Spruch
W189 2283847-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2023, Zl. 1353939900-231009108, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.05.2024 zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge: die BF), eine somalische Staatsangehörige, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 24.05.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz, zu welchem sie am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurde. Zu ihrem Ausreisegrund gab sie zu Protokoll, dass sie wegen ihres Exmannes und dessen Familie Somalia verlassen habe, weil er ihre Kinder weggenommen und ihre Tochter illegal beschneiden habe lassen. Er gehöre der Al Shabaab an. Ihre Familie habe sie nicht unterstützen können, weil sie Angst vor der Al Shabaab hätten. Seine Tante habe die BF schlecht behandelt, weil die BF mit ihr leben habe müssen. Alle ihre Kinder seien bei seiner Tante und sie habe sie nicht mehr besuchen dürfen. Er habe die BF mit dem Umbringen bedroht. Sie könne nicht ohne ihre Kinder dort leben. In Somalia habe sie keine eigene Familie mehr. Auch bei der Regierung könne sie sich nicht beschweren, weil sie vor dieser Angst habe und keine Unterstützung bekomme. Im Falle einer Rückkehr nach Somalia befürchte die BF getötet zu werden.
2. In ihrer niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: das BFA) vom 09.10.2023 machte die BF in freier Erzählung nähere Ausführungen zu ihrem Fluchtgrund.
3. Mit Bescheid des BFA vom 23.11.2023 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Der BF wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkte II. und III.).
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die BF durch ihre Rechtsvertretung binnen offener Frist Beschwerde, über welche das Bundesverwaltungsgericht am 07.05.2024 in beider Anwesenheit eine öffentliche, mündliche Verhandlung durchführte.
5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.06.2024 wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
6. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 17.09.2024 wurde das Erkenntnis aufgrund einer Beschwerde der BF aufgehoben, da sie im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der BF
Die Identität der BF steht nicht fest. Sie ist eine Staatsangehörige von Somalia und gehört der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie dem Rahanweyn-Subclan der Geledi an. Sie stammt aus dem Dorf XXXX (Koordinaten: XXXX ) im Distrikt Afgooye, Region Lower Shabelle. Die BF ist des Lesens und Schreibens mächtig und verfügt über eine zumindest grundlegende Bildung.
Entgegen dem von der BF vorgebrachten Ausreisegrund wurde sie nicht wegen einer Scheidung und des Versuchs einer Kontaktaufnahme mit ihren Kindern von ihrem Exmann, einem Mitglied der Al Shabaab, und seiner Familie bedroht. Sie hat ebenso wenig nach dem Verlassen ihres Herkunftsstaates in der Türkei einen anderen, wieder nach Somalia zurückgekehrten Mann geheiratet.
Die BF ist in Somalia eine alleinstehende Frau und dadurch dort einem erhöhten Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Somalia
1.2.1. Bevölkerungsstruktur
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, S. 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, S. 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, S. 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vgl. NLMBZ 1.12.2021, S. 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, S. 44; vgl. SEM, 31.5.2017, S. 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, S. 5).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, S. 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, S. 8).
Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, S. 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:
Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, S. 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, S. 9).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, S. 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, S. 38ff).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, S. 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, S. 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, S. 25).
1.2.2. Frauen
Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten (USDOS 12.4.2022, S. 40). Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär (AA 28.6.2022, S. 17). Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet (LIFOS 16.4.2019, S. 10; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 40). Sie genießen nicht die gleichen Rechte und den gleichen Status wie Männer und werden diesen systematisch untergeordnet. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (USDOS 12.4.2022, S. 40).
Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst (ICG 27.6.2019, S. 3). Frauen sind das ökonomische Rückgrat der Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie (SIDRA 6.2019b, S. 2). Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (TE 11.3.2019; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 11). Außer bei großen Betrieben spielen Frauen eine führende Rolle bei den Privatunternehmen. In Mogadischu und Bossaso gehören ca. 45 % aller formellen Unternehmen Frauen (WB 22.3.2022).
Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37), bleiben häusliche (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze (USDOS 12.4.2022, S. 34/37).
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs (FH 2022a, G3; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34ff, ÖB 11.2022, S. 11). Im Jahr 2021 kam es zu einem Anstieg an derartigen Fällen, oft werden Opfer auch getötet (HRW 13.1.2022; vgl. UNFPA 14.4.2022). Auch im Jahr 2022 ist die Zahl an Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter gestiegen. Im Jahr 2021 setzten sich die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wie folgt zusammen: 62 % physische Gewalt; 11 % Vergewaltigungen; 10 % sexuelle Übergriffe; 7 % Verweigerung von Ressourcen; 6 % psychische Gewalt; 4 % Zwangs- oder Kinderehe. 53 % der Fälle ereigneten sich im Wohnbereich der Opfer. 2021 war eine hohe Rate an Partnergewalt zu verzeichnen; mit der Rücknahme von Covid-19-bedingten Einschränkungen ist die Rate an Partnergewalt zuletzt gesunken. 74 % aller registrierten Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs (UNFPA 14.4.2022). Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert (USDOS 12.4.2022, S. 35).
Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen. Klassische Muster sind: a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure; und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete. Nach anderen Angaben wiederum ereignet sich der Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der Covid-19-Maßnahmen zugenommen hat. Alleine im Juli 2021 wurden von der UN 168 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert - darunter auch Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen. Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt (USDOS 12.4.2022, S. 35f). Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können (TE 11.3.2019). Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt (AA 28.6.2022, S. 17).
Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings handelt es sich um ein Vergehen gegen Anstand und Ehre - und nicht gegen die körperliche Integrität (HRW 13.1.2022). Die Strafandrohung beträgt 5-15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod (USDOS 12.4.2022, S. 34). Das Problem im Kampf gegen sexuelle Gewalt liegt insgesamt nicht am Mangel an Gesetzen – sei es im formellen Recht oder in islamischen Vorschriften (SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Woran es mangelt, ist der politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen (SIDRA 6.2019b, S. 5ff; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34). Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert (AA 28.6.2022, S. 17). Hinsichtlich einer Strafverfolgung von Vergewaltigern gibt es keine Fortschritte (UNSC 13.5.2022, Abs. 60).
Bei Vergewaltigungen kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. BS 2022, S. 19). Generell herrscht Straflosigkeit (USDOS 12.4.2022, S. 35; vgl. ÖB 11.2022, S. 11). Nach anderen Angaben nimmt die Zahl erfolgreicher Strafverfolgung bei Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt zu. Mädchen und Frauen haben demnach Vertrauen gewonnen und zeigen Fälle an. Trotzdem gibt es noch zahlreiche Mängel und Hürden, wenn Opfer Gerechtigkeit suchen (UNFPA 14.4.2022).
Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind (SIDRA 6.2019b, S. 2). Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung (USDOS 12.4.2022, S. 36). Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet (TE 11.3.2019). Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. UNFPA 14.4.2022; UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur zögerlich; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen (USDOS 12.4.2022, S. 36).
Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt (USDOS 12.4.2022, S. 36; vgl. AA 28.6.2022, S. 18; UNSC 10.10.2022, Abs. 132), was u. a. an der Angst vor Rache, vor Stigmatisierung und am schwachen Justizsystem und der allgemeinen Straflosigkeit der Täter liegt (UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers (SIDRA 6.2019b, S. 5ff), oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen (TE 11.3.2019; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 36). Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft (SEM 31.5.2017, S. 49; vgl. ÖB 11.2022, S. 11; SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Manchmal übergibt die Polizei ohne Zustimmung des Opfers oder der Familie des Opfers einen Vergewaltigungsfall an traditionelle Rechtsinstrumente (UNSC 6.10.2021).
Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden (UNSC 13.5.2020, Abs. 56f). Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (UNSC 13.11.2020, Abs. 49).
Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet (USDOS 12.4.2022, S. 35). In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert (UNSC 13.5.2020, Abs. 48/58). Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias (UNSC 10.8.2021, Abs. 48). In Baidoa wurde ein Mann, der eine Frau ermordet hatte, zum Tode verurteilt und Anfang Juni 2022 öffentlich von einem Erschießungskommando exekutiert (GN 7.6.2022). In zwei Vergewaltigungsfällen an Minderjährigen in Jubaland und Galmudug wurden die Täter (ein Soldat und ein Clanmilizionär) verhaftet, die Opfer wurden medizinisch versorgt (UNSC 1.9.2022, Abs. 61).
Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können (USDOS 12.4.2022, S. 37). Zudem gibt es nur wenig Unterstützung in Fällen von Vergewaltigung, da es kaum spezialisierte Anbieter hinsichtlich psycho-sozialer Unterstützung oder zur Behandlung von Traumata gibt (UNFPA 14.4.2022). Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste (UNICEF 29.6.2021). UNFPA unterstützt insgesamt 31 solche Einrichtungen sowie 16 Gesundheitseinrichtungen, welche für Opfer spezialisierte Behandlungen anbieten (UNFPA 5.2022). In ganz Somalia sind 74 NGOs und internationale Organisationen aktiv, um Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. In Mogadischu und in Puntland sind z.B. jeweils mehr als 20 Organisationen aktiv. Im Jahr 2021 wurden durch diese Anbieter ca. 51.000 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt, fast 10.000 Opfern wurde ein safe space zur Verfügung gestellt (UNFPA 14.4.2022). In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung (USDOS 12.4.2022, S. 35). Insgesamt mangelt es allerdings an Schutzeinrichtungen. In Puntland gibt es einige Frauenhäuser, im Süd-/Zentralsomalia hingegen gibt es nur sehr wenige derartige Einrichtungen für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt (UNFPA 14.4.2022).
Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 11.2022, S. 10). Es gibt keine Zivilehe (LI 14.6.2018, S. 7). Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38). Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (LI 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).
Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (LI 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 28.6.2022, S. 18). Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal (SPA 1.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr (USDOS 12.4.2022, S. 43). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (LI 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. LI 14.6.2018, S. 10).
Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (LI 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. LI 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (LI 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der "runaway marriages", bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LI 14.6.2018, S. 11).
1.2.3. Weibliche Genitalverstümmelung und Beschneidung (FGM/C)
Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (Crawford 2015, S.65f). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM vor:
a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (gudniinka fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; Crawford 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 68).
b) Andererseits die Sunna (gudniinka sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. Crawford 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29) bzw. laut einer dritten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (Crawford 2015, S. 41ff/66f). Denn die Sunna wird nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (sunna kabir) und die kleine Sunna (sunna saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. Crawford 2015, S. 41ff/66f). De facto kann unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).
Laut einer in Puntland gemachten Studie gibt es auch noch andere Namen für FGM, etwa Dhufaanid (Kastration) oder Tolid (Zunähen) (UNFPA 4.2022).
Durchführung: Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (LI 14.9.2022, S. 11). Diese "Medizinisierung" von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021). FGM/C wird also zunehmend im medizinischen Bereich durchgeführt – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. Die Durchführung durch medizinisches Personal ist teilweise schon gängige Praxis – in Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für "FGM clinics". Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen. Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (Crawford 2015, S. 73f). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).
Verbreitung: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und bleibt die Norm (LI 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von "mehr als 90 %" (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC Yussuf 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022).
Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017).
Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (Crawford 2015, S. 69). Vielen Menschen – v.a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2017 haben 40,6 % angegeben, von einer Infibulation betroffen zu sein (AV 2017, S. 29). Jedenfalls ist die Quote an Infibulationen im ganzen Land rückläufig (Crawford 2015, S. 70). Während in der ältesten Altersgruppe vier von fünf Frauen eine Infibulation erlitten haben, ist es bei der jüngsten Altersgruppe nicht einmal eine von zwei (28TM o.D.). Generell geht der Trend in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022).
FGM kann als gesellschaftliche Konvention erachtet werden, die von den meisten Menschen als selbstverständliche angesehen wird. Daher stellt sich üblicherweise nicht die Frage, ob der Eingriff durchgeführt wird. Vielmehr geht es um die praktischen Aspekte der Umsetzung (LI 14.9.2022). Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; LI 14.9.2022, S. 11; Crawford 2015, S. 85). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Dabei geht es bei dieser Entscheidung weniger um das "ob" als vielmehr um das "wie und wann" (LI 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022). Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter maßgeblich in die Entscheidung involviert (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26). Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt (FIS 5.10.2018, S. 31).
In der Diaspora lebende Mädchen werden „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Allerdings nimmt in der Diaspora die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (LI 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich Teile der Bevölkerung gegen jegliche Art von FGM. Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (Crawford 2015, S. 65; vgl. LI 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Überhaupt ist der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, der Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden (Crawford 2015, S. 82). Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (Crawford 2015, S. 73). Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41). Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. LI 14.9.2022, S. 11). Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig", eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und sichert die Heirat (LI 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Dahingegeben werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder un-somalisch (LI 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (Crawford 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden mitunter in der Schule gehänselt und drangsaliert und sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier buurya qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (LI 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).
Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach anderen Angaben stellt der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung dar, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen FGM ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (LI 14.9.2022).
Eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, wird versuchen, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). Nur wenige Mütter "bekennen", dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (Crawford 2015, S. 65). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Natürlich werden nicht ständig die Genitalien von Mädchen überprüft. Aber Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41). Da gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden, ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht (LI 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (Crawford 2015, S. 83). Spätestens bei der Verheiratung ist der physische Status jedenfalls klar (ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f).
Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen ein Alter von 5-10 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39), UN News nennt ein Alter von 5-9 Jahren (UNN 4.2.2022); in Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (28TM o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 28.6.2022, S. 19). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Laut einer Quelle ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna in Somaliland auf 5-8 Jahre gesunken (PC 1.2018, S. 22). Eine weitere Quelle bestätigt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022).
Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (LI 14.9.2022). Im Jahr 2018 hat man über vier Mädchen aus Galmudug und Puntland erfahren, dass diese im Zuge einer FGM bzw. an deren Folgen verstorben sind. Diese Mädchen waren 10 - 11 Jahre alt. Ein weiteres Mädchen, das fast gestorben wäre, war bei der Vornahme der FGM sieben Jahre alt (CNN 11.10.2018).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der BF
Mangels Vorlage von unbedenklichen Dokumenten konnte die Identität der BF nicht bewiesen werden, zumal sie widersprüchliche Angaben zum Verbleib ihres Reisepasses machte. Während sie nämlich in der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu Protokoll gab, ihren Reisepass in Griechenland verloren zu haben und keinen Kontakt mit den Behörden in Europa gehabt zu haben (AS 21), behauptete sie in der Einvernahme durch das BFA im Widerspruch, dass griechische Grenzsoldaten ihren Pass in einen Fluss geworfen hätten (AS 51), wobei sich nicht nachvollziehen lässt, aus welchem Motiv sie dies getan hätten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erzählte sie dann zunächst erstere Version, um auf Vorhalt ihrer Aussage in der Einvernahme wieder auf die zweite Version umzuschwenken (Verhandlungsprotokoll S. 4), und trug somit erneut nicht zur Wahrheitsfindung bei. Es entstand somit der maßgebliche Eindruck, dass die BF keinen Willen hat, ihre Identität zu beweisen, was sich wiederum negativ auf ihre persönliche Glaubwürdigkeit auswirkt. Zumal die BF aber zweifellos aus dem somalischen Kulturraum stammt, kann ihr in ihren gleichbleibenden und grundsätzlich plausiblen Angaben zu ihrer Staats-, Religions- und Clanzugehörigkeit sowie ihrer örtlichen Herkunft gefolgt werden. Desweiteren gab die BF zwar stets an, nicht des Lesens und Schreibens mächtig zu sein (AS 15 und 51; Verhandlungsprotokoll S. 7), doch sagte sie gleichzeitig aus, ein Mobiltelefon zu benützen bzw. bereits in Somalia über ein Feature-Phone (d.h. ein Tastatur-Handy ohne Touchscreen) verfügt zu haben (AS 57; Verhandlungsprotokoll S. 5 bis 7), was aber bedeutet, dass ihre Behauptung, nicht lesen und schreiben zu können, nicht der Wahrheit entsprechen kann. Auch der Umstand, dass die BF in der mündlichen Verhandlung breit über die Thematik der Beschneidung und die Einstellung der Bevölkerung über ihr kleines Dorf hinaus berichten konnte (Verhandlungsprotokoll S. 8 f), und sie generell in der Lage war, verschiedene Orts- und Datumsangaben zu machen, spricht gegen die Behauptung, über keinerlei Bildung zu verfügen.
Das Fluchtvorbringen der BF, wonach ihr damaliger Ehemann, welcher ein Mitglied der Al Shabaab sei, die Scheidung ausgesprochen habe und sie aus dem Haus geworfen habe, weil sie gegen die Beschneidung ihrer Tochter gewesen sei, und sie in der Folge von ihm bzw. seiner Familie bedroht worden sei, weil sie versucht habe, die bei ihm verbliebenen Kinder zu kontaktieren, ist nicht glaubhaft.
Die BF konnte zunächst schon ihren eigenen familiären Hintergrund nicht glaubhaft darstellen. Auf der einen Seite schilderte sie in der Erstbefragung sowie in der Einvernahme, dass ihre Eltern bereits verstorben seien, ihre Schwester unbekannten Aufenthalts sei (AS 17), ihr einziger Onkel ebenso verstorben sei (AS 61) und sie bei ihrer Heirat ein Waisenkind gewesen sei, welches nur mithilfe der Familie ihres Mannes heiraten habe können (AS 53). In der mündlichen Verhandlung steigerte sie dies zunächst noch weiter darauf, überhaupt keine Verwandten zu haben, um auf Vorhalt dann doch zuzugestehen, eine Schwester zu haben, die im Nachbardorf gelebt habe und mit der sie bis zu ihrer Flucht in Kontakt gestanden sei (Verhandlungsprotokoll S. 6). Weshalb sie bis dahin aber behauptet hatte, dass der Aufenthalt ihrer Schwester unbekannt sei, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen. Bemerkenswert ist bei alle dem dann aber auf der anderen Seite, dass sie in der Schilderung ihrer Ausreisegründe im Rahmen der Erstbefragung zu Protokoll gab, dass ihre Familie sie aus Angst vor der Al Shabaab nicht gegen ihren damaligen Ehemann unterstützen habe können (AS 23). In der mündlichen Verhandlung befragt, wen sie damit gemeint habe, rechtfertigte die BF sich zunächst damit, dass sie sich auf ihre Freundin bezogen habe, die für sie als Familie gegolten habe, um dann gleich darauf davon abgehend auszusagen, dass der Dolmetscher vielleicht die Familie gemeint habe, die sie großgezogen habe (Verhandlungsprotokoll S. 6 f). Schon der Umstand, dass die BF zwei unterschiedliche Erklärungen abgab, wer mit dem Begriff „Familie“ gemeint gewesen wäre, spricht aber jedenfalls für eine untaugliche Schutzbehauptung. Die BF erklärte mit dieser zweiten Rechtfertigung aber auch entgegen aller bisherigen Behauptungen, eine Pflegefamilie gehabt zu haben (vgl. in der Folge Verhandlungsprotokoll S. 8). Weshalb die BF diesfalls jedoch, nachdem ihr Ehemann die Scheidung ausgesprochen und sie aus dem Haus geworfen habe, nicht bei dieser Pflegefamilie Schutz gesucht hätte, sondern stattdessen bei einem „Nachbarn“ und später bei einer Freundin (AS 65), und sie auch nicht über ihre Pflegefamilie versucht hätte, Kontakt mit ihren Kindern aufzunehmen, sondern wiederum durch einen unbenannten Nachbarn (AS 63), lässt sich ebenso wenig nachvollziehen. Schlussendlich sagte die BF zum Schluss der mündlichen Verhandlung plötzlich aus, in Somalia nur einen Bruder gehabt zu haben (Verhandlungsprotokoll S. 11), um auf Vorhalt sogleich – aber angesichts des klaren Unterschieds jedenfalls untauglich – zu erklären, dass sie ihre Schwester gemeint habe. Der BF gelang es angesichts dieser widersprüchlichen und unplausiblen Aussagen nicht, davon zu überzeugen, keine familiären Anknüpfungspunkte in ihrer Heimat zu haben.
Zu ihrer Scheidung brachte die BF in der Einvernahme durch das BFA die grundsätzlich nur oberflächliche Erzählung vor, dass es aufgrund der Beschneidung ihrer ältesten Tochter zu einem Streit gekommen sei, weil die BF dagegen gewesen sei, worauf ihr damaliger Ehemann die Scheidung ausgesprochen und sie aus dem Haus geworfen habe (AS 61 f und 65 f). Konkrete Details hierzu führte sie kaum aus. Ihr diesbezügliches Vorbringen gestaltete sich aber auch als unplausibel und widersprüchlich. Ihre Behauptung, dass die Beschneidung nie ein Thema gewesen sei und die Tante ihres damaligen Ehemannes ihre Tochter einfach genommen habe und beschneiden habe lassen (AS 67), steht im Widerspruch zu den Länderberichten, wonach die Entscheidung über die Beschneidung bzw. deren Form bei den Eltern, insbesondere bei der Mutter, liegt. Es erscheint dabei im somalischen Kontext auch gänzlich lebensfremd, dass nie über die bevorstehende Beschneidung gesprochen worden wäre, zumal die BF in der mündlichen Verhandlung angab, dass ihre Tochter damals neun Jahr alt gewesen sei und die Beschneidung in ihrem Heimatdorf vor dem zehnten Lebensjahr durchgeführt werde (Verhandlungsprotokoll S. 8). Insoweit veränderte die BF aber auch im Laufe des Verfahrens ihr Vorbringen, denn in der mündlichen Verhandlung führte die dann im Widerspruch zum Protokoll ihrer Einvernahme (vgl. AS 67) aus, dass die Beschneidung ihrer Tochter doch bereits ein Thema gewesen sei und ihr Mann und dessen Verwandtschaft auf eine sogenannte pharaonische Beschneidung bestanden hätten bzw. sein Onkel sie sogar bedroht habe, dass sie getötet werde, wenn sie dem nicht zustimme (Verhandlungsprotokoll S. 9). Darüber hinaus änderte die BF im Verlauf des Verfahrens ihre Position, wonach sie eine Beschneidung ihrer Tochter abgelehnt habe (AS 63), darauf ab, dass sie (lediglich) gegen eine schwere Form der Beschneidung gewesen sei (Verhandlungsprotokoll S. 9). Letztlich muss es auch als lebensfremd angenommen werden, dass ihr Ehemann – den sie nach ihrem Vorbringen aus Liebe und mit Zustimmung seiner Familie geheiratet habe (AS 53) – sich alleine aufgrund dieses Streites von ihr scheiden habe lassen und sie aus dem Haus geworfen habe, zumal er doch seinen Willen zur Beschneidung bzw. deren Art durchsetzen habe können und zumal die BF zu diesem Zeitpunkt noch die erst kurz zuvor geborene jüngste Tochter gestillt habe. Zudem würden nach den Länderberichten die Kinder einer Scheidung üblicherweise bei der Mutter bleiben.
Nach ihrer Scheidung sei die BF nach einem Aufenthalt im Nachbardorf – den sie in der Einvernahme einmal mit zehn Monaten (AS 59), dann aber mit zwei Wochen oder zehn Tagen bemaß (AS 65) – bei einer Freundin in Mogadischu untergekommen, bevor sie anderthalb Jahre später Somalia verlassen habe. Sie erzählte in der Einvernahme, dass sie in dieser Zeit versucht habe, durch Nachbarn Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen, doch habe die Familie ihres Exmannes sie bedroht, dies zu unterlassen, sowie, dass sie getötet werde, wenn man sie in der Nähe der Kinder sehe. Das Land habe sie letztlich verlassen, weil es ihr psychisch nicht gut gegangen sei, sie sich sehr einsam gefühlt habe und nicht zu ihren Kindern gekonnt habe (AS 63). Daraus ergab sich aber kein zwingender und zumal auch kein nachvollziehbarer Ausreisegrund, wäre die BF doch durch eine Ausreise noch weiter von ihren Kindern und ihren sonstigen Anknüpfungspunkten in Somalia entfernt, zumal die BF sich offenkundig bislang keine Gedanken gemacht hat, wie sie ihre Kinder ohne die Zustimmung ihres Exmannes nachholen könnte (vgl. Verhandlungsprotokoll S. 10). In der mündlichen Verhandlung steigerte sie sodann aber ihr Vorbringen erheblich darauf, dass sie in Mogadischu ständig Drohanrufe bekommen habe (Verhandlungsprotokoll S. 7), und sie gewusst habe, dass sie umgebracht werde, sobald „sie“ sie finden würden, weshalb sie ausgereist sei (Verhandlungsprotokoll S. 10), wobei sie wiederum nur vage und oberflächliche Angaben machte. Auf Vorhalt dieser Steigerung versuchte sie sich – allerdings untauglich – damit zu rechtfertigen, dass sie das bereits in der Einvernahme so angegeben habe, was jedoch nicht im Einklang mit deren Protokoll zu bringen ist, dessen Richtigkeit sie nach einer Rückübersetzung mit ihrer Unterschrift bestätigt hatte. Der BF gelang es somit nicht, diese Bedrohungslage glaubhaft darzutun.
Die BF erzählte, dass ihre Freundin sie nicht nur für diese anderthalb Jahre in Mogadischu versorgt habe, sondern ihr auch die Ausreise per Flugzeug in die Türkei finanziert habe (AS 59; Verhandlungsprotokoll S. 7). Im Flugzeug habe sie einen Somalier kennengelernt, der seine Großmutter zur medizinischen Behandlung in die Türkei begleitet habe und bei dem sie untergekommen sei, da sie in der Türkei niemanden gehabt habe (AS 57; Verhandlungsprotokoll S. 5). Es ist jedoch gänzlich unplausibel, dass zwar einerseits die Ausreise der BF in die Türkei organisiert worden wäre, aber andererseits keine weiteren Überlegungen getroffen worden wären, wo und wie sie dort überhaupt überleben würde. Wie die BF weiter schilderte, habe sie sodann in der Türkei diesen Mann religiös geheiratet und mit ihm mehrere Monate zusammengelebt, konnte aber nicht gleichbleibend angeben, wann sie ihn geheiratet hätte, nannte sie doch einerseits in der Einvernahme durch das BFA den Oktober 2022 (AS 55), andererseits in der mündlichen Verhandlung den August 2022 (Verhandlungsprotokoll S. 4). Der Mann sei dann mit seiner Großmutter wieder nach Somalia zurückgekehrt. Kurz danach habe sie bemerkt, dass sie von ihm schwanger sei. Aus welchem Grund nun die BF nicht wieder mit ihrem Ehemann bzw. zumindest, als sie die Schwangerschaft bemerkt habe, nach Somalia zurückgekehrt sei, konnte die BF nicht plausibel und widerspruchsfrei erläutern. In der Einvernahme durch das BFA gab sie an, dass sie selbst sich dies nicht zugetraut habe, weil sie Angst vor ihrem Exmann gehabt habe, da seine Familie gedroht habe, sie zu töten, wenn sie in der Nähe ihrer Kinder (von diesem) gesehen werde (AS 57), was jedoch, selbst wenn man dies entgegen der obigen Beweiswürdigung als wahr unterstellen würde, keinen Grund darstellen würde, nicht mit ihrem (neuen) Ehemann in Mogadischu zusammenzuleben, zumal die BF auf der anderen Seite ebenda meinte, dass sie danach in der Türkei alleine und ohne Hilfe und Unterstützung gewesen sei, es also umso naheliegender gewesen wäre, bei ihrem Ehemann zu bleiben oder diesem nachzufolgen. In der mündlichen Verhandlung ergänzte sie, dass ihr Ehemann kein Geld gehabt habe, um ihr die Reise nach Somalia zu finanzieren (Verhandlungsprotokoll S. 11), was aber mit Blick darauf, dass dieser eben noch seine Großmutter für eine mehrmonatige Behandlung in die Türkei begleitet habe, als vorgeschobener Grund zu betrachten ist. Stattdessen habe die BF sich anderen Flüchtlingen angeschlossen und sei kostenlos nach Österreich geschleppt worden (AS 23), was aber anhand der notorischen Entgeltlichkeit des Schleppergeschäfts jedenfalls unglaubhaft ist. Letztlich widersprach sich die BF auch zur Frage des telefonischen Kontaktes zu ihrem Ehemann, gab sie doch auf der einen Seite in der Einvernahme vom Oktober 2023 an, dass grundsätzlich Kontakt bestehe, aber ihr Handy seit zwei Wochen nicht mehr funktioniere (AS 57), wohingegen sie auf der anderen Seite in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gab, dass sie nach seiner Rückkehr nach Somalia nur einmal im August Kontakt zu ihm gehabt habe, dann aber ihr Handy kaputtgegangen sei (Verhandlungsprotokoll S. 5). Selbst wenn man nun entgegen dieser uneinheitlichen Angaben davon ausginge, dass die BF die Nummer ihres Ehemannes aufgrund eines defekten Handys tatsächlich verloren hätte (d.h. der Speicher des Handys endgültig zerstört wäre und die Nummer weder auf der SIM-Karte gespeichert wäre noch ein Backup bestünde), ist aber zum einen zu bedenken, dass ihre eigene Handynummer dennoch weiterhin vergeben und über ein anderes (neues) Gerät für ihren Ehemann erreichbar wäre, und ist es zum anderen unwahrscheinlich, dass die BF trotz entsprechender Versuche unter Zuhilfenahme der somalischen Gemeinschaft (vgl. Verhandlungsprotokoll S. 5 f) den Kontakt zu ihrem Ehemann, dessen Identitätsdaten und dessen Wohnort in Mogadischu sie kenne, nicht wiederherstellen hätte können. Damit waren auch die Angaben der BF zu diesem Ehemann nicht glaubhaft.
In Gesamtbetrachtung dieser Erwägungsgründe, nämlich der persönlichen Unglaubwürdigkeit der BF sowie ihres vagen, widersprüchlichen, gesteigerten und unplausiblen Vorbringens konnte die BF – selbst wenn man einen eher niedrigen Bildungsstand annimmt – nicht von der Wahrheit ihrer Fluchtgründe überzeugen und ist dieses vielmehr in ihrer Gesamtheit als Konstrukt zu betrachten. Es ist davon auszugehen, dass die von der BF angegebene Fluchterzählung nie stattgefunden hat.
Da sich allerdings anhand des Vorbringens der BF nicht feststellen lässt, ob sie nun in ihrem Herkunftsgebiet neben ihren weiblichen auch männliche Angehörige oder Verwandte hat, mit denen Kontakt besteht und zu denen sie zurückkehren kann, ist im Zweifel davon auszugehen, dass sie in Somalia eine alleinstehende Frau ist, welche anhand der Länderberichte einer erhöhten Gefahr geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt ist.
2.2. Zu den Feststellungen der maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur Situation in Somalia beruhen auf den angeführten Quellen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Somalia vom 08.01.2024 (Version 6). Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Ein Vergleich mit dem kürzlich aktualisierten Länderinformationsblatt vom 16.01.2025 (Version 7) hat keine für das Verfahren relevante Änderung – insbesondere Verschlechterung – der Lage ergeben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Das Vorbringen des Antragstellers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 10.08.2019, Ra 2018/20/0314).
Wie beweiswürdigend dargelegt, ist das Vorbringen der BF, in Somalia wegen einer Scheidung und des Versuchs einer Kontaktaufnahme mit ihren Kindern von ihrem Exmann und seiner Familie bedroht worden zu sein, nicht glaubhaft. Es war jedoch nicht feststellbar, dass die BF in ihrem Herkunftsgebiet über männliche Anknüpfungspunkte verfügt, die ihr Schutz gewähren können, sodass sie im Zweifel festzustellen war, dass sie dort eine alleinstehende Frau ist, welche – wie den dem Verfahren zugrunde gelegten Länderberichten zu entnehmen ist – einem erhöhten Risiko geschlechtsspezifischer Gefahr ausgesetzt ist. Die BF wird daher in Somalia aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen, welche in Somalia eine deutlich abgegrenzte Identität haben und von der Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, mit erheblicher Intensität verfolgt.
Da diese Verfolgung zum einen von der somalischen Gesellschaft an sich ausgeht und der BF zum anderen über den Status einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, steht ihr keine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 11 AsylG 2005 offen. Sonstige Ausschlussgründe sind nicht hervorgekommen.
Der BF ist somit der Status der Asylberechtigten zu gewähren.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.
Der BF kommt folglich eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.