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W192 2269129-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
30. Oktober 2024

Spruch

W192 2269129-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Kolda gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.02.2023, Zahl: 1337659005/223957439, zu Recht:

A) Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Gang des Verfahrens

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 19.12.2022 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab er an, dass er der Volksgruppe der Tadschiken angehöre und Muslim sunnitischer Ausrichtung sei. Er habe im Herkunftsstaat 12 Jahre lang Schulen besucht. Er habe den Herkunftsstaat vor 13 Monaten verlassen und habe sich etwa eineinhalb Monate im Iran und acht Monate in der Türkei aufgehalten. Seine Eltern und drei Brüder würden im Iran, ein Onkel in Österreich leben. Zum Grund der Ausreise brachte der Beschwerdeführer vor, dass seine Familie bei der afghanischen Regierung gedient habe, bei der Armee gewesen sei und gegen die Taliban gekämpft habe. Als die Taliban das Land eingenommen hätten, sei sein Leben in Gefahr gewesen und er habe deshalb flüchten müssen.

Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 15.02.2023 gab der Beschwerdeführer an, dass er bei der Erstbefragung der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht habe und ihm das Protokoll rückübersetzt wurde. Der Beschwerdeführer legte eine afghanische Identitätskarte im Original vor, wobei seitens der Behörde bei einer Untersuchung keine Fälschungsmerkmale festgestellt wurden.

Der Beschwerdeführer habe nach dem Abschluss des zwölfjährigen Schulbesuchs eineinhalb Jahre Wirtschaft studiert und sei dann ausgereist. Die Familie habe vom Einkommen des Vaters, der im Iran auf Baustellen arbeite, gut gelebt. Die Eltern und drei Brüder des Beschwerdeführers würden im Iran leben, zwei Onkel seien in Österreich. Der Beschwerdeführer habe vor der Ausreise in Parwan gelebt und sei beim Sturz der Regierung nach Panjhsir gegangen. Die Ausreise seit etwa zweieinhalb Monate nach der Machtübernahme durch die Taliban erfolgt.

Ein Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers habe in der afghanischen Armee gegen Taliban gekämpft. Es seien alle Provinzen außer Panjhsir von den Taliban erobert worden. Der Beschwerdeführer sei gemeinsam mit dem Onkel und den Großeltern nach Panjshir geflüchtet und dort mit seinem Onkel in die Berge gezogen und habe Widerstand geleistet und gegen die Taliban gekämpft. Nach Gefechten hätten die Taliban Panjshir eingenommen und der Beschwerdeführer sei mit dem Onkel mütterlicherseits in den Iran geflüchtet.

Der Beschwerdeführer habe etwa 25 Tage lang an täglichen Gefechten teilgenommen. Zum Vorhalt, dass der Beschwerdeführer in der Erstbefragung nicht erwähnt habe, dass er selbst an Kampfhandlungen teilgenommen hätte, führte er aus, dass ihm mitgeteilt worden sei, sich kurz zu fassen. Im Falle einer Rückkehr habe der Beschwerdeführer Angst um sein Leben.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm jedoch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

Die Behörde stellte die Herkunft und die Familienverhältnisse des Beschwerdeführers gemäß seinen Angaben fest. Der Beschwerdeführer habe keine individuelle Bedrohungslage glaubhaft gemacht. Seine vagen Angaben über eine Bedrohung durch Taliban wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen gegen Taliban in Panjhsir habe keine direkt gegen den Beschwerdeführer gerichtete Bedrohung oder Verfolgungshandlung umfasst. Er habe keinen persönlichen Kontakt zu Taliban behauptet und sei von diesen niemals direkt bedroht worden.

Auch habe der Beschwerdeführer sein Vorbringen von der Erstbefragung zur Einvernahme gesteigert und dies nicht plausibel nachvollziehbar dargestellt, nachdem er bei der Erstbefragung, welche als korrekt bestätigte, noch ausgeführt hatte, dass bloß seine Familie und nicht er selbst für Regierung bzw. Armee tätig gewesen wären, und in der Einvernahme vorbrachte, dass auch er selbst an Gefechten beteiligt gewesen sei.

Die erfolgte Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde darauf gestützt, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Versorgungslage eine relevante Gefährdung drohe.

3. Gegen Spruchpunkt I dieses Bescheides richtet sich die mit Schriftsatz der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 17.03.2023 ausgeführte Beschwerde. Darin wurde vorgebracht, dass sich aus der vorgelegten Identitätskarte die Identität des Beschwerdeführers ergebe.

Die Behörde stütze ihren Verweis, dass sich entgegen Angaben des Beschwerdeführers Verwandte in Afghanistan befinden, auf Vernehmungen der in Österreich befindlichen Onkel des Beschwerdeführers, die bereits Monate bzw. Jahre zurückliegen und daher etwaige Veränderungen der familiären Situation nicht berücksichtigen.

Die Behörde habe verabsäumt, die Haltung des Beschwerdeführers gegenüber den Taliban zu ermitteln und habe aktuelle Länderberichte über die Situation von Minderheiten und Talibankritikern nicht berücksichtigt.

Aufgrund der ablehnenden Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber den Taliban, seiner Teilnahme an Kampfhandlungen gegen diese und - wenn auch nur unterstellten - Verwestlichung wäre dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 04.03.2024 eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt, bei welcher der Beschwerdeführer zu seinen Verfolgungsbehauptungen einvernommen und die Situation in seinem Herkunftsstaat erörtert wurde. Das BFA hat keinen Vertreter entsandt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Seine Identität steht fest. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Kapisa geboren. Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat 12 Jahre eine staatliche Schule besucht und in der Provinz Parwan ein Wirtschaftsstudium begonnen. Die Eltern und Brüder des Beschwerdeführers halten sich bereits seit 2012/2013 im Iran auf, wo der Vater des Beschwerdeführers den Lebensunterhalt für die Familie durch Arbeit auf Baustellen erwirtschaftet hat, während der Beschwerdeführer bei seinem Onkel mütterlicherseits in Afghanistan lebte, um zu studieren.

Der Beschwerdeführer hat den Herkunftsstaat im Herbst 2021 verlassen und reiste über den Iran, die Türkei, wo er sich neun Monate aufhielt, und über die sogenannte Balkanroute nach Österreich, wo er am 19.12.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Es wurde dem Beschwerdeführer durch den insoweit in Rechtskraft erwachsenen Bescheid des BFA vom 17.02.2023 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Er verfügt über eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis 13.02.2026.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur behaupteten Verfolgungssituation:

Der Beschwerdeführer war im Herkunftsstaat weder einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt noch hätte er dies im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten.

Es wird der Beurteilung zugrunde gelegt, dass ein Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers, bei dem dieser während seines Studiums in der Provinz Parwan gelebt hat, ein Angehöriger der Afghanischen Nationalen Armee der früheren Regierung war. Weiters wird zugrunde gelegt, dass der Beschwerdeführer nach der Machtübernahme der Taliban mit diesem Onkel und seinen Großeltern nach Panjshir geflüchtet ist und sich dort zunächst bei seinen Großeltern aufgehalten hat und danach mit seinem Onkel mütterlicherseits in die Berge geflüchtet ist. Dabei wurde der Beschwerdeführer auch im Gebrauch einer Waffe unterwiesen, habe aber nicht gegen jemand kämpfen wollen, sondern für den Notfall eine Waffe getragen. Es wird der Beurteilung zugrunde gelegt, dass der Beschwerdeführer während dieses Aufenthaltes in den Bergen in der Provinz Panjshir einmal bei einem nächtlichen Schusswechsel in Richtung Taliban geschossen habe. In weiterer Folge flüchtete der Beschwerdeführer zu Fuß aus der Provinz Panjshir in die benachbarte Provinz und verließ in weiterer Folge den Herkunftsstaat.

Es ist nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer - wie im Verlauf der Einvernahme vor dem BFA am 15.02.2023 behauptet – in Panjshir 25 Tage lang an Gefechten mit den Taliban teilgenommen habe und dabei täglich von der Waffe Gebrauch gemacht habe.

Der Beschwerdeführer ist nicht in das Blickfeld der Taliban Bewegung gelangt und es ist nicht wahrscheinlich, dass er als Unterstützer der NRF-National Resistance Front wahrgenommen werden sollte.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.

Weiters wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer nicht ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder von staatlichen Organen geduldete Verfolgung durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Tadschike), der Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer nicht aufgrund der Tatsache, dass er sich nunmehr seit Ende des Jahres 2022 in Europa aufhält, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre. Er hat keine "westliche Lebenseinstellung" angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan steht.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Politische Lage

Letzte Änderung 2023-09-21 13:02

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweisen bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a; VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023). Innerhalb weniger Wochen kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. GD 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme kündigten hochrangige Taliban-Führer eine weitreichende Generalamnestie an, die Repressalien für Handlungen vor der Machtübernahme durch die Taliban untersagte, auch gegen Beamte und andere Personen, die mit der Regierung vor dem 15.8.2021 in Verbindung standen (USDOS 12.4.2022a; vgl. UNGA 28.1.2022). Es wird jedoch berichtet, dass diese Amnestie nicht konsequent eingehalten wurde, und es kam zu willkürlichen Verhaftungen, gezielten Tötungen und Angriffen auf ehemalige afghanische Regierungsmitarbeiter (ANI 20.7.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, UNGA 28.1.2022).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022), was Experten als ein Zeichen für eine Spaltung der Gruppe in Bezug auf die künftige Ausrichtung der Herrschaft in Afghanistan bezeichnen (GD 6.7.2022). Seitdem sind die Mädchenbildung und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet habe, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" seien dabei, zu Ende zu gehen(AnA 18.4.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mudschahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Bisher hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 30.10.2022; vgl. REU 15.6.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder, unter anderem Iran, Türkei, Pakistan, Russland, China und Kazakhstan, entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban, Khan Muttaqi mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (OPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2023-09-15 15:51

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).

UNAMA registrierte zwischen dem 15.08.2021 und dem 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vgl. AA 26.6.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 1,587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 1,088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)

Ende 2022 und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023). Die Nationale Widerstandsfront, die Afghanische Freiheitsfront und die Bewegung zur Befreiung Afghanistans (ehemals Afghanische Befreiungsfront) bekannten sich zu Anschlägen in den Provinzen Helmand, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan und Panjsher (UNGA 27.2.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront im Bezirk Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).

Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und ISKP (Islamic State Khorasan Province) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).

Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022) so nahmen die im Lauf des Jahres 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung: 21.03.2023

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.7.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021).

Zentrale Akteure

Taliban

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).

Nach der US-geführten Invasion, mit der das ursprüngliche Regime 2001 gestürzt wurde, gruppierten sich die Taliban jenseits der Grenze in Pakistan neu und begannen weniger als zehn Jahre nach ihrem Sturz mit der Rückeroberung von Gebieten (CFR 17.8.2022). Nachdem die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen im August 2021 aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban mit einer raschen Offensive die Macht in Afghanistan (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a). Am 15.8.2021 floh der bisherige afghanische Präsident Ashraf Ghani aus Afghanistan und die Taliban nahmen Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (BBC 15.8.2022; vgl. AI 29.3.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität’ in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022a; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 unterstand die militärische Befehlskette der Kommission für militärische Angelegenheiten der Taliban. Diese Einrichtung wurde von MullahYaqoob, der 2020 zum Leiter der militärischen Operationen der Taliban ernannt wurde, sowie Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des Haqqani-Netzwerks, dominiert (EUAA 8.2022a, RFE/RL 6.8.2021). Die Kommission für militärische Angelegenheiten funktionierte ähnlich wie ein Ministerium, mit „Vertretern auf Zonen-, Provinz- und Distriktebene“ (VOA 5.9.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

In der Befehlskette von der untersten Ebene aufwärts untersteht jeder Taliban-Befehlshaber auf Distriktebene einem Provinzkommando. Drei oder mehr Provinzkommandos bilden Berichten zufolge einen von sieben regionalen „Kreisen“. Diese „Kreise“ werden von zwei stellvertretenden Leitern der Kommission für militärische Angelegenheiten beaufsichtigt, von denen einer für die „westliche Zone“ der militärischen Führung der Taliban (die 21 Provinzen umfasst) und der andere für die „östliche Zone“ (13 Provinzen) zuständig war (RFE/RL 6.8.2021; vgl. EUAA 8.2022a). Nach Einschätzung des United States Institute of Peace (USIP) wurde diese Aufteilung der Zuständigkeiten für militärische Angelegenheiten zwischen Yaqoob und Haqqani offenbar durch ihre jeweilige Ernennung zum Innen- und Verteidigungsminister der Taliban im September 2021 gefestigt (USIP 9.9.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022a; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022a; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021).

Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 29.12.2022). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 29.12.2022), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 20.7.2022).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.4.2022a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 20.7.2022).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind (AA 20.7.2022). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGA 28.1.2022). Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 20.7.2022).

Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus (MRG 5.2.2021b; vgl. AA 26.6.2023). Sie üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite, die über ein beträchtliches Vermögen innerhalb der Gemeinschaft verfügt. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG 5.2.2021b).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG 5.2.2021b). Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle Dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 21.03.2023

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 15% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA29.12.2022; vgl. USDOS 2.6.2022, AA 20.7.2022). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 29.12.2022; vgl. USDOS 2.6.2022). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AA 20.7.2022; vgl. USCIRF 8.2022, USDOS 2.6.2022). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte (USDOS 2.6.2022).

Dokumente

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020; vgl. SEM 12.4.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.4.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.4.2023; vgl. MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.4.2023).

Rückkehr

Letzte Änderung 2023-09-19 10:58

Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95 % aus Pakistan, 4% aus Iran und 1 % aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 ist fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 und die Gesamtzahl der Rückkehrer im Jahr 2022 (6.424) (UNHCR 1.8.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf und 25 % wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.7.2023).

Eine Studie von IOM, bei der Afghanen interviewt wurden, die zwischen Jänner 2018 und Juli 2021 aus der Türkei oder der EU nach Afghanistan zurückkehrten, berichtet, dass die Rückkehrer weiterhin mit erheblichen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind. Der größte Anteil der Befragten (45 %) gab an, arbeitslos zu sein, während 40 % sagten, sie arbeiteten für einen Tageslohn und fast 90 % der Befragten gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im ersten Halbjahr 2022 verschlechtert habe (IOM 5.9.2022).

Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaft ist in Folge der Machtübernahme der Taliban kollabiert. Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.6.2023).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden (IOM 12.1.2023). Das Reintegrations- und Entwicklungshilfeprojekt (RADA), welches 2017 ins Leben gerufen wurde, hat das Ziel, "eine geordnete, sichere, regelmäßige und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Umsetzung geplanter und gut verwalteter Maßnahmen". Es unterstützt Gemeinden mit einer hohen Anzahl an Rückkehrern durch Projekte wie den Bau von Bewässerungskanälen. Die Beratungstätigkeit des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) durch IOM wurde mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Auch ist die Bereitstellung von sofortiger Aufnahmeunterstützung am Flughafen Kabul derzeit ausgesetzt (IOM 12.1.2023).

Am 30.8.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem Interview an, dass viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist wären und die Taliban nicht glücklich darüber seien, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylwerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgeführt würden (KrZ 30.8.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen haben (EASO 1.1.2022). Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.6.2023).

Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die "Eliten" die das Land verließen. Sie würden nicht als "Afghanen", sondern als korrupte "Marionetten" der "Besatzung" angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein "guter Muslim" nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht "gut genug als Muslime" seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität [Anm.: öffentliche Universität mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten], beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich, dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als "die richtige Art von Mensch" bzw. nicht als "gute Muslime" wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die seit Langem bestehende Tradition der paschtunischen Männer, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht "der richtige Weg" sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, ebenso wie Personen mit westlichen Kontakten (EASO 1.1.2022).

Quelle: Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan Version 10 Datum der Veröffentlichung: 28.09.2023

Risikogruppen des früheren Zivil- und Militärpersonal der früheren Regierung

Aus dem Bericht von EASO, Afghanistan State Structure and Security Forces vom August 2020 ist ersichtlich, dass die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte des früheren Regimes laut einem Bericht des USDOD vom Dezember 2019 eine Stärke von 382 000 Angehörigen umfasst haben.

Zufolge dem Bericht von EUAA, Country Guidance Afghanistan vom Mai 2024 wurden bis zum 30.06.2023 durch UNAMA seit der Machtübernahme durch die Taliban zumindest 800 Fälle von Menschenrechtsverletzungen gegen früheres Zivil- und Militärpersonal der früheren Regierung erfasst, worin 218 Tötungen, 14 Fällen des erzwungenen Verschwindens, 424 Festnahmen und Anhaltungen 144 Fälle von Folter und diverse Drohungen umfasst wurden, wobei die meisten Fälle sich in den vier unmittelbar auf die Machtübernahme 2021 folgenden Monaten ereignet haben. Tötungen und Menschenrechtsverletzungen setzten sich 2022 und 2023 fort. Die Nichtregierungsorganisation Safety and Risk Mitigation Organization registrierte 2022 76 Tötungen und 57 Anhaltungen von Angehörigen der früheren Sicherheitskräfte, wobei ein Anstieg 2023 erfolgte, indem 27 Tötungen und 55 Anhaltungen allein im ersten Quartal erfasst wurden. Im zweiten Quartal registrierte diese Organisation zwei Fälle von Vergewaltigungen, 15 Tötungen und 35 Anhaltungen früherer Sicherheitskräfte in mehreren Provinzen.

Nach diesem Bericht von EUAA gab es über Fälle der Tötung, Anhaltung des erzwungenen Verschwindens, der Folter und Vergewaltigung von Familienangehörigen früherer Angehöriger der Sicherheitskräfte sporadische Berichte.

Dem Bericht ist auch zu nehmen, dass Taliban erklärt haben, es sei erwünscht, frühere Angehörige der afghanischen Nationalarmee in ihre Einheiten aufzunehmen und Kampagnen zur Rekrutierung von früheren Angehörigen der Sicherheitskräfte unternommen haben.

Aus diesen Feststellungen ist ersichtlich, dass angesichts der Mannschaftsstärke der Militär- und Sicherheitskräfte der früheren afghanischen Regierung von den berichteten Übergriffen durch Angehörige der Taliban nur ein sehr geringer Anteil im Umfang unterhalb von einem Prozent betroffen waren. Ebenso sind Übergriffe auf die in die entsprechenden Risikogruppen auch beinhalteten Familienangehörigen nach vorliegenden Berichten nur sporadisch erfolgt.

Risikogruppe der Tadschiken. als Angehöriger oder Unterstützer der NRF National Resistance Front:

Zufolge dem Bericht von EUAA, Country Guidance Afghanistan vom Mai 2024 (Abschnitte 3.4., 3.14.5.) besteht ein erhöhtes Risiko für Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken aus der Provinz Panjshir und aus dem Distrikt Andarab der Provinz Baghlan, als Angehöriger oder Unterstützer der NRF wahrgenommen zu werden.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Religionszugehörigkeit und Volksgruppenangehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben. Die Identität des Beschwerdeführers ergibt sich aus der vorgelegten und nach kriminaltechnischer Untersuchung als authentisch beurteilten ID-Karte.

Seine Herkunft, seine Ausbildung, der weitere Aufenthalt seiner Kernfamilie im Herkunftsstaat und nunmehr im Iran und der bisherige Aufenthalt im Bundesgebiet beruhen auf seinen dahingehenden Ausführungen im Laufe des Verfahrens.

Dass der Beschwerdeführer in Österreich subsidiär schutzberechtigt ist, ist dem angefochtenen Bescheid des BFA zu entnehmen. Seine strafgerichtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einem aktuellen Strafregisterauszug.

2.2.1. Zu den Verfolgungsbehauptungen:

Es werden im Verfahren die gleichlautenden Angaben des Beschwerdeführers, wonach er sich vor der Machtübernahme durch die Taliban bei einem Onkel mütterlicherseits zur Durchführung eines Studiums in der Provinz Parwan aufgehalten habe und danach vor Taliban mit diesem Onkel und seinen Großeltern in die Provinz Panjshir geflüchtet sei, zugrunde gelegt.

Es ist jedoch nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer - wie von ihm bei der Einvernahme gegenüber dem BFA am 15.02.2023 behauptet - „Widerstand geleistet und gegen die Taliban gekämpft“ und dabei etwa 25 Tage täglich unter Gebrauch seiner Waffe an Gefechten teilgenommen habe (Aktenseite 74). Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer zunächst bei der Erstbefragung keinerlei eigene Beteiligung am bewaffneten Widerstand gegen die Taliban geltend gemacht, sondern eine Bedrohung lediglich wegen einer Zugehörigkeit von Familienangehörigen zur afghanischen Armee des früheren Regimes behauptet hat. Wenn der Beschwerdeführer tatsächlich selbst im bewaffneten Widerstand gegen Taliban aktiv gewesen wäre, hätte er darüber bei der Frage nach dem Fluchtgrund bei der Erstbefragung unzweifelhaft Aussagen getroffen und nicht bloß eine unkonkrete Bedrohung wegen eines bloßen Naheverhältnisses von Familienangehörigen zur früheren Regierung bzw. deren Zugehörigkeit zur früheren Armee getätigt. Der Beschwerdeführer hat in weiterer Folge auch mit seinen Angaben in der Beschwerdeverhandlung am 04.03.2024 bestätigt, dass er tatsächlich nicht im bewaffneten Widerstand gegen Taliban aktiv war. Er hat in der Beschwerdeverhandlung vorgebracht, dass er in Panjshir meistens bei seinen Großeltern gewesen sei und sein Onkel die Familie verlassen habe, um mit anderen gegen Taliban zu kämpfen (Verhandlungsschrift S. 5). Er hat weiters zwar vorgebracht, dass er im Gebrauch einer Waffe unterwiesen worden sei, aber zugleich eingeschränkt: „Ich wollte nicht gegen jemanden kämpfen, aber ich habe für den Notfall eine Waffe getragen.“ (Verhandlungsschrift S.6)

Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auch in keiner Weise - wie zuvor gegenüber dem BFA - behauptet, dass er 25 Tage lang täglich an Gefechten teilgenommen habe, sondern lediglich eine einzelne Situation beschrieben, in welcher er bei einem nächtlichen Schusswechsel in Richtung Taliban geschossen habe (Verhandlungsschrift S. 7). Dazu hat der Beschwerdeführer auch auf Nachfrage klargestellt, dass dies das einzige Ereignis von einem Konflikt mit den Taliban gewesen sei, von dem er unmittelbar betroffen war. Somit ist ersichtlich, dass der Beschwerdeführer die gegenüber dem BFA erstatteten Behauptungen, wonach er über 25 Tage an bewaffneten Kampfhandlungen teilgenommen habe, nicht aufrechterhalten hat. Der Beschwerdeführer hat damit gemäß seinen aktuell erstatteten Vorbringen keinerlei konkrete Kontakte zu Angehörigen der Taliban behauptet, die dazu Anlass geben könnten, dass er in das Blickfeld von Angehörigen der Taliban-Bewegung geraten sei. Es ist nachhaltig unwahrscheinlich, dass die behauptete bloße Beteiligung an einem nächtlichen Schusswechsel dazu geführt haben könnte, dass der Beschwerdeführer Angehörigen der Taliban Bewegung bekannt geworden sein könnte.

Dies ergibt sich im Weiteren auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer nicht vorgebracht hat, dass er während seiner Ausreise aus den Herkunftsstaat von den nunmehrigen de facto-Machthabern registriert worden sei.

Es bestehen im Verfahren auch keine sonstigen Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer ein Naheverhältnis zur NRF-National Resistance Front unterstellt werden sollte, da er angesichts seiner Herkunft auch nicht dem nach Länderberichten bestehenden erhöhten Risiko von Personen aus Panjshir oder aus dem Distrikt Andarab der Provinz Baghlan ausgesetzt ist. Soweit im Beschwerdeschriftsatz vorgebracht wurde, es sei die Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber den Taliban nicht ermittelt worden, bleibt festzuhalten, dass sich in der Beschwerdeverhandlung letztlich ergeben hat, dass die vom Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA behauptete aktive Beteiligung am Widerstand gegen die Taliban nicht den Tatsachen entsprochen hat.

Zum im Verfahren geäußerten Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach für Afghanen, die mit der ehemaligen Regierung in Afghanistan oder mit den ehemaligen internationalen Streitkräften verbunden sind sowie deren Angehörige ein erhöhter Schutzbedarf bestünde, ist auszuführen, dass nicht verkannt wird, dass Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte schon laut UNHCR in dessen aktuellen Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen – Update 1 vom Februar 2023, Z 16 (ii), zu den Profilen mit einem seit dem 15.08.2021 erhöhten Bedarf an internationalen Schutz zu zählen sind. Explizit wurden von UNHCR dabei angemerkt, dass auch Familienangehörige häufig einem eigenen Risiko ausgesetzt seien.

Diesbezüglich ist jedoch zu betonen, dass auch vor dem Hintergrund der genannten Richtlinien von UNCHR nicht unbedingt und ausnahmslos von einer Verfolgungsgefahr der darin genannten Personen allein wegen der Erfüllung des entsprechenden Risikoprofils ausgegangen werden kann, sondern ist eine konkrete Einzelfallbetrachtung geboten.

Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer selbst aus den von ihm behaupteten Gründen für die Taliban von derart erhöhtem Interesse wäre, kann nicht erkannt werden, zumal er keinerlei konkrete Bedrohungssituation für ihn selbst in diesem Zusammenhang glaubhaft dargetan hat.

Für den Beschwerdeführer besteht auch keine Verfolgungsgefahr wegen einer bloßen Zugehörigkeit seines Onkels mütterlicherseits oder anderer Familienangehöriger zu den Sicherheitskräften der früheren Regierung:

Aus dem Bericht von EASO, Afghanistan State Structure and Security Forces vom August 2020 ist ersichtlich, dass die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte des früheren Regimes laut einem Bericht des USDOD vom Dezember 2019 eine Stärke von 382 000 Angehörigen umfasst haben.

Zufolge dem Bericht von EUAA, Country Guidance Afghanistan vom Mai 2024 wurden bis zum 30.06.2023 durch UNAMA seit der Machtübernahme durch die Taliban zumindest 800 Fälle von Menschenrechtsverletzungen gegen früheres Zivil- und Militärpersonal der früheren Regierung erfasst, worin 218 Tötungen, 14 Fällen des erzwungenen Verschwindens, 424 Festnahmen und Anhaltungen 144 Fälle von Folter und diverse Drohungen umfasst wurden, wobei die meisten Fälle sich in den vier unmittelbar auf die Machtübernahme 2021 folgenden Monaten ereignet haben. Tötungen und Menschenrechtsverletzungen setzten sich 2022 und 2023 fort. Die Nichtregierungsorganisation Safety and Risk Mitigation Organization registrierte 2022 76 Tötungen und 57 Anhaltungen von Angehörigen der früheren Sicherheitskräfte, wobei ein Anstieg 2023 erfolgte, indem 27 Tötungen und 55 Anhaltungen allein im ersten Quartal erfasst wurden. Im zweiten Quartal registrierte diese Organisation zwei Fälle von Vergewaltigungen, 15 Tötungen und 35 Anhaltungen früherer Sicherheitskräfte in mehreren Provinzen.

Nach diesem Bericht von EUAA gab es über Fälle der Tötung, Anhaltung des erzwungenen Verschwindens, der Folter und Vergewaltigung von Familienangehörigen früherer Angehöriger der Sicherheitskräfte sporadische Berichte.

Dem Bericht ist auch zu entnehmen, dass Taliban erklärt haben, es sei erwünscht, frühere Angehörige der afghanischen Nationalarmee in ihre Einheiten aufzunehmen und Kampagnen zur Rekrutierung von früheren Angehörigen der Sicherheitskräfte unternommen haben.

Aus diesen Feststellungen ist ersichtlich, dass angesichts der Mannschaftsstärke der Militär- und Sicherheitskräfte der früheren afghanischen Regierung von den berichteten Übergriffen durch Angehörige der Taliban nur ein sehr geringer Anteil im Umfang unterhalb von einem Prozent betroffen waren. Ebenso sind Übergriffe auf die in die entsprechenden Risikogruppen auch beinhalteten Familienangehörigen nach vorliegenden Berichten nur sporadisch erfolgt.

Daraus ergibt sich, dass sich aus der bloßen Zugehörigkeit zu diesen umschriebenen Risikogruppen eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht ohne Hinzutreten weiterer konkreter Anhaltspunkte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ableiten lässt. Solche Anhaltspunkte bestehen im vorliegenden Fall des Beschwerdeführers nicht.

2.2.2. Zu allfälligen weiteren Fluchtgründen:

Des Weiteren ist festzuhalten, dass eine Verfolgung des Beschwerdeführers alleine aufgrund des Umstandes, dass er der Volksgruppe der Tadschikenen angehört und sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt, nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Afghanistan kann trotz der nach wie vor bestehenden Spannungen unter den einzelnen Volksgruppen derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Umstände als Angehöriger der Tadschiken sunnitischen Glaubens mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bloß aus ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt werden würde. Der Beschwerdeführer hat im gesamten Verfahren nicht dargelegt, warum er konkret aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Glaubensrichtung einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein könnte.

Auch dafür, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines eher kurzen Aufenthalts in Europa und einer möglichen "Verwestlichung" seines Lebensstils erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre, bestehen keine Anhaltspunkte. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich auch kein konkretes Vorbringen erstattet. Vielmehr hat er im Verfahren angegeben, dass er Moslem sei, sodass eine Abwendung vom traditionell-religiös geprägten Lebensstil im Herkunftsstaat nicht vorliegt. Dass jeder afghanische Staatsangehörige, der sich einige Zeit in Europa aufgehalten hat, im Falle einer Rückkehr alleine aus diesem Grund einer Verfolgung ausgesetzt wäre, ergibt sich auch aus der Berichtslage nicht.

Dem Beschwerdeführer ist es zudem nicht gelungen, konkret und nachvollziehbar glaubhaft zu machen, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einen etwaigen westlichen Lebensstil so ausleben würde, dass er aufgrund dessen in den Fokus anderer Afghanen oder der Taliban geraten würde. Der Beschwerdeführer konnte keine konkreten Umstände darlegen, die ein besonderes Bedrohungsrisiko auf Grund einer „Verwestlichung“ begründen könnten. Für das Bundesverwaltungsgericht ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sich der Beschwerdeführer vielmehr an die in Afghanistan herrschenden Gegebenheiten und Vorschriften anpassen und einen etwaigen westlichen Lebensstil nicht in einer derart nach außen in Erscheinung tretenden Art ausleben würde.

Es ist dem Beschwerdeführer somit nicht gelungen eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen in seinem Herkunftsstaat in ausreichendem Maße substantiiert vorzubringen und glaubhaft zu machen.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die getroffenen Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation in Afghanistan stützen sich auf die zitierten Quellen. Diesen Feststellungen wurde im Verfahren nicht entgegengetreten. Zur Lage in Afghanistan wurden auch der weitere zitierte Bericht berücksichtigt (EUAA Country Guidance Afghanistan vom Mai 2024).

Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehenen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren.

Auch das European Asylum Support Office (EASO) war nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Die Agentur EUAA ist nach Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2021/2303 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021 über die Asylagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 439/2010 die zentrale Stelle, bei der transparent und unparteiisch sachdienliche, belastbare, objektive, präzise und aktuelle Informationen über einschlägige Drittstaaten gesammelt werden.

Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat.

Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und der Verwaltungsgerichtshof auch hinsichtlich der Einschätzung von EASO (EUAA) von einer besonderen Bedeutung ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den „EASO-Richtlinien“ (EUAA Country Guidance) verlangt (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte, wobei eine beweiswürdigende Auseinandersetzung im Detail oben erfolgt ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A) I. Abweisung der Beschwerde:

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080, mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).

Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 18.03.2021, Ra 2020/18/0450, mwN).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).

Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden (vgl. VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).

Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).

Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).

3.2.1. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, konnte der Beschwerdeführer eine Verfolgungsgefahr in Afghanistan seitens der Taliban nicht glaubhaft machen.

3.2.2. Zudem hat es der Beschwerdeführer nicht unternommenen, eine individuelle und konkret gegen ihn gerichtete Verfolgung iSd GFK auf Grund seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit glaubhaft zu machen. Da eine Gruppenverfolgung – in Hinblick auf die Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit – von Tadschiken und Sunniten in Afghanistan nicht gegeben ist und der Beschwerdeführer diesbezüglich auch keine individuelle Bedrohung dargetan hat, ist eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers nicht gegeben. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Beschwerdeführer als „verwestlicht“ wahrgenommen werden sollte. Auch EUAA bewertet in seinen Leitlinien vom Mai 2024 das Risikopotential von Männern, welche als „verwestlicht“ angesehen werden könnten, im Allgemeinen als minimaler als für Frauen. Es sind nach den zitierten Länderinformationen keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa Opfer von Gewalttaten wurden.

3.2.3. Es ist dem Beschwerdeführer insgesamt nicht gelungen, eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention im Herkunftsstaat glaubhaft darzutun. Daher ist die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

Es bleibt darauf hinzuweisen, dass einer (nicht asylrelevanten) Gefährdung des Beschwerdeführers in Bezug auf Afghanistan durch die Gewährung von subsidiärem Schutz durch die belangte Behörde hinreichend Rechnung getragen wurde.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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