch ist sie sonst mit irgendeiner der Parteien des Bürgerkriegs näher in Berührung gekommen; vor ihrer durch Sicherheitsüberlegungen motivierten Ausreise wurde das Dorf von den der syrischen Opposition zuzurechnenden Kräften kontrolliert, und konnte die bP mit ihrer Familie dort augenscheinlich bedenkenlos leben. Für eine oppositionelle Haltung der Familie gegenüber der HTS gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte: So ist ein Cousin der bP ihren eigenen Angaben zufolge bereits nach Syrien zurückgekehrt (vgl. VH S. 9) und heißt die HTS Rückkehrende auch grundsätzlich willkommen; sie tritt gemäßigt auf und lassen sich auch über einen Monat nach der Machtübernahme keine Anzeichen dafür ausmachen, dass sie von ihrem bisherigen Kurs abweichen und eine extremistische Ausrichtung annehmen bzw. tolerieren würde. An dieser Einschätzung vermögen weder der Umstand, dass es einzelne Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld gibt, die ein Kalifat aufbauen wollen, noch die in der Stellungnahme vom 20.01.2025 allgemein ins Treffen geführten Aspekte, wonach die HTS – in der Vergangenheit – teils brutal gegen Andersdenkende vorgegangen sei, Frauenrechte eingeschränkt habe bzw. Scharia-Gerichte harte Strafen wegen religiöser Verfehlungen verhängt hätten, nichts zu ändern. Im Gegenteil: Als jüngst etwa lokale bewaffnete Gruppen die Situation für „Vergeltungsakte“ an Mitgliedern der alawitischen Minderheit bzw. ehemaligen Beamten der Regierung Assad ausnutzten, folgten Festnahmen (vgl. https://orf.at/stories/3383023/). Die einzige greifbare Aktivität der HTS stellt bislang offensichtlich die Umgestaltung des Lehrplans hin zu einer stärker religiösen Ausrichtung dar. Die Situation ist mit jener in Afghanistan nach Machtübernahme der Taliban nicht vergleichbar. Die neue Regierung ist einem Legitimationsdruck von innen und von außen ausgesetzt und konnte bereits die Aussetzung der Sanktionen durch die USA und – wie zuletzt vermeldet – auch eine stufenweise Lockerung durch die Europäische Union erreichen. Abgesehen davon wären die genannten Aspekte gerade in Bezug auf die bP als unpolitische männliche sunnitische Araberin nicht geeignet, ein entsprechendes Gefährdungspotential zu entfalten.
Festzuhalten ist zudem, dass eine Gefahr der Rekrutierung bzw. Verfolgung durch andere Akteure von der bP nicht vorgebracht wurde und sich auch sonst diesbezüglich keine aufzugreifenden Anhaltspunkte ergaben.
Dementsprechend hat die bP selbst in der mündlichen Verhandlung keine Furcht vor einer gegen ihre Person gerichteten Verfolgung zum Ausdruck gebracht, sondern ausschließlich Rückkehrbefürchtungen geäußert, die sich auf die Sicherheits- und Wirtschaftslage beziehen (vgl. VH S. 9: „In Syrien herrscht momentan keine Regierung. Die Lage ist unsicher. Es töten sich Menschen. Man kann auch nicht arbeiten. Vor kurzem ist mein Cousin väterlicherseits nach Syrien zurückgegangen. Er will wieder zurück in die Türkei, weil man dort nicht leben kann. Das Ganze braucht noch um die vier Jahre, dass die Lage sicher wird und es eine Regierung gibt.“). Diese allgemeinen Befürchtungen wären lediglich für die Prüfung subsidiären Schutzes relevant, der der bP bereits (rechtskräftig) zuerkannt wurde.
II.2.5. Zur Wiedereinreisemöglichkeit
Kurz nach der Machtübernahme in Syrien wurde der Flughafen Damaskus für den zivilen nationalen und Anfang des Jahres auch für den internationalen Flugverkehr geöffnet und kann die bP daher auf dem Luftweg nach Syrien ein- und über das ebenfalls ausschließlich im Einflussbereich der neuen Machthaber befindliche Gebiet in ihr Heimatdorf weiterreisen, ohne eine Verfolgung befürchten zu müssen. Auch die Grenzübergänge zu den Nachbarländern, insbesondere der Türkei, sind ausweislich der aktuellen Informationen des UNHCR geöffnet und werden von Rückkehrenden genützt. Sollte die bP über keinen syrischen Reisepass verfügen und einen solchen nicht bei einer syrischen Vertretungsbehörde erlangen können, hat sie als subsidiär Schutzberechtigte einen Anspruch auf die Ausstellung eines Fremdenpasses (§ 88 FPG 2005).
Bezüglich der allgemeinen Sicherheitslage auf dem Rückweg sei ebenfalls auf die Gewährung subsidiären Schutzes verwiesen.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde
II.3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Die Bestimmung des Heimatortes des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht (vgl. etwa VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442).
Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 23.06.2021, Ra 2021/18/0164, mwN). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; vgl. ferner unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.2.2023, E 3307/2022; VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110).
II.3.2. Wie festgestellt, geht vom mittlerweile gestürzten syrischen Regime keine Verfolgung mehr aus. Dies entspricht auch der aktuellen Position des UNHCR, die ausdrücklich festhält, dass Risiken in Bezug auf die Verfolgung durch die frühere Regierung aufgehört haben (vgl. UNHCR-Position vom 16.12.2024). Dem Vorbringen bezüglich einer möglichen Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime, einer Verfolgung aufgrund der Verwandtschaft zu Wehrdienstverweigerern bzw. aus sonstigen Gründen ist damit die Grundlage entzogen.
II.3.3. Der bP droht in ihrem Herkunftsgebiet auch keine Verfolgung durch andere Gruppierungen oder Milizen bzw. aus sonstigen Gründen. Wie beweiswürdigend ausgeführt, befindet sich das Gebiet unter gefestigter Kontrolle der nunmehrigen syrischen Regierung unter Führung der HTS, und geht von dieser keine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer im Allgemeinen und die bP im Besonderen aus.
II.3.4. Die im Verfahren behauptete Furcht der bP, in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, ist folglich nicht begründet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte aus den im Rahmen der Beweiswürdigung erörterten Gründen zur Überzeugung, dass die bP keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder nichtstaatliche Akteure im Herkunftsstaat ausgesetzt war und im Falle ihrer Rückkehr dorthin auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt wäre.
II.3.5. Die Aufforderung im aktuellen Positionspapier des UNHCR vom Dezember 2024, wonach negative Entscheidungen über die Zuerkennung des internationalen Schutzstatus angesichts der rasch ändernden Dynamiken und sich entwickelnden Situation in Syrien solange ausgesetzt werden sollten, bis sich die Situation stabilisiert hat und verlässliche Informationen über die Sicherheit und Menschenrechtssituation verfügbar sind, ist im vorliegenden Fall insofern nicht maßgeblich, als der bP bereits subsidiärer Schutz gewährt wurde und die von ihr vorgebrachte Verfolgungsgefahr durch die Regierung Assad beendet ist. Dafür, dass konkret die bP durch „andere Risiken“, die – in absehbarer Zeit – „fortbestehen oder deutlicher werden können“ über die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten hinaus in asylrelevanter Weise betroffen sein könnte, gibt es – wie aus der Beweiswürdigung hervorgeht – keinerlei Anhaltspunkte. Seit der Veröffentlichung des Positionspapiers ist zudem bereits über ein Monat vergangen, ohne dass sich die Lage in Syrien bzw. in der Herkunftsregion der bP grundlegend verändert hat. Die in der Stellungnahme der bP vom 20.01.2025 zitierte Judikatur des VfGH betreffend Afghanistan lässt sich angesichts der Ausgangslage nicht ohne Weiteres auf die Situation in Syrien übertragen, und bezog sich gerade nicht auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten, sondern die gänzliche Nichtgewährung internationalen Schutzes und Erlassung einer Rückkehrentscheidung bzw. die Anhaltung in Schubhaft. Dem Umstand, dass die bP aufgrund der Situation in ihrem Heimatland dem realen Risiko ausgesetzt ist, Opfer von willkürlicher Gewalt zu werden, wurde gegenständlich jedoch bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Rechnung getragen, indem es der bP den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt hat.
Eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt sohin nicht vor.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schließlich liegt der Schwerpunkt im gegenständlichen Verfahren im Bereich der Tatsachenfragen. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist nicht revisibel (vgl. VwGH vom 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).