Spruch
L516 2270955-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatenlos/Westjordanland (West Bank), vertreten durch Verein ZEIGE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2023, Zahl 1293300800-220122006, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.03.2024 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Westjordanland (Westbank) zuerkannt. III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III bis VI des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer ist staatenlos und stammt aus dem Westjordanland. Er stellte am 19.01.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 13.03.2023 (I.) gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und (II.) gemäß § 8 Abs 1 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ (IV.) gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte (V.) gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung in das Westjordanland gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (VI.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 26.03.2024 eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer mit einem Rechtsvertreter teilnahm; die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme und erschien nicht.
1. Sachverhalt:
[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VA=Verwaltungsverfahrensakt des BFA zum Antrag auf internationalen Schutz; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes]
1.1 Zur Personen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt in Österreich die im Spruch angeführten Namen sowie die ebenso dort angeführten Geburtsdaten. Seine Identität steht fest. (Führerschein der Palästinensischen Autonomiebehörde (AS 23 f); BFA Bescheid S 15, 50)
Der Beschwerdeführer ist ein staatenloser Palästinenser, gehört der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an und stammt aus Tulkarm (auch: Tulkarem) im Westjordanland, wo er bis zu seiner letzten Ausreise aus dem Westjordanland gelebt hat. Er ist nicht bei der UNRWA als Flüchtling registriert. (NS EB 20.01.2022 S 1, 2, 4; NS EV 30.05.2022 S 6, 16)
Der Beschwerdeführer hat im Westjordanland die Schule zwölf Jahre lang besucht und abgeschlossen und vier Jahre studiert, ohne Abschluss. Ab dem Alter von 14 Jahren hat er auch als Metzger gearbeitet. (NS EV 30.05.2022 S 8)
Der Beschwerdeführer reiste zuletzt im September 2021 laus dem Westjordanland nach Jordanien aus und über mehrere Länder im Jänner 2022 in Österreich ein. (NS EB 20.01.2022 S 4; NS EV 30.05.2022 S12)
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. (Strafregister der Republik Österreich)
1.2 Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers
Beim Beschwerdeführer wurde in Österreich eine Anpassungsstörung (F43.2) diagnostiziert (Ambulanzbericht 29.12.2023 (VS 26.03.2024 Beilage)). Er befindet sich aktuell in psychotherapeutischer Behandlung (VS 26.03.2024 S 4). Im Westjordanland war er auch bei einem Neurologen, da seine Füße von alleine gezittert haben und seine Nerven angespannt waren. Diesbezüglich geht es ihm aktuell gut, ab und zu hat er noch solche Anfälle; sein alltägliches Leben ist dadurch nicht beeinträchtigt. (NS EV 30.05.2022 S 5, VS 26.03.2024 S 4)
1.3 Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz
In der Einvernahme vor dem BFA am 30.05.2022 führte der Beschwerdeführer zur Begründung seines Antrages auf internationalen Schutz –zusammengefasst – aus, dass im Westjordanland ein Mädchen namens XXXX geliebt habe, jenes Mädchen jedoch einen Cousin namens XXXX gehabt habe, der das Mädchen habe heiraten wollen. Der Vater von XXXX sei bei der Behörde beschäftigt und habe viel machen können. Jene hätten guten Kontakt zur Fatah-Organisation. Der Beschwerdeführer sei von jenen bedroht worden, damit er nicht mehr mit dem Mädchen spreche und dieses vergesse. Es sei zwei Mal versucht worden, ihn mit dem Auto anzufahren, ihn zu töten. XXXX habe einen Bruder namens XXXX sowie einen Freund namens XXXX , der Drogendealer sei. Der Beschwerdeführer sei einmal von XXXX und XXXX geschlagen worden und er habe deshalb im Krankenhaus am Kopf genäht werden müssen. Der Beschwerdeführer habe diesen Vorfall, der 2017 gewesen sei, bei den Behörden, bei der Sicherheitsdienstabteilung angezeigt. Nach der Krankenhausentlassung habe er XXXX einmal im Zentrum getroffen. Es sei zu einer Auseinandersetzung gekommen, bei der er XXXX mit einer Rasierklinge an dessen Hals verletzt habe; wäre die Wunde fünf Millimeter tiefer gewesen, wäre XXXX gestorben. Der Beschwerdeführer sei dann wieder von den zwei anderen geschlagen worden, sei deshalb wieder zum Sicherheitsapparat gegangen und habe eine Anzeige gemacht. Auch dies sei 2017 gewesen. Der Beschwerdeführer sei wieder befragt worden und 20 Tage in Gewahrsam gewesen. Der Mann, der dort die Abteilung geleitet habe, sei mit XXXX verwandt gewesen. Jener habe gesagt, dass er XXXX befragt habe und dieser alles bestritten habe. XXXX habe auch eine Gegenanzeige gemacht, weil jener verletzt gewesen sei. Eine Woche danach sei der Beschwerdeführer erneut vom Sicherheitsdienst befragt worden. Ihm sei nahegelegt worden, das friedlich zu lösen. Es sei dann ein Versöhnungsabkommen geschlossen worden. Dies sei in Tulkarm gewesen, bevor der Beschwerdeführer nach Israel gefahren sei, um dort zu arbeiten. Er habe dann in Israel gearbeitet und habe alle fünf Monate seine Familie in Tulkarm besucht. Im Jahr 2019 habe er in Tulkarm mit einem Geschäftspartner ein Geschäft für Wasserpfeifen eröffnet. Sein Geschäftspartner habe in Tulkarm gearbeitet, während der Beschwerdeführer in Israel gewesen sei. Einmal habe es im Geschäft eine Kontrolle gegeben und sein Geschäftspartner sei festgenommen worden. Man habe jenem vorgeworfen, dass jener dort „schwarz“ gearbeitet sowie schlecht über die palästinensische Behörde geredet hätte. In derselben Zeit sei der Beschwerdeführer in Israel von der israelischen Militärpolizei festgenommen worden. Dem Beschwerdeführer sei vorgeworfen worden, dass er nicht nach Israel kommen dürfe und er eine hohe Geldstrafe zahlen müsse, oder er ein Jahr und acht Monate im Gefängnis bleiben müsse. Der Beschwerdeführer sei deshalb Ende 2019 oder Anfang 2020 nach Tulkarm zurückgegangen. Als er nach Tulkarm zurückgekehrt sei, sei er noch drei Mal festgenommen worden. Eine Woche sei er bei der Behörde gewesen, dann wieder eine Woche frei gewesen und dann wieder festgenommen worden. Er spreche vom Sicherheitsapparat. Als er vom Sicherheitsapparat freigelassen worden sei, sei er vom militärischen Nachrichtendienst abgeholt worden; jene hätten wissen wollen, weshalb er beim Sicherheitsapparat gewesen sei, welche Fragen gestellt worden seien und was er dort angegeben habe. Nach seiner Entlassung sei er wieder vom Sicherheitsapparat befragt worden, was der militärische Geheimdienst von ihm gewollt habe. Bei der zweiten Anzeige, beim Sicherheitsapparat, sei er wieder vom Nachrichtendienst abgeholt worden, direkt vom Leiter namens XXXX . Der Beschwerdeführer sei auch von einem Offizier des Sicherheitsapparates namens XXXX befragt worden, der auch Ermittlungsleiter gewesen sei. Der Vorgesetzte des Ermittlungsleiters namens XXXX habe dem Beschwerdeführer gesagt, dass er hier nichts verloren habe, der Beschwerdeführer wegen der Anzeige sterben oder ein Leben lang im Gefängnis sitzen könne. Der Beschwerdeführer sei in eine kleine Zelle gebracht worden, sei acht Stunden eingesperrt und geschlagen worden. XXXX habe ihm gesagt, dass der Beschwerdeführer entweder im Gefängnis landen oder auf der Stelle getötet werden würde, wenn der Beschwerdeführer wieder Probleme mit XXXX haben würde. Deshalb habe der Beschwerdeführer sein Heimatland verlassen. Das System dort sei nicht wie hier in Österreich. Die Clans würden dort regieren. Jene seien bei der Behörde angestellt gewesen, beziehungsweise hätten jene ihre Hände bei der Behörde im Spiel gehabt. Er habe nichts dagegen machen können. Er habe seine Heimat im September 2021 verlassen. Das Problem mit dem Mädchen sei inzwischen gelöst, es sei ein Versöhnungsabkommen abgeschlossen worden. Aber er habe ein Problem, weil er XXXX im Halsbereich mit der Rasierklinge schwer verletzt habe. XXXX habe ihn geschlagen und er haben XXXX verletzt. Es gebe Blutrache. Sie seien nicht vor Gericht gewesen. Er habe kein Problem wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, kein Problem wegen seiner Religion. Er habe zuletzt einmal im Jahr 2017 bei einer Demonstration teilgenommen, habe deshalb jedoch keine Probleme bekommen, sei nicht festgenommen worden. Auch seine Familie habe kein Problem, die Familie sei da nicht hineingezogen worden. Das sei ein persönliches Problem, das sich nicht negativ auf die Familie auswirke. Wenn er in sein Heimatland zurückkehre, habe er Probleme mit der Person XXXX und wegen der Sicherheitslage. Es könne sein, dass er von der Regierung verhaftet werde. Zur allgemeinen Sicherheitslage lege er auch Fotos von seinem Haus und seinem Geschäft vor; das Haus sei beschossen, sein Geschäft angezündet worden. (NS EV 30.05.2022 S 3, 10 ff)
In einer schriftlichen Stellungnahme vom 15.12.2022 brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, dass im September sein Vater, sein Onkel und sein zwanzigjähriger Bruder von der Polizei festgenommen und zum Aufenthalt des Beschwerdeführers befragt worden seien; nach drei Tagen seien jene freigelassen worden und seine Verwandten hätten der Polizei gesagt, dass der Beschwerdeführer in Weißrussland sei (Stellungnahme 15.12.2022 (AS 161))
Mit der Beschwerde vom 12.04.2023 wurde das Vorbringen des Beschwerdeführers im Wesentlichen wiederholt und dabei – zusammengefasst – ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer nach den Verletzungen des XXXX an dessen Hals plötzlich vorgeworfen worden sei, ein „Terrorist“, also ein Staatsfeind zu sein. Der Beschwerdeführer habe den Sohn eines Behördenleiters verletzt und wegen dessen Feindschaft drohe dem Beschwerdeführer eine Verfolgung wegen einer ihm nun unterstellten oppositionellen Gesinnung. (Beschwerde 12.04.2023 S 3, 18)
In der mündlichen Verhandlung am 26.03.2024 gab der Beschwerdeführer zu Beginn an, dass bei den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensiern seit dem 7. Oktober 2023 bis jetzt 12 Personen seiner großen Familie ums Leben gekommen seien und sein Bruder Ahmad wegen dieser Auseinandersetzungen Verletzungen erlitten habe, nachdem er vor dem Haus gestanden und von einem Splitter getroffen worden sei.
Zu seinen Ausreisegründen brachte der Beschwerdeführer – zusammengefasst – vor, dass es zunächst stimme, dass im Allgemeinen die Situation in Palästina und Tulkarm nicht sicher sei, wie das bei der Erstbefragung vermerkt worden sei. Er habe jedoch noch einen zusätzlichen Grund. Bei der Einvernahme vor dem BFA sei dann sein Problem mit XXXX als Hauptgrund aufgenommen worden, wobei dies jedoch nur der Anfang gewesen sei, weil er danach Problem mit der Regierung bekommen habe und die Regierung auf ihn gezielt habe. Sein Hauptproblem habe er mit der Regierung. Er habe persönliche Probleme mit der Regierung gehabt und sei von dieser einvernommen und gefoltert worden. Mit XXXX habe er momentan kein Problem, er würde aber wieder eines mit ihm haben, wenn er in die Westbank zurückkehren müsse. Sein Geschäft sei Ende 2019 oder Anfang 2020 von XXXX und seinen Leuten angezündet worden. Sein Problem mit der Regierung habe mit seinem Problem mit XXXX angefangen, weil dessen Familie gute Beziehungen zur Regierung habe. XXXX sei ein hochrangiger Offizier bei der Regierung. Dem Beschwerdeführer sei vorgeworfen worden, dass er ein Mitglied der oppostionellen Partei sei, er an Demonstrationen zum Sturz der Regierung teilgenommen habe und sich den Gruppierungen angeschlossen habe, die gegen die Regierung seien. Bei jedem Problem in Palästina sei er verhaftet und einvernommen worden. Bei der Regierung laufe das so, dass man einvernommen werde, wenn irgendein Problem draußen vorkomme, auch wenn man sogar im Gefängnis sei. Wenn der Name einer Person auf ihren Listen lande, dann sei dies das Ende für diese Person. Mit XXXX habe er auch nach dem Versöhnungsabkommen Probleme gehabt, wenn sie sich zufällig getroffen hätten. Sie seien fast Nachbarn in der gleichen Stadt. Nachdem dem Beschwerdeführer von den Verwandten des Islam vorgeworfen worden sei, dass er gegen die Regierung sei, sei das im Akt geblieben. Das komme nicht mehr weg und bleibe in seinem Akt, dass er gegen die Regierung sei. Dass sei der schlimmste Vorwurf, weil man diesen Vorwurf nicht mehr loswerde.
Der Beschwerdeführer gab des Weiteren – zusammengefasst – an, dass sein Bruder Ahmad bei einer Art Razzia verletzt worden sei. Er habe auch ein Video, in dem man sehe, wie die Juden in sein Familienhaus reinkommen würde und wie sich die Israelis gewalttätig verhalten würden. Seit 7. Oktober bis jetzt seien ca 79.000 Personen festgenommen worden. Ansonsten seien auch so viele Häuser zerstört worden. Das habe auch negative Auswirkungen auf seine Familie gehabt. Seit ihrer Kindheit seien sie von den Israelis gefoltert worden, der Beschwerdeführer sei in seiner Schulzeit nach einer Tränengasbombe in der zweiten Klasse drei Jahre lang in psychischer Behandlung gewesen. Sie seien mit den Folterungen und dem Umbringen von anderen Menschen auf der Straße aufgewachsen und hätten das gesehen. In Palästina gebe es seit Ewigkeiten Probleme zwischen den Israelis und den Palästinensern. Sein Land sei das Schlimmste in der Welt, was die Sicherheit angeht. Man traue sich nicht, das Haus zu verlassen. Er könne seine Eltern anrufen und sie würden über die Kamera zeigen, wie die Armee unten stehe. Er sei sowohl von Israel als auch von der Regierung inhaftiert worden. (VS 26.03.2024 S 8 ff)
1.4 Zur Glaubhaftigkeit der vorgebrachten Antragsgründe und Rückkehrbefürchtung
Glaubhaft ist, dass der Beschwerdeführer aus persönlichen Rachemotiven des XXXX von dessen Verwandten, die bei den Sicherheitsbehörden arbeiten, mit Vorladungen, temporären Festnahmen und Inhaftierungen, Misshandlungen und anschließenden Wiederfreilassungen schikaniert wurde, weil der Beschwerdeführer den XXXX im Zuge einer Auseinandersetzung mit einer Rasierklinge verletzt hatte und XXXX mit dem Beschwerdeführer verfeindet ist.
Nicht glaubhaft ist, dass der Beschwerdeführer aus politischen Motiven, einer bestehenden politischen Gesinnung oder einer ihm unterstellen politischen Gesinnung verfolgt wurde.
Der Beschwerdeführer hat daher mit seinem Vorbringen nicht glaubhaft gemacht, dass er im Fall seiner Rückkehr in das Westjordanland zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich – mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit – individuell konkret einer unmittelbaren Bedrohung aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen oder aufgrund der Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt sein wird, oder ihm aus einem dieser Motive staatlicher Schutz verweigert werden würde.
1.5 Zur Ländersituation im Westjordanland
OCHA: Humanitarian Situation Update #242 West Bank vom 28.11.2024
https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-242-west-bank
Wichtigste Höhepunkte
• Zwischen dem 19. und 25. November töteten israelische Streitkräfte neun Palästinenser, darunter ein Kind. Sieben von ihnen wurden während einer 48-stündigen israelischen Operation in Jenin getötet.
• Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen stellte fest, dass schwere Menschenrechtsverletzungen in den letzten Monaten zugenommen haben, auch bei den jüngsten Operationen Israels in Jenin.
• Die israelischen Siedlerangriffe auf Palästinenser, die zu Opfern oder Sachschäden führten, haben sich während der Olivenerntesaison 2024 im Vergleich zu jedem der vorangegangenen drei Jahre mindestens verdreifacht.
Humanitäre Entwicklung (19.-25. November)
Im Berichtszeitraum töteten israelische Streitkräfte neun Palästinenser, darunter ein Kind, und verletzten 37 weitere, darunter 12 Kinder, im gesamten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem. Weitere Informationen zu Opfern und weiteren Aufschlüsselungen der Daten finden Sie in der monatlichen Momentaufnahme. Alle Vorfälle, die zu palästinensischen Todesfällen und anderen wichtigen Vorfällen führten, sind wie folgt:
o Am 19. November erschossen israelische Streitkräfte drei Palästinenser und verletzten zwei weitere im Dorf Ash Shuhada südwestlich von Jenin. Nach Angaben des Dorfrates überfielen israelische Streitkräfte die Stadt und umzingelten ein landwirtschaftliches Haus, in dem Feueraustausche zwischen ihnen und bewaffneten Palästinensern gemeldet wurden, und israelische Streitkräfte feuerten schulterfreie Raketen auf das Haus ab. Während dieser Operation kam es zu einer Konfrontation, bei der palästinensische Dorfbewohner Steine auf israelische Streitkräfte warfen, die mit scharfer Munition reagierten. Die Palestine Red Crescent Society (PRCS) berichtete, dass einer der beiden verletzten Palästinenser ein 16-jähriges Kind war. Videoaufnahmen zeigten die Bulldozer der israelischen Streitkräfte mit mindestens zwei Opfern aus dem Dorf, da alle drei Leichen zurückgehalten werden.
o Am 19. November erschossen und verletzten israelische Streitkräfte einen 15-jährigen palästinensischen Jungen mit Behinderungen am Checkpoint des Flüchtlingslagers Shu’fat. Lokalen Quellen zufolge wurde der Junge häufig in der Nähe des Kontrollpunkts gesehen und spielte eine Rolle bei der Erleichterung der Verkehrsbewegung in der Gegend. Laut israelischen Medien hatte der Junge eine Tasche in der Nähe des Checkpoints abgestellt und wurde erschossen, als er sich weigerte, anzuhalten, als er von Soldaten angewiesen wurde, dies zu tun, während er in der Fahrzeugspur des Checkpoints auf sie zuging, was für Fußgänger verboten ist. Augenzeugen berichteten, dass der Junge am Boden blutete, bevor er von einem Krankenwagen transportiert wurde.
o Am 20. November schlug und tötete ein israelischer Luftangriff zwei Palästinenser und verursachte Schäden an einem Gebäude im Bau und mindestens vier Fahrzeugen in der Stadt Kafr Dan nordwestlich von Jenin. Die israelischen Streitkräfte führten anschließend eine dreistündige Operation in der Stadt durch, bei der sie das Feuer mit bewaffneten Palästinensern austauschten. Ein dritter Palästinenser wurde bei diesem Austausch erschossen. Israelische Streitkräfte nahmen die Leichen der beiden Palästinenser, die bei dem Luftangriff getötet wurden.
o Am 21. November erschossen israelische Streitkräfte einen Palästinenser im Flüchtlingslager Ein Beit el Mai westlich von Nablus. Laut UNRWA überfielen verdeckte israelische Streitkräfte das Lager mit einem zivilen Bus und verhafteten einen Palästinenser aus seinem Haus. Israelische Streitkräfte in Militärjeeps folgten, was zu einem Feueraustausch zwischen Palästinensern und israelischen Streitkräften führte, bei dem der Mann erschossen und getötet wurde.
o Am 24. November erschossen israelische Streitkräfte zwei Palästinenser, darunter ein 16-jähriges Kind, die Steine auf israelische Streitkräfte warfen, die in die Stadt Ya'bad im Gouvernement Jenin eindrangen.
Nach einer Operation israelischer Streitkräfte in Jenin vom 18. bis 20. November, bei der acht Palästinenser getötet wurden, erklärte das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (OHCHR), dass im Rahmen der militarisierten Operationen Israels in Jenin schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden, die in den letzten Monaten immer häufiger dokumentiert wurden. Nach Angaben des OHCHR haben sie alarmierende Berichte über schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht erhalten, darunter außergerichtliche Tötungen, den Einsatz von Palästinensern zum Schutz der israelischen Sicherheitskräfte, Schäden an Infrastrukturen wie Wassertanks, Abwassersystemen, Strom und Straßen, die Entweihung von Leichen und das Zurückhalten der Leichen getöteter Palästinenser. Es muss auch einen sofortigen Stopp aller ähnlichen militarisierten Operationen im besetzten Westjordanland geben, die militärische Mittel und Taktiken während der Strafverfolgungsoperationen angewendet haben. Diese Operationen haben gegen die strengen Beschränkungen der Anwendung von Gewalt durch die internationalen Menschenrechtsnormen verstoßen, was zur rechtswidrigen Tötung und Verletzung so vieler Palästinenser geführt hat.“
Im Berichtszeitraum dokumentierte OCHA 15 Siedlerangriffe gegen Palästinenser, die zu Opfern, Sachschäden oder beidem führten. Insgesamt wurden sieben Palästinenser von israelischen Siedlern und einer von israelischen Streitkräften verletzt, alle bei Angriffen, die von israelischen Siedlern verübt wurden. Ungefähr sieben dieser Vorfälle ereigneten sich im Rahmen der Olivenerntesaison, die zur Verletzung von fünf Palästinensern und zum Vandalismus von mindestens 150 Olivenbäumen führte. Im Folgenden sind einige der wichtigsten Siedlerangriffe aufgeführt, die im Berichtszeitraum stattfanden und Einschüchterungen, Schikanen, Körperverletzungen, Sachschäden oder eine Kombination davon zur Folge hatten, einschließlich Fällen, in denen israelische Streitkräfte anwesend waren:
Am 19. November haben israelische Siedler vier Palästinenser, darunter eine Frau, in der Gemeinde Um Nier in der Nähe von Susiya südlich von Hebron körperlich angegriffen und verletzt, während sie ihre Oliven ernten. Der Vorfall ereignete sich in zwei Angriffsrunden. Beim ersten Angriff attackierten und verletzten Siedler zwei Bauern und zwangen sie, ihr Land zu verlassen, auf das sie nach vorheriger Abstimmung mit den israelischen Behörden zugegriffen hatten. Israelische Truppen kamen anschließend an und verteilten die Siedler, was es den Familien ermöglichte, weiter zu ernten. Die Siedler kehrten jedoch zurück, griffen einen anderen Bauern an, einen 65-jährigen Mann, und zerstörten ein geparktes Fahrzeug, indem sie seine Fenster zerschlugen und seine Reifen zerschlugen. Die Siedler brachen auch in ein palästinensisches Haus ein, zerstörten eine Solarmoduleinheit und warfen Steine auf das Haus, was zu Schäden an der Decke führte. Israelische Truppen intervenierten daraufhin und zerstreuten die Siedler.
Am 23. November stoppte eine Gruppe bewaffneter Siedler in scheinbar militärischen Uniformen einen Palästinenser, der in der Nähe des Dorfes Al Karmel (Hebron) fuhr. Nach Angaben der Familie des Mannes schleppten die Siedler ihn aus seinem Fahrzeug und griffen ihn körperlich an. Sie stießen ihn zurück in sein Fahrzeug und fuhren es zur Susiya-Siedlung, wo sie den bewusstlosen Mann am Straßenrand zurückließen. Anwohner entdeckten den verletzten Mann und riefen einen Krankenwagen, der ihn zur Behandlung ins Krankenhaus brachte. Das Fahrzeug des Mannes wurde von den Siedlern nicht geborgen.
Am 22. November wurde eine Gruppe israelischer Siedler, die vermutlich von mehreren Außenposten in der Nähe der Itamar-Siedlung stammten, beobachtet, wie sie Oliven aus dem nahe gelegenen palästinensischen Ackerland in Yanun südöstlich von Nablus stiehlten. Nach Angaben des Dorfrates wurde der betroffene Bauer Zeuge einer Gruppe von fünf Siedlern, von denen einer bewaffnet war, palästinensische Olivenbäume erntete und Vieh erlaubte, die verbleibenden Ernten zu essen und einige Bäume zu beschädigen. Der Bauer berichtete, dass Siedler mindestens zweimal seine Oliven ernten. Es wird geschätzt, dass mindestens die Hälfte seiner 300 Bäume geerntet wurden. Insbesondere erfordert der Zugang zu diesem Land eine vorherige Koordinierung der Palästinenser durch die israelischen Behörden, die nicht gewährt wurde.
Seit Beginn der Olivenernte im Oktober sind die palästinensischen Bauern mit einem starken Anstieg der Gewalt im Zusammenhang mit Siedlern konfrontiert, was ihre Lebensgrundlagen und ihre persönliche Sicherheit ernsthaft gefährdet. Zwischen dem 1. Oktober und dem 25. November dokumentierte OCHA 250 Vorfälle im Zusammenhang mit Siedlern in 88 Gemeinden im Westjordanland, die in direktem Zusammenhang mit der Saison standen, von denen die meisten (195) zu Opfern, Sachschäden oder beidem führten. Dies bedeutet eine mindestens dreifache Zunahme der Vorfälle, die zu Opfern oder Sachschäden im Vergleich zu jedem der vorangegangenen drei Jahre führen. Diese Vorfälle führten dazu, dass 57 Palästinenser von Siedlern verletzt wurden, 11 von israelischen Streitkräften verletzt wurden, über 2.800 Bäume - meist Olivenbäume - verbrannt, abgesägt oder verwüstet wurden und erhebliche Ernten und Erntewerkzeuge gestohlen wurden. Fast 60 Prozent dieser Vorfälle ereigneten sich im nördlichen Westjordanland, wobei das Gouvernement Nablus allein fast die Hälfte ausmachte. Das zentrale Westjordanland, hauptsächlich das Gouvernement Ramallah, war Zeuge von etwa einem Viertel der Vorfälle, während etwa 15 Prozent in den Gouvernements Bethlehem und Hebron im Süden stattfanden. Diese geografische Verteilung orientiert sich an den Trends der Vorjahre; Die Zahl der Vorfälle hat jedoch erheblich zugenommen.
Die israelischen Behörden zerstörten, zwangen Menschen, 28 palästinensische Gebäude im gesamten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, abzureißen oder zu beschlagnahmen. Dies führte zur Vertreibung von 27 Menschen, darunter 15 Kinder, und beeinträchtigte ansonsten den Lebensunterhalt oder den Zugang zu Dienstleistungen von über 200 anderen. Alle Gebäude befanden sich in der Zone C oder Ostjerusalem und wurden wegen eines Mangels an von Israel ausgestellten Baugenehmigungen ins Visier genommen, die für Palästinenser fast unmöglich zu erhalten sind.
Zweiundzwanzig der Strukturen befanden sich in acht Area-C-Gemeinden. Zwei der Strukturen wurden als humanitäre Hilfe bereitgestellt, von denen eines in Hammamat al Maleh- Al Burj in Tubas abgerissen wurde, einer Beduinengemeinschaft, die sich in von Israel ausgewiesenen „Feuerzonen“ befindet. Fast 30 Prozent des Gebiets C sind als solche ausgewiesen, und die palästinensischen Gemeinschaften in diesen Gebieten gehören zu den am stärksten gefährdeten im Westjordanland, mit begrenztem Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und grundlegender Infrastruktur. In der Hirtengemeinde Hammamat al Maleh-Al Burj zerstörten die israelischen Behörden eine Wohnstruktur, die als humanitäre Hilfe als Reaktion auf frühere Abrisse zur Verfügung gestellt wurde. Infolgedessen wurden sieben Menschen, darunter drei Kinder, vertrieben.
Die restlichen vier Strukturen, die in Ostjerusalem abgerissen wurden, umfassten drei, die von israelischen Behörden abgerissen wurden, und eines, das von seinen Eigentümern in Jabal al-Mukkabir abgerissen wurde. Verdrängung von 12 Personen, darunter acht Kinder. Die betroffene Familie in Jabal al-Mukkabir hatte durch ihren Anwalt rechtliche Anstrengungen unternommen, um eine Baugenehmigung zu erhalten, aber alle Petitionen wurden wiederholt von israelischen Gerichten abgelehnt. Nach Angaben der betroffenen Familie drohten israelische Streitkräfte mit einer Geldstrafe, wenn sie den Abriss nicht schnell abschließen würden. Während die Familie dabei war, ihr Haus abzureißen, stürmten israelische Streitkräfte das Gelände, zerstörten die verbleibenden Teile des Hauses und zerstörten die meisten ihrer Möbel und persönlichen Gegenstände.
Finanzierung
• Bis zum 28. November haben die Mitgliedstaaten etwa 2,37 Mrd. USD von den 3,42 Mrd. USD (69 %) ausgezahlt, die für den Zeitraum Januar bis Dezember 2024 beantragt wurden, um den dringendsten Bedarf von 2,3 Millionen* Menschen im Gazastreifen und 800.000 Menschen im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, zu decken. Eine Finanzierungsanalyse finden Sie im Dashboard „Flash Appeal Financial Tracking“. (*2.3 Millionen entspricht der projizierten Bevölkerung des Gazastreifens bei der Ausstellung des Flash Appeal im April 2024. Ab Juli 2024 schätzen die Vereinten Nationen, dass etwa 2,1 Millionen Menschen im Gazastreifen verbleiben, und diese aktualisierte Zahl wird jetzt für programmatische Zwecke verwendet.)
• Ab Oktober 2024 hat der Humanitäre Fonds für besetzte palästinensische Gebiete (oPt HF) die Unterstützung der Olivenerntesaison durch eine Reihe von Projekten zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit priorisiert. Etwa 17 % der Gesamtmittelzuweisung des Fonds in Höhe von 60 Mio. USD wurden für kritische Interventionen im Westjordanland im Einklang mit dem Flash Appeal 2024 bereitgestellt. Durch die Zuweisung der Notfallreserve (48 Stunden) wurden 5 Millionen US-Dollar mobilisiert, darunter 750.000 US-Dollar, die zwei lokalen Partnern speziell für die Olivenernte zugewiesen wurden. Diese Projekte konzentrieren sich auf die Beschleunigung der Ernte durch die Bereitstellung wesentlicher Werkzeuge, die Rodung von Hainen zur Verringerung des Brandrisikos und die Modernisierung von Lagereinrichtungen zur Verbesserung der Lebensmittelqualität. Weitere 5 Millionen US-Dollar wurden über den Standard Allocation-Mechanismus bereitgestellt, mit dem Ziel, die Hilfsbemühungen rasch zu verstärken, um den unmittelbaren Bedürfnissen der betroffenen Bevölkerung gerecht zu werden. Von diesem Betrag wurden 1,5 Millionen US-Dollar speziell für Projekte zur Ernährungssicherheit bereitgestellt, um das Haushaltseinkommen zu verbessern und nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken, einschließlich der Unterstützung der Olivenernte, zu fördern, um die langfristige Ernährungssicherheit und Widerstandsfähigkeit für gefährdete Bevölkerungsgruppen zu stärken.
Ärzte ohne Grenzen: Gaza-Israel War, 08.11.2024,
https://www.msf.org/gaza-israel-war
Wie ist die aktuelle Situation im Westjordanland?
Die israelischen Streitkräfte haben das Westjordanland als geschlossenes Gebiet angekündigt. Die meisten Checkpoints im Westjordanland bleiben geschlossen, was die Bewegungseinschränkungen für Menschen verschärft und ihre Fähigkeit beeinträchtigt, Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich Nahrung, und medizinischer Versorgung zu erhalten.
In den Städten im Westjordanland erleben die Menschen eine Explosion der Gewalt gegen sie. Jenin wurde besonders hart getroffen, mit Bombenanschlägen und Überfällen durch israelische Streitkräfte im Flüchtlingslager, bei denen Dutzende Menschen getötet und verwundet wurden.
Mehr als 5.000 Arbeiter aus dem Gazastreifen haben im Westjordanland Zuflucht gesucht. Eine unbestimmte Anzahl von Palästinensern aus Gaza wurde zuvor von israelischen Streitkräften verhaftet, als die israelischen Behörden ihre Genehmigungen annullierten und viele von ihnen immer noch vermisst werden.
In Jenin berichten unsere Teams, dass sie Patienten behandelten, die Anzeichen dafür zeigten, dass sie gefesselt und geschlagen wurden, Berichten zufolge von israelischen Streitkräften.
Unsere medizinischen Teams im Jenin-Krankenhaus haben gesehen, wie israelische Streitkräfte auf das Krankenhaus selbst geschossen haben, während sie auch medizinisches Personal behandelt haben, das noch in einem Krankenwagen von Soldaten erschossen wurde. Die israelischen Streitkräfte verhindern auch, dass sich Krankenwagen bewegen können, und blockieren die Eingänge zum Flüchtlingslager.
In Hebron wurden Familien nach der Gewalt von israelischen Siedlern und Streitkräften vertrieben, einschließlich der Verbrennung ihrer Häuser. Patienten in der Altstadt von Hebron, bekannt als H2, sind aufgrund extremer Bewegungseinschränkungen mit einem schwierigen Zugang zu unserer mobilen Klinik konfrontiert, wenn sie dort ist.
OCHA: Kurzdarstellung: Bewegung und Zugang im Westjordanland, September 2024
https://www.unocha.org/publications/report/occupied-palestinian-territory/fact-sheet-movement-and-access-west-bank-august-2024
25.09.2024
Seit dem 7. Oktober 2023 haben die israelischen Behörden zusätzliche Beschränkungen für die Bewegungsfreiheit von 3,3 Millionen Palästinensern im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, in Form von physischen Hindernissen oder Zugangsbeschränkungen verhängt. Eine vom OCHA im März 2024 durchgeführte Schnellerhebung ergab, dass seit Oktober 2023 86 neue Bewegungshindernisse im Westjordanland errichtet wurden. Darüber hinaus wurden Änderungen in Bezug auf den Status von etwa 100 bereits bestehenden Hindernissen dokumentiert, die strengere Beschränkungen nach sich zogen, wie die Schließung von Straßentoren, die zuvor normalerweise geöffnet waren, oder durch die Begrenzung der Öffnungszeiten einiger Kontrollpunkte. In Verbindung mit der 712 Kilometer langen Barriere, die nach wie vor das größte Hindernis im Westjordanland ist, behindern Bewegungshindernisse die Kontrolle, Einschränkung und Störung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser entweder dauerhaft oder zeitweise, was die territoriale und soziale Fragmentierung weiter verschlimmert, die Existenzgrundlagen untergräbt, den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen behindert und zu einer Verschlechterung der humanitären Bedingungen beiträgt.
Derzeit gibt es 793 Bewegungshindernisse, die die palästinensische Bewegung im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem und dem H2-Gebiet von Hebron, dauerhaft oder zeitweise kontrollieren, einschränken und überwachen. OCHA hat diese Hindernisse dokumentiert, darunter 89 Checkpoints, die rund um die Uhr besetzt sind; 149 Teilkontrollpunkte, die nicht immer besetzt sind (46 davon haben Tore); 158 Erdhügel; 196 Straßentore (122 davon sind in der Regel geschlossen); 104 Straßensperren; und 97 lineare Sperrungen, von denen jede eine oder mehrere Straßen blockiert, wie Straßensperren, Erdmauern und Gräben. In der letzten Abschlusserhebung des OCHA vom Juni 2023 wurden 642 Hindernisse dokumentiert. 65 neue Hindernisse wurden anschließend vor Oktober 2023 dokumentiert, wodurch sich die Gesamtzahl der Hindernisse auf 707 erhöhte. Zwischen Oktober 2023 und März 2024 dokumentierte das OCHA 86 zusätzliche Hindernisse, von denen 37 im zentralen Westjordanland, 30 im nördlichen Westjordanland und 19 im südlichen Westjordanland liegen. Dies entspricht einem Anstieg von 23 Prozent über neun Monate (793 gegenüber 642). Fünfundsechzig Prozent der neuen Hindernisse seit Oktober 2023 sind Erdhügel und Teilkontrollpunkte. Von der Gesamtzahl der Hindernisse befinden sich 26 Prozent im Gouvernement Hebron, 18 Prozent im Gouvernement Ramallah und 16 Prozent im Gouvernement Nablus.
Mindestens 40 Prozent (316 von 793) der Bewegungshindernisse verhindern den direkten Zugang zwischen palästinensischen Städten und Dörfern und acht Hauptstraßen, die durch das Westjordanland führen, wo es durchschnittlich fast eine Sperrung pro Kilometer gibt. Diese Hindernisse leiten den palästinensischen Verkehr auf längere, sekundäre Straßennetze, stören die Bewegung von Hunderttausenden von Palästinensern und beeinträchtigen ihren Zugang zu Notdiensten. Eine dieser Hauptrouten ist die Straße 60, die Hauptverkehrsader Nord-Süd im Westjordanland, wo sich mindestens 129 Bewegungshindernisse entlang von 180 Kilometern innerhalb des 300-Meter-Puffers der Straße befinden. Eine weitere wichtige Route ist die Straße 505, die Ost-West-Route, die das Jordantal mit dem nördlichen Westjordanland verbindet, wo sich 61 Sperrungen entlang von 57 Kilometern befinden.
85 % der Trennungsbarriere verlaufen im Westjordanland, was den Zugang von/nach Ostjerusalem und den sogenannten „Seam Zone“-Gebieten zwischen der Barriere und der Waffenstillstandslinie von 1949 behindert. Dreizehn Kontrollpunkte entlang der Barriere trennen Ost-Jerusalem weiterhin vom Rest des Westjordanlandes, von denen nur drei von Palästinensern genutzt werden können, die über Ausweise im Westjordanland und von Israel ausgestellte Genehmigungen verfügen, die schwer zu erhalten sind. Die meisten dieser Genehmigungen wurden seit dem 7. Oktober widerrufen oder ausgesetzt, darunter mehr als 800 Genehmigungen, die für national rekrutierte humanitäre Helfer ausgestellt wurden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden zwischen Oktober 2023 und August 2024 44 Prozent der 46.163 Anträge auf medizinische Versorgung in Ostjerusalem und israelischen Gesundheitseinrichtungen entweder abgelehnt oder stehen noch aus. Der Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen wurde ebenfalls beeinträchtigt; 150 Gemeinden, die Land besitzen, das durch die Barriere isoliert ist und zu dem der Zugang zuvor von israelischen Streitkräften durch 69 landwirtschaftliche Tore geregelt wurde, wurden seit Oktober 2023 im Allgemeinen von der Nutzung ihres Landes ausgeschlossen, was zu erheblichen Einkommensverlusten führt, insbesondere durch Olivenhaine und andere saisonale Kulturen. Darüber hinaus sind etwa 1.500 Palästinenser mit Ausweisen aus dem Westjordanland, die in 18 Gemeinden auf der Ost-Jerusalem-Seite der Barriere leben, weiterhin mit Hindernissen beim Reisen zwischen ihren Häusern und Servicezentren konfrontiert. Es ist ihnen verboten, Ostjerusalem zu erreichen, und sie sind gezwungen, ihren Zugang mit den israelischen Streitkräften zu den Grenzübergängen zu koordinieren, um Zugang zu grundlegenden Gesundheits- und Bildungsdiensten sowie Märkten auf der Westbankseite der Barriere zu erhalten.
Ein Drittel des Landes am Rande von 56 israelischen Siedlungen befindet sich in Privatbesitz palästinensischer Gemeinschaften und erfordert eine „vorherige Koordinierung“ mit dem israelischen Militär, um den Eigentümern zweimal im Jahr den Zugang zu ihrem Land zu bestimmten Zeiten zu erleichtern. Dies wirkt sich negativ auf 105 palästinensische Gemeinden in sieben Gouvernements aus, darunter: 28 in Nablus, 20 in Qalqilya, 15 in Bethlehem, 12 in Hebron, 12 in Ramallah, 10 in Salfit und acht in Tulkarm. Ein Großteil dieses Landes wurde von den israelischen Behörden zu einer „geschlossenen Militärzone“ erklärt und darf von palästinensischen Landwirten nur durch eine besondere Genehmigung der israelischen Behörden betreten werden, die zuvor für eine begrenzte Anzahl von Tagen im Jahr gewährt wurde, auch während der Olivenernte und der Pflügesaison. Seit dem 7. Oktober 2023 haben die israelischen Behörden diesen Koordinierungsmechanismus eingestellt, wodurch diese Gebiete für die Palästinenser unzugänglich wurden.
Mehr als 1.400 Zugangsvorfälle wurden vom OCHA zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 31. Juli 2024 dokumentiert, was zu Zugangsverhinderungen oder Verzögerungen durch die israelische Armee führte, hauptsächlich aufgrund der vorübergehenden Schließung von Kontrollpunkten und Straßentoren (über 300 Vorfälle), der Einrichtung mobiler oder „fliegender“ Kontrollpunkte (380 Vorfälle) oder der Besetzung von Teilkontrollpunkten durch israelische Streitkräfte (760 Vorfälle). Checkpoints als zentraler Bestandteil des Schließungsregimes im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, sind auch Hotspots für Konfrontationen zwischen israelischen Streitkräften und Palästinensern und wo Palästinenser regelmäßig inhaftiert werden. Seit dem 7. Oktober wurden mindestens 580 Fälle von Inhaftierung dokumentiert, die sich im Zusammenhang mit Zugriffsvorfällen ereigneten. Darüber hinaus wurde der Zugang zu Rettungsdiensten wie Krankenwagen und Feuerwehren aufgrund zunehmender Einschränkungen behindert. Nach Angaben der WHO hat sich die Zahl der gesundheitsbezogenen Zugangsvorfälle, die zu Zugangsbehinderungen durch Krankenwagen, mobile Kliniken und Ersthelfer führen, im Zeitraum von Oktober 2023 bis Juli 2024 im Vergleich zu den vorangegangenen neun Monaten (387 gegenüber 138 Vorfällen) mehr als verdoppelt. Andere Arten von Angriffen umfassen unter anderem die Inhaftierung von Gesundheitspersonal und Patienten sowie militarisierte Durchsuchungen von Krankenwagen.
Nach internationalem Recht sind die israelischen Behörden verpflichtet, die Freizügigkeit der Palästinenser innerhalb des besetzten palästinensischen Gebiets zu erleichtern. Ausnahmen von dieser Verpflichtung werden nur aus zwingenden Sicherheitsgründen und nur als Reaktion auf bestimmte Sicherheitsbedrohungen anerkannt. Die im Westjordanland verlaufenden Abschnitte der Barriere sowie das damit verbundene Tor- und Genehmigungssystem sind völkerrechtlich rechtswidrig (siehe Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zu den rechtlichen Folgen des Mauerbaus in den besetzten palästinensischen Gebieten, 9. Juli 2004).
Die Schließungen, zusammen mit der starken Präsenz israelischer Streitkräfte und bewaffneter Siedler auf Straßen, haben zu erheblichen Bewegungseinschränkungen für Palästinenser geführt und ihre Fähigkeit behindert, Zugang zu Märkten, Arbeitsplätzen, Rettungsdiensten sowie Gesundheits- und Bildungseinrichtungen zu erhalten. In den meisten Fällen gelten diese Bewegungsbeschränkungen normalerweise nicht für israelische Siedler. Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen hat festgestellt, dass Bewegungsbeschränkungen sowohl willkürlich als auch diskriminierend gegenüber Palästinensern erscheinen, was Bedenken hinsichtlich einer kollektiven Bestrafung aufwirft (siehe den Flash-Bericht des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen über die Menschenrechtslage im Westjordanland einschließlich Ostjerusalem vom 7. Oktober bis 20. November 2023).
Das Gouvernement Nablus mit einer Bevölkerung von 439.000 Menschen (PCBS 2024-Bevölkerungsprojektionen) hat etwa 128 Bewegungshindernisse, darunter unter anderem 32 gelegentlich besetzte Kontrollpunkte und neun ständig besetzte Kontrollpunkte in der Nähe der Stadt Nablus, dem Hauptdienstzentrum für Gesundheitsversorgung, Bildung und Beschäftigung für etwa 1,3 Millionen Menschen, die in sechs Gouvernements im nördlichen Westjordanland leben. Zwei Kontrollpunkte (Huwwara-Awarta-Kreuzung und Samaritergemeinschaft) sind für Palästinenser geschlossen, werden aber von israelischen Siedlern und Streitkräften genutzt, während häufige Fahrzeugdurchsuchungen, Ausweiskontrollen und vorübergehende Schließungen an den anderen sieben Kontrollpunkten oft zu erheblichen Verzögerungen führen oder Menschen zwingen, lange Umwege zu nehmen. Unter den Betroffenen sind Tausende von Patienten, die einen zuverlässigen Zugang zu den beiden Hauptkrankenhäusern in Nablus, An Najah und Rafidia, suchen, und etwa 110.000 Schüler und 6.000 Lehrer, die ihre Bildungseinrichtungen erreichen müssen, so das Bildungsministerium. Die Wirtschaftstätigkeit war in ähnlicher Weise betroffen; Nach Angaben der Handelskammer Nablus haben der Tourismus- und Hotelsektor geschlossen und erst kürzlich den Betrieb mit einem kleinen Bruchteil ihrer Kapazität wieder aufgenommen, der Handelsverkehr ist um mindestens 60 Prozent geschrumpft und etwa 20 Prozent der in die Stadt und aus der Stadt transportierten Waren werden durch lange Wartezeiten an Checkpoints beschädigt.
Fast ein Drittel der Kontrollpunkte (28 von 89) und etwa 10 Prozent der physischen Hindernisse (80 von 793) im Westjordanland befinden sich im H2-Gebiet der Stadt Hebron, das etwa 20 Prozent der Stadt Hebron umfasst und in dem Israel die direkte Kontrolle ausübt. Der Teil von H2, der strengen Bewegungsvorschriften unterliegt, beherbergt derzeit etwa 7.000 Palästinenser und mehrere hundert israelische Siedler. Zwischen dem 7. und 22. Oktober 2023 wurde das Gebiet vollständig geschlossen, was nur für die palästinensischen Einwohner gilt, woraufhin ein neues Ein- und Ausreisesystem eingeführt wurde, das nicht registrierten palästinensischen Einwohnern weiterhin den Zugang zum Gebiet verwehrte, außer freitags während des Monats Ramdan, und wo die Bewegung palästinensischer Einwohner im Allgemeinen nur zwischen 7:00 und 19:00 Uhr erlaubt war. Drei palästinensische Schulen in der Region, die mindestens 350 Schülern dienten, blieben fast sieben Monate lang geschlossen, bis die israelischen Behörden am 1. Mai 2024 palästinensischen Lehrern und Schülern den Zugang zum Gebiet ermöglichten. Die einzige primäre Gesundheitsklinik wurde ähnlich für etwa sieben Monate geschlossen, bevor sie Teiloperationen wieder aufnahm. Dies hat die Fähigkeit der Bewohner erheblich beeinträchtigt, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, insbesondere Menschen mit chronischen Krankheiten und etwa 50 Menschen mit Behinderungen, die von der Klinik für kostenlose Dienstleistungen und Medikamente abhängig sind. Strenge Zugangsregelungen haben auch den Zugang zur Notfallversorgung gefährdet, da sich Rettungsdienste und Krankenwagen mit den israelischen Streitkräften abstimmen müssen, um Zugang zum Gebiet zu erhalten.
In Tulkarm Gouvernement, Deir al Ghusoun, Attil und Zeita Städte (pop. 26 000, PCBS 2024 Bevölkerungsprognosen) – bekannt als „Deir al Ghusun Cluster“ – gehören zu den Städten und Dörfern, denen in den letzten zehn Monaten der Zugang zu ihren landwirtschaftlichen Flächen hinter der Barriere verwehrt wurde. Vor Oktober 2023 hatten die Familien nach Abstimmung mit den israelischen Behörden täglich über landwirtschaftliche Tore Zugang zu ihrem Land in der sogenannten „Nahtzone“ zwischen der Barriere und der Grünen Linie. Die 100 Dunums (25 Hektar) Land im Besitz der drei Städte bestehen hauptsächlich aus Gewächshäusern und sind mit einer Vielzahl von Kulturen bepflanzt, darunter Gurken, Tomaten, Bohnen, Zucchinis, Auberginen, Paprika und Chilischoten. Der Verlust des Zugangs zu diesen Flächen hat zu erheblichen Einkommensverlusten für die Familien geführt, die Versorgung mit frischen Lebensmitteln auf den lokalen Märkten stark gestört und die Bodenproduktivität untergraben. Nach Angaben des palästinensischen Landwirtschaftsministeriums werden die jährlichen Verluste der drei Dörfer im Cluster Deir al Ghussun aufgrund des fehlenden landwirtschaftlichen Zugangs auf rund 1,4 Millionen US-Dollar geschätzt.
ORF: Westjordanland: UNO geht mit Israel hart ins Gericht, 09.09.2024
https://www.orf.at//stories/3369032/
UNO geht mit Israel hart ins Gericht
Israels Militäreinsätze und von radikalen Siedlern ausgehende Gewalt gegenüber Palästinensern haben nach Einschätzung der Vereinten Nationen die Situation im Westjordanland weiter verschlimmert. UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk sprach am Montag von einer „katastrophalen“ Lage. Auch in Gaza gehen die Einsätze weiter – mehrere Orte werden evakuiert.
Türk sagte, neben „schwerwiegender“ Gewalt durch israelische Siedler habe es zuletzt „tödliche und zerstörerische“ israelische Militäreinsätze gegeben, von denen einige ein in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht mehr erlebtes Ausmaß gehabt hätten.
Im Norden des Westjordanlands hatte Israel zuletzt am 28. August einen großangelegten Militäreinsatz begonnen, um gegen militante Palästinenser vorzugehen.
„Eklatante Missachtung“ des Völkerrechts
Türk drängte auch eindringlich auf ein Ende des seit fast einem Jahr währenden Krieges im Gazastreifen. Er forderte die Länder am Montag zudem auf, gegen die „eklatante Missachtung“ des Völkerrechts durch Israel in den besetzten palästinensischen Gebiete vorzugehen. „Staaten dürfen – und können – weder in dieser noch in einer anderen Situation eine offensichtliche Missachtung des Völkerrechts, einschließlich verbindlicher Entscheidungen des (UNO-)Sicherheitsrats und Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs, akzeptieren.“
Der österreichische UNO-Diplomat zitierte eine Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofes (IGH) vom Juli. Darin hatte das höchste UNO-Gericht die israelische Besetzung als illegal bezeichnet, und es hieß, diese Situation müsse „umfassend angegangen“ werden.
Israel hält UNO-Konvoi auf
Israel lehnte eine Stellungnahme ab. Das Verhältnis zwischen den Vereinten Nationen und Israel ist angespannt. Die UNO kritisierte Israel wiederholt für sein Vorgehen, umgekehrt bezichtigte Israel die Organisation, dass ihre Mitarbeiter möglicherweise an den bewaffneten Angriffen vom 7. Oktober 2023 beteiligt waren. Das Palästinenserhilfswerks (UNRWA) kündigte daraufhin auch neun Mitarbeiter, nachdem eine Untersuchung Hinweise auf Verbindungen zu Terroristen ergeben hat.
Am Montag gab es erneut einen Vorfall, der die Beziehungen wohl nicht verbessern wird. Die israelische Armee hielt nach eigenen Angaben einen UNO-Fahrzeugkonvoi im Norden des Gazastreifens auf, Hintergrund seien „Geheimdienstinformationen, denen zufolge sich eine Anzahl palästinensischer Verdächtiger darin aufhielt“, teilte das Militär mit. Bereits im vergangenen Monat war nach UNO-Angaben ein humanitäres UNO-Fahrzeug in einem Konvoi von israelischen Soldaten beschossen worden. Die Armee kündigte eine Untersuchung der Vorwürfe an.
Evakuierungen in Gaza
Die Kampfhandlungen im Westjordanland gehen unterdessen ebenso weiter wie im Gazastreifen. Israels Armee ordnete am Montag die Evakuierung mehrerer Bereiche nahe der Stadt Gaza an. Im Onlinedienst X veröffentlichte der israelische Armeesprecher Avichai Adrai einen Beitrag mit einer Landkarte, auf der mehrere zu evakuierende Gegenden im Nordwesten des Gazastreifens verzeichnet waren und zu „gefährlichen Kampfgebieten“ erklärt wurden. Aus diesem Bereich würden palästinensische Kämpfer „wieder einmal Raketen auf den Staat Israel“ abfeuern, gab Adrai an.
Israel hat zahlreiche Evakuierungsanordnungen ausgegeben, seit der Krieg am 7. Oktober von einem Großangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel ausgelöst wurde. Diese Anordnungen haben nach UNO-Angaben den Großteil des Gebiets des Gazastreifens abgedeckt. Auch sind Bereiche darunter, von denen die israelische Armee zuvor angegeben hatte, dass sie weitgehend von bewaffneten Palästinensergruppen geräumt worden waren.
Die große Mehrheit der 2,4 Millionen Menschen im Gazastreifen musste in den bisher elf Kriegsmonaten mindestens einmal ihren Wohnort verlassen. Frühere Evakuierungsanordnungen haben Menschen dazu gebracht, ganze Stadtteile oder Städte zu verlassen – mit allem, was sie bei sich tragen konnten.
Tempelberg-Besuch nur mehr mit Genehmigung
Kritikerinnen und Kritiker der Regierung von Israels Premier Benjamin Netanjahu meinen, er setze den Krieg weiter fort, um an der Macht zu bleiben. Damit setze er auch das Leben jener Geiseln aufs Spiel, die sich seit dem 7. Oktober immer noch in der Hand der Hamas befinden. Die Regierung Netanjahu stützt sich auf die rechts-religiöse Likud-Partei des Regierungschefs und auf Koalitionspartner aus dem ultrareligiösen und rechtsextremen Parteienspektrum. Diese provozierten in der Vergangenheit wiederholt etwa mit Besuchen und augenscheinlichen Gebeten auf dem Tempelberg in Jerusalem.
Am Montag gab das Büro des Regierungschefs allerdings an, dass damit Schluss sein soll: Minister dürfen den Tempelberg künftig nur noch mit Erlaubnis Netanjahus besuchen, wie Kathpress berichtete. Die Stätte ist Juden, Muslime und Christen wichtig. Nach dem geltenden Status quo ist Nichtmuslimen der Besuch gestattet, das öffentliche Gebet aber ist Muslimen vorbehalten.
Kurzinformation der Staatendokumentation – Palästinensische Gebiete – Westjordanland Versorgungslage vom 09.02.2024
Die Aufmerksamkeit ist seit 7.10.2023 vor allem auf den Gazastreifen gerichtet, während sich auch die Sicherheitsage im Westjordanland verschlechtert hat und zunehmend volatiler wird (OCHA 16.10.2023) [Anm.: siehe PALG_KI_Sicherheitslage Westjordanland 2024_01_24_K]. Die steigende Gewalt ging mit Verhaftungen und Bewegungseinschränkungen für PalästinenserInnen im Westjordanland einher (WFP 17.11.2023). Mit Stand 24.11.2023 gemeldete Bewegungseinschränkungen innerhalb palästinensischer Städte betrafen Al-Bireh, Ostjerusalem, Hebron, Nablus und Ramallah (ACAPS 24.11.2023).
Die Auswirkung des Konflikts in Gaza auf die palästinensische Wirtschaft ist schwerwiegend, darunter auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern in der Westbank. 24 Prozent der Arbeitsplätze gingen bereits in den ersten Wochen verloren – das sind 208.000 Jobs. Hunderttausende PalästinenserInnen können aufgrund des Verlusts ihrer Arbeitsgenehmigungen für Israel nicht mehr das Westjordanland verlassen. Der Verlust von Arbeitseinkommen belief sich bereits mit Stand 17.11.2023 auf rund 490 Mio. US-Dollar. Die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb des Westjordanlands sind eingeschränkt (WFP 17.11.2023).
Die Produktionskapazitäten und die Lieferketten verlangsamen sich bei Andauern der Behinderungen (Food Security Cluster 25.11.2023). Mit Stand 17.11.2023 waren noch essentielle Nahrungsmittel für ungefähr sechs Monate und Weizenmehl für etwa drei Monate vorhanden. Auch blieben die Lebensmittelpreise von Mitte Oktober bis Mitte November stabil, außer für die Groß- und Einzelhändler, deren Kosten durch die Restriktionen bei den kommerziellen Übergängen gestiegen sind (WFP 17.11.2023).
Bereits im Jänner 2023 schätzte die UNO 800.000 Menschen von den 3,25 Mio. PalästinenserInnen im Westjordanland als hilfsbedürftig ein. Demnach war ein Viertel der Haushalte in der Westbank von „katastrophalen“ (1%), „schwerwiegenden“ (3%) oder „extremen“ (21%) Bedingungen betroffen. 100.000 Menschen mit generellem Bedarf an humanitärer Hilfe kamen seither zu den bereits 800.000 Hilfsbedürftigen hinzu (ACAPS 24.11.2023). Einer Meldung vom November 2023 zufolge lebten damals 24 Prozent aller von Lebensmittelunsicherheit betroffenen PalästinenserInnen in der Westbank (Borgen Project 13.11.2023). Laut OCHA sieht der Spendenaufruf vom November 2023 (zusätzlich zum Jahreshilfsplan und inklusive UNRWA-Finanzierungsbedarf - The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees) im Zeitraum Oktober-Dezember 2023 Hilfe für 500.000 der 900.000 hilfsbedürftigen PalästinenserInnen der Westbank vor. Der Spendenaufruf beinhaltet Pläne für folgende Bedarfsbereiche, wobei der Sektor „Bereich und Ernährung“ 500.000 Menschen erreichen soll, gefolgt von 320.000 Menschen in Bezug auf die Wasser- und Sanitärversorgung. Hilfe im Bereich Lebensmittelversorgungssicherheit ist für 140.000 Personen veranschlagt (OCHA 16.10.2023):
Beispiele für in Bezug auf die Versorgungslage besonders betroffene Bevölkerungsgruppen:
Personen in Orten, deren Zugänge gesperrt sind: Ihnen ist der Weg zu Märkten zum Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten sowie von Futter für ihre Tiere verwehrt. Z.B. berichtete der Leiter des Dorfrats von Bireen, dass aufgrund der Sperrung aller Zugänge zu dem Ort viele Familien tagelang von Brot und Tee leben mussten. Derartige Sperren verhindern auch den Schulbesuch von Kindern und den Einsatz von humanitären HelferInnen. Alternativen bei der Leistung humanitärer Hilfe sind komplex (Action Against Hunger 20.10.2023) [Anm.: bzgl. Ausgangssperren in Kombination mit Zugangssperren siehe das Beispiel von Stadtteilen in Hebron in PALG_KI_Sicherheitslage Westjordanland 2024_01_24_K].
871.000 palästinensische Flüchtlinge leben in der West Bank (ACAPS 24.11.2023), von welchen 25 Prozent – 275,506 Menschen (UNRWA 2022) – in den 19 Lagern leben, die dicht bevölkert sind, und die nur über eine unzureichende Infrastruktur verfügen. Die sozioökonomischen Zustände sind schlecht und der Bedarf an humanitärer Hilfe hoch (ACAPS 24.11.2023) [Anm.: Einige – teils große – Lager wie z.B. Jenin sind auch besonders von Razzien der israelischen Armee gegen dort aktive bewaffnete Gruppen betroffen, was Auswirkungen nicht nur auf die dortige Sicherheitslage sondern auch auf Bewegungsfreiheit und Zugang zu Leistungen während der teilweise tagelangen Aktionen hat oder auch zu Schäden an der Infrastruktur führt – siehe PALG_KI_Sicherheitslage Westjordanland 2024_01_24_K].
Gemeinden und Personen, die von Gewalt durch SiedlerInnen betroffen sind: Die Gewalt durch SiedlerInnen trägt zu Vertreibungen von PalästinenserInnen, Verlust von Einkommensquellen und Zerstörung von Eigentum sowie beschränktem Zugang zu öffentlichen Leistungen wie Schulen oder Gesundheitsversorgung bei (ACAPS 24.11.2023) [Anm.: Für nähere Angaben zum Ausmaß der Gewalt siehe PALG_KI_Sicherheitslage Westjordanland 2024_01_24_K]. Die SiedlerInnen werden dabei oft von israelischen Sicherheitskräften begleitet und während der Angriffe beschützt (ACAPS 24.11.2023). Örtlichen Aussagen zufolge zerstören SiedlerInnen auch Wassertanks und schneiden PalästinenserInnen von ihrer Wasserversorgung ab, um sie dazu zu bringen, ihre Heime aufzugeben (Action Against Hunger 20.10.2023). So ging OCHA davon aus, dass die letzte Olivenernte großteils aufgrund der Angst der PalästinenserInnen, die Olivenhaine zu betreten, entfallen ist (OCHA 16.10.2023) [Anm.: Olivenhaine sind seit Langem ein beliebtes Ziel von Zerstörungen durch israelische Siedler – zu den Siedlern siehe PALG_KI_Sicherheitslage Westjordanland 2024_01_24_K ].
Personen mit Land im Gebiet C oder in der „Seam Zone“: Seit 7.10.2023 ist es für PalästinenserInnen noch schwerer geworden, eine Genehmigung für den Zugang zu Land im Gebiet C (60 Prozent der Westbank) zu bekommen (ACAPS 24.11.2023).
Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Verringerung der Präsenz von humanitären HelferInnen zur Leistung von Hilfe durch die Sperrung von Zugängen schaffen ein mit Zwang verbundenes Umfeld. Teile des Westjordanlands waren mit Stand 16.10.2023 dadurch praktisch abgeschnitten, was die Leistung von Hilfe, den Zugang zu Grundleistungen und die Auffüllung von Vorräten betrifft. Die Aufstockung von Vorräten betrifft die routinemäßigen Bewegungseinschränkungen während israelischer Militäroperationen und Ähnlichem (OCHA 16.10.2023).
Ein Bericht von France 24 vom 9.2.2024 thematisiert den Zuwachs von Checkpoints und Barrieren für die Bewegungsfreiheit in der Westbank sowie die Sperrung der Hauptzugänge zu den meisten Dörfern rund um Hebron, was zu großen Umwegen auf unbefestigten Straßen und großem Zeitaufwand führt. Die palästinensischen Universitäten haben deswegen auf Fernunterricht umgestellt (France 24 9.2.2024) [Anm.: Ausgangssperren so wie in den früheren genannten Berichten zum Oktober 2023 werden nicht erwähnt]. Die Siedler können weiterhin ungehindert ihre eigenen Straßen benutzen (France 24 9.2.2024).
Eigentlich gäbe es eine bedeutende Präsenz örtlicher Hilfsorganisationen in den Palästinensischen Gebieten, welche die Hälfte aller Einrichtungen ausmachen, die aktuell humanitäre Hilfe leisten. Zusätzlich sind in den Palästinensischen Gebieten mehr als 20 internationale NGOs und 17 UN-Organisationen tätig (OCHA 16.10.2023).
Der Hilfsaufruf von OCHA vom 2.2.2024 sieht neben Hilfe für Gaza die Unterstützung von 500.000 Menschen im Westjordanland einschließlich Ostjerusalem (und des Finanzierungsbedarfs von UNRWA) vor. Er beschreibt diese als Notfallhilfe, um zumindest Todesfälle zu vermeiden – auch angesichts der „eskalierenden Situation in der Westbank“ (OCHA 2.2.2024). Auch die staatliche amerikanische Entwicklungshilfeorganisation USAID (United States Agency for International Development) ging Mitte Jänner 2024 von einem „bedeutenden humanitären Bedarf in der Westbank und Gaza“ aus, und verweist auf die erhöhten Spannungen im Westjordanland seit dem Hamas-Angriff vom 7.10.2023 (USAID 16.1.2024).
UNRWA erwähnt in einer undatierten Graphik, die Ausgabe von Notfall-Lebensmitteln an 23.903 UNRWA-Flüchtlinge im Westjordanland (UNRWA o.D.a) [Anm.: Im Text scheint als zeitlicher Referenzpunkt „Anfang 2020“ auf – zu der Problematik der Datierung siehe Kommentar unten. Es geht auch nicht hervor, auf welchen Zeitraum sich die Zahl bezieht, und ob die Bedürftigen nur einmal oder mehrere Male Lebensmittel erhielten]. UNRWA hat die Anspruchskriterien für das soziale Sicherheitsnetz überarbeitet und einen neuen „familien- und feldorientierten“ Ansatz zur Bestimmung der Armut eingeführt. Im Jahr 2021 erhielten im Westjordanland 257,228 von Nahrungsunsicherheit betroffene UNRWA-Flüchtlinge – 11,129 Familien – Lebensmittelnothilfe. Selektiv gab es auch Geldhilfen. Im Fall von Notsituationen durch politische Gewalt oder Unruhen hilft UNRWA mit anderen Hilfsmitteln, einschließlich der Reparatur von Unterkünften (UNRWA o.D.b).
Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC – International Committee of the Red Cross) erhöhte im Zeitraum 7.10.2023-31.1.2024 seine Hilfe im Westjordanland aufgrund der humanitären Folgen der gestiegenen Gewalt: 185 vulnerable Personen aus 37 Haushalten erhielten eine Geldhilfe für ihre Viehzucht. 14 StudentInnen erhielten ein handwerkliches Training an der Polytechnischen Universität in Hebron, und 22 Haushalte erhielten eine Geldhilfe zur Erholung von den Folgen spezifischer Gewaltvorfälle. 111 Familien, deren Häuser (einschließlich in Ostjerusalem) abgerissen wurden, erhielten eine finanzielle Unterstützung. 126 mal intervenierte das ICRC, um den Zugang und sichere Passage von Ambulanzen für Verwundete der Gewalt zu ermöglichen. Es stellte dem Krankenhaus von Jenin medizinische Geräte für Wundheilungen zur Verfügung und ungefähr 300 Rollstühle für ein Rehabilitationszentrum in Ramallah. Dazu kamen über 1000 Liter Infusionsflüssigkeiten für Gesundheitseinrichtungen und Hilfe für Abwasser- und Entwässerungssysteme für 5000 Menschen im H2-Gebiet von Hebron [Anm.: mehr zum Gebiet H2 in Hebron siehe PALG_KI_Sicherheitslage Westjordanland 2024_01_24_K] sowie für eine verbesserte Wasserversorgung der Dörfer Qariout und Burin mit insgesamt 19.000 BewohnerInnen. Das ICRC unterstützte auch den verbesserten Zugang zu Elektrizität für 1.750 Bauern im Jordantal und für 50 Haushalte im Gebiet H2 in Hebron (ICRC 7.2.2024).
Finanzierungspläne der Vereinten Nationen für die nächsten Wochen und Monate:
Nach einem Anstieg der Preise für Lebensmittel wie Weizenmehl (bis zu 23.6%) und Maisöl durch den Ukraine-Krieg war bereits vor dem 7.10.2023 die Kaufkraft der PalästinenserInnen gesunken. 95% des Weizens muss in die Palästinensischen Gebiete importiert werden, was die Abhängigkeit von Israel illustriert. Die Palästinensische Autonomiebehörde verfügt über keinerlei Lager, und ist diesbezüglich von israelischen Einrichtungen und der palästinensischen Privatwirtschaft abhängig (Borgen Project 13.11.2023).
CNN berichtete Anfang Februar, dass die Vereinten Nationen den Bedarf an humanitärer Nothilfe für die PalästinenserInnen auf 1,2 Milliarden US-Dollar – davon mehr als 90% für den Gazastreifen – schätzt. Zum Berichtszeitpunkt war aber nur etwas mehr als die Hälfte der Gelder zur Verfügung gestellt worden. Am besten finanziert ist die Lebensmittelhilfe, während bei Gesundheit, Obdach etc. die Finanzierungslücken viel größer sind, wenngleich es auch eine Summe von 181 Mio. US-Dollar gibt, die noch bestimmten Verwendungszwecken zugeteilt werden muss (CNN 1.2.2024):
Bereits letztes Jahr hatte es Berichte darüber gegeben, dass z.B. das Welternährungsprogramm seine Hilfe im Nahen Osten – so auch in den Palästinensischen Gebieten – aufgrund von Unterfinanzierung einschränken musste (siehe z.B. WFP 18.7.2023).
Kurzinformation der Staatendokumentation Palästinensische Gebiete – Westjordanland Sicherheitslage (ohne das von Israel annektierte Ostjerusalem) vom 24.01.2024
Überblick über die Sicherheitslage seit 1.1.2023
Dass der Gazastreifen am 7. Oktober so schlecht gesichert und Israel so schlecht vorbereitet war, war laut Einschätzung von Gudrun Harrer auch eine Folge der wachsenden Spannungen im Westjordanland. Sie wurden verursacht durch die Radikalisierung israelischer SiedlerInnen, die von der israelischen Rechtsregierung gefördert wurde, sowie durch das Aufkommen neuer palästinensischer bewaffneter Gruppen, die sich der Kontrolle der palästinensischen Behörden entziehen. Die Hoffnungen der Hamas, dass sich das Westjordanland zu Beginn des Kriegs in einer offenen Intifada erheben würde, haben sich jedoch bisher nicht erfüllt, obwohl die Hamas momentan im Westjordanland höhere Sympathiewerte als im Gazastreifen hat. Israel greift laut Einschätzung von Gudrun Harrer in der Westbank „mit eiserner Hand“ durch (Der Standard 21.1.2024).
Von Anfang 2023 bis 12.12.2023 töteten israelische Truppen laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) 464 PalästinenserInnen, darunter 109 Kinder. Das sind doppelt so viele Tote als in jedem anderen Jahr seit Beginn der Erfassung der Zahl der Getöteten durch OCHA im Jahr 2005. Darunter sind nach Einschätzung von Human Rights Watch wiederkehrende Fälle exzessiver Gewalt und einige „extralegale Hinrichtungen“ (HRW 11.1.2024).
OCHA verzeichnete zwischen 7.10.2023 und 22.1.2024 den Tod von 358 PalästinenserInnen, einschließlich von 91 Kindern, im Westjordanland einschließlich Ostjerusalem. Von diesen wurden 348 von israelischen Truppen getötet, 8 von israelischen SiedlerInnen und in zwei Fällen waren es entweder israelische SoldatInnen oder SiedlerInnen. Mit Stand 22.1.2024 entfielen 49 Todesfälle, darunter von mindestens 10 Kindern, auf den Jänner 2024 (OCHA 22.1.2024). Auf folgender Karte von OCHA sind die Gesamtzahl getöteter PalästinenserInnen von 1.1.2023 bis 7.1.2024 erfasst, aus der hervorgeht, dass sich die meisten Todesfälle im Norden des Westjordanlands im Flüchtlingslager Jenin, gefolgt von den Städten Jenin und Nablus, ereigneten. Die größte betroffene Gruppe waren erwachsene Männer, gefolgt von Buben [Anm.: in der Gesamtzahl sind alle Personen einschließlich ZivilistInnen umfasst]. In der weiteren Auflistung dominieren weitere Flüchtlingslager des Westjordanlands (OCHA Stand 7.1.2024):
510 der insgesamt getöteten 514 PalästinenserInnen werden von OCHAals „ZivilistInnen“ klassifiziert (Anm.: Definition in der Datenbankabfragemaske nachlesbar) (OCHA Stand 7.1.2024).
Zwischen 7.10.2023 und 21.1.2024 wurden 4.334 PalästinenserInnen, darunter 654 Kinder, im Westjordanland einschließlich Ostjerusalem verletzt. Davon wurden 4.200 Personen von israelischen Truppen verletzt und 113 von SiedlerInnen. Im Fall von 21 Menschen waren es entweder israelische Militärs oder SiedlerInnen. In 54 Prozent aller Fälle kam es zu den Verletzungen im Rahmen von Razzien, die Durchsuchungen und Verhaftungen zum Ziel hatten, oder bei anderen Militäraktionen. 35 Prozent der Verletzungen erfolgten im Kontext von Demonstrationen und 8 Prozent bei Angriffen von SiedlerInnen auf PalästinenserInnen. 33 Prozent aller Verletzungen wurden durch scharfe Munition verursacht, im Vergleich zu 9 Prozent in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 (OCHA 22.1.2024).
Der geographische Schwerpunkt bei palästinensischen Verwundeten befand sich im Zeitraum 1.1.2023 bis 6.1.2024 in der Stadt Nablus, gefolgt von Kafr Qaddum, Beita und Huwwara. In deren weiteren Aufzählung sind mit Jenin Camp und Askar Camp zwei Flüchtlingslager zu finden [Anm.: mehr zu Huwwara siehe weiter unten]:
Insgesamt war auch die Zahl der Israelis, die durch PalästinenserInnenaus dem Westjordanland dort oder in Israel im Jahr 2023 getötet wurden, mit 36 Menschen die höchste seit Beginn der OCHA-Datenerfassung im Jahr 2005. Von 7.10.2023 bis 22.1.2024 wurden fünf Israelis getötet, darunter vier Mitglieder von israelischen Truppen, die bei palästinensischen Angriffen im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, umkamen (OCHA 22.1.2024).
12 der 30 im Zeitraum 1.1.2023 bis 30.11.2023 von OCHA erfassten getöteten Israelis konnten nicht verortet werden; sechs Menschen starben in Beit Hanina. 25 Menschen werden als ZivilistInnen eingeordnet. Weitere vier Personen verstarben im Ort Huwwara [Anm.: mehr zu diesem Angriff von SiedlerInnen weiter unten] (OCHA 30.11.2023):
Von 7.10.2023 bis 22.1.2024 verzeichnete OCHA 444 Angriffe von israelischen Siedlern auf PalästinenserInnen mit 45 palästinensischen Opfern [Anm.: Tote oder Verwundete] und Schäden an palästinensischem Besitz in 344 Fällen. In 55 Vorfällen kamen Personen und Besitz beim selben Anlass zu Schaden. Durchschnittlich ereigneten sich vier Vorfälle pro Tag. In einem Drittel der Angriffe durch Siedler waren Feuerwaffen involviert – entweder durch Schüsse oder als Androhung. In der Hälfte der Vorfälle begleiteten israelische Truppen die Angreifer oder unterstützten diese Berichten zufolge. Im Jahr 2023 ereigneten sich insgesamt 1.229 Vorfälle im Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem), an denen israelische Siedler beteiligt waren – mit oder ohne israelische Truppen. Auch hierbei handelt es sich um die Höchstzahl an Vorfällen seit Beginn der Erfassung von Gewalt durch Siedler durch OCHA im Jahr 2006 (OCHA 22.1.2024).
Im Jahr 2023 führten die israelischen Truppen mehrere große Razzien im Westjordanland durch, besonders in der Stadt Nablus und im Flüchtlingslager Jenin. Die Operation im Lager Jenin von 3. bis 3. Juli war dabei gemäß OCHA die größte und tödlichste in der Westbank seit dem Jahr 2005. Sie endete mit dem Tod von 12 PalästinenserInnen, darunter vier Kindern, und der temporären Vertreibung von 3.500 Menschen sowie Schäden an 460 Wohneinheiten (HRW 11.1.2024).
Die 460 im Jahr 2023 getöteten PalästinenserInnen umfassen sowohl PalästinenserInnen, die Israelis angriffen, Molotow-Cocktails oder Steine auf israelische Truppen warfen, wie auch Unbeteiligte, die Verwundeten helfen wollten, und andere Personen, die nicht an den Auseinandersetzungen beteiligt waren (HRW 11.1.2024).
Die israelischen Behörden ziehen selten Sicherheitskräfte, die exzessive Gewalt eingesetzt haben, oder Siedler, die PalästinenserInnen angegriffen haben, zur Verantwortung: Weniger als 1 Prozent palästinensischer Beschwerden über israelische Truppen in den Jahren 2017 bis 2021 führten zu Anklagen. Im Fall von Gewalt durch SiedlerInnen waren es laut der israelischen NGO Yesh Din im Zeitraum 2005 bis 2022 7 Prozent, die zu Anklagen führten. Im Fall der in Huwwara randalierenden SiedlerInnen wurden die meisten der 17 Verdächtigen innerhalb weniger Tage nach ihrer Verhaftung wieder freigelassen (HRW 11.1.2024).
Ungebremste Gewalt und Einschüchterungen durch SiedlerInnen halten laut Human Rights Watch an: 1.105 PalästinenserInnen – einschließlich der BewohnerInnen vier ganzer Ortschaften – wurden seit Anfang 2022 vertrieben, wobei die Gewalt von SiedlerInnenn und das Blockieren des Zugangs zu Weideland durch SiedlerInnen als Hauptgründe für das Verlassen ihrer Heime angegeben wurden. Im Zeitraum 7.10.2023 bis 13.12.2023 wurden 1.257 Menschen vertrieben (HRW 11.1.2024).
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit als Indikator der Sicherheitslage
Laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) existierten bereits vor dem 7.10.2023 645 Hindernisse im Westjordanland, welche die Bewegungsfreiheit von PalästinenserInnen beeinträchtigten (OCHA 15.12.2023). Dazu kamen noch andere von Israel errichtete permanente Hindernisse sowie „fliegende Checkpoints“ [Anm.: mobile Kontrollpunkte] im Westjordanland (HRW 11.1.2024). Eine Karte von OCHA zum Westjordanland gibt einen Überblick über die wichtigsten Hindernisse bei der Bewegungsfreiheit in der Westbank (OCHA 15.12.2023):
Im Fall der Stadt Hebron kamen seit 7. Oktober auch offizielle sowie de facto-Ausgangssperren in Teilen der Stadt hinzu. So verhängte die israelische Armee nach dem 7.10.2023 eine zweiwöchige totale Ausgangssperre über den Stadtteil al-Sahla (as-Sahleh – siehe auch folgende Karte) nahe dem Grab der Patriarchen [Anm.: eine sowohl für das Judentum wie den Islam sehr wichtige Andachtsstätte; seit dem Anschlag eines israelischen Siedlers auf betende Muslime im Jahr 1994 ist die Stätte in einen jüdischen und einen muslimischen Sektor geteilt] sowie nahe weiterer Stadtteile unter israelischer Kontrolle (des Gebiets H2). Auch im Jänner 2024 berichten palästinensische BewohnerInnen von einer großen Anzahl an Checkpoints (z.B. durch die israelische Grenzpolizei), erheblichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und einer Ausgangssperre in der Nacht und an Wochenenden. Während des totalen Ausgangsverbots konnten die Kinder nicht zur Schule gehen und als die BewohnerInnen nach zwei Wochen einkaufen gehen durften, gab es Knappheiten in den Geschäften (Haaretz 4.1.2024a).
Im Jänner 1997 war Hebron im Zuge eines Abkommens zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) als Teil des Oslo-Abkommens zweigeteilt worden: Das Gebiet H1 Befindet sich unter Kontrolle der PNA, während das Grab der Patriarchen sowie die Stadtteile mit israelischen SiedlerInnenn unter voller israelischer Kontrolle stehen. Dort leben auch Tausende PalästinenserInnen, und sind bereits zu normalen Zeiten schweren Einschränkungen ausgesetzt – so dürfen sie bestimmte Straßen nicht benutzen und müssen Checkpoints in den Teil Hebron H1 passieren. Im Stadtteil al-Jabari gibt es nur mehr wenige palästinensische Geschäfte, denn die israelische Armee hatte vielen Geschäften schon während der Zweiten Intifada [Anm.: von 2000 bis 2005] die Schließung befohlen. Den so verbliebenen Geschäften wurden auch zur Zeit der Haaretz-Recherchen das Aufsperren verboten. Auch verloren BewohnerInnen des Stadtteils ihre Arbeitsplätze, weil sie wegen der Ausgangssperren nicht dorthin gelangen können, sei es in Hebron H1 oder in Israel. Als Beispiel werden auch Kinder genannt, die seit dem 7. Oktober nicht mehr zur Schule gehen können, oder Arzttermine, die nicht wahrgenommen werden können (Haaretz 4.1.2024a).
Offiziell gibt es laut israelischer Armee keine Ausgangssperren, aber auch ohne öffentliche Verlautbarung werden diese durchgesetzt und auch neue Barrieren und andere Bewegungseinschränkungen in vielen Teilen der Stadt errichtet (Haaretz 4.1.2024a).
Anm. zur Karte: Givat Ha’avot und Kiryat Arba sind israelische Siedlungen, aber die Präsenz der als besonders militant geltenden israelischen SiedlerInnen näher am Grab der Patriarchen ist nicht ausdrücklich vermerkt:
- Weitere für die Sicherheitslage relevante Aspekte, sowie Folgen der Sicherheitslage
In der ersten Hälfte des Jahres 2023 genehmigte die israelische Regierung den Bau von 12.855 neuen Wohneinheiten in Siedlungen – die höchste Zahl seit 2012. HRW weist darauf hin, dass der Transfer von ZivilistInnen in besetztes Territorium ein Kriegsverbrechen darstellt (HRW 11.1.2024). Zivile Sicherheitspatrouillen in abgelegenen Siedlungen in der Westbank sowie in israelischen Orten nahe bei palästinensischen Gemeinden haben seit dem 7.10.2023 tausende Waffen vom israelischen Militär erhalten, darunter Pistolen, halbautomatische M-16-Gewehre und Maschinengewehre. Aktuell wird erwogen, Panzerabwehrwaffen auszugeben (Haaretz 24.1.2024). Der Anteil an legalen Waffen war in den israelischen Siedlungen bereits vor dem Massaker hoch – in manchen Siedlungen besaß bereits bis zu ca. ein Drittel der Erwachsenen eine Waffe (Haaretz 30.1.2023). [Anm.: Der fehlende Zugang zu legalen Waffen in arabischen Gemeinden in Israel an der libanesischen Grenze sorgte Haaretz-Berichten zufolge bereits für Unmut, denn deren BewohnerInnen fühlen sich ebenfalls von der Hizbollah bedroht, und die Hamas ermordete und entführte am 7. Oktober auch israelische Beduinen].
Seit 7.10.2023 wurden mit Stand 22.1.2024 mindestens 198 palästinensische Haushalte mit insgesamt 1.208 Personen, darunter 586 Kinder durch Gewalt von SiedlerInnenn und Zugangsbeschränkungen vertrieben. Die Betroffenen stammen aus mindestens 15 Gemeinschaften von Beduinen und Hirten. Diese Vertriebenen stellen 78 Prozent aller im Jahr 2023 Betroffenen dar (OCHA 22.1.2024).
Seit 7.10.2023 wurden 115 Heime von insgesamt 739 PalästinenserInnen, darunter 309 Kindern, während verschiedener Operationen des israelischen Militärs zerstört, 95 Prozent davon betrafen Unterkünfte in den Flüchtlingslagern Jenin, Nur Shams und Tulkarm. Insgesamt repräsentieren Vertreibungen durch diese Art von Zerstörungen 81 Prozent aller Vertreibungen (von insgesamt 908 Betroffenen) durch zerstörte Unterkünfte aufgrund von israelischen Militäreinsätzen seit Jänner 2023 (OCHA 22.1.2024). Im Fall des Flüchtlingslagers Jenin mussten 3.000 Menschen vor der israelischen Militäroperation [Anm.: das Lager gilt als Hochburg militanter bewaffneter Gruppen] am 5.7.2023 flüchten. UNRWA berichtete über einen massiven Schaden an der Infrastruktur, besonders auch am UNRWA-Gesundheitszentrum und der Straße zur UNRWA-Schule, als sie wieder Zugang zum Lager erhielt (UNRWA 6.7.2023).
Anfang Jänner 2024 kam es auch zu einem großen Militäreinsatz im Flüchtlingslager Nur al-Shams nahe Tulkarm, im Rahmen derer Hunderte Männer verhört wurden, und niemand während der 40 Stunden das Lager verlassen oder betreten durfte. Laut israelischer Militärquelle wurden auch zwei Laboratorien zum Bombenbau zerstört und Waffen gefunden (Haaretz 4.1.2024b).
Hintergrund und Ausblick
OCHA weist (allgemein auf die palästinensischen Gebiete bezogen) darauf hin, dass der anhaltende Konflikt, die Kampfhandlungen zwischen israelischen Truppen, der Hamas, dem Palästinensischen Islamischen Jihad und anderen bewaffneten Gruppen, Fragen der unterschiedslosen, disproportionalen oder eine auf andere Art ungesetzlichen Gewalt aufwerfen sowie eine Reihe von Praktiken im Zuge der Besatzung, wie exzessive Gewalt, Demolierungen, Delogierungen, Ausbau der Siedlungen und damit verbundene Gewalt, Unsicherheit hervorbringt. So wird sozioökonomischer Fortschritt verhindert oder diesen umkehrt. Insgesamt herrscht ein Klima des Misstrauens und der Spannungen zwischen der palästinensischen und israelischen Bevölkerung und untergräbt laut OCHA eine politische Lösung (OCHA o.D.)
Die Spaltung zwischen Hamas in Gaza und der von der Fatah angeführten Palästinensischen Autonomiebehörde in Teilen des Westjordanlands seit 2007 hat laut OCHA auch die territoriale Spaltung vertieft. Politische Gräben und ein Gefühl der Machtlosigkeit werden in der Westbank durch die fehlenden Wahlen seit 2006 und die Entlassung des Palästinensischen Legislativ-Rats im Jahr 2018 und durch die Präsidialdekrete [Anm.: von Präsident Mahmoud Abbas] verstärkt (OCHA o.D.).
Die israelische Armee hat zwischenzeitlich die Eliteeinheit Duvdevan wieder von Gaza ins Westjordanland zurückbeordert. Nach ihrer Einschätzung steht die Westbank „am Rand einer Implosion“, weil die israelische Regierung keine Entscheidungen zur Verbesserung der dortigen finanziellen Lage trifft. Darunter fallen z.B. die Verweigerung der Erlaubnis, dass PalästinenserInnen aus der Westbank wieder in Israel arbeiten dürfen und der Zurückhaltung palästinensischer Steuern durch Israel, welche der Autonomiebehörde gebühren würden (Haaretz 15.1.2024).
Bisher gab es noch keine Massendemonstrationen oder -zusammenstöße mit israelischen SoldatInnen. Die Hamas versucht jedoch nach israelischer Einschätzung, den Tempelberg/Haram al-Sharif [Anm.: das Gelände mit dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee sowie mit der Klagemauer als Teil der Mauer – die wichtigste religiöse Stätte des Judentums und die drittwichtigste religiöse Stätte des Islam] zur Eskalation zu nutzen. Eine starke Palästinensische Autonomiebehörde wäre der israelischen Armee zufolge im Interesse der israelischen Sicherheit (Haaretz 15.1.2024).
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete – Westjordanland/West Bank, 03.06.2022
Sicherheitslage
Die Oslo-Abkommen teilen die Westbank in die Gebiete A, B und C. Die palästinensischen Bevölkerungszentren fallen meist in die Gebiete A und B, die ländlichen Gebiete in Gebiet C. Formal ist die PA für die Sicherheit im Gebiet A zuständig, aber israelische Sicherheitskräfte führen auch hier Einsätze durch. Im Gebiet B ist die PA für die Verwaltung und Israel für die Sicherheit zuständig. Im Gebiet C ist Israel alleine für die Sicherheit zuständig und hat den Großteil des Gebiets C entweder zu geschlossenen Militärzonen oder Zonen für Siedlungen erklärt (USDOS 12.4.2022). Die israelische Regierung plant mehr als 4.000 neue Wohneinheiten für israelische Siedlungen (HRW 13.1.2022).
Wenn die israelische Armee ihre Verhaftungen in den A-Gebieten des Westjordanlandes durchführt, zumeist mitten in der Nacht, ziehen sich die palästinensischen Sicherheitskräfte zurück. In den meisten Fällen betritt das israelische Militär in Vollausrüstung und mit schwerem Geschütz die A-Gebiete. Solche Razzien sind daher frühzeitig erkennbar und dienen dazu, deutlich zu machen, wer die eigentliche Macht und Kontrolle besitzt. Innerhalb des israelischen Militärs gibt es aber auch eine Sondereinheit für verdeckte Einsätze. Bei Einsätzen der israelischen Armee können die Palästinenserinnen und Palästinenser generell nicht auf den Schutz der PA-Sicherheitskräfte hoffen (KAS 9.2021).
Die Sicherheitskooperation beinhaltet, dass die Palästinensische Autonomiebehörde Informationen an Israel weitergibt, die relevant sind, um gegen Terrorvorhaben vorzugehen und um damit Israels Sicherheit zu gewährleisten. Diese Informationen werden von der israelischen Armee und von der Grenzpolizei dazu genutzt, Personen gezielt zu verhaften. Die von der größten palästinensischen Partei Fatah dominierte PA nutzt das System aber auch immer wieder, um Informationen über oppositionelle Politiker, oftmals jene der Hamas, an Israel weiterzugeben, was häufig zu deren Festnahmen durch israelische Sicherheitskräfte führt. Die Sicherheitskooperation wird daher von vielen Palästinenserinnen und Palästinensern als nachteilig und gegen sie selbst gerichtet empfunden, sofern sie nicht im Sinne des von der PA kontrollierten Systems handeln (KAS 9.2021).
Seit 2007 arbeiteten die PA und die israelischen Sicherheitskräfte in der Westbank bei der Überwachung und der Unterdrückung von Hamas, Islamischer Jihad, Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) und anderen politischen Fraktionen mit bewaffneten Armen [Anm.: ein Teil der Gruppen wird auch in der EU als terroristisch eingestuft.] zusammen, was regelmäßig zu zahlreichen Verhaftungen und dem Schließen von mit ihnen in Verbindung stehenden Einrichtungen führt. Die israelischen Streitkräfte gehen auch gegen militante Mitglieder der Fatah vor (FH 28.2.2022).
Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist wesentlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt (AA 24.5.2022) und kann sich schnell verändern (AA 2.6.2022). Zum Beispiel breiteten sich im Mai 2021 Proteste von Ost-Jerusalem gehend in der Westbank aus, welche auch eine Anzahl an Toten und Verletzten durch das gewaltsame israelische Vorgehen zur Folge hatten. Im Juni folgten durch PA-Behörden gewaltsam aufgelöste Proteste aufgrund des Tods von Nizar Banat, einem Zivilaktivisten, der in PA-Haft nach Misshandlungen verstarb (FH 28.2.2022).
Auch den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im besetzten Palästinensischen Gebiet auswirken (EDA 3.6.2022).
Die Sicherheitslage im Westjordanland ist ausgesprochen volatil und kann sich nach akuten Sicherheitsvorfällen schnell ändern. In solchen Fällen können einzelne Ortschaften durch das israelische Militär abgeriegelt oder sogenannte „fliegende“ Checkpoints eingerichtet oder bestehende Checkpoints vorübergehend geschlossen werden. Es kann zu Einsätzen der israelischen Sicherheitskräfte in Ramallah und anderen palästinensischen Städten und Dörfern kommen. Protestaktionen sind jederzeit möglich (AA 2.6.2022).
Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Angriffen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen israelischen Sicherheitskräften, Siedlern und Palästinensern mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Eine Häufung der Vorfälle ist in der Nähe von Checkpoints, israelischen Siedlungen und Siedler-Außenposten sowie in der Region Jenin zu beobachten. Auch bei zunächst friedlichen Versammlungen besteht das Risiko, dass die Situation sehr schnell eskaliert (AA 2.6.2022).
- Bestimmte Clans als Faktoren für die örtliche Sicherheitslage, besonders in Hebron und Nablus
Die betreffenden Clans bestehen oft aus 10.000 bis 20.000 Mitgliedern und haben ein soziales Netz für ihre Angehörigen geschaffen. Sie sorgen insbesondere an prekären und traditionell geprägten Orten wie Hebron anstelle der PA für die gesellschaftliche Ordnung und deren Einhaltung. Die Familien haben sich dabei ihre eigenen Einflussbereiche und Wirtschaftszweige, teils im Disput, aufgeteilt. Teile der lokalen PA sind demgegenüber häufig machtlos oder nur informell involviert (KAS 9.2021).
Rivalisierende Großfamilien tragen ihre Konflikte offen außerhalb des palästinensischen Rechtssystems aus und untergraben damit die Autorität der PA. Sie leben nach ihren eigenen Rechtssystemen und erkennen die staatliche Gewalt oft nicht an. Morde werden mit Blut vergolten, es sei denn, die Angelegenheiten können zwischen den Ältesten der Familien vermittelt werden. Dabei spielen Geldzahlungen und die Ehre der jeweiligen Familie eine große Rolle. Staatliche Ermittlungen lassen Clanfamilien nicht immer zu (KAS 9.2021).
Die Bewaffnung dieser Familien scheinen sowohl die PA als auch Israel stillschweigend zu akzeptieren. Letzteres geht offenbar davon aus, dass sie keine Gefahr für israelische Staatsbürger darstellen, denn die Waffen, die sich im Privatbesitz einiger Großfamilien befinden, werden fast nie gegen israelische Ziele eingesetzt, denn sie dienen hauptsächlich der internen Rivalität in den patriarchalischen Strukturen einiger Großfamilien, die in vielen Fällen über eigene gut funktionierende Kontakte nach Israel verfügen – oftmals eine Notwendigkeit um wirtschaftlichen Erfolg zu generieren. Die Familienclans nutzen diese Schwäche der PA und eigene israelische Kontakte, um somit autonome Strukturen innerhalb des Westjordanlandes aufzubauen und zu erhalten. Ein führendes Mitglied der al-Jabari-Familie pflegt auch z.B. offen Beziehungen mit israelischen Siedlern, die in Hebron leben, und als besonders radikal gelten. Normalerweise würde ein Palästinenser, der offensichtlich mit Israel in Besatzungsfragen kooperiert, in der Gesellschaft als Verräter angesehen werden. Die al-Jabaris haben aber eine gefestigte Machtbasis in Hebron (KAS 9.2021).
Häufig sind Mitglieder von Großfamilien auch im palästinensischen Sicherheitsapparat tätig. Die PA verfügt somit nicht über das alleinige Gewaltmonopol in ihren formal zuständigen Gebieten des Westjordanlandes (in Ost-Jerusalem hat es Israel inne, im Gaza-Streifen liegt es seit 2007 bei der Hamas). Stattdessen liegt die lokale Macht über sicherheitsrelevante Entscheidungen in eher traditionell geprägten Regionen wie Hebron oder Nablus bei den relevanten Großfamilien. Die Clanstrukturen haben ein Machtpotential entwickelt, mit dem die PA aufgrund ihrer eingeschränkten Ressourcen kaum Schritt halten kann (KAS 9.2021).
Rechtsschutz / Justizwesen
Rechtssicherheit wird in Palästina dadurch erschwert, dass immer noch Elemente des osmanischen, britischen, jordanischen, ägyptischen, israelischen (israelische Militärverordnungen) und palästinensischen Rechts (seit 1994) nebeneinander existieren. Darüber hinaus wird in Palästina Gewohnheitsrecht und religiöses Recht (insbesondere im Familienrecht) angewandt. Außerdem kommt immer wieder das Stammesjustizwesen zur Anwendung. Daneben ist es so, dass die Beschlüsse des Obersten Palästinensischen Gerichtshofes nicht immer umgesetzt werden (GIZ 11.2020a). Durch die innerpalästinensische politische Spaltung werden Gesetze per Dekret in der Westbank umgesetzt, aber nicht in Gaza, und Gesetze des Palästinensischen Legislativrats in Gaza sind nicht auf das Westjordanland anwendbar (Al-Haq 2.5.2022).
PalästinenserInnen im Westjordanland unterliegen sowohl der palästinensischen Jurisdiktion als auch der israelischen Militärgerichtsbarkeit – keines von beiden völlig unabhängig (FH 28.2.2022): Israel übt in variierendem Ausmaß die juristische Kontrolle über die besetzten Gebiete aus. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übt im Westjordanland ein unterschiedliches Maß an Autorität aus, sie verfügt über keine Autorität über Jerusalem. Die PalästinenserInnen im Westjordanland unterliegen Gesetzen, die vor 1967 in Kraft waren, sowie den vom israelischen Militärkommandeur im Westjordanland erlassenen militärischen Verordnungen und in den relevanten Bereichen dem Recht der PA. Israelis, die in den Siedlungen in der Westbank leben, unterliegen einer Kombination aus israelischem Zivil- und Strafrecht sowie Militärverordnungen. PalästinenserInnen, die im Gebiet C der Westbank leben, fallen unter das israelische Militärrecht. Palästinenser, die in Gebiet B leben, fallen unter das Zivil- und Strafrecht der PA, während Israel die vorrangige Verantwortung für die Sicherheit behält. Obwohl nach dem Oslo-II-Abkommen für Palästinenser, die in Gebiet A des Westjordanlands leben, nur das Zivil- und Strafrecht der PA gilt, wendet Israel im Rahmen seiner vorrangigen Verantwortung für die Sicherheit immer dann, wenn sein Militär in Gebiet A eindringt, die vom Militärkommandanten erlassenen militärischen Befehle an (USDOS 21.6.2019). Die intransparente Unterscheidung zwischen strafrechtlichen und sicherheitsrelevanten Straftaten, die regelmäßige Anwendung von Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren durch palästinensische und israelische Sicherheitskräfte sowie die Anwendung des Kriegsrechts und eines Militärgerichtssystems durch Israel, das ausschließlich für Palästinenser im Westjordanland gilt, verletzen die Rechte der Palästinenser auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren (FH 28.2.2022).
Palästinenser werden von den israelischen Behörden auch regelmäßig über längere Zeiträume ohne Anklage inhaftiert. Das israelische Militär führt häufig Hausdurchsuchungen ohne Haftbefehl durch. Nach Angaben der Addameer Prisoner Support and Human Rights Association waren mit Stand Dezember 2021 etwa 4,550 palästinensische Sicherheitsgefangene aus der Westbank in israelischen Gefängnissen inhaftiert, darunter 170 Minderjährige aus den besetzten Gebieten. Diese Minderjährigen werden in der Regel in Abwesenheit eines Anwalts oder eines elterlichen Vormunds verhört und vor ein spezielles Militärgericht gestellt, das wegen seines mangelnden Rechtsschutzes kritisiert wird (FH 28.2.2022).
Die Gesetze der PA sehen das Recht auf eine unabhängige Justiz sowie einen fairen und öffentlichen Prozess vor. Verfahren sind öffentlich, außer in Sonderfällen, etwa wenn ein nicht-öffentliches Verfahren zum Schutz bestimmter Interessen nötig ist. Es gilt die Unschuldsvermutung, und der Angeklagte hat das Recht, zeitnah über die gegen ihn vorliegende Anklage informiert zu werden. Gemäß Amnesty International werden diese Rechte manchmal nicht gewahrt. Rechtsbeistand ist vorgesehen – auf Kosten des Staates, wenn nötig. Die Angeklagten haben das Recht auf Berufung. Die PA in der Westbank gewährleistet diese prozeduralen Rechte weitgehend (USDOS 12.4.2022). Der Unabhängigen Kommission für Menschenrechte (ICHR) zufolge war das Justizsystem der PA dem Druck der Sicherheitsbehörden und der Exekutive ausgesetzt, was die Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit der Justiz untergräbt. Die Behörden der PA führten Gerichtsbeschlüsse nicht immer aus. Palästinenser haben das Recht, Klage gegen die PA zu erheben, haben dies aber selten getan. Neben den gerichtlichen Rechtsmitteln stehen selten genutzte administrative Rechtsmittel zur Verfügung (USDOS 11.3.2020).
Im Juli 2019 erließ Präsident Abbas zwei Dekrete, das erste löste den bestehenden High Judicial Council auf und ersetzte ihn durch ein Übergangsgremium, das zweite senkte das Rentenalter der Richter. Im Dezember 2020 folgten weitere Dekrete von Präsident Abbas zur Absicherung seiner Kontrolle von juristischen Schlüsselinstitutionen und bei der Besetzung von Richterämtern sowie Entlassungen und Pensionierungen von RichterInnen (FH 28.2.2022). Der High Judicial Council war 2002 einberufen worden, um die Unabhängigkeit der Richter zu verbessern, die Transparenz und die Leistungsfähigkeit ihrer Arbeit sicherzustellen, die Prozessabläufe zu verbessern und die Bearbeitung der Fälle zu erleichtern (AI 18.2.2020). Eine Reihe von Richtern und Menschenrechtsorganisationen prangerten diese Schritte [Auflösung des High Judicial Council] als ein Versuch an, die Exekutivkontrolle über die Justiz zu verstärken (FH 2020).
Die Strafprozessordnung der PA sieht im Allgemeinen vor, dass der Generalstaatsanwalt der PA einen Durchsuchungsbefehl für den Zutritt und die Durchsuchung von Privateigentum ausstellen muss; jedoch dürfen die Justizbeamten der PA in Notfällen palästinensische Häuser ohne Durchsuchungsbefehl betreten. NGOs berichteten, dass es üblich sei, dass die PA Familienmitglieder wegen angeblicher Vergehen einer Person schikaniert (USDOS 12.4.2022). Die Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen wird durch Non-Compliance der PA sowie durch das Fehlen einer palästinensischen Gerichtsbarkeit in Gebiet C, wo das israelische Militär die ausschließliche Kontrolle ausübt, behindert (FH 28.2.2022). Gleichwohl kommt es zuweilen auch ohne offizieller israelischer Erlaubnis zu Einsätzen der palästinensischen Sicherheitskräfte in den Gebieten B, C und H2 [Anm.: in der Stadt Hebron] – auch um Personen wegen ihrer politischen Aktivitäten zu schikanieren oder deren Häuser zu durchsuchen (USDOS 12.4.2022).
Die gesetzlichen Gegebenheiten im Westjordanland diskriminieren, indem Israelis und PalästinenserInnen, die dort wohnen oder am selben Ort ein Verbrechen begehen, unterschiedlichen Gerichten und Gesetzen unterliegen (FH 28.2.2022).
Prozesse von PalästinenserInnen aus der Westbank wegen Sicherheitsvergehen gehen vor israelischen Militärgerichten mit einer viel höheren Verurteilungsrate und längeren Strafen einher als bei Prozessen vor zivilen Gerichten in Israel. Laut MCW enden 95 Prozent der Fälle in Militärgerichten mit einer Verurteilung, und laut Amnesty International erfüllen manche israelische Militärgerichte nicht die internationalen Standards für faire Prozesse (USDOS 12.4.2022).
Die zivilen, israelischen Gerichte, welche die Jurisdiktion für israelische Siedler in der Westbank ausüben, sind unabhängig (FH 28.2.2022). Am 30.3.2022 wurde eine Abstimmung über die Verlängerung der Anwendung israelischen zivilen Rechts auf israelische Siedler im Westjordanland verschoben. Die Anwendbarkeit würde sonst Ende Juni auslaufen. Im Gesetzesvorschlag ist eine Verlängerung um weitere fünf Jahr vorgesehen (Haaretz 31.3.2022).
Rivalisierende Großfamilien tragen ihre Konflikte offen außerhalb des palästinensischen Rechtssystems aus und untergraben damit die Autorität der PA. Die Familienclans, besonders in Gebieten wie Hebron und Nablus, leben nach ihren eigenen Rechtssystemen und erkennen die staatliche Gewalt oft nicht an, und verfügen über Waffen wie Kalaschnikows. Morde werden mit Blut vergolten, es sei denn, die Angelegenheiten können zwischen den Ältesten der Familien vermittelt werden. Dabei spielen Geldzahlungen und die Ehre der jeweiligen Familie eine große Rolle. Staatliche Ermittlungen lassen Clanfamilien nicht immer zu (KAS 9.2021).
Islamische oder christliche geistliche Gerichte sind für Personenstandsfragen wie Ehe, Scheidung und Erbschaft zuständig. Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Mitglieder einer Religionsgemeinschaft einen Streit betreffs Personenstatus einer anderen Religionsgruppe ihrer Wahl zur Entscheidung vorlegen können, wenn die Streitparteien zustimmen (USDOS 12.5.2021).
Sicherheitsbehörden
Gemäß den Osloer Abkommen ist der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) kein konventionelles Militär erlaubt, sie unterhält jedoch Sicherheits- und Polizeikräfte. Das Sicherheitspersonal der PA ist seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahr 2007 fast ausschließlich im Westjordanland tätig. Die Sicherheitskräfte umfassen die Nationalen Sicherheitskräfte, die Präsidentengarde, die Zivilpolizei, den Zivilschutz sowie die [Anm.: Nachrichtendienste] Organisation für präventive Sicherheit, der Allgemeine Nachrichtendienst und der Militärische Nachrichtendienst (CIA 16.5.2022).
Die sechs Sicherheitsorganisationen operieren in Teilen der Westbank: Die palästinensische Zivilpolizei trägt die Hauptverantwortung für die zivile und kommunale Polizeiarbeit. Die Nationalen Sicherheitskräfte führen Sicherheitsoperationen durch, welche die Möglichkeiten der Zivilpolizei übersteigen. Der Militärische Nachrichtendienst befasst sich mit nachrichtendienstlichen und strafrechtlichen Angelegenheiten, an denen Mitarbeiter der PA-Sicherheitskräfte beteiligt sind, einschließlich Korruption. Der Allgemeine Nachrichtendienst ist für externe nachrichtendienstliche Erhebungen und Operationen zuständig sowie interne strafrechlicthliche Ermittlungen und Verhaftungen. Die Organisation für präventive Sicherheit ist für die interne Aufklärungsarbeit und für Untersuchungen im Zusammenhang mit Fällen der inneren Sicherheit, einschließlich abweichender politischer Meinungen, zuständig. Zuweilen wird sie auch zur Niederschlagung von politischem Dissens eingesetzt, wenn dieser als Gefährdung der politischen Stabilität angesehen wird. Die Präsidialgarde schützt Einrichtungen und sorgt für den Schutz von Würdenträgern (USDOS 12.4.2022). Für israelische Siedler in den besetzten Gebieten sind die PA-Sicherheitskräfte nicht zuständig [Anm.: siehe Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (Global Security 28.7.2011).
Mehrere der Organisationen agieren unter der Kontrolle des PA-Innenministeriums und folgen der Führung des Premierministers (USDOS 12.4.2022). Die palästinensischen Sicherheitskräfte und die Polizei sind laut Artikel 84 der Verfassung an das Gesetz gebunden und haben die bürgerlichen Rechte und Freiheiten zu respektieren. Dies ist jedoch nicht immer der Fall (GIZ 11.2020a). Eine andere Quelle gibt an, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die effektive zivile Kontrolle über die PA-Sicherheitskräfte habe. Es gab jedoch auch glaubhafte Berichte über Misshandlungen durch Mitglieder der Sicherheitskräfte (USDOS 12.4.2022).
Im Westjordanland ist die palästinensische Polizei nur in den A-Gebieten für die Sicherheit aktiv, d.h. in 17,2 Prozent des Gebietes, jedoch nur tagsüber. Zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens hat das israelische Militär de facto dort das Sagen. Die sehr eingeschränkte Zuständigkeit der palästinensischen Sicherheitskräfte hat zur Folge, dass zahlreiche palästinensische Dörfer im B- und C-Gebiet selbst Nachtwachen organisieren, um sich vor Aktionen gewalttätiger israelischer Siedler zu schützen (GIZ 11.2020a). Gleichwohl kommt es zuweilen auch ohne offizieller israelischer Erlaubnis zu Einsätzen der palästinensischen Sicherheitskräfte in den Gebieten B, C und H2 – auch um Personen wegen ihrer politischen Aktivitäten zu schikanieren oder deren Häuser zu durchsuchen. Die Palästinensische Behörde hielt jedoch ansonsten im Jahr 2021 die [Anm.: im Oslo-Abkommen vorgesehene] Sicherheitskoordination mit Israel aufrecht (USDOS 12.4.2022).
Bei Einsätzen der israelischen Armee können die Palästinenserinnen und Palästinenser generell nicht auf den Schutz ihrer Sicherheitskräfte hoffen. In der palästinensischen Gesellschaft verliert die PA zunehmend an Vertrauen, denn die Sicherheitskooperation scheint vorrangig der Sicherheit Israels und dem Machterhalt der PA zu dienen als dem Schutz der palästinensischen Bevölkerung. Innerhalb der Palästinensischen Gebiete kann die PA zudem nur unzureichend für Recht und Ordnung sorgen (KAS 9.2021).
Die israelischen Behörden hielten ihre Besatzung in der Westbank durch israelische Sicherheitskräfte aufrecht, die aus der Israeli Defense Force (IDF), der Israeli Security Agency (Shin Bet), der Israeli National Police, und der Grenzpolizei bestanden. Israel behält die wirksame zivile Kontrolle über seine Sicherheitskräfte im gesamten Westjordanland bei (USDOS 11.3.2020). Palästinensische BewohnerInnen sowie israelische und palästinensische NGOs beschuldigen israelische Sicherheitskräfte, Misshandlungen zu begehen. Die israelischen Militär- und Ziviljustizapparate untersuchten gelegentlich diese Fälle und befanden Mitglieder der israelischen Sicherheitskräfte dem Begehen von Misshandlungen für schuldig (USDOS 12.4.2022).
Folter und unmenschliche Behandlung
Das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verbietet Folter und die Ausübung von Gewalt gegen Gefangene. Es fehlt jedoch ein Protokoll zur Prävention von Folter (USDOS 12.4.2022). Physische Misshandlungen von Gefangenen durch palästinensische Behörden in der Westbank sind von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert (FH 28.2.2022). Glaubhafte Berichte liegen zu ungesetzlichen oder willkürlichen Tötungen sowie zu Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung durch Vertreter der PA-Behörden vor. In den Haftanstalten in der Westbank kommt es regelmäßig zu Folter durch die Sicherheitsdienste der PA, besonders auch in den Haftanstalten des Nachrichtendiensts, der Organisation für präventive Sicherheit und des Rats für gemeinsame Sicherheit in Jericho. Die quasi zur Autonomiebehörde gehörende (USDOS 12.4.2022) Independent Commission for Human Rights (ICHR) berichtete von 176 Beschwerden von Folter oder Misshandlung gegen die PA während des Jahres 2020 (ICHR 2021). Im Jahr 2021 waren es 104 Beschwerden. Bezüglich der Folter und dem Tod in Haft von Nizar Banat wurden 14 niedrigrangige Mitarbeiter der Präventiven Sicherheit [Anm.: einer der Nachrichtendienste der PA] im September vor Gericht gestellt (AI 29.3.2022). Seit dem Tod des Aktivisten führte die Organisation für präventive Sicherheit immer wieder Hausdurchsuchungen und Festnahmen von Familienmitgliedern von Nizar Banat mit der Begründung durch, „Vorkommnisse von Vergeltung“ zu untersuchen. Die Familie sowie Aktivisten werteten dies jedoch nicht als Gewaltprävention, sondern als Einschüchterung von Zeugen und Schikane (USDOS 12.4.2022).
Der Tod des Aktivisten hatte zu Demonstrationen für Meinungsfreiheit geführt, bei welchen die palästinensischen Sicherheitskräfte exzessive und unnötige Gewalt einsetzten. Demonstranten wie Passanten wurden verhaftet und Berichten zufolge gefoltert. Laut der palästinensischen Gefangenenhilfsorganisation Adameer wurden mindestens 15 Protestierende, Menschenrechtsaktivisten und JournalistInnen „wegen Aufhetzung zu konfessionellem und rassistischem Hass“ in die Haftanstalt in Jericho gebracht (AI 29.3.2022).
Israel verbot den Gebrauch von Folter zur Erlangung von Sicherheitsinformationen im Jahr 1999. Aber mildere Formen von Nötigung sind erlaubt, wenn vermutet wird, dass der Gefangene über essentielle Informationen über bevorstehende Terroranschläge verfügt, bzw. wenn eine unmittelbare Bedrohung vorliegt (FH 2020; vgl. USDOS 11.3.2020b).
Für Anschuldigungen gegen israelische SoldatInnen bezüglich exzessiver Gewalt oder Misshandlungen palästinensischer ZivilistInnen ist das israelische Militärgesetz zuständig. Verurteilungen sind sehr selten, und die Strafen milde. Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem liegt die Chance, dass eine Beschwerde zu einer Anklage führt, bei 3 Prozent (FH 28.2.2022).
Es gibt substantielle Beweise für physische und psychische Misshandlungen durch das israelische Militär (FH 28.2.2022). Menschenrechtsorganisationen werfen den israelischen Behörden vor, gegen palästinensische Sicherheitshäftlinge im Westjordanland spezielle Verhörmethoden einzusetzen, darunter körperliche Misshandlungen und andere Maßnahmen wie Isolation, Stresspositionen, Drohungen, schmerzhaftes Fesseln, Schlafentzug, etc. Dazu kamen in den Haftanstalten in der Westbank lange Einzelhaft, Nahrungsmangel, der Witterung Aussetzen und Drohungen, die Unterkunft der Familie zu zerstören (USDOS 12.4.2022). Laut der israelischen NGO Public Committee Against Torture wurden seit 2001 mehr als 1.300 Beschwerden wegen Folter, einschließlich schmerzhafter Fesselung, Schlafentzug und Aussetzen extremer Temperaturen, beim israelischen Justizministerium eingereicht. Diese resultierten in zwei Strafermittlungen und keiner einzigen Anklage (HRW 13.1.2022).
Korruption
Es gab zahlreiche Berichte über Regierungskorruption im Jahr 2021. Das Gesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde sieht Strafen bei Verurteilung wegen behördlicher Korruption vor, aber es wurde wenig zur Strafverfolgung korrupter Offizieller getan. Einer Meinungsumfrage im Oktober 2021 durch die Coalition for Accountability and Integrity zufolge sehe die PalästinenserInnen Korruption als das wichtigste Problem an, das gelöst werden muss. Zwei Drittel waren nicht von der Effizienz und Unabhängigkeit der Einrichtungen gegen Korruption in der Westbank überzeugt (USDOS 12.4.2022).
Die Anti-Korruptionskommission der Palästinensischen Autonomiebehörde ist für die Umsetzung einer Strategie gegen Korruption zuständig. Ein Bericht des Staatlichen Büros für Rechnungsprüfung und Verwaltungskontrolle der PA konstatierte jedoch im Oktober 2021 langanhaltende Irregularitäten beim Budgetmanagement der Einrichtung. Für das Jahr 2020 sah die NGO Coalition for Accountability and Integrity (AMAN) einige Verbesserungen bei der Gesetzgebung und bei Maßnahmen zur Einschränkung von Bestechung und der Verbesserung des Prozedere im Beschaffungswesen. AMAN identifiziert jedoch weiterhin Herausforderungen bei der Bekämpfung von Günstlingswirtschaft sowie bei der Umsetzung grundsätzlicher Transparenz und der Anti-Korruptionsgesetze. Im Juni 2021 erschienen Medienberichte, wonach 71 enge Verwandte von hochrangigen Mitgliedern der PA in den vergangenen zehn Jahren diverse Regierungsposten erhielten (FH 28.2.2022).
Der Aktivist Nizar Banat starb im Jahr 2021 in Haft [siehe Abschnitt “Folter und unmenschliche Behandlung], nachdem er die Korruption in der Autonomiebehörde kritisiert hatte (ICNL 11.5.2022).
Bewegungsfreiheit
Israel schränkt die Bewegungsfreiheit von PalästinenserInnen in den besetzten palästinensischen Gebieten, zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen, nach Israel und ins Ausland ein. Von diesen Einschränkungen sind nur PalästinenserInnen betroffen, nicht aber Israelis und AusländerInnen (B‘tselem 11.11.2017). Israelische Checkpoints, Reisegenehmigungen und andere Restriktionen stellen weiterhin schwerwiegende Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit und den Handel sowie für den Zugang von PalästinenserInnen zu Arbeitsstellen, Spitälern und Schulen dar (FH 28.2.2022). Hinzu kommen schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt, geringere Löhne, erschwerter Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen, Folgen für das soziale Leben (Teilnahme an Veranstaltungen, Familienfeiern), und negative Folgen für die journalistische Berichterstattung und die Aktivität von humanitären Organisationen und NGOs, sowie Erschwernissen im Bereich der Gerichtsbarkeit (USDOS 11.3.2020). Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit betreffen auch die Möglichkeiten zur politischen Organisation und Aktivität (FH 2020), sowie den Zugang zu Bildung und kulturellen Aktivitäten (USDOS 12.4.2022). Auch internationale Organisationen sind von den Einschränkungen betroffen. UNRWA berichtete, dass die MitarbeiterInnen des Hauptquartiers im Westjordanland mit Ende November 2021 241 Arbeitstage durch die Bewegungseinschränkungen im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem verloren hatten (USDOS 12.4.2022).
- Checkpoints innerhalb der Westbank
Mit Stand Juni 2020 betrieben die israelischen Behörden fast 600 Checkpoints und andere permanente Hindernisse in der Westbank. Dazu kamen beinahe 1.500 „fliegende“ Kontrollpunkte im Zeitraum 2019 bis März 2020 (HRW 13.1.2022). Einige der Checkpoints werden auch von privaten Sicherheitsfirmen betrieben (USDOS 11.3.2020).
Die israelischen Behörden untersagen häufig Reisen zwischen einigen oder allen palästinensischen Städten im Westjordanland und setzen zu diesem Zweck temporäre Checkpoints ein. Zwei große Kontrollpunkte teilen zudem das Westjordanland in drei Teile: Za'atara zwischen Nablus und Ramallah, der zum Teil besetzt ist, und der Container-Checkpoint östlich von Abu Dis, der immer besetzt ist. Der gesamte palästinensische Verkehr zwischen Norden und Süden der Westbank erfolgt aufgrund von Checkpoints und Straßensperren über die Straßen, die von diesen beiden Checkpoints kontrolliert werden (B‘tselem 11.11.2017). Medienberichten zufolge führt die Schließung von wichtigen Kontrollpunkten wie dem Checkpoint Container bei Betlehem und Za'tara zu größeren Störungen im Westjordanland. Im Fall des Checkpoints Container kann bei dessen Schließung ein Drittel der Bevölkerung der Westbank abgeschnitten werden. Bei Schließung des Checkpoints Za’atara kann der gesamte Verkehr in und nach Norden der Westbank blockiert werden (USDOS 12.4.2022).
An den Checkpoints wurden PalästinenserInnen abgewiesen oder aufgehalten und gedemütigt, während israelische Siedler sich weitgehend ungehindert bewegen dürfen (HRW 13.1.2022). Von Israel verhängte Einschränkungen, mit denen Palästinenser von israelischen Siedlungen ferngehalten werden sollten, zwingen sie zu zeitraubenden Umwegen und schränken ihren Zugang zu ihren eigenen landwirtschaftlichen Flächen ein (HRW 14.1.2020; vgl. FH 2020).
Die israelischen Behörden schränkten den palästinensischen Reiseverkehr auf 29 Straßen/Straßenabschnitten im gesamten Westjordanland ein oder untersagten ihn, darunter viele Hauptverkehrsadern. Die israelischen Militärbehörden schränken auch weiterhin den palästinensischen Auto- und Fußverkehr sowie den Zugang zu Wohnungen und Geschäften in der Innenstadt von Hebron - Gebiet H2 - für 22.000 BewohnerInnen ein und verwiesen auf die Notwendigkeit, mehrere hundert israelische Siedler, die im Stadtzentrum wohnen, zu schützen (USDOS 12.4.2022).
Die israelischen Sicherheitskräfte verhängten auch vorübergehende Ausgangssperren, aufgrund derer die PalästinenserInnen während Razzien der israelischen Sicherheitskräfte ihre Häuser nicht verlassen durften (USDOS 12.4.2022).
- Die Trennbarriere
Die Trennmauer, die Israel nach eigenen Angaben aus Sicherheitsgründen gebaut hat, verläuft zu 85 Prozent auf dem Territorium des Westjordanlandes statt entlang der „Grünen Linie“ [Anm.: Waffenstillstandslinie von 1967 zwischen dem Staat Israel und dem Westjordanland] (HRW 13.1.2022). An der weitesten Stelle reicht die Mauer ca. 18 km in das Gebiet der Westbank hinein (USDOS 11.3.2020). Die Barriere besteht aus Mauern, Zäunen und anderen Abtrennungen und ist zu 65 Prozent fertiggestellt. Das illegale Betreten Israels wurde allerdings auch durch die Mauern und Zäune der Trennbarriere nie ganz verunmöglicht und in den letzten Jahren stieg die Zahl der PalästinenserInnen, die illegal auf diese Weise Arbeit in Israel suchten. Die Durchsetzung der Barrierenfunktion auch mittels Schüsse hat sich aktuell mancherorts in eine Duldung der Grenzübertritte gewandelt, um den wirtschaftlichen Druck im Westjordanland durch die Einkünfte der in Israel arbeitenden PalästinenserInnnen zu mildern, und Israel die seit der Pandemie fehlenden billigen Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, auch wenn damit ein großes Sicherheitsrisiko für Israel verbunden ist (Guardian 21.3.2022).
Der Trennwall wurde 2004 vom Internationalen Gerichtshof für illegal erklärt und verursacht Not (FH 28.2.2022): Die Trennmauer schneidet viele Palästinenser von ihrem Ackerland ab, und isoliert 11.000 PalästinenserInnen, die auf der westlichen Seite der Mauer leben, aber nicht nach Israel reisen dürfen, und ihr Zugang zu ihrem eigenen Eigentum und zu Dienstleistungen ist wegen der Mauer stark eingeschränkt (HRW 13.1.2022)
- Zugangsgenehmigungen für Teile der Westbank und für Israel sowie Schließungen von Übergängen
Israel schränkt die Bewegungsfreiheit der Palästinenser durch ein System von Ein- und Ausreisegenehmigungen ein. Je nach Reisegrund gibt es verschiedene Arten von Genehmigungen; das Antragsverfahren kann langwierig sein, und viele Anträge werden abgelehnt (UK Home Office 3.2020; vgl. Gisha o.D.): Die israelischen Behörden verlangten weiterhin, mit wenigen Ausnahmen, von InhaberInnen palästinensischer Personalausweise schwierig zu bekommende, temporäre Genehmigungen für den Zutritt zu Israel und weite Teile der Westbank, einschließlich Ost-Jerusalem. Das Antragsverfahren wird als intransparent und ohne wirkliche Berufungsmöglichkeiten bei den zahlreichen Ablehnungen, die keine Begründung enthalten, kritisiert (HRW 13.1.2022). COGAT, die für palästinensische zivile Angelegenheiten zuständige Einheit des israelischen Verteidigungsministeriums, gibt an, im Dezember 2019 mehr als 50.000 Einreisegenehmigungen für BewohnerInnen des Westjordanlands nach Israel erteilt zu haben (PRI 18.2.2020).
Die Übergänge zu den Palästinensischen Gebieten zwischen Israel und dem Westjordanland werden von israelischen Behörden kontrolliert und können ohne vorherige Ankündigung geschlossen werden. Die Schließungen der Übergänge an den jüdischen Feiertagen gelten grundsätzlich nur für Personen, die über eine palästinensische Personenkennziffer verfügen (AA 2.6.2022).
Es gibt auch Einschränkungen für Reisen zwischen der Westbank und Jerusalem (USDOS 11.3.2020), sowohl für MuslimInnen als auch für ChristInnen (USDOS 21.6.2019). Die israelischen Behörden hindern palästinensische MuslimInnen im Westjordanland regelmäßig daran, zum Beten nach Jerusalem zu reisen, und beschränken im Allgemeinen freitags den Zugang für junge Männer zum Tempelberg/Haram al-Sharif (FH 28.2.2022).
- Auslandsreisen
Im Westjordanland kontrolliert Israel alle Ein- und Ausreisepunkte. Israel überwacht auch alle Auslandsreisen aus der Westbank (B‘Tselem 11.11.2017): BewohnerInnen des Westjordanlands dürfen den internationalen Flughafen Ben Gurion nur in Ausnahmefällen benutzen (DIS 5.2019). PalästinenserInnen müssen für Auslandsreisen den Grenzübergang Allenby Bridge nach Jordanien verwenden (Haaretz 9.3.2022). Sie benötigen für die Einreise nach Jordanien für den Transit keine besondere Koordination oder Visa (DIS 5.2019).
Israel verbat jedoch im Jahr 2021 10,594 PalestinenserInnen aus der Westbank eine Auslandsreise mit der Begründung von Sicherheitserwägungen. Oft wird das Reiseverbot „automatisch“ erlassen – z.B. im Fall von in Terrorismus involvierten Verwandten. Viele Betroffene in den letzten Jahren erfuhren erst am Grenzübergang davon und konnten das Westjordanland nicht verlassen. Im Fall von Beschwerden gegen das Ausreiseverbot wurde diesem in fast der Hälfte der Fälle stattgegeben. Im Jahr 2021 waren dies 339 Beschwerden, welche in 49 Prozent der Fälle (143) stattgegeben wurde. Im Jahr 2019 hatte es bei 838 Beschwerden gegen Reiseverbote 352 Aufhebungen gegeben (Haaretz 9.3.2022).
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes, das Ergebnis der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und auf die im Verfahren vom Beschwerdeführer erstatteten Stellungnahmen und von ihm vorgelegten Dokumente. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers (oben 1.1)
Die Angaben des Beschwerdeführers zu Staatenlosigkeit und Identität, die er im Zuge des Verfahrens vor dem BFA gemacht hat, waren auf Grund seiner Orts- und Sprachkenntnisse nicht zu bezweifeln. Seine Identität wurde bereits vom BFA als feststehend festgestellt und auch im Beschwerdeverfahren kamen keine Zweifel an dieser Beurteilung vor.
Die Feststellung zur Herkunft des Beschwerdeführers sowie dazu, dass der Beschwerdeführer zwar Palästinenser, aber nicht bei der UNRWA registriert ist, beruht auf seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben in der Einvernahme vor dem BFA am 30.05.2022 (NS EV 30.05.2022 S 16), zumal im Verfahren auch keine Hinweise dahingehend hervorkamen, die zu einer gegenteiligen Beurteilung führen würde.
Die Feststellungen zu seiner Ausreise aus dem Westjordanland im September 2021 und seiner Einreise nach Österreich im Jänner 2022 beruhen auf seinen Angaben im Verfahren, welche insofern stringent waren und keine Anhaltspunkte für die Annahme boten, dass der Beschwerdeführer diesbezüglich falsche Angaben gemacht hätte.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem aktuellen Strafregister der Republik Österreich.
2.2 Zum Gesundheitszustand (oben 1.2)
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruhen auf den dazu in der Einvernahme vor dem BFA am 30.05.2022 sowie in der der mündlichen Verhandlung am 26.03.2024 gemachten nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Angaben und den damit in Einklang stehenden und im Beschwerdeverfahren vorgelegten medizinischen Unterlagen (NS EV 30.05.2022 S 5, VS 26.03.2024 S 4; (Ambulanzbericht 29.12.2023 (VS 26.03.2024 Beilage))
2.3 Zum Vorbringen und dessen Glaubhaftigkeit (oben 1.3 und 1.4)
2.3.1 Die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Begründung seines Antrages auf internationalen Schutz (oben 1.3) beruhen auf seinen protokollierten Aussagen im Zuge der Befragungen durch den öffentlichen Sicherheitsdienst, der Einvernahme vor dem BFA sowie seinen schriftlichen Äußerungen und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung.
2.3.2 Die Feststellungen dazu, dass zwar eine Verfolgung aus persönlichen Rachemotiven glaubhaft ist, nicht jedoch eine Verfolgung aus politischen Motiven, einer bestehenden politischen Gesinnung oder einer dem Beschwerdeführer unterstellen politischen Gesinnung, sowie der Beschwerdeführer mit seinem Vorbringen damit insgesamt nicht glaubhaft gemacht hat, dass er im Fall seiner Rückkehr in das Westjordanland zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit individuell konkret einer unmittelbaren Bedrohung aufgrund ethnischen, religiösen oder politischen Gründen oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt sein wird (oben 1.4), waren aus den folgenden Gründen zu treffen:
Glaubhafte Verfolgung aus persönlicher Rache
2.3.2.1 Der Beschwerdeführer gab in der Einvernahme vor dem BFA am 30.05.2022 an, dass der Leiter des Sicherheitsapparates namens XXXX ein Verwandter des XXXX sei (NS EV 30.05.2022 S 10: „Der Mann der das dort geleitet hat, war verwandt mit Islam.“; S 11: „Bei der zweiten Anzeige beim Sicherheitsapparat wurde ich wieder vom militärischen Nachrichtendienst abgeholt. Direkt von dem Leiter XXXX .“). Aus dem Versöhnungsabkommens, das der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA erwähnt und in gescannter Form vorgelegt hat, ergibt sich, dass XXXX den gleichen Nachnamen trägt, nämlich „ XXXX “ (NS EV 30.05.2022 S 10; OZ 19).
Im Zuge der Einvernahme vor dem BFA gab der Beschwerdeführer des Weiteren mehrfach und ausschließlich an, dass die Verfolgung wegen seiner Probleme mit XXXX erfolgt, ohne dabei eine politische Motivation zu erwähnen.
Siehe NS EV 30.05.2022 S 11:
„Bei der zweiten Anzeige beim Sicherheitsapparat wurde ich wieder vom militärischen Nachrichtendienst abgeholt. Direkt von dem Leiter XXXX . … XXXX hatte gesagt, wenn ich wieder Probleme mit XXXX haben würde, dann würde ich entweder im Gefängnis landen oder ich würde auf der Stelle getötet werden. Darum habe ich mein Heimatland verlassen. Das System ist bei uns nicht wie hier. Die Clans regieren dort. Es gibt friedliche Lösungen außerhalb des Gerichtes zwischen den Stämmen. Anders gesagt kann ich sagen, dass sie bei der Behörde angestellt waren bzw. hatten sie die Hände bei der Behörde im Spiel. Ich konnte nichts gegen sie machen.“
sowie S 13:
„Das Versöhnungsabkommen haben wir uns geeinigt, dass wir beide Seiten in Ruhe lassen müssen. Sie dürfen aber nicht vergessen, er hat mich geschlagen und ich habe ihn verletzt. Es gibt Blutrache. Wir waren nicht vor Gericht. Ich kann verstehen, dass Sie diese Geschichte nicht verstehen können. Hier in Österreich läuft das alles anders. Die Polizei bei uns ist anders. Es ist unmöglich zu einer Lösung zu kommen.“
und S 17: „… ich habe Probleme mit Islam. Wenn ich zurückkehre, dann habe ich mit diesem Islam wieder Probleme.“ … „Wenn ich zurückkehre, dann gibt es Sicherheitslage Probleme und die Probleme mit der Person XXXX . Es kann sein, dass ich seitens der Regierung verhaftet werde.“
Aus den Länderfeststellungen ergibt sich, dass Familienclans im Westjordanland eine große Rolle spielen und rivalisierende Großfamilien ihre Konflikte oft außerhalb des palästinensischen Rechtssystems austragen. Morde werden mit Blut vergolten, es sei denn, die Angelegenheiten können zwischen den Ältesten der Familien vermittelt werden. Dabei spielen Geldzahlungen und die Ehre der jeweiligen Familie eine große Rolle. Staatliche Ermittlungen lassen Clanfamilien nicht immer zu. Häufig sind Mitglieder von Großfamilien auch im palästinensischen Sicherheitsapparat tätig. (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete – Westjordanland/West Bank, 03.06.2022, Sicherheitslage)
Unter Berücksichtigung der im hier dargestellten Umfang widerspruchsfreien und schlüssigen Angaben des Beschwerdeführers, die zudem mit den Länderfeststellungen zu den Verhältnissen im Westjordanland in Einklang stehen, erweist es sich als glaubhaft, dass der Beschwerdeführer aus persönlichen Rachemotiven des XXXX von dessen Verwandten, die bei den Sicherheitsbehörden arbeiten, mit Vorladungen, temporären Festnahmen und Inhaftierungen, Misshandlungen und anschließenden Wiederfreilassungen schikaniert wurde, weil der Beschwerdeführer den XXXX im Zuge einer Auseinandersetzung mit einer Rasierklinge verletzt hatte und XXXX mit dem Beschwerdeführer verfeindet ist.
Kein politischer Zusammenhang
2.3.2.2 Der Beschwerdeführer hat nach der am 30.05.2022 erfolgten Einvernahme vor dem BFA noch während des Verfahrens beim BFA am 05.12.2022 eine schriftliche Stellungnahme abgegeben und auch im Zuge dieser keinen politischen Zusammenhang zu seiner Verfolgung vorgebracht. (Stellungnahme 15.12.2022 (AS 161 f))
Erst nachdem das BFA im angefochtenen Bescheid darauf hingewiesen hat, dass es sich bei seinem Konflikt mit XXXX um eine persönliche und private Angelegenheit handle (BFA Bescheid S 52 f), brachte der Beschwerdeführer in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung am 26.03.2024 abweichend von seinen bis dahin gemachten Angaben vor, dass sein Hauptproblem mit der Regierung sei und ihm vorgeworfen worden sei, ein Terrorist und Staatsfeind und Mitglied der oppositionellen Parteien zu sein sowie an Demonstrationen für den Sturz der Regierung teilgenommen zu haben und sich den Gruppierungen angeschlossen zu haben. (Beschwerde 12.04.2023 S 3, 18; VS 26.03.2024 S 10 f)
Der Beschwerdeführer verfügt über eine abgeschlossene höhere Schulbildung und mehrjährige, fast abgeschlossene vierjährige Universitätsausbildung (NS EV 30.05.2022 S 8). Es ist daher nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA die Verfolgungshandlungen nur in Zusammenhang mit seinem Konflikt mit XXXX gestellt hat, jedoch überhaupt keine politischen Unterstellungen, Verdächtigungen oder Vorwürfe gegen ihn angegeben hat. So führte er beim BFA eine Drohung des XXXX an, für den Fall, dass der Beschwerdeführer wieder Probleme mit XXXX haben würde. Er verwies darauf, dass in seiner Heimat die Clans regieren würden und diese in seinem Fall auch bei der Behörde angestellt gewesen seien bzw dort ihre Hände im Spiel gehabt hätten. Er gab an, dass es um Blutrache gehe. Und er gab an, bei einer Rückkehr wieder Probleme mit der Person XXXX haben würde; dabei erwähnte er auch, dass es sein könne, dass er seitens der Regierung verhaftet werde würde, wobei er auch hier keinen politischen Zusammenhang herstellte. (siehe dazu die bereits oben unter 2.4.2.1 angeführten Auszüge aus der Einvernahme vor dem BFA) Dieses Aussageverhalten spricht gegen die Glaubhaftigkeit seines nachfolgenden Vorbringens, dass er aus politischen Gründen oder einer ihm unterstellten politischen Gesinnung verfolgt worden sei.
Es ist auch nicht schlüssig, wenn der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Verhandlung vorbringt, dass die Regierung der „Hauptgrund“ seiner Probleme sei, die ihm diese eine oppositionelle Gesinnung unterstellt habe (VS 26.03.2024 S 10 iVm S 11), er dies aber nicht bereits in der Einvernahme vor dem BFA explizit dargelegt hat.
Soweit er in der mündlichen Verhandlung unter anderem vorbrachte, dass ihm auch vorgeworfen worden sei, an Demonstrationen für den Sturz der Regierung teilgenommen zu haben, ist dazu auf seine noch vor dem BFA gemachten Angaben zu verweisen, wonach er zuletzt einmal im Jahr 2017 an einer (nicht näher beschriebenen) Demonstration teilgenommen habe, er deshalb aber keine Probleme bekommen habe. (NS EV 30.05.2022 S 14, 15) Auch in diesem Zusammenhang erwähnte er von sich aus nicht, dass ihm später einmal vorgeworfen worden wäre, an Demonstrationen teilgenommen zu haben.
Es ist auch nicht schlüssig, dass der Beschwerdeführer bei einem tatsächlich gegen ihn bestehenden Verdacht auf eine oppositionelle, staatsfeindliche oder terroristische Gesinnung immer wieder nur kurzzeitig festgehalten und anschließend ohne weiteres sicherheitsbehördliches oder gerichtliches Verfahren wieder freigelassen worden wäre. Auch dies spricht gegen die von ihm in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Behauptung, von der Regierung verfolgt zu werden, sondern vielmehr für Rachehandlungen der Verwandten des XXXX wegen dessen erlittener Verletzung durch den Beschwerdeführer.
Schließlich enthalten auch die vom Beschwerdeführer vorgelegten zwei Vorladungen zu einer Polizeidienststellte in Tulkarm im Jahr 2019 bzw 2020 keine Angaben zu den Gründen für die Vorladung. (OZ 3)
In der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass wegen der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Israelis und Palästinensern seit dem 7. Oktober 2023 im Jänner oder Februar 2024 (VS 26.03.2024 S 14: „vor cirka eineinhalb bis zwei Monaten“) auch sein Familienhaus von Israelis durchsucht und die Israelis dabei gewalttätig gewesen seien, seit 7. Oktober ca 79.000 Personen festgenommen und viele Häuser zerstört worden seien, sein Bruder Ahmad verletzt worden sei und bereits 12 Personen aus seiner Familie gestorben seien. Dies erweist sich vor dem Hintergrund der Berichtslage zur aktuellen Situation im Westjordanland als glaubhaft, doch ergibt sich daraus nicht, dass dabei konkret nach dem Beschwerdeführer persönlich gesucht worden wäre oder es sich dabei um eine Verfolgungshandlung aufgrund einer im unterstellten politischen Gesinnung gehandelt hätte. Dies wurde vom Beschwerdeführer auch nicht behauptet.
Keine anderen Verfolgungsgründe
2.3.2.3 Der Beschwerdeführer gab im Verfahren an, er habe kein Problem wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, kein Problem wegen seiner Religion. Er habe zuletzt einmal im Jahr 2017 bei einer Demonstration teilgenommen, habe deshalb jedoch keine Probleme bekommen, sei nicht festgenommen worden. (NS EV 30.05.2022 S 16)
Ergebnis
2.3.2.4 Aus den soeben dargestellten Gründen gelangt das Bundesverwaltungsgericht in einer Gesamtbetrachtung aller Argumente insgesamt zu der Überzeugung, dass zwar eine Verfolgung aus persönlichen Rachemotiven glaubhaft ist, nicht jedoch eine Verfolgung aus politischen Motiven, einer bestehenden politischen Gesinnung oder einer dem Beschwerdeführer unterstellen politischen Gesinnung. Der Beschwerdeführer hat mit seinem Vorbringen damit insgesamt nicht glaubhaft gemacht hat, dass er im Fall seiner Rückkehr in das Westjordanland zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit individuell konkret einer unmittelbaren Bedrohung aufgrund ethnischen, religiösen oder politischen Gründen oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt sein wird, oder ihm aus einem dieser Motive staatlicher Schutz verweigert werden würde.
2.4 Zur Lage im Westjordanland (oben 1.5)
Den hier getroffenen Ausführungen zur allgemeinen Lage im Westjordanland beruhen auf den angeführten Länderinformationsquellen und ergeben sich insbesondere aus dem aktuellsten OCHA: Humanitarian Situation Update #242 West Bank vom 28.11.2024, dem Situationsbericht von Ärzte ohne Grenzen: Gaza-Israel War vom 08.11.2024, dem Bericht von OCHA Kurzdarstellung: Bewegung und Zugang im Westjordanland vom September 2024, dem ORF Bericht Westjordanland: UNO geht mit Israel hart ins Gericht vom 09.09.2024, der Kurzinformation der Staatendokumentation – Palästinensische Gebiete – Westjordanland Versorgungslage vom 09.02.2024, Kurzinformation der Staatendokumentation Palästinensische Gebiete – Westjordanland Sicherheitslage (ohne das von Israel annektierte Ostjerusalem) vom 24.01.2024 und dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete – Westjordanland/West Bank, 03.06.2022. Die herangezogenen Quellen sind aktuell. Angesichts der Ausgewogenheit und Seriosität der genannten Quellen sowie der Schlüssigkeit der weitestgehend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Spruchpunkt I
Zum Status eines Asylberechtigten (§ 3 AsylG 2005)
3.1 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra 2015/19/0143).
Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen. (VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009)
Zum gegenständlichen Fall
3.2 Der Beschwerdeführer ist nicht bei der UNRWA als Flüchtling registriert. Im vorliegenden Fall ist glaubhaft, dass der Beschwerdeführer aus persönlichen Rachemotiven des XXXX von dessen Verwandten, die bei den Sicherheitsbehörden arbeiten, mit Vorladungen, temporären Festnahmen und Inhaftierungen, Misshandlungen und anschließenden Wiederfreilassungen schikaniert wurde, weil der Beschwerdeführer den XXXX im Zuge einer Auseinandersetzung mit einer Rasierklinge verletzt hatte und XXXX mit dem Beschwerdeführer verfeindet ist.
Nicht glaubhaft ist hingegen, dass der Beschwerdeführer aus politischen Motiven, einer bestehenden politischen Gesinnung oder einer ihm unterstellen politischen Gesinnung verfolgt wurde.
Im vorliegenden Fall lässt sich die vom Beschwerdeführer befürchtete Verfolgung durch Verwandte des XXXX aus Gründen der Rache nicht auf eine Verfolgung aus einem in der GFK genannten asylrelevanten Motiven erkennen, zumal sich im Falle des Beschwerdeführers eine allfällig drohende Rache nicht etwa gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen mit dem Täter gemeinsamer oder von ihm herrührender Abstammung (vgl. VwGH 26.02.2002, 2000/20/0517) sondern gegen den Beschwerdeführer als Täter selbst richtet (vgl. VwGH 08.06.2000, 2000/20/0141).
Eine andere Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Religion hat er selbst verneint.
Der Beschwerdeführer hat damit insgesamt nicht glaubhaft gemacht, dass er im Fall seiner Rückkehr in das Westjordanland zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich – mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit – individuell konkret einer unmittelbaren Bedrohung aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen oder aufgrund der Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt sein wird, oder ihm aus einem dieser Motive staatlicher Schutz verweigert werden würde.
3.3 Es liegt somit im Falle des Beschwerdeführers keine Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten sind damit nicht gegeben.
3.4 Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides des BFA wird daher als unbegründet abgewiesen.
Spruchpunkt II
Zum Status eines subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs 1 AsylG 2005)
3.5 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Hinblick auf das Vorliegen einer allgemein prekären Sicherheitslage - unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung von EGMR und EuGH - zum Vorliegen eines reales Risikos iSd Art 3 MRK ausgesprochen, dass diese Voraussetzung nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") erfüllt ist. In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (VwGH 30.09.2019, Ra 2018/01/0068).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes orientiert sich der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs 1 Z 2 Asyl 2005 an Art 15 lit c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) und umfasst - wie der EuGH erkannt hat - eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. (VwGH 30.09.2019, Ra 2018/01/0068)
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art 2 oder 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art 2 oder 3 MRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH 31.01.2019, Ra 2018/14/0196).
Zum gegenständlichen Fall
3.6 Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt droht dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in das Westjordanland erneut, aus persönlichen Rachemotiven des XXXX von dessen Verwandten, die bei den Sicherheitsbehörden arbeiten, mit Vorladungen, temporären Festnahmen und Inhaftierungen, Misshandlungen und anschließenden Wiederfreilassungen schikaniert zu werden, weil der Beschwerdeführer den XXXX im Zuge einer Auseinandersetzung mit einer Rasierklinge verletzt hatte und XXXX mit dem Beschwerdeführer verfeindet ist, wobei dies weder aus politischen Motiven, einer bestehenden politischen Gesinnung oder einer dem Beschwerdeführer unterstellen politischen Gesinnung erfolgt. Ein staatlicher Schutz ist vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nicht gegeben, da demnach die Clanstrukturen ein Machtpotential entwickelt haben, mit dem die Palästinensische Autonomiebehörde aufgrund ihrer eingeschränkten Ressourcen kaum Schritt halten kann und die Verwandten des XXXX selbst im palästinensischen Sicherheitsapparat tätig sind.
Davon abgesehen hat sich entsprechend den Länderinformationen die allgemeine Sicherheitslage im Westjordanland seit den Ereignissen, die sich im Gazastreifen seit dem 07.10.2023 zugetragen haben, erheblich verschlechtert, die Lage ist äußerst volatil. In den Städten im Westjordanland erleben die Menschen eine Explosion der Gewalt gegen sie. Die steigende Gewalt geht mit Verhaftungen und Bewegungseinschränkungen für PalästinenserInnen im Westjordanland einher. Es kommt dabei auch regelmäßig zu Vertreibungen, Verletzungen und Tötungen von PalästinenserInnen. Die Lage wird vom UNO-Menschenrechtskommissar als katastrophal bezeichnet. Die bereits zuvor bestehenden Bewegungseinschränkungen wurden seit dem 7. Oktober weiter massiv verstärkt. (siehe dazu im Detail oben unter Punkt 1.5)
Im Hinblick auf die volatile Sicherheitslage im Herkunftsland des Beschwerdeführers sowie unter Berücksichtigung, dass eine nachhaltige Verbesserung der Sicherheitslage in der Heimatregion des Beschwerdeführers in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, besteht mit der erforderlichen Sicherheit ein „real risk“, dass dem Beschwerdeführer eine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht.
3.7 Da somit im vorliegenden Fall sowohl aufgrund der persönlichen Verfolgung aus Rache durch Verwandte des XXXX als auch auf Grund der aktuellen Lage im Westjordanland bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers die konkrete Gefahr einer Verletzung im Besonderen der auch durch Art 3 EMRK gewährleisteten Rechte besteht, ist dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Westjordanland zuzuerkennen.
3.8 Hinweise für das Vorliegen eines Abweisungsgrundes gemäß § 8 Abs 3a AsylG sind nicht hervorgekommen.
3.9 Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides wird daher stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf das Westjordanland (West Bank) zuerkannt.
Spruchpunkt III
Zur Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung (§ 8 Abs 4 AsylG 2005)
3.10 Gleichzeitig mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist auch eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Diese gilt ein Jahr, beginnend mit der Zustellung des gegenständlichen Erkenntnisses. (siehe VwGH 28.03.2023, Ra 2022/20/0330 mwN)
Spruchpunkt IV
Zur Behebung der Spruchpunkt III und VI des angefochtenen Bescheides
3.11 Nach dem zuvor dargestellten Ergebnis sind gleichzeitig die Spruchpunkt III und VI des angefochtenen Bescheides mangels des Vorliegens einer gesetzlichen Grundlage dafür ersatzlos zu beheben.
B)
Revision
3.12 Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist.
3.13 Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.