JudikaturBVwG

L504 2290940-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
17. Oktober 2024

Spruch

L504 2290940-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX StA. Türkei, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2024, Zl. XXXX zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Die beschwerdeführende Partei [kurz: bP] stellte am 04.07.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Es handelt sich dabei um einen Mann, der seinen Angaben nach türkischer Staatsangehöriger ist.

In der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes führte die bP an, dass ihre Familie politisch verfolgt werde, da ihre Schwester bei der PKK sei. Die Familie werde immer wieder von der Polizei einvernommen.

Im Falle der Rückkehr habe sie Angst um ihr Leben.

Sie befürchte bei der Rückkehr keine Sanktionen.

Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA] brachte die bP zur persönlichen Problemlage im Herkunftsstaat vor, dass die Probleme wegen ihrer Schwester begonnen hätten, als die bP im April 2023 den Wehrdienst beendet habe. Die Schwester sei in dieser Zeit observiert worden und habe man die bP während ihrer Wehrdienstzeit dreimal strafversetzt. Die bP vermute, dass dies mit der Teilnahme der Schwester bei der PKK zu tun habe.

Nach dem Wehrdienst habe die bP anonyme Anrufe erhalten. Die Personen hätten sich als der Nationale Geheimdienst MIT ausgegeben und habe sich die bP viermal mit ihnen getroffen. Sie hätten versucht, die bP für sich zu gewinnen. Schließlich hätten sie der bP mitgeteilt, dass sie sie zur PKK nach Kandil schicken würde. Wenn die bP ihr Angebot nicht angenommen hätte, hätten sie ihr einen Strafakt untergejubelt, wonach die bP Verbindungen zur PKK habe. Die bP habe schließlich, unter dem Vorwand, sie müsse ihren kranken Cousin besuchen, die Flucht ergreifen können.

Im Jahr 2017 sei die bP einmal für zwei Tage in Gewahrsam gewesen. Sie sei auch verurteilt worden, die Strafverfolgung sei damals allerdings durch den Antrag ihres Anwaltes aufgehoben worden. Die bP habe auch mehrfach an Demonstrationen teilgenommen und sei dabei auch von der Polizei kontrolliert und durchsucht worden. Strafrechtliche Probleme habe die bP deswegen keine gehabt.

Sie werde aktuell seitens staatlicher Behörden nicht gesucht. Sie habe sich auch nicht politisch betätigt oder öffentlich geäußert. Gefragt ob sie in der Türkei vorbestraft sei, gab sie an, dass sie einmal ohne Zugticket gefahren sei und deswegen eine Geldstrafe erhielt. Die letzten 3 Jahre vor der Ausreise habe sie auch an keinen Newroz-Festen mehr teilgenommen.

Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt.

Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt.

Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist.

Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG wurde gegen die bP ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass die bP selbst keine Probleme aufgrund ihrer Nationalität, Rasse, politischen Gesinnung, ihres religiösen Hintergrundes oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorgebracht habe und hätten sich auch im Zuge des amtswegigen Ermittlungsverfahrens keine diesbezüglichen Hinweise ergeben.

Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde, Beweis erhoben.

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Identität und Herkunftsstaat:

Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen lt. Bundesamt fest.

Die bP ist der Volksgruppe der Kurden zugehörig.

Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist die Türkei.

1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:

Die bP ist in XXXX geboren und aufgewachsen. Sie besuchte 8 Jahre lang die Grundschule und 4 Jahre lang das Lyzeum. Sie verfügt über eine Berufsausbildung als Installateur und hat den Installationsbetrieb ihres Vaters übernommen. Der Betrieb wird aktuell wieder vom Vater der bP geführt.

1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:

Die Eltern und 2 Schwestern der bP sowie zahlreiche Verwandte leben nach wie vor in XXXX .

Eine der beiden Schwestern der bP wurde wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten, terroristischen Organisation zu einer Haftstrafe iHv 6 Jahren und 3 Monaten verurteilt.

1.4. Ausreisemodalitäten:

Sie reiste etwa im Juni 2023 mit ihrem Reisepass via Flugzeug legal aus der Türkei nach Serbien, von wo aus sie über Ungarn nach Österreich gelangte.

1.5. Aktueller Gesundheitszustand:

Die bP hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt.

1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich:

Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes

Die bP begab sich ohne Vorhandensein eines gültigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitels am 04.07.2023 in das Bundesgebiet.

Mit der am selben Tag erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.

Da ihr in diesem Verfahren weder der Status eines Asylberechtigten noch jener eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, erweist sich die Einreise gem. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG als rechtswidrig. Wer als Fremder nicht rechtmäßig einreist begeht eine Verwaltungsübertretung die als Offizialdelikt von der Verwaltungsstrafbehörde mit einer Geldstrafe von 100 bis 1000 Euro, im Wiederholungsfall mit 1000 bis 5000 Euro zu ahnden ist.

Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich

In Österreich lebt der Bruder der bP, der ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Dieser Antrag wurde im Wesentlichen mit den gleichen Argumenten begründet wie die bP und wurde der Antrag vom Bundesamt abgewiesen. Nach Beschwerdeerhebung hat der Bruder (L504 2290136-1) in weiterer Folge die Beschwerde hinsichtlich des Antrages auf internationalen Schutz zurückgezogen.

Die bP und ihr Bruder stehen etwa alle ein bis zwei Wochen über WhatsApp in Kontakt.

Grad der Integration

Die bP kann keine relevanten Deutschkenntnisse vorweisen und hat in Österreich keine Kurse besucht. Auch sonst konnte die bP keine Umstände darlegen, die auf eine relevante bzw. gar außergewöhnliche Integration hindeuten würden.

Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Verfahrens bzw. Teilnahme an auch für Asylwerber real möglicher und gesetzlich erlaubter Erwerbstätigkeit (ds. mit Beschäftigungsbewilligung, Werkvertrag, Arbeiten im Rahmen des Grundversorgungsgesetzes, Dienstleistungen über Dienstleistungsscheck)

(Quelle: https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wie-koennen-asylwerber-innen-beschaeftigt-werden) oder Abhängigkeit von staatlichen Leistungen

Die bP ist seit ihrer Einreise wirtschaftlich von staatlichen Zuwendungen im Rahmen der Grundversorgung abhängig.

Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienlebens; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren

Die bP hat diese Anknüpfungspunkte während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war.

Bindungen zum Herkunftsstaat

Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat – im Gegensatz zu Österreich – problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie wurde somit im Herkunftsstaat sozialisiert und kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens einschließlich der gegebenen sozialen Unterstützungsnetzwerke. Es leben dort auch noch insbes. Familienangehörige.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.

Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen

In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf.

Das Vorliegen von rk. Verwaltungsstrafen wurde dem BVwG von der Polizei bzw. den Verwaltungsstrafbehörden einschließlich dem Bundesamt nicht mitgeteilt und ergibt sich auch nicht aus dem Akteninhalt der belangten Behörde.

Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts

Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise (bei strafmündigen Personen) gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG).

Verfahrensdauer

Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 04.07.2023 gestellt und erging der Bescheid vom Bundesamt am 15.03.2024. Nach eingebrachter Beschwerde erging mit heutigem Erkenntnis die Entscheidung im Beschwerdeverfahren.

1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet:

a) Betreffend ihrer persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:

Die bP unterlag zum Zeitpunkt der Ausreise keiner Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure und ist auch im Falle der Rückkehr eine solche nicht real bzw. mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der bP als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht.

b) Betreffend der Sicherung ihrer existentiellen Grundbedürfnisse im Herkunftsstaat:

Die Grundbedürfnisse sind im Falle der Rückkehr gesichert.

Die bP war im Hinblick auf Unterkunft und Versorgung mit Lebensmitteln auch vor der Ausreise schon in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern und kam nicht hervor, dass dies bei einer Rückkehr nicht gegeben wäre. Sie ist erwerbsfähig, verfügt über Berufserfahrung und hat im Herkunftsstaat Familienangehörige samt Unterkunft.

1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat

Aus dem im Bescheid enthaltenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation ergeben sich nachfolgende Feststellungen über die relevante Lage:

Politische Lage

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.).

Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).

Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).

Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).

o Das Präsidialsystem

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022a, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).

o Machtfülle des Staatspräsidenten

Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, S. 13-15; vgl.EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, S. 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 14).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).

o Monitoring des Europarates

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).

o Präsidentschaftswahlen

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl.PRT 10.3.2023).

Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (Zeit online 22.5.2023).

Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKKFührungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).

In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023,taz 10.4.2023).

o Das Parlament

Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).

Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİPartei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Das Ergebnis wurde am 30.5.2023 mit dem Entscheid des Obersten Wahlrates amtlich (YSK 30.5.2023).

In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdischislamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partie, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die LIsten der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).

Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).

Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).

Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. - Der politische Pluralismus wurde weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz Oppositionsparteien und einzelne Parlamentsabgeordnete, insbesondere der HDP, wegen angeblicher Terrorismusdelikte ins Visier nahm. Das System der parlamentarischen Immunität bietet den Oppositionsabgeordneten keinen ausreichenden Rechtsschutz, um ihre Ansichten innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit zu äußern. Bis zum Ende der 27. Legislaturperiode (2018-2023) belief sich die Gesamtzahl der Abgeordneten, gegen die ein Beschluss über die parlamentarische Immunität und ein Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität vorlag, auf 206 (180 von ihnen gehörten der parlamentarischen Opposition an). Allerdings wurde während des Berichtszeitraums der Europäischen Kommission (Juni 2022 - Juni 2023) weder einem bzw. einer Abgeordneten die Immunität entzogen noch wurde er bzw. sie wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Zwei ehemalige HDP-KoVorsitzende und mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete befinden sich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ihren Gunsten immer noch im Gefängnis [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 13-14); vgl.CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). Drei Abgeordnete der HDP hatten ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus verloren (CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). - Der EGMR hatte am 1.2.2022 entschieden, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der HDP, unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität aufgehoben hatte (BIRN 1.2.2022). - Das Europäische Parlament "missbilligt[e] das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten" und "erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden" (EP 13.9.2023, Pt. 13). Das Verfahren zum Verbot der HDP wegen Terrorismusvorwürfen, einschließlich des Ausschlusses von 451 HDP-Mitglieder von politischer Betätigung sind weiterhin vor dem Verfassungsgericht anhängig [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 14).

Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Schließungsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).

o Eingriffe in die lokale Demokratie

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15).

Bis Juni 2023 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister verhaftet und 39 Bürgermeister inhaftiert [arrested]. Sechs HDP-Bürgermeister sitzen weiterhin im Gefängnis [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] (EC 8.11.2023, S. 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13). Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt, ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).

Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 8.11.2023, S. 14).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-03-07 13:56

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, S. 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).

Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).

Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vgl. EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, S. 29).

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).

Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).

o Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).

Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).

Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

o Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens

2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. BS 23.2.2022a, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022a), und dies trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022a). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. EC 8.11.2023, S. 23, USDOS 20.3.2023a, S. 2, 16). In seiner Entschließung vom 13.9.2023 bekräftigte das Europäische Parlament uneingeschränkt den Inhalt der Entschließung aus dem Vorjahr im Sinne, dass die "dargestellte desolate Lage in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor unverändert ist" (EP 13.9.2023, Pt. 8). Bei der Anwendung des EU-Besitzstands und der europäischen Standards im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte befindet sich die Türkei laut der Europäischen Kommission (EK) noch in einem frühen Stadium. Laut EK kam es sogar zu Rückschritten (EC 8.11.2023, S. 23). In diesem Zusammenhang betonte die Präsidentin der Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (MEDEL), der Vereinigung der Europäischen Richter für Demokratie und Freiheit, Mariarosaria Guglielmi, im Juni 2023, dass die türkischen Bürgerinnen und Bürger aufgrund der jahrelangen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, des harten Zugriffs der politischen Mehrheit auf den Obersten Justizrat und der Massenverhaftungen und Prozesse gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte derzeit keinen wirksamen gerichtlichen Schutz ihrer Grundrechte genießen. Diese Situation wird durch die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung noch verschärft, die zu einem mächtigen Instrument für die Verfolgung von Oppositionellen und all jenen, die unrechtmäßig verhaftet wurden, durch die Justiz geworden ist (MEDEL 23.6.2023).

o Faires Verfahren

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9).

Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11).

Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019). Ein jüngstes, prominentes Beispiel hierfür:

In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023a S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023a, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).

o Geheime bzw. anonyme Zeugen

Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u.a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person nicht gibt (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020a). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).

Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).

Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020a).

o Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (Rat der EU 14.12.2021a, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).

Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44). [Siehe auch die Kapitel: "Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland" und "Gülen- oder Hizmet-Bewegung"]

o Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand

"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl.ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022).

o Politisierung der Justiz

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7f.).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (Bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).

Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2023 auf Rang 117 von 142 Ländern (2021: Platz 116 von 140 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator viel weiter auf 0,41 ab (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 133 von 142) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 137 von 142) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 12.2023).

o Konflikt der Höchstgerichte und dessen Politisierung durch die Regierung

Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11f.; vgl. LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, das für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1.11.2023 eine Klage gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts ein. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete Atalay noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere Tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben, denn die Klage wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Kassationsgerichts eingereicht, also bei jener Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben (LTO 29.11.2023).

o Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte

Es gab der Europäischen Kommission zufolge keine Fortschritte bei der Beseitigung des unzulässigen Einflusses und Drucks der Exekutive auf Richter und Staatsanwälte, was sich wiederum negativ auf die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Qualität der Justiz auswirkt (EC 8.11.2023, S. 5, 24).

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; ÖB Ankara 28.12.2023). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 10.3.2023, F1).

Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission entschied der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26).

Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11; vgl. EC 19.10.2021, S. 23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9f.; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP/Can 10.6.2021, S. 3). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 10.3.2023, F1).

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend TerrorismusVorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10f.).

o Aufbau des Justizsystems

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).

o Rolle des Verfassungsgerichts

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 28.7.2022, S. 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).

Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen. Allerdings scheint laut Justizministerium die Zahl der unbehandelten Verfahren rückläufig zu sein (ÖB Ankara 28.12.2023 S. 9).

Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 20.3.2023a, S. 18). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

o Präsidentendekrete

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: "Politische Lage"]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

o Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 12f.).

o Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19).

Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19f.). Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23).

Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20).

o Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDPPolitikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kultur-Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f).

Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE-CM 3.12.2021), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE-CM 3.2.2022). Trotz alledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (Zeit online 28.12.2022). Am 28.9.2023 hat das Kassationsgericht die lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt (AI 29.9.2023; vgl. DW 28.9.2023).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

Die Regierung (Exekutive) verfügt weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften. Der Umfang des militärischen Justizsystems wurde eingeschränkt. Höhere zivile Gerichte überprüfen weiterhin Berufungen gegen Entscheidungen von Militärgerichten. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte bleibt jedoch unvollständig, da es keine wirksamen Rechenschaftsmechanismen gibt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17).

Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023a, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u.a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 7.2023, S. 2, 19).

Die Polizei und die Gendarmerie, türkisch Jandarma, die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (USDOS 20.3.2023a, S. 1, ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2023, S. 19; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 7.2023, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 196.285 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara, S. 21; vgl. BICC 7.2023, S. 18, 26). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2023, S. 18, Es gab Berichte, dass Gendarmerie-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). [Siehe hierzu u.a. das Kapitel Flüchtlinge]. Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten, welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (BAMF 2.2023, S. 1; vgl. USDOS 13.3.2019).

Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Gendarmerie, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2022, S. 19).

Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, S. 6).

Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023; S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u.a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).

Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen. Das Verfassungsgericht räumte dem Parlament eine Frist von neun Monaten ein, um das genannte Urteil in ein Gesetz zu gießen (MBZ 31.8.2023, S. 20).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen.

Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 22f.).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).

Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).

Korruption

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

o Rechtsrahmen

Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020). Das türkische Strafgesetzbuch stellt verschiedene Formen der Korruption unter Strafe, darunter aktive und passive Bestechung, versuchte Korruption, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch. Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen. Schmiergeldzahlungen und Geschenke sind zwar illegal, kommen aber dennoch häufig vor (GAN 5.11.2020).

o Strukturelle Defizite und behördliches Vorgehen gegen Korruptionsberichterstattung

Die Türkei befindet sich bei der Korruptionsbekämpfung in einem frühen Stadium. Die in den letzten Jahren festgestellten Defizite in Schlüsselbereichen der Korruptionsbekämpfung wurden nicht behoben. Im Gegensatz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption, dem die Türkei beigetreten ist, muss laut Europäischer Kommission noch eine umfassende Politik zur Korruptionsbekämpfung entwickelt werden, die auch die entsprechenden Institutionen einschließt (EC 8.11.2023, S. 5). Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 43; vgl. EC 8.11.2023, S. 5). Die Beschränkungen des rechtlichen Rahmens und des institutionellen Aufbaus ermöglichen eine unzulässige Beeinflussung während der Ermittlungs- und Strafverfolgungsphase von Korruptionsfällen. Das Fehlen einer Korruptionsbekämpfungsstrategie und eines Aktionsplans deutet auf den mangelnden Willen hin, entschlossen gegen Korruption vorzugehen (EC 8.11.2023, S. 5).

Die Antikorruptionsgesetze werden nicht konsequent durchgesetzt, und die Antikorruptionsbehörden sind ineffektiv (GAN 5.11.2020; vgl. FH 10.3.2023, C2, USDOS 20.3.2023a, S. 74), was eine Kultur der Straflosigkeit hervorruft (FH 10.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 2, 74). Ein grundlegendes Problem ist das Fehlen einer unabhängigen und präventiven Korruptionsbekämpfungsstelle sowie einer interinstitutionellen Koordinierung der Korruptionsbekämpfung (BS 23.2.2022b, S. 35; vgl. EC 8.11.2023, S.27).

Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020). So stellte auch die OECD-Arbeitsgruppe für Bestechung Mitte November 2022 neuerlich [Anm. wie Ende Juni 2021] mit ernsthafter Sorge fest, dass die Türkei seit der Evaluierung 2014 keine ausreichenden Schritte unternommen hätte, um die Bedenken hinsichtlich der Umsetzung des OECDÜbereinkommens zur Bekämpfung der Auslandsbestechung durchzusetzen. Die fortgesetzte Untätigkeit der Türkei betrifft die OECD-Empfehlungen hinsichtlich der Haftung juristischer Personen für Auslandsbestechung, den Schutz von Hinweisgebern (Whistleblower) und die Unabhängigkeit der Strafverfolgung (OECD 10.11.2022).

Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 6, 28). In Anbetracht dessen kommt GRECO in ihrem Bericht von Dezember 2023 zu dem Schluss, dass der Umsetzungsgrad der GRECO-Empfehlungen derselbe ist wie im letzten Bericht (2021). Die Türkei hat drei der 22 Empfehlungen des Evaluierungsberichts der vierten Runde zufriedenstellend umgesetzt oder in zufriedenstellender Weise behandelt. Von den übrigen Empfehlungen wurden neun teilweise und zehn nicht umgesetzt (CoE-GRECO 7.12.2023, S. 12).

Sorge besteht auch hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 20.3.2023a, S. 75; vgl. GAN 5.11.2020). Beispielsweise sahen 2017 ein Drittel der Türken und Türkinnen die Richterschaft und die Justizbeamten als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar (GAN 5.11.2020).

Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten (USDOS 12.4.2022, S. 63f.). Während Oppositionspolitiker die Regierungspartei häufig der Korruption beschuldigen, gibt es nur vereinzelte journalistische oder offizielle Untersuchungen der Korruption in der Regierung (USDOS 20.3.2023a, S. 75). Die Bilanz der Ermittlungen, Strafverfolgungen und Verurteilungen in Korruptionsfällen ist, insbesondere bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene, an denen Politiker und Beamte beteiligt sind, nach wie vor schlecht. Die Urteile sind milde und haben keine abschreckende Wirkung (EC 8.11.2023, S. 27). Kritische Berichte über Korruptionsfälle in der Regierung ziehen im negativen Sinne die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden auf sich (MBZ 2.3.2022, S. 25). Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass sie Vergeltungsmaßnahmen für ihre Berichterstattung über Korruption befürchten. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 20.3.2023a, S. 75).

o Verbreitung und Ausmaß von Korruption

Korruption ist im öffentlichen wie privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (GAN 5.11.2020; vgl. EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 43), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 10.3.2023, C2). Sichtbar wurde die weitverbreitete Korruption angesichts des Erdbebens im Februar 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 3). Das öffentliche Auftragswesen und Bauprojekte sind besonders korruptionsanfällig. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt (GAN 5.11.2020).

Obwohl der Umfang der informellen Wirtschaft in den letzten Jahren zurückgegangen ist, macht sie immer noch einen erheblichen Teil der Wirtschaftstätigkeit aus (EC 8.11.2023, S. 61). Anderen Quellen zufolge soll die Schattenwirtschaft in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der politischen Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an Freunde der regierenden AKP. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AlMon 21.5.2021).

Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2023 mit einem Punktewert von 34 (2022: 36) von 100 (bester Wert) auf Platz 115 (2022: 101) von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein, was somit einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr entsprach. Den besten Wert in der vergangenen Dekade erreichte das Land 2013 mit 50 von 100 Punkten (TI 30.1.2024, vgl. TI 31.1.2023).

Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Letzte Änderung 2024-03-07 13:53

Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Dienstleistungen in der Türkei. Nach den letzten verfügbaren Daten vom Juni 2023 gibt es 101.458 registrierte zivilgesellschaftliche Organisationen und 6.074 Stiftungen, die neben vielen informellen Organisationen, wie Plattformen, Initiativen und Gruppen, tätig sind. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich hauptsächlich auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit und verschiedene rechtsbezogene Themen (ICNL 24.6.2023).

Die Organisationen der Zivilgesellschaft sehen sich einem verstärkten Druck und Einschränkungen ihrer Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ausgesetzt. Der rechtliche Rahmen, der die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen regelt, ist unklar und birgt die Gefahr der Willkür bei der Umsetzung. Nach wie vor sind alle Vereinigungen verpflichtet, ihre Mitglieder in das Informationssystem des Innenministeriums einzutragen. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Leitlinien der OSZE bzw. des Europarats zur Vereinigungsfreiheit. Das Gesetz über die Verhinderung der Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wird von den Behörden weiterhin dazu benutzt, in unverhältnismäßiger Weise gegen unabhängige Vereinigungen vorzugehen, obwohl die Venedig-Kommission des Europarates und die UN-Sonderberichterstatter der Regierung empfohlen hatten, bestimmte Aspekte des Gesetzes zu überdenken (EC 8.11.2023, S. 5, 17).

Die Beteiligung der Zivilgesellschaft am politischen Prozess ist weiter zurückgegangen, und die die Zivilgesellschaft betreffenden Rechtsvorschriften wurden in den letzten Jahren immer restriktiver. Während die Ressourcen, die Aktivitäten und die Sichtbarkeit regierungsfreundlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen weiter zugenommen haben, sind regierungskritische NGOs, insbesondere Menschenrechtsorganisationen und demokratiefördernde NGOs, systematischen Einschüchterungen ausgesetzt. Sie wurden mitunter zur Schließung gezwungen und ihre Mitglieder verhaftet. Sowohl nationale als auch internationale NGOs leiden unter restriktiven Einschränkungen. Im Allgemeinen sind kritische NGOs von einer echten Konsultation zur Gesetzgebung ausgeschlossen. Insgesamt ist die zivilgesellschaftliche Kultur in der Türkei nach wie vor schwach, und die Abhängigkeit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen von ausländischer Finanzierung macht sie zur Zielscheibe für von der Regierung geförderte Verschwörungstheorien (BS 23.2.2022a, S. 16, 37).

Das Europäische Parlament bedauerte in seiner Entschließung zur Türkei vom September 2023, "dass die türkische Regierung mit einem Arsenal von Gesetzen, darunter das Gesetz über die sozialen Medien von 2020, das Gesetz zur Bekämpfung der Geldwäsche von 2021 und das Gesetz zur Bekämpfung von Desinformation von 2022, ein komplexes Geflecht von Rechtsvorschriften geschaffen hat, das als Instrument genutzt wird, um [...] Organisationen der Zivilgesellschaft [...] systematisch zu kontrollieren und mundtot zu machen" (EP 13.9.2023, Pt.9).

Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit Langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021, S. 11). Seit 2016 hat die Regierung mehr als 1.500 Stiftungen und Vereine geschlossen. Die Leiter der verbleibenden NGOs werden schikaniert, verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Ein Gesetz aus dem Jahr 2020 unterwirft die NGOs jährlichen Prüfungen und gibt dem Innenministerium die Befugnis, Treuhänder für die Vorstände von NGOs zu ernennen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird. 2021 fror die Regierung das Vermögen von 770 NGOs mit der Begründung der Terrorismusfinanzierung ein (FH 10.3.2023, E2). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 28.7.2022, S. 6).

Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt. Weitere Probleme ergeben sich auch aus der nebulösen Rechtslage betreffend die Errichtung und Tätigkeit von NGOs (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juni 2023 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,5 % (1.536 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 24.6.2023).

Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt (ICNL 24.6.2023). Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021). Trotz des potenziell förderlichen Jahresprogramms 2022 ist das rechtlich-politische Umfeld für die Zivilgesellschaft in der Türkei insgesamt nicht förderlich. Die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung sind nach wie vor eingeschränkt. Es fehlt ein übergreifender rechtlicher und politischer Rahmen zur Regelung der Beziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen. Organisationen der Zivilgesellschaft können aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit, ihres Eintretens für rechtsbezogene Themen, ihrer Nähe zur Regierung oder zur Opposition und aufgrund persönlicher Beschwerden kontrolliert werden. Daher sind zivilgesellschaftliche Organisationen weiterhin anfällig für die willkürliche Umsetzung und Auslegung der Gesetze durch den Staat (ICNL 24.6.2023).

Menschenrechtsorganisationen können gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 28.7.2022; S. 6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).

Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Gesetz Nr. 7262 war offiziell geschaffen worden, um konkreten Empfehlungen der Financial Action Task Force (FATF) nachzukommen, einer internationalen Organisation zum Monitoring von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, deren Mitglied die Türkei ist (FNS 17.5.2022). - Die FATF gab ursprünglich Empfehlungen zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung und der Geldwäsche ab und wies auf die potenziellen Risiken im Zusammenhang mit gemeinnützigen Organisationen hin. Ihre Empfehlung Nr. 8 sah eine unabhängige, risikobasierte Bewertung von gemeinnützigen Organisationen vor, um zu verhindern, dass ihre legitimen Aktivitäten ins Visier genommen, unterbrochen oder bestraft werden. Nach dem Gesetz Nr. 7262 gelten jedoch alle gemeinnützigen Organisationen, einschließlich Menschenrechtsorganisationen, als risikobehaftet und werden daher unverhältnismäßigen Maßnahmen unterworfen, die einer Schikane gleichkommen (OMCT 8.2022). - Das Gesetz erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu OnlineSpendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Nach Ansicht der Venedig-Kommission des Europarates sind diese Maßnahmen zusammen mit den verschärften Prüfungen von NGOs (Art. 19 des Vereinsgesetzes) und der abschreckenden Wirkung erhöhter Haftstrafen und hoher Verwaltungsstrafen für die Verletzung von Prüfungspflichten sowie der Aussicht auf die Absetzung von NGO-Direktoren und Vorstandsmitgliedern unverhältnismäßig und beeinträchtigen unmittelbar Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (CoE-VC 6.7.2021, S. 19f.).

Das Gesetz über die Sammlung von Spendengeldern stellt weiterhin hohe Anforderungen an die Genehmigungen, was die Fundraising-Aktivitäten von NGOs entmutigt. Dazu gehören die vorherige Anmeldung für jede Fundraising-Aktivität und langwierige Genehmigungsverfahren (EC 12.10.2022, S. 17). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen, und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, S. 36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt. Weitere Kompetenzen kommen dem Innenminister und den Gouverneuren bei der Überwachung der Finanzmittelbeschaffung sowie der Verhängung von Strafen für unerlaubte Spendenaktionen zu (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39f.). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, S. 36; vlg. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira [laut Wechselkurs vom 1.2.204 rund 6.090 €] erhöht (Independent 27.12.2020). Die Einschätzung, dass es sich beim Gesetz Nr. 7262 in erster Linie um eine Maßnahme zur Einschränkung der Zivilgesellschaft handelt, teilt auch die FATF. Sie setzte die Türkei 2021 auf eine "graue Liste" und ermahnte sie, legitim arbeitende zivilgesellschaftliche Organisationen nicht unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorfinanzierung unverhältnismäßig zu beschränken (FNS 17.5.2022).

Inzwischen wurde das Gesetz Nr. 7262 um einen Artikel zur Risikoanalyse in Organisationen erweitert. Seit März 2022 erhielten etliche NGOs Briefe vom "Generaldirektorat für die Beziehungen mit der Zivilgesellschaft", die sie zu zusätzlichen Maßnahmen der Selbstkontrolle aufforderten. Die Schreiben gingen an Organisationen, vor allem an jene im Menschenrechtsbereich, denen nach unbekannten Kriterien ein "mittleres" oder "hohes Risiko" zugeschrieben wird. Die NGOs werden gedrängt, innerhalb einer vorgegebenen Frist "notwendige" Untersuchungen zu ihren Finanzierungsquellen, ihren Mitarbeitern und ihren institutionellen Partnern durchzuführen, um ihren sog. Risikostatus festzustellen (FNS 17.5.2022).

Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung

Letzte Änderung 2024-03-07 13:53

Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık) mit 200 MitarbeiterInnen (AA 28.7.2022, S. 6), das lediglich Beschwerden in Bezug auf die öffentliche Verwaltung annimmt und organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist (USDOS 20.3.2023a, S. 78). Die Ombudspersonen werden durch das Parlament gewählt. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Infolge der Einführung des Präsidialsystems wurde auch das Gesetz (Nr. 6328) über die Ombudsperson in dem Sinne ergänzt, dass dieses auch die Akte des Präsidenten umfasst. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OIRT n.d).

Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, welche die Grund- und Menschenrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 8.11.2023, S. 15, 29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 20.3.2023b, S. 78).

Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu - TİHEK) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" (NPM) gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 28.7.2022, S. 6). Die HREI/TİHEK ergriff beispielsweise keine wirksamen Maßnahmen gegen Misshandlungen und Folter, die von Regierungsmitarbeitern begangen wurden, trotz ihres Auftrages, vorbeugende Maßnahmen gegen Misshandlung und Folter zu ergreifen. Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums erhielten Gefängnisinsassen auf Beschwerden bei der HREI/TİHEK lediglich eine Empfangsbestätigung, ohne dass eine Folgemeldung darauf hinwies, dass der Inhalt der Beschwerde bearbeitet wurde (MBZ 2.3.2022, S. 33). Anlässlich des Besuchs der Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) forderten diese die türkische Regierung auf, die Unabhängigkeit und die Ressourcen des NPM erheblich zu stärken, damit dieser Mechanismus sein Mandat gemäß dem OPCAT angesichts der übergroßen Zahl von Haftanstalten im Lande wirksam erfüllen kann (OHCHR 21.9.2022).

Die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (HREI alias TİHEK) und die Ombudsperson sind die wichtigsten Menschenrechtsinstitutionen. Allerdings bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich der operativen, strukturellen und finanziellen Unabhängigkeit der beiden Institutionen und der Ernennung ihrer Mitglieder. Die Effizienz der beiden Einrichtungen bleibt eingeschränkt. Die HREI wurde im Oktober 2022 mit einem B-Status bei der Global Alliance for National Human Rights Institutions akkreditiert (EC 8.11.2023, S. 29f.). Einige HREI-Mitglieder zeigten sogar eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, S. 29).

Die HREI führt in ihrer Rolle als Nationaler Präventionsmechanismus (NPM) Gefängnisbesuche durch, hat aber keine festen und unabhängigen Kriterien für angekündigte Besuche. Bei einigen Besuchen kam es nur zu Kontakten mit der Verwaltung, nicht aber zu Gesprächen mit Häftlingen. Die HREI hat nicht alle der Gefängnisse besucht, in denen die meisten Menschenrechtsverletzungen vermutet werden, oder dies geschah mit erheblicher Verzögerung. Die Empfehlungen befassen sich hauptsächlich mit geringfügigen Problemen und enthalten keine konkreten Aussagen zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Die HREI blieb aufgrund gesetzlicher und struktureller Beschränkungen weitgehend ineffektiv, u. a. dadurch, dass sie Anträge von Organisationen der Zivilgesellschaft nicht akzeptierte und bei Fällen von Folter und Misshandlung übermäßig zurückhaltend war (EC 8.11.2023, S. 30).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).

Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).

o Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).

Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Letzte Änderung 2024-03-07 13:53

o Allgemeine Situation der Meinungs- und Medienfreiheit

Die Türkei befindet sich laut Europäischer Kommission hinsichtlich der Meinungsfreiheit noch in einem frühen Stadium. Die in den letzten Jahren beobachteten gravierenden Rückschritte haben sich fortgesetzt. Die Umsetzung der Strafgesetze in Bezug auf die nationale Sicherheit und die Terrorismusbekämpfung verstößt weiterhin gegen die EMRK und weicht von der Rechtsprechung des EGMR ab. Es kommt weiterhin zu Fällen von Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten, Künstlern und Nutzern sozialer Medien. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen beeinträchtigt (EC 8.11.2023, S. 33f.).

Die Türkei verschlechterte sich im World Press Freedom Index 2023 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] merklich innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder, nämlich um 16 Plätze, von Rang 149 auf Platz 165. Verschlechtert hat sich auch der absolute Wert von 41,25 auf 33,97 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert] (RSF 3.5.2023).

o Presse- und Medienfreiheit - Medien als Instrument der Regierung

Die türkischen Mainstream-Medien, die einst für einen lebhafteren Ideenkonflikt sorgten, sind zum Glied einer straffen Befehlskette mit von der Regierung genehmigten Schlagzeilen, Titelseiten und Themen für Fernsehdebatten geworden. Die größten Medienmarken werden von Unternehmen und Personen kontrolliert, die Staatspräsident Erdoğan und seiner AKPartei (AKP) nahestehen, nachdem diese seit 2008 eine Reihe von Übernahmen getätigt haben. Sie beeinflussen wesentlich die Berichterstattung. Der Trend verstärkte sich im Zuge des gescheiterten Putschversuches vom Juli 2016, als danach 150 vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehende Media-Outlets liquidiert wurden. Die letzte große Übernahme war 2018 jene der Tageszeitung Hürriyet sowie anderer Medien des regierungskritischen Verlegers und Milliardärs Aydin Doğan durch die regierungsnahe Demirören Gruppe (REU 31.8.2022). Somit gelten gegenwärtig 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 37, FH 10.3.2023, D1). Wirtschaftseliten mit engen Verbindungen zu Erdoğan werden beschuldigt, Journalisten zu bestechen und eine negative Presse gegen die Opposition zu inszenieren (FH 10.3.2023, D1).

Da 90 % der nationalen Medien inzwischen von der Regierung kontrolliert werden, hat sich die Öffentlichkeit in den letzten fünf Jahren an den Rest der kritischen oder unabhängigen Medien verschiedener politischer Couleur gewandt, um sich über die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Krise auf das Land zu informieren. Dazu gehören lokale Fernsehsender wie Fox TV, Halk TV, Tele1 und Sözcü sowie internationale Nachrichten-Websites wie BBC Turkish, Voice of America (VOA) Turkish und die Deutsche Welle Turkish (RSF 3.5.2023).

Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu - RTÜK), die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom AKP-kontrollierten Parlament ernannt (FH 10.3.2023, D1)

Ein weiteres Instrument der Druckausübung ist die staatliche Presse-Anzeigenagentur [auch: Pressewerberat] (Basın İlan Kurumu - BİK). Diese ist für die Vergabe staatlicher Anzeigen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel an die Printmedien und seit 18.10.2022 auch an digitale Medien zuständig, eine wichtige Einnahmequelle für die Medien. Medien sind vor allem nach kritischer Berichterstattung gegen Regierungsmitglieder immer wieder von Anzeigensperren betroffen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43). Wenn die BİK feststellt, dass ein Medien-Artikel gegen seinen Ethikkodex verstößt, bestraft sie die betreffende Zeitung mit der Aussetzung der staatlichen Werbung, d. h. der Werbung der Regierung und der ihr nahestehenden Einrichtungen, wie z. B. der staatlichen Banken. So wurden 2020 fast alle Suspendierungen gegen die fünf bekanntesten unabhängigen Zeitungen verhängt. Zusammen wurden den fünf Zeitungen rund vier Millionen Lira an staatlichen Werbegeldern für das Jahr 2020 entzogen (REU 31.8.2022).

Das Europäische Parlament zeigte sich 2021 "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und die staatlichen Pressewerberat (BİK), der als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S. 12, Pt. 27; vgl. RSF 3.5.2023). Zwischen Mitte Juni 2022 und März 2023 verhängte der RTÜK 1.768 Bußgelder gegen Medien. Im gleichen Zeitraum verhängten türkische Gerichte 128 Sendeverbote gegen TV-Stationen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43f.; vgl. FH 10.3.2023, D1). Schon im Juni 2022 forderte das EP den Vorsitzenden des RTÜK auf, "die übermäßige Verhängung von Geldbußen und Sendeverboten, mit denen die legitime Meinungsfreiheit von Journalisten und Rundfunksender aus der Türkei eingeschränkt wird, einzustellen" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 14).

Anweisungen an die Nachrichtenredaktionen kommen, auch via Telefon oder Whatsapp, oft von Beamten aus der Direktion für Kommunikation (İletişim Başkanlığı), die für die Beziehungen zu den Medien zuständig ist. Die Direktion unter der Leitung von Fahrettin Altun ist eine Schöpfung Erdoğans und beschäftigt rund 1.500 Mitarbeiter. 48 Auslandsbüros in 43 Ländern beobachten überdies, wie im Ausland über die Türkei berichtet wird. Bei wichtigen Nachrichten, die Erdoğan oder seine Regierung in Bedrängnis bringen könnten - insbesondere bei Ereignissen, die die Wirtschaft oder das Militär betreffen - setzt sich Altun laut Reuters-Quelle regelmäßig mit Redakteuren und leitenden Korrespondenten in Verbindung, um einen Plan für die Berichterstattung aufzustellen (REU 31.8.2022).

o Druck auf Medien und Verfolgung von Journalisten und anderen Kritikern

Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck und werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 10.3.2023, D1; vgl. BS 23.2.2022a, S. 10). Die Behörden ordnen regelmäßig die Löschung kritischer Online-Inhalte oder negativer Berichterstattung über Minister, den Staatspräsidenten und Mitglieder der Justiz an (HRW 11.1.2024).

Das massive Vorgehen gegen die Pressefreiheit und die systematische Unterdrückung unabhängiger Medien in der Türkei setzte sich nach den verheerenden Erdbeben im Februar 2023 und im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 fort. Die von der Europäischen Kommission finanzierte Medienbeobachtungsplattform Mapping Media Freedom (MFRR) verzeichnete im Zeitraum Jänner bis Juni 2023 eine Rekordzahl von Verstößen gegen die Presse- und Medienfreiheit im Land - 136 Fälle, an denen 172 Personen oder Medienunternehmen beteiligt waren. Willkürliche Verhaftungen, strafrechtliche Anklagen und Verurteilungen wurden immer wieder eingesetzt, um Journalisten einzuschüchtern und kritische und unabhängige Berichterstattung zum Schweigen zu bringen (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12). Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit der "Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation", mit Terrorpropaganda (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12), "provokativen Inhalten" (AA 28.7.2022, S. 9), "Beleidigung von Amtsträgern" und "offene Aufstachelung zum Hass und zur Feindschaft" begründet (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12).

Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere auf Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 28.7.2022, S. 9) über Korruption berichten (REU 31.8.2022; vgl. AA 28.7.2022, S. 9, FH 10.3.2023, D1). Am 1.11.2023 sind zum Beispiel die beiden Journalisten Tolga Şardan und Dinçer Gökçe wegen des Vorwurfs der "Verbreitung falscher Informationen" getrennt voneinander vorübergehend festgenommen und angeklagt worden. Einen Tag später verhaftete die Polizei den Online-Kolumnisten Cengiz Erdinç wegen desselben mutmaßlichen Tatbestands (Mit Stand Ende 2023 immer noch in Haft). Die drei Medienschaffenden hatten zuvor über Korruption in der türkischen Justiz berichtet (BAMF 31.12.2023, S. 5; vgl. BIRN 2.11.2023).

Die Türkei ist nach wie vor eines jener Länder weltweit, das am häufigsten Journalisten inhaftiert (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12). Mit Stand 2.2.2024 waren laut Media and Law Studies Association (MLSA) mindestens 38 Journalisten und Medienmitarbeiter inhaftiert (MLSA 2.2.2024). Das Europäische Parlament verurteilte im September 2023 "die anhaltende Verfolgung, Zensur und Drangsalierung von Journalisten und unabhängigen Medien in der Türkei; [und war] außerdem besorgt darüber, dass gezielt gegen türkischstämmige Journalisten sowie politische Gegner in der EU vorgegangen wird" (EP 13.9.2023, Pt. 12).

Der Druck auf Journalisten dauert an. Ihre Arbeitssituation ist schwierig, die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe sowie im Medienbereich allgemein hoch. Zukunftsängste und mangelnde Jobsicherheit begünstigen ebenso die Selbstzensur (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43) wie die Furcht vor Repressionen durch rechtliche und wirtschaftliche Schritte im Falle von Kritik an der Regierung (USDOS 20.3.2023a, S. 33; vgl. BS 23.2.2022a, S. 10). Journalisten sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche oftmals nicht geahndet werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43; vgl. BS 23.2.2022a; S. 10, USDOS 20.3.2023a, S. 33). Tätlich angegriffen werden vor allem diejenigen, die über Politik, Korruption oder Verbrechen berichten (FH 10.3.2023, D1). Körperliche Übergriffe auf Journalisten erfolgen sowohl durch die Polizei als auch durch Privatpersonen, in seltenen Fällen auch mit tödlichen Folgen. - Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Eigentümer und Chefredakteur einer Lokalzeitung, vor seinem Büro in Ízmit erschossen. Er prangerte die örtliche Korruption und die Mafia an (SZ 21.2.2022).

Journalisten wurden auch wegen der Berichterstattung über Proteste strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 11.1.2024; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzu kommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020).

Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates dienten - z. B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die beispielsweise über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020).

Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, "den Staat und die Regierung zu verunglimpfen". Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S. 12; vgl. Independent 13.12.2021).

Verhaftet wegen Terrorunterstützung werden jedoch nicht nur Journalisten. - So wurde etwa die Vorsitzende des medizinischen Berufsverbands TTB, Şebnem Korur Fıncancı, nach einem TV-Interview der Terrorpropaganda beschuldigt und verhaftet, weil sie Aufklärung zu möglichen Chemiewaffen-Einsätzen der türkischen Armee im Nordirak forderte, nachdem eine Delegation der Organisation "Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges" Ende September im Nordirak vermeintlich einige indirekte Indizien für mögliche Verletzungen der Chemiewaffenkonvention gefunden hatte. Staatspräsident Erdoğan beschuldigte Fincanci ihr Land beleidigt zu haben und "die Sprache der Terrororganisation" PKK zu sprechen (FR 27.10.2022; vgl. AP 27.10.2022). Am 11.1.2023 verurteilte das Gericht die Medizinerin zu zwei Jahren, acht Monaten und 15 Tagen Gefängnis. Allerdings wurde Fincanci im Anschluss an die Urteilsverkündung umgehend freigelassen. Haftstrafen von weniger als drei Jahren werden in der Türkei selten vollstreckt (Standard 11.1.2023; vgl. DW 11.1.2023).

Mitunter kommt es auch zum Publikationsverbot von Büchern. - Ein Gericht verbot im Herbst 2022 den Vertrieb und Verkauf eines Buches der ehemaligen, inhaftierten HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ mit dem Titel "Mauern werden eingerissen", in dem es u.a. um die Ausgangssperren im Sommer 2015 geht, und zwar wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" (NaT 10.9.2022; vgl. Mezopotamya 8.9.2022).

o Kurdische Journalisten und Medien

Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Diyarbakır-Prozess gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden. In einem Prozess in Ankara gegen elf kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (HRW 11.1.2024). - Berichte zum Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat ziehen die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich. Betroffen hiervon ist beispielsweise die kurdische Nachrichtenplattform "Mezopotamya Agency", laut deren Leiter jeder Mitarbeiter zumindest einmal festgenommen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 23). Beispielsweise wurden Ende Oktober 2022 bei Razzien der Polizei in Ístanbul, Ankara und anderen türkischen Städten elf Journalisten pro-kurdischer Medien wegen angeblicher Verbindungen zu kurdischen Extremisten festgenommen, darunter der Chefredakteur sowie acht weitere Mitarbeiter von Mezopotamya News (AP 25.10.2022). Die Polizei erklärte, die Verdächtigten seien wegen ihrer journalistischen Beiträge festgenommen worden, welche die Öffentlichkeit zu Hass und Feindschaft aufstacheln sollen. In der Erklärung der Polizei von Ankara wurden die Razzien als "Anti-Terror-Operation" bezeichnet. Zudem wurde speziell Mezopotamya beschuldigt, als "Presserat" der PKK zu fungieren (BAMF 31.10.2022, S. 12). (Befristete) Publikationsverbote mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" treffen, mitunter wiederholt, vor allem kurdische Zeitungen oder solche des linken politischen Spektrums (AA 28.7.2022, S. 9).

Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022). Auch im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden Ende April 2023 kurdische Journalisten verhaftet. So zum Beispiel Sedat Yilmaz, Redakteur bei der Mezopotamia News Agency (MA), und Dicle Muftuoglu, Ko-Vorsitzender der Journalistenvereinigung Dicle Firat. Dies geschah zwei Tage, nachdem ein Gericht in Diyarbakır vier weitere kurdische Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaften ließ (VOA 1.5.2023).

o Urteile des Verfassungsgerichts

Das Verfassungsgericht allerdings, das mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, dass die von der staatlichen BİK verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Den betroffenen Zeitungen mussten jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022; vgl. REU 31.8.2022). Als Folge gab die BİK bekannt, dass sie die Verhängung von Strafen für Verstöße gegen die Berufsethik ausgesetzt habe. Die Regierung schwieg zum Urteil des Verfassungsgerichts (REU 31.8.2022).

Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (CoE-PACE 22.4.2021, S. 4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des Letzteren die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021).

o Meinungsfreiheit

Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 20.3.2023a, S. 33). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022). Allerdings reduzierte sich der Anteil im Jahr 2023. Nur mehr zehn von 72 Fällen, bei denen zumindest ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, betrafen die Meinungsfreiheit (ECHR 1.2024).

Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-TerrorGesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/ Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes). Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen. Die Justizreformstrategie sieht zwar eine Änderung von Art. 7(2) Antiterrorgesetz dahingehend vor, dass die Äußerung von Gedanken, die nur der Berichterstattung und/oder der Kritikausübung dienen, kein Vergehen mehr darstellen sollen. Sie wird aber weiterhin als zu vage gesehen und begünstigt willkürliche Auslegungen, weil der Terminus "terroristische Propaganda" nicht klar definiert wird. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 41). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9).

Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards, so die Europäische Kommission. Die selektive und willkürliche Anwendung von Rechtsvorschriften gibt überdies weiterhin Anlass zur Sorge, da sie gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts auf ein faires Verfahren verstößt. Trotz gesetzlicher Änderungen, mit denen die Notwendigkeit einer soliden Beweisgrundlage bei "Katalogdelikten" eingeführt wurde, werden Fälle im Zusammenhang mit der freien Meinungsäußerung weiterhin in die Kategorie der Straftaten zugeordnet, die automatisch eine "Untersuchungshaft" erfordern (EC 8.11.2023, S. 34f.). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Letztere stimmt nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein (CoE-PACE 22.4.2021, S. 3). Zwar stellt nunmehr Art. 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 9).

Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021). Die Behörden hatten Kiliç im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig (inklusive des türkischen Richters), dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kılıç eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wurde (DW 31.5.2022; vgl. AP 31.5.2022). Fünf Jahre nach der ersten Verhaftung erging im November 2022 das Urteil des Kassationsgerichts zu den Verurteilungen von Taner Kılıç (verurteilt zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation) und drei weiteren Menschenrechtsverteidigern (verurteilt zu 25 Monaten wegen Unterstützung einer Terrororganisation) im Fall Büyükada. Der Fall von Taner Kılıç wurde wegen "unvollständiger Ermittlungen" aufgehoben und an das Gericht der ersten Instanz zurückverwiesen (AI 22.11.2022).

Die Behörden klagen Bürger, darunter auch Minderjährige, wegen Beleidigung der Staatsführung und Verunglimpfung des "Türkentums" an. Fürsprecher der Meinungsfreiheit wiesen darauf hin, dass führende Politiker und Abgeordnete von Oppositionsparteien zwar regelmäßig mehrfach wegen solcher Beleidigungen angeklagt wurden, im umgekehrten Falle, nämlich der Beleidigung von Oppositionellen, AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023a, S. 42). Insbesondere Oppositionspolitiker, darunter gewählte Mandatare sehen sich mit Strafverfolgung und Verurteilung wegen Beleidigung von staatlichen Würdenträgern oder des türkischen Staates bzw. des Türkentums konfrontiert (FH 3.3.2021; vgl. Duvar 8.12.2022a, HRW 14.12.2022, Evrensel 14.12.2022).

Auch gegen Rechtsanwälte wird vorgegangen. - Im Jänner 2021 erteilte das Justizministerium die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen zwölf Mitglieder der Anwaltskammer von Ankara. Die Anwälte wurden der "Beleidigung eines Amtsträgers" beschuldigt, weil sie homophobe und diskriminierende Äußerungen des Präsidenten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, geäußert während eines Freitagsgebets, kritisiert hatten. Im April 2021 akzeptierte das zuständige Gericht in Ankara die Anklage. Im Juli 2021 wurden auch Ermittlungen gegen Mitglieder der Anwaltskammern von Ístanbul und Ízmir wegen "Beleidigung religiöser Werte" genehmigt (AI 29.3.2022a).

Ein Beispiel der Beleidigung der türkischen Nation, der Regierung und der Staatsorgane war im November 2022 der Präsident der Istanbuler Bäcker-Gewerkschaft, Cihan Kolivar. Dieser wurde festgenommen, weil er in einer Fernsehsendung den übermäßigen Brotkonsum der Türken und einen möglichen Anstieg der Brotpreise angesprochen hatte. - "Brot ist das Grundnahrungsmittel einer dummen Gesellschaft. Da unser Volk seinen Hunger mit Brot stillt, haben wir seit 20 Jahren [korrupte] Politiker in der Regierung", so Kolivar. Ein Sprecher der regierenden AKP bezeichnete Kolivars Äußerungen als Beispiel für Hassreden und sagte, dieser handele rücksichtslos, indem er mit seinen Äußerungen "unsere Nation und unser Brot beleidigt" (TM 9.11.2022).

Soziale Medien und Internet

Die Bedingungen für ein offenes und freies Internet sind laut Europäischer Kommission in der Türkei nicht gegeben. Websites und soziale Medien werden häufig für Personen gesperrt, die sich kritisch über die Regierung äußern (EC 8.11.2023, S. 37). Die Internetfreiheit hat weiter abgenommen. Die türkischen Behörden verfügen über ein ganzes Arsenal an Instrumenten zur Zensur von Online-Inhalten. Das Gesetz über soziale Medien aus dem Jahr 2020 wird genutzt, um Plattformen zu zwingen, Inhalte zu entfernen, vor allem von den Websites unabhängiger und kritischer Medienunternehmen. Tausende von Online-Nutzern, darunter auch Mitglieder der politischen Opposition, wurden wegen ihrer Aktivitäten in den sozialen Medien strafrechtlich belangt. Selbstzensur, die Verbreitung einerseits regierungsnaher Medien und die Sperrung von Websites unabhängiger Medien andererseits haben zu einem weniger vielfältigen Online-Raum geführt. Einsprüche gegen Entscheidungen über inhaltliche Beschränkungen sind selten wirksam. Darüber hinaus organisieren regierungsnahe Troll-Netzwerke Verleumdungskampagnen gegen engagierte Aktivisten, und prominente Journalisten sehen sich als Vergeltung für ihre Online-Berichterstattung körperlicher Gewalt ausgesetzt (FH 18.10.2022).

Kritische und uneinsichtige Nutzer sozialer Nutzer sozialer Medien werden häufig überprüft, strafrechtlich verfolgt und verurteilt (EC 8.11.2023, S. 37, vgl. MBZ 2.3.2022, S. 25). Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen, z. B. auf Facebook, geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Staatspräsidenten führen (ARTICLE19 8.4.2022). Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen werden, werden von Webseiten und SocialMedia-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5).

Dem niederländischen Außenministerium zufolge ziehen folgende kritische Berichte in den sozialen Medien eine negative Aufmerksamkeit der türkischen Behörden nach sich: Präsident Erdoğan und seine Familie, die Coronavirus-Politik der Regierung, die militärischen Operationen der Türkei im In- und Ausland, die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung, Gülen und seine Bewegung, der Islam und sexuelle Minderheiten. Beiträge dieser Art werden gesperrt oder entfernt, und jeder, der solche Nachrichten veröffentlicht oder weiter gibt, muss mit einem Strafverfahren rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 25; vgl. FH 18.10.2022). Websites können wegen "Obszönität" gesperrt werden oder wenn sie als verleumderisch für den Islam angesehen werden, was auch Inhalte einschließt, die den Atheismus fördern. Zusätzlich zu den weitverbreiteten Sperrungen fordern staatliche Behörden proaktiv die Löschung oder Entfernung von Inhalten. Die meisten Sperrungsverfügungen werden von der Telekommunikationsbehörde BTK (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu) und nicht von den Gerichten erlassen (FH 18.10.2022).

Die Generaldirektion für Sicherheit teilte mit, dass im Jahr 2021 insgesamt 106.000 Social-Media-Konten in der Türkei aufgrund von Beiträgen untersucht wurden, die von den Behörden als problematisch eingestuft wurden. Die behördlichen Untersuchungen der Accounts richteten sich gegen Beleidigungen des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda oder Aufstachelung zu Feindschaft und Hass unter der Bevölkerung, wobei diesbezüglich 46.646 Nutzer identifiziert wurden (TM 15.3.2022). Anderen Angaben des Innenministeriums zufolge verdoppelten sich 2021 die Zahlen der untersuchten Konten sowie der Verfahren verglichen mit 2020. - 146.167 Konten in sozialen Medien wurden untersucht und rechtliche Schritte gegen 60.051 Personen eingeleitet. In der Folge wurden 1.911 Personen festgenommen und 73 inhaftiert (ARTICLE19 8.4.2022).

Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-MediaPlattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).

Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AlMon 13.12.2021).

Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei NichtEinhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Wenn ein Gericht oder Richter feststellt, dass ein veröffentlichter Inhalt das Gesetz verletzt, und der Provider innerhalb von 24 Stunden den Inhalt nicht entfernt oder nicht sperrt, haftet er für die entstandenen Schäden. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 41f.). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu - BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK ist die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 34). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BIRN 11.12.2020).

o Das sog. "Desinformationsgesetz" (2022)

Am 18.10.2022 trat das Gesetz zur Bekämpfung von Desinformation in Kraft, kurz: Desinformationsgesetz, welches bei vorsätzlicher Veröffentlichung von Falsch- oder Desinformationen zur nationalen und äußeren Sicherheit, zur öffentlichen Ordnung oder zur allgemeinen Gesundheit, die die öffentliche Ruhe stören und alleinig zum Ziel haben, Sorge, Angst oder Panik auszulösen, Freiheitsstrafen von ein bis drei Jahren vorsieht. Die Bewertung, ob eine "Des- oder Falschinformation" vorliegt, obliegt den Gerichten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 42; vgl. DW 14.10.2022, Guardian 13.10.2022). Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben (Zeit online 14.10.2022). Das Gesetz verpflichtet auch Messenger-Dienste, wie WhatsApp, dazu, dem Staat Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen, wenn die staatliche Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien dies verlangt. Emre Kızılkaya, Leiter des türkischen Zweigs des Internationalen Presseinstituts mit Sitz in Wien, nimmt an, dass dieses Gesetz auch digitale Plattformen wie Google News oder Facebook dazu zwingen wird, der Regierung ihre Algorithmen offenzulegen (Guardian 13.10.2022). Journalistenverbände warnten, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der türkischen Geschichte werden (Zeit online 14.10.2022). Auf dringendes Ersuchen des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) hatte die Venedig-Kommission eine Stellungnahme zu den Änderungsentwürfen des Gesetzes veröffentlicht. Die VenedigKommission sah einen Eingriff in das durch Artikel 10 EMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegen und wies darauf hin, dass es alternative, weniger einschneidende Maßnahmen als die strafrechtliche gibt, um das Delikt der Verbreitung von Falschinformationen zu bekämpfen (CoE 10.10.2022).

o Urteile des Verfassungsgerichts

Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S. 101-104; vgl. LoC 7.1.2022).

Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).

o Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Journalisten, die seit dem schweren Erdbeben vom 6. Februar versuchten, über die Lage vor Ort in der Türkei zu berichten, wurden von den türkischen Behörden wiederholt und auf vielfältige Weise behindert. Zu den beobachteten Verletzungen der Pressefreiheit gehören: physische Gewalt, Verhaftungen, Gerichtsverfahren, verbale Online-Angriffe, etwa durch InternetTrolle, aber auch Politiker, und Einschränkungen des Zugangs zu Twitter. Journalisten wurden beschuldigt, "die Polizei oder den Staat zu diffamieren". Der Hohe Rundfunkrat (RTÜK) - der von der regierenden AKP und ihrem Koalitionspartner, der MHP, dominiert wird - schlug bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben am 6. Februar einen aggressiven Ton an und sprach eine strenge Warnung an kritische Medien aus, welche die zunehmenden Reaktionen und Hilferufe aus den von der Katastrophe betroffenen Regionen in Südostanatolien wiedergaben. Versuche, die Berichterstattung über die Katastrophe und das Verhalten der Behörden zu kontrollieren, wurden laut Reporter ohne Grenzen (RSF) immer deutlicher (RSF 14.2.2023). So wurden laut kritischen Journalisten keine Aufnahmen von bedürftigen Menschen oder frierenden Kindern gezeigt. Etliche Sendungen mit Interviews wurden unterbrochen, als die Befragten Kritik an der Regierung äußerten (FAZ 14.2.2023). Am 22.2.2023 verhängte der RTÜK gegen Fox-TV Bußgelder wegen eines Berichts, wonach die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD verhindert habe, dass Hilfe von Nichtregierungsgruppen die von Erdbeben betroffenen Gebiete erreicht. Zwei weitere unabhängige Sender, Halk TV und TELE1, wurden beide mit einer Geldstrafe belegt und vorübergehend vom Äther genommen (AlMon 22.2.2023; vgl. Duvar 22.2.2023).

Bereits unmittelbar nach dem Erdbeben verhaftete die türkische Polizei im Zusammenhang mit Beiträgen in sozialen Medien 37 Nutzer. Sie hätten Beiträge geteilt, "mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten", so die Polizei (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023). Mitte Februar gab die türkische Generaldirektion für Sicherheit bekannt, 613 Personen identifiziert zu haben, die der Veröffentlichung provokativer Beiträge beschuldigt wurden, und gegen 293 seien rechtliche Schritte eingeleitet worden. Von dieser Gruppe hat der Generalstaatsanwalt die Verhaftung von 78 Personen angeordnet, wobei über 20 von ihnen eine Untersuchungshaft verhängt wurde (REU 15.2.2023).

Zwischen dem 6. und 9.2.2023 wurden mindestens vier Journalisten vorübergehend festgenommen, als sie versuchten, vor Ort von den Ereignissen zu berichten, meist unter dem Vorwand keine Dreherlaubnis oder Pressekarte zu besitzen (MLSA 9.2.2023). Zwischenzeitlich war Twitter in der Türkei gesperrt. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am Krisenmanagement unterdrücken zu wollen (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023, NetBlocks 8.2.2023). Überdies wurde am 8.2.2023 der Zugang zu Mediaplattformen im Internet gedrosselt (MLSA 9.2.2023).

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung 2024-03-07 13:56

Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte jedoch stark beschränkt. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 16, 27). Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021).

Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es keine Fortschritte. Verbote friedlicher Versammlungen sind weit verbreitet, und öffentliche Veranstaltungen werden von der Polizei oft mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung aufgelöst. Gegen Demonstranten werden häufig Ermittlungen, Gerichtsverfahren und Bußgelder wegen des Vorwurfs des Terrorismus oder des Verstoßes gegen das Gesetz über Demonstrationen und Aufmärsche eingeleitet. Angriffe auf Versammlungen und Räumlichkeiten der Opposition werden häufig weder untersucht noch strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 6, 38; vgl. EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 12). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 8.11.2023, S. 6, 37f.). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021). Beispielsweise intervenierten die Sicherheitskräfte laut Jahresstatistik 2022 der türkischen Menschenrechtsvereinigung bei 571 Protesten, wobei 4.553 Personen durch das gewaltsame Einschreiten geschlagen und verletzt wurden (İHD/HRA 27.9.2023b, S. 4, 6).

Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten (FH 10.3.2023, E1). Proteste und Demonstrationen für Menschenrechte, Umweltrechte sowie politische und sozioökonomische Rechte wurden mehrfach von der Polizei verboten und aufgelöst (u.a. Demonstrationen von entlassenen Beamten, anlässlich des Internationalen Frauentags und von Müttern von Verschwundenen). Die Rechtsvorschriften über Versammlungen und Demonstrationen erlaubten es den Behörden, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage vager und willkürlicher Kriterien zu verbieten. Im April 2023 wurden alle Aktivitäten im Zusammenhang mit dem "Tag des Gedenkens an den Völkermord an den Armeniern" untersagt. Alle Aktivitäten und Versammlungen zur Bekämpfung von Homophobie und zum Pride-Monat im Mai und Juni 2023 wurden ebenfalls verboten (EC 8.11.2023, S. 38).

o Polizeiliche Gewalt bei Versammlungen

Auch im Jahr 2022 setzten die Sicherheitskräfte Tränengas und andere gewaltsame Mittel ein, um Demonstranten bei den Aufmärschen zum 1. Mai, den LGBTIQ+-Paraden in Istanbul und Ankara, den Feierlichkeiten zum Frauentag, den Demonstrationen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, den Protesten gegen Preiserhöhungen und die steigende Inflation sowie anderen Großveranstaltungen auseinanderzutreiben (FH 10.3.2023, E1). Einige konkrete Beispiele der letzten Monate: In Istanbul gingen Bereitschaftspolizisten mit Pfefferspray gegen Teilnehmerinnen einer Demonstration anlässlich des Internationalen Frauentages 2023 vor (Spiegel 8.3.2023). Mindestens 50 Personen wurden am 25.6.2023 während der jährlichen Pride-Parade in Istanbul von der Polizei festgenommen. Die Demonstration wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. In Izmir nahm die Polizei mindestens 44 Personen fest, nachdem die Behörden den Pride-Marsch verboten hatten (BAMF 12.6.2023, S. 12; vgl. Zeit online 25.6.2023). In Istanbul hat die Polizei Demonstranten darin gehindert, den zentralen Taksim-Platz zu erreichen, um dort anlässlich des Maifeiertages zu protestieren. Lokalen Medienberichten zufolge, wurden Dutzende Demonstranten festgenommen. Journalisten, welche die Proteste filmen wollten, wurden von der Polizei gewaltsam entfernt oder verhaftet (EN 1.5.2023). Die sogenannten Samstagsmütter/-leute werden Woche für Woche daran gehindert, sich friedlich auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zu versammeln und an diesem für sie symbolträchtigen Ort Gerechtigkeit für ihre "verschwundenen" Angehörigen zu fordern. Im Herbst 2023 hat die Bereitschaftspolizei bei Festnahmen erneut unnötige Gewalt angewandt (AI 27.10.2023).

o Versammlungsverbote durch die Gouverneure

Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44; vgl., USDOS 20.3.2023a, S. 51). Die Provinzbehörden verbieten regelmäßig Proteste und Versammlungen von regierungskritischen Gruppen, wobei sie sich häufig über die Urteile der nationalen Gerichte hinwegsetzen, die solche Verbote als unverhältnismäßig einstufen (HRW 11.1.2024). Das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz erlaubt es der Verwaltung, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage von vagen, ermessensabhängigen und willkürlichen Kriterien zu verbieten (EC 12.10.2022, S. 39).

o Sicherheitsgesetz 2015, Strafgesetz und Urteile der Höchstgerichte

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (AnA 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, nicht nur gefärbtes Wasser zur späteren Identifikation von Demonstranten anzuwenden, sondern auch Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 20.3.2023a, S. 51).

Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S. 12; vgl. BIRN 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 18). Im Mai 2022 wies die Verwaltungskammer des Staatsrates letztendlich den Einspruch des Innenministeriums und der Generaldirektion für Sicherheit gegen die Entscheidung des Staatsrates, den Vollzug des Rundschreibens auszusetzen, zurück (MLSA 10.5.2022).

Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 28.7.2022).

Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S. 37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S. 16f; vgl. TM 8.9.2021).

o Vereinigungsfreiheit

Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 54).

Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S. 15). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S. 44).

Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021, S. 26).

Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. ICSEM 1.2023, S. 9). Laut Abschlussbericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] betrafen mit Jahresende 2022 von 17.960 aller positiven Entscheidungen der Kommission 72 die Wiedereröffnung geschlossener Institutionen, wie Vereinigungen und Stiftungen (ICSEM 1.2023, S. 9/ Tab, 26). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verliefen intransparent und blieben unwirksam (USDOS 20.3.2023a, S. 54).

Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Kollektivverhandlungsrechte der Gewerkschaften sind eingeschränkt. Gewerkschaften und Berufsverbände sehen sich mit staatlichen Eingriffen und Vergeltungsmaßnahmen für Aktivitäten konfrontiert, die den Wünschen der Behörden zuwiderlaufen, wie etwa bei der Auflösung eines Streiks im Jahr 2018 ersichtlich, mit dem gegen unsichere Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des neuen Istanbuler Flughafens protestiert wurde (FH 10.3.2023, E3). Das Gesetz erlaubt es der Regierung, das Streikrecht in jeder Situation zu untersagen, wenn eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Das Gesetz verlangt von den Gewerkschaften zudem, dass sie ihre Versammlungen oder Kundgebungen, die in offiziell ausgewiesenen Bereichen stattfinden müssen, bei der Regierung anmelden, und erlaubt es Regierungsvertretern, Gewerkschaftsversammlungen beizuwohnen und deren Verlauf aufzuzeichnen (USDOS 20.3.2023a, S. 97f.).

Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 20.3.2023a, S. 54).

Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten

Letzte Änderung 2024-03-05 11:29

o Selbstverständnis des Staates in Bezug auf Religion

Die Türkei besitzt keine verfassungsrechtlich verankerte Staatsreligion. In der Verfassung wird Laizität als Grundprinzip postuliert. In seiner konkreten Ausgestaltung ist die Laizität darauf ausgerichtet, den Staat gegen direkte Übergriffe religiöser Autoritäten zu schützen. Gleichzeitig beansprucht der Staat jedoch das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens. Nach klassischem kemalistischen Verständnis ist die türkische Identität darüber hinaus unmittelbar mit dem sunnitischen Islam verknüpft. Die Verfassung garantiert die Freiheit des Gewissens der religiösen Anschauungen und Überzeugungen und untersagt Diskriminierung sowie Missbrauch religiöser Gefühle oder Gegenstände, die der jeweiligen Religion als heilig gelten. Sie sieht grundsätzlich Religionsfreiheit vor, allerdings mit Einschränkung durch die "unteilbare Einheit" der türkischen Nation (BMZ 22.11.2023, S. 151f.). Das heißt, das Land ist von einem Jahrhundert kemalistischer Tradition mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde. Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime und Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29).

o Religionsdemografie

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, inklusive Aleviten. Aus den im Jahr 2021 veröffentlichten Meinungsumfragen des Forschungs- und Meinungsforschungsunternehmens KONDA Research and Consultancy geht hervor, dass sich etwa 88 % als sunnitische Muslime bezeichnen, 6 % als Nichtgläubige, 4 % als Aleviten und die restlichen 2 % in der Kategorie "Sonstige". Die Aleviten-Stiftung geht jedoch davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind. 4 % der Muslime sind laut eigener Schätzung schiitische Jafari (USDOS 15.5.2023). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der armenischapostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen und ca. 10.000 Baha'i. Die Zahl der ostorthodoxen Christen ist im Laufe des Jahres 2022 deutlich auf über 150.000 gestiegen, was vor allem auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist, der zu einem Zustrom von schätzungsweise 60.000 Russen und 40.000 Ukrainern führte. Zur ostorthodoxen Bevölkerung gehören auch weniger als 2.500 ethnisch griechisch-orthodoxe Christen und eine kleine, unbestimmte Anzahl bulgarisch-orthodoxer und georgischorthodoxer Christen. Zu den anderen Gruppen gehören schätzungsweise 7.000 bis 10.000 Mitglieder protestantischer und evangelikaler christlicher Konfessionen; 5.000 Mitglieder der Zeugen Jehovas; schätzungsweise 2.000 bis 3.500 armenische Katholiken; weniger als 3.000 chaldäische Christen; und weniger als 1.000 Jesiden (USDOS 15.5.2023). Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt unter Berufung auf offizielle türkische Stellen in seinem Bericht vom November 2023 etwas abweichende Zahlen bekannt. Demgemäß gelten über 98 % der türkischen Bevölkerung als Muslime. Die überwiegende Mehrheit sind Sunniten hanafitischer Rechtsschule (rund drei Viertel). Etwa 4 % der Muslime sind schiitisch. Aleviten machen Schätzungen zufolge 15 % aus. Ferner leben rund 60.000 armenischapostolische Christen in der Türkei, die meisten von ihnen in Istanbul. Die Zahl der Juden wird auf ca. 18.000 geschätzt (BMZ 22.11.2023, S. 151).

o Situation der Religionsgemeinschaften der Minderheiten

Die Freiheit der Religionsausübung wird allgemein geachtet. Die fehlende Rechtspersönlichkeit der nicht-muslimischen und alevitischen Gemeinschaften gab jedoch weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis seitens der Europäischen Kommission, insbesondere im Hinblick auf den fehlenden Rechtsstatus der Patriarchate, des Oberrabbinats, der Synagogen, der Kirchen und der Cem-Häuser (alevitische Gebetsstätten). Die Empfehlungen der Venedig-Kommission (des Europarates) zum Rechtsstatus der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften und zum Recht des griechisch-orthodoxen ökumenischen Patriarchats in Istanbul, den Titel "ökumenisch" zu führen, sind noch nicht umgesetzt worden und werden weiterhin angefochten (EC 8.11.2023, S. 32; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 33). Ebenso äußerte sich das Europäische Parlament im September 2023, indem es feststellte, "dass beim Schutz der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten, einschließlich der Rechte der griechisch-orthodoxen Bevölkerung auf den Inseln Gökçeada (Imbros) und Bozcaada (Tenedos), keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen sind" (EP 13.9.2023, Pt. 19). Die Behörden mischen sich weiterhin laufend in die internen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ein. So können in der Türkei keine Ausbildungsstätten für Priester eröffnet werden. Das griechisch-orthodoxe Halki-Seminar, beispielsweise, ist seit 1971 geschlossen. Die Priester müssen im Ausland ausgebildet werden. Auch bei der Wahl des armenischen Patriarchen im Jahr 2019 gab es Einmischung. - Zunächst blockierte die Regierung über Jahre hinweg alle Versuche der armenischen Gemeinde, eine Neuwahl eines Patriachen infolge der schweren Erkrankung des Amtsinhabers Mutafyan durchzuführen. Nach dessen Tod 2019 erließ das Innenministerium im September desselben Jahres eine Regelung, wonach nur Bischöfe des armenischen Patriarchats Istanbul als Kandidaten für das Amt zugelassen seien, wodurch in Frage kommende Kandidaten aus dem Ausland ausgeschlossen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 33; USCIRF 5.2023, S. 67).

Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind ihrerseits nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 15.5.2023; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29f.). Nur diese kommen in den Genuss der in den Artikeln 37 bis 43 des Lausanner Vertrages verankerten Garantien, wobei selbst diese Bestimmungen nie vollständig umgesetzt worden sind. Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, Römisch-Katholische oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Das System der "vakıf" geht auf das Osmanische Reich zurück und wurde durch den Vertrag von Lausanne und diverse Stiftungsgesetze über die Zeit verfestigt. Derzeit gibt es 167 solcher Stiftungen, darunter 77 griechisch-orthodoxe, 54 armenisch-orthodoxe, 19 jüdische, zehn syrisch-orthodoxe, drei chaldäischkatholische, zwei bulgarisch-orthodoxe und jeweils eine georgisch-orthodoxe und türkisch-orthodoxe (Stand: August 2022). Die Errichtung neuer cemaat vakıf ist rechtlich unmöglich. Die Registrierung als Verein oder Stiftung ist möglich, sofern das erklärte Ziel primär gemeinnütziger, erzieherischer oder kultureller Natur und nicht religiös ist. In Ermangelung einer Rechtsgrundlage vermochten diese vakıf seit 2013 ihre Stiftungsräte nicht zu erneuern, was zu Problemen in der Stiftungsleitung und zum Verlust von Eigentumsrechten führte. In der Praxis wurde dadurch das Tätigwerden der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 30); vgl. USCIRF 5.2023, S. 67, Bianet 12.4.2022). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethnoreligiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 28.7.2022 S. 11).

Andere islamische Strömungen neben dem sunnitischen Islam genießen zwar individuelle und – seit den 1990er-Jahren zunehmend auch – de facto kollektive Freiheiten. Sie werden allerdings aufgrund des kemalistischen Verständnisses einer „unteilbaren Einheit“ der (sunnitisch-muslimischen) türkischen Nation weiterhin nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt. Ihre Gebetshäuser sind nicht als solche anerkannt (BMZ 22.11.2023, S. 153).

Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (tarikat) sowie Logen (tekke oder zaviye), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 15.5.2023; vgl. BMZ 22.11.2023, S. 153). Die islamischen Bruderschaften werden in ihren wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten nicht pauschal behindert (BMZ 22.11.2023, S. 153).

o Individuelle Religionsfreiheit und Diskriminierung

In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NORHC 11.9.2020, S. 10). Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37).

Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 28.7.2022, S. 11; vgl. BMZ 22.11.2023) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 22.11.2023, S. 152). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 28.7.2022, S. 11).

Aleviten und Nicht-Muslime werden in Schulen und im öffentlichen Sektor systematisch diskriminiert (FH 10.3.2023, F4; vgl. AA 28.7.2022, S. 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften nur in Einzelfällen im öffentlichen Dienst zu finden, in der Armee nicht. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Und Mitte August 2022 erfolgte seine Ernennung zum Distriktgouverneur von Babadağ/Denizli. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. - Im türkischen Parlament zählen nach der Wahl vom Mai 2023 die regierende AKP und die Grüne Linkspartei - YSP, (als Nachfolgerin der Demokratische Partei der Völker - HDP) je einen christlichen Abgeordneten in ihren Reihen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 33).

o Die staatliche Religionsverwaltung und Religionspolitik

Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine durch die Verfassung eingerichtete staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird. Obwohl das Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Mitglieder des Rates sunnitische Muslime sein müssen, ist dies in der Praxis der Fall (USDOS 15.5.2023). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).

Kritiker werfen der AKP vor, sunnitische Muslime zu bevorzugen, und verweisen auf die Umgestaltung des Bildungssystems, welches den islamischen Unterricht in säkularen Schulen begünstigt und den Aufstieg religiöser Schulen gefördert hat. Die AKP baute auch das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) aus und nutzte diese Institution als Kanal für politische Klientelpolitik. Neben anderen Funktionen nutzt die Partei das Direktorat, um regierungsfreundliche Predigten in Moscheen in der Türkei sowie in Ländern, in denen die türkische Diaspora präsent ist, zu verbreiten (FH 10.3.2023, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie Darwins Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (MBZ 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39).

Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (MBZ 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch mit Ende 2022 weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 15.5.2023). Der grundsätzlich verpflichtende Religionsunterricht ist stark sunnitisch-hanafitisch geprägt und entspricht nicht pluralistischen Standards (BMZ 22.11.2023, S. 152). Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte (AlMon 12.4.2022; vgl.BMZ 22.11.2023, S. 152). Eine Umsetzung des Urteils ist bislang nicht erfolgt (BMZ 22.11.2023, S. 152). Das Bildungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen (BMZ 10.2020). Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis (BMZ 22.11.2023, S. 152), wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung inklusive der Polizei einsehbar (BMZ 22.11.2023, S. 152; ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 15.5.2023).

o Religiöse Einstellungen der Bevölkerung

Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (MBZ 31.10.2019). Umfrageinstituten zufolge bezeichnen sich rund 2 % der türkischen Bevölkerung als atheistisch (BMZ 22.11.2023, S. 151). In einer vom Ankara-Institut durchgeführten Studie mit dem Titel "Perception of Religiosity in Turkey" (Wahrnehmung der Religiosität in der Türkei) wurde festgestellt, dass 92,3 % der türkischen Bevölkerung sich als Muslime bezeichnen, während 6 % Atheisten (2,7 %) oder Deisten (3,2 %) sind. Die Mehrheit der Teilnehmer, 86 %, glaubt an die Existenz Gottes, und 62 % glauben an die Erfüllung religiöser Anforderungen. Diejenigen, die sich als religiös bezeichnen, machen 70 % aus (BNN 7.11.2023).

Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023a, S. 85). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022a, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023a, S. 85f.).

Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 87).

Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine gesetzgeberischen Entwicklungen, die die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).

Kurden

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

o Demografie und Selbstdefinition

Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).

o Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung

Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023b, S. 8f.).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der HüdaPar, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).

Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).

o Religiöse Orientierung

In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).

o Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden

Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).

2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).

Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).

o Kurdische Zivilgesellschaft

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023a, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).

o Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei – PKK

Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023a, S. 29, 85). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen 11 kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel "Opposition"] auch Vertreter kurdische NGOs und Vereine. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonymen Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023).

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder regelmäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023).

o Gewaltsame Übergriffe

Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; USDOS 20.3.2023a). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Beispiele: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Ein anderer kurdischer Jugendlicher wurde eingekreist und gezwungen, den Wimpel der Heimmannschaft Bursaspor zu küssen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen angegriffen wurden (Duvar 17.12.2023).

o Verwendung der kurdischen Sprache

Der Gebrauch von Kurdisch als Unterrichtssprache ist eingeschränkt. Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl.ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Duvar 30.8.2021b). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71).

o Verwendung des Begriffes "Kurdistan"

Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013).

2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).

Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von 16.957 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung 2024-03-07 13:52

o Allgemeiner Rechtsrahmen und Defizite

Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 20.3.2023a, S. 79). Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 79), sodass nach wie vor Probleme in den Bereichen Geschlechtergleichheit, Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt bestehen. Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019).

Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im türkischen Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022a, S. 4). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Komitee) begrüßte 2022 die bedeutenden Rechtsreformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und dass das Gesetz Nr. 6284/2012 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen einen wichtigen Rahmen für die Verhütung von Gewalt und den Schutz der Opfer bildet. CEDAW stellte jedoch mit Besorgnis fest, dass sowohl der Geltungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften als auch ihre Umsetzung noch Lücken aufweisen (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 7f.).

o Austritt aus der "Istanbul-Konvention" - politische Gründe

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention trat mit 1.7.2021 in Kraft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45; vgl. AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5). Die Bewertung der Auswirkungen des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention erwies sich als recht schwierig. Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wirkte sich der Austritt der Türkei aus diesem Vertrag vor allem auf der politischen Ebene aus. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Der Aktionsplan enthielt weder einen Hinweis auf die "Gleichstellung der Geschlechter" noch waren Frauenrechtsorganisationen bei seiner Ausarbeitung konsultiert worden. Verschiedene Quellen betonten, dass weder die Istanbul-Konvention noch das daraus resultierende Schutzgesetz 6284 jemals wirksam umgesetzt worden seien (MBZ 31.8.2023, S. 59).

Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021b).

o Kinder-, Früh- und Zwangsehen

Die Europäische Kommission (EK) zeigte sich bereits 2020 besorgt ob der Kinder-, Früh- und Zwangsehen (EC 6.10.2020, S. 39). Angesichts der Errichtung einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch im Januar 2023 verlangte die EK, dass ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten aufgestellt wird (EC 8.11.2023, S. 41). Ebenso äußerte sich das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom September 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 14).

Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so z.B. Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleichbehandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).

o Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen

Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 20.3.2023a, S. 80). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2).

Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/ eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Im Mai 2022 trat ein Justiz-Sofortpaket zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Trotz positiver Änderungen, wie der Anhebung der Mindesthöhe von Freiheitsstrafen für einige Delikte, halten Experten die neuen Regelungen für wenig wirkungsvoll, vor allem aufgrund der nach wie vor vergleichsweise niedrigen Maximalstrafen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45). Sie kritisierten auch die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ihre Ursachen und Folgen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt. Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022a, S. 6).

Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u.a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u.a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der Strafprozessordnung (StPO) vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).

Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums haben Polizeibeamte mitunter den Frauen davon abgeraten, häusliche Gewalt anzuzeigen, und ermutigten sie, sich mit dem Täter zu versöhnen. Es kam auch vor, dass Frauen falsche oder gar keine Informationen erhielten, wenn sie sich an die Polizei wandten. Außerdem wurden Kontaktverbote, die von Familiengerichten oder Polizeibeamten verhängt wurden, nicht immer durchgesetzt. Darüber hinaus wurden Kontaktverbote zwar für maximal sechs Monate verhängt, jedoch nicht automatisch verlängert, sodass die Frauen wiederholt ein bürokratisches Verfahren durchlaufen mussten, um dieselbe Schutzmaßnahme erneut erwirken zu können (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 60). Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen. Deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen (HRW 5.2022, S. 3). In vielen Fällen konnten sich Männer, gegen die ein Kontaktverbot verhängt worden war, der Wohnadresse der betroffenen Frau nähern, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es gab auch Verzögerungen bei der Verhängung von Kontaktverboten, oder diesbezügliche Aufforderungen dazu wurden einfach nicht befolgt (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. HRW 5.2022, S. 3). Nicht nur stellen die Gerichte häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, sondern die Behörden verabsäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3).

Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes erhalten, die zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beitragen (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 12.10.2022, S. 41).

Laut (damaligen) Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung 2018 die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, bis April 2023 von 5,2 Millionen Frauen heruntergeladen. In der Praxis hat die KADES-App die Erwartungen nicht erfüllt. Um sich zu vergewissern, ruft die Polizei oft vor dem Einsatz die betreffende Frau an, nachfragend, ob sie tatsächlich in Gefahr ist. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen in gefährlichen Situationen nicht immer in der Lage sind, ans Telefon zu gehen. Darüber hinaus werden die beteiligten Männer aggressiver, wenn sie erfahren, dass die Frauen die Polizei gerufen hat. Beamte haben, wenn sie tatsächlich auf Notrufe reagierten, in der Regel versucht zwischen den Frauen und ihren Peinigern zu vermitteln, um eine Versöhnung herbeizuführen (MBZ 31.8.2023, S. 61).

Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S. 35). Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei haben erklärt, dass Täter, die geschlechtsspezifische Gewalt, Femizid und sexuellen Missbrauch begehen, dank reduzierter Haftstrafen straffrei ausgehen. Nach Angaben der Aktivistinnen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 mindestens 17 Täter zu reduzierten Haftstrafen verurteilt. Einige dieser Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch von minderjährigen Mädchen. Canan Güllü, Vorsitzende der Föderation der türkischen Frauenverbände, sagte, dass solche Strafmilderungen zu einem Anstieg der Fälle von körperlichem und sexuellem Missbrauch geführt haben. Sie kritisierte zudem, dass Richter und Staatsanwälte nicht über die notwendige Ausbildung verfügen, um geschlechtsspezifische Gewalt und Missbrauch vollständig zu verstehen. - Türkische Gerichte sind wiederholt in die Kritik geraten, weil sie dazu neigen, Straftäter milde zu bestrafen, indem sie behaupten, die Tat sei "aus Leidenschaft" begangen worden, oder indem sie das Schweigen der Opfer als Zustimmung auslegen (SCF 3.10.2023).

o Femizide und sog. "Ehrenmorde"

Gewalt gegen Frauen bleibt in der Türkei ein hochaktuelles Thema. Laut Berichten von Frauenrechtsorganisationen waren 2022 mindestens 334 Frauenmorde sowie 245 "verdächtige" Todesfälle von Frauen und 2023 (bis Ende Oktober) 253 Frauenmorde sowie 194 "verdächtige" Todesfälle zu verzeichnen. Das Thema findet in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit. In Teilen der Bevölkerung findet eine wachsende Sensibilisierung statt. Projekte von NGOs zielen auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45). Laut einem Bericht, der am 23.11.2023 von der Nachrichtenagentur Bianet veröffentlicht wurde, sind zwischen dem 1.1. und 21.11.2023 mindestens 288 in der Türkei Opfer von Femiziden geworden. Dem Bericht zufolge wurden in 165 der Mordfälle Schusswaffen eingesetzt, drei wurden bei lebendigem Leib verbrannt und zwei zu Tode gesteinigt. Gegen 681 weitere Frauen sollen Gewalttaten verübt worden sein, und mindestens 335 Frauen sollen im Verlauf des Jahres zur Prostitution gezwungen worden sein. Bei den Tätern handelte es sich hauptsächlich um Ehemänner, Ex-Ehemänner und männliche Familienangehörige (BAMF 27.11.2023).

Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 28.7.2022, S. 14). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S. 18). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zeigte sich in seinem Bericht zur Türkei besorgt über das Fortbestehen von Verbrechen, einschließlich Tötungen, die im Namen der sogenannten "Ehre" begangen werden, und über die relativ hohe Zahl von erzwungenen Selbstmorden oder getarnten Morden an Frauen. Das CEDAW-Komitee nahm mit Besorgnis die begrenzten Bemühungen der Türkei zur Kenntnis, die Öffentlichkeit über den kriminellen Charakter und das irreführende Konzept der sogenannten "Ehrenverbrechen" aufzuklären. Das Komitee nahm die übermittelten Informationen seitens der Türkei zur Kenntnis, wonach Artikel 29 des Strafgesetzbuchs, der mildernde Umstände im Falle einer "ungerechtfertigten Provokation" vorsieht, nicht auf Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" angewendet wird. Der Ausschuss ist jedoch nach wie vor besorgt, dass dies keinen ausreichenden rechtlichen Schutz darstellt, da die Bestimmung, die die Anwendung von Artikel 29 ausdrücklich verbietet, sich nur auf Tötungen im Namen der "Sitte" (töre) bezieht und daher möglicherweise nicht immer Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" (namus) abdeckt (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 9).

Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S. 13f).

o Schutzeinrichtungen

Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (USDOS 20.3.2023a, S. 80; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 20.3.2023a, S. 80).

2023 existierten im ganzen Land lediglich 159 Frauenhäuser mit einer Kapazität von knapp unter 4.000 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge waren es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Buben, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD/HRA 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen (OHCHR 27.7.2022a, S. 7) sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022a, S. 7; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46).

Die meisten von der Regierung betriebenen Frauenhäuser gelten als überfüllt und bieten nur eine Grundversorgung, ohne professionelle Beratung oder psychologische Betreuung. Die Lebensbedingungen in den meisten dieser Frauenhäuser ähneln jenen in Gefängnissen. Die Wartezeiten für die Aufnahme sind lang, sodass Frauen, die dringend Hilfe und Beratung benötigen, diese nicht zeitnah erhalten. Zudem gibt es Behördenmitarbeiter, die nur Opfer von physischer Gewalt aufnehmen, nicht aber Opfer von psychischer Gewalt, obwohl auch letztere Opfergruppe Anspruch auf Schutz hat. Außerdem verlangen Beamte, obwohl sie dazu nicht befugt sind, in einigen Fällen medizinische Unterlagen als Beweis dafür, dass die Frau körperlich angegriffen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 55). Das UN-CEDAW-Komitee bemängelte 2022, dass Frauen, die versuchen, einer Gewaltbeziehung zu entkommen, unzureichende Unterstützung und Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich unter anderem in der unzureichenden Anzahl von Frauenhäusern in der gesamten Türkei und in den unangemessenen Bedingungen für Frauen in Frauenhäusern wider (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 8).

Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46; vgl. EC 6.10.2020, S. 38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46).

o Behördliches Vorgehen gegen Frauenorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen

Frauenorganisationen werden durch Verleumdungen, Festnahmen, Ermittlungen und Verhaftungen unter Druck gesetzt. Auch Aktivistinnen wurden bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und waren polizeilicher Gewalt ausgesetzt. Schließungsverfahren und Gerichtsverfahren liefen bzw. laufen gegen einige Frauenorganisationen. Mehrere Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen wurden inhaftiert und zu Geldstrafen verurteilt, weil sie an Demonstrationen für die Rechte der Frauen teilgenommen hatten. (EC 8.11.2023, S. 16, 30). Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen gab es Demonstrationen am 25.11.2022. Die Behörden haben in mehreren Städten diese Demonstrationen verboten und verhindert. In Istanbul hatte die Polizei mit massivem Aufgebot die Innenstadt weiträumig abgesperrt, während in Ankara etwa Kundgebungen, aber keine Märsche zugelassen waren (ARD 25.11.2022). Allein in Istanbul waren am 28.11.2022 40 Menschen festgenommen worden, teilte die Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" mit, während bereits zwei Tage zuvor nach anderen Angaben an die 200 festgenommen worden waren (Tagesspiegel 27.11.2022). Auch in den osttürkischen Provinzen Şırnak, Ağrı und Van wurde demonstriert. Rund zwei Dutzend Frauen wurden festgenommen, darunter die Provinz- und Bezirksvorsitzenden der pro-kurdischen HDP (SCF 25.11.2022). In Cizre (Kurdengebiet) gab es Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Polizei. Die "Plattform 25. November" reichte eine Strafanzeige wegen der Polizeibrutalität an diesem Tag in Istanbul ein (EC 8.11.2023, S. 38).

Am Internationalen Frauentag 2023 nahm die Polizei bei Demonstrationen in Istanbul mehrere Personen fest und setzte Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Zuvor hatte das Büro des Bezirksgouverneurs Istanbul, wie in den Jahren zuvor, das zentrale Taksim-Viertel und die Umgebung für Demonstrationen anlässlich des Weltfrauentages gesperrt. Die Behörden erklärten, der geplante Marsch sei aus Sorge um die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit sowie zur Verhinderung von Straftaten und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer verboten worden (BAMF 13.3.2023, S. 3; vgl. TM 8.3.2023, CNN 9.3.2023).

Hassreden gegen unabhängige Frauenorganisationen haben zugenommen. Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Frauenmärsche wurden mit Polizeigewalt beantwortet, und es wurde ein Gerichtsverfahren zur Schließung der bekannten Frauenplattform namens "We Will Stop Femicides Platform" eingeleitet (EC 12.10.2022, S. 41).

Die Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) stellte im Jahr 2022 fest, dass sich Journalistinnen in der Türkei auf immer gefährlicheres Terrain begeben mussten, sowohl physisch als auch digital, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Zwischen Jänner und Dezember 2022 verzeichneten CFWIJ 150 Fälle von Übergriffen auf Journalistinnen. Mindestens 50 Frauen wurden juristisch verfolgt, 47 wurden vor Ort von der Polizei oder Anhängern des Staates angegriffen. Die Zahl der in der Türkei inhaftierten Journalistinnen ist laut CFWIJ im Jahr 2022 um 27 % gestiegen, und Journalistinnen wurden auch durch organisierte Online-Troll-Kampagnen und über staatliche Medien ins Visier genommen, weil sie die Regierungspolitik kritisierten (CFWIJ 14.12.2023). Dies setzte sich auch 2023 fort. Im Dezember 2023 ging die Polizei zuletzt gegen zwei kurdische Journalistinnen vor, gegen die JIN-News-Reporterin Elfazi Toral und die Journalistin der Demokratischen Moderne, Sema Korkmaz. Sie wurden von der Polizei verprügelt und festgenommen, nachdem sie über eine Pressekonferenz in Istanbul berichtet hatten. Korkmaz wurde ohne Anklage freigelassen, während Toral wegen Verstoßes gegen das Protestgesetz angeklagt wurde (CFWIJ 8.12.2023).

o Sozioökonomische Stellung

Was die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik betrifft, so sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr groß, trotz Verbesserungen am Arbeitsmarkt (EC 8.11.2023, S. 102). Im November 2023 betrug die offiziell geschätzte Arbeitslosenquote 9,0 %. Allerdings lag die Quote bei den Frauen bei 11,8 % zu nur 7,5 % bei den Männern. Die Erwerbstätigenquote lag bei 48,2 % - 65,4 % bei Männern und 31,3 % bei den Frauen (TUIK 10.1.2024a).

Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) lag die Türkei auf Platz 129 von 146 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2023. In den Sub-Indizes lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 133. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 99), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 118) und bei der "Gesundheit" (Position 100) besser aus (WEF 6.2023).

Kinder und Minderjährige

Letzte Änderung 2024-03-07 13:53

o Rechtslage und staatliche Maßnahmen

Die Türkei ist Vertragsstaat der folgenden internationalen Menschenrechtsinstrumente in Bezug auf die Rechte des Kindes: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) und seine Fakultativprotokolle über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (DFAT 10.9.2020, S. 16). Der Schutz der Rechte des Kindes ist nach wie vor unzureichend, auch in der Jugendgerichtsbarkeit und in Bezug auf die Folgen der Erdbeben (EC 8.11.2023, S. 40). Im Jänner 2023 wurde eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch eingesetzt. Es muss jedoch laut Europäischer Kommission ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten errichtet werden. Konsequente Anstrengungen sind erforderlich, um Kinderarbeit, insbesondere unter Flüchtlingen, zu beseitigen, so die Kommission (EC 8.11.2023, S. 41).

o Menschenrechtsverletzungen an Kindern

Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes zeigte sich im Juni 2023 zutiefst besorgt über die anhaltende Unterdrückung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Kindern im Namen der Terrorismusbekämpfung und stellt fest, dass seit 2016 Tausende von Kindern festgenommen, inhaftiert und wegen terroristischer Anschuldigungen verurteilt wurden. Das Komitee verwies auf die Empfehlungen des Menschenrechtsausschusses und empfahl der Türkei außerdem, sicherzustellen, dass das Antiterrorismusgesetz von 1991 (Gesetz Nr. 3713) nicht zur Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit von Kindern verwendet wird, dass Antiterrormaßnahmen verhältnismäßig sind und im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und den Grundfreiheiten stehen und dass jede Gewalt, die Kindern von den Sicherheitskräften im Zuge von Antiterrormaßnahmen zugefügt wird, untersucht wird und die Täter entsprechend verfolgt und bestraft werden. Das UN-Komitee zeigte sich überdies tief besorgt über Berichte von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Isolationshaft von Kindern durch Gefängniswärter in geschlossenen Einrichtungen, einschließlich der geschlossenen Strafvollzugsanstalt in Diyarbakır (UN-CRC 2.6.2023a).

o Kinderarbeit und Kinderarmut

Die Regierung erklärte 2018 zum Jahr der Abschaffung von Kinderarbeit. Darüber hinaus wurden 355 Arbeitsinspektoren, 81 Provinzdirektoren und 320 Lehrer zum Thema Kinderarbeit geschult. Dennoch sind Kinder in der Türkei den schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Rekrutierung durch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen. Die uneinheitliche Durchsetzung der Gesetze führt zu einem unzureichenden Schutz von Kindern, die Kinderarbeit verrichten. Kinder verrichten etwa in der saisonalen Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben gefährliche Arbeiten. Darüber hinaus entspricht das Verbot der Zwangsrekrutierung von Kindern durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen nicht den internationalen Standards (USDOL 28.9.2022).

Die Bemühungen um den Aufbau von Kapazitäten zur Bekämpfung der Kinderarbeit wurden auf nationaler und lokaler Ebene fortgesetzt. Dennoch gibt es nach wie vor Praktiken der Kinderarbeit, die gegen internationale Normen verstoßen und von denen insbesondere Jugendliche und Buben mit Migrationshintergrund betroffen sind. In der Türkei fehlt es an angemessenen Daten zu Kinderarbeit, welche die nötigen Anhaltspunkte liefern würden, um die Ursachen des Problems zu bekämpfen. Die Umsetzung des Nationalen Programms der Türkei zur Beseitigung der Kinderarbeit ist in einem fortgeschrittenen Stadium. Kinderarbeit ist jedoch immer noch weit verbreitet, insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund (EC 8.11.2023, S. 100f.)

Bis zu zwei Millionen leisten in der Türkei Kinderarbeit. Gesetzlich zwar verboten, zwingt die Not Familien oft dazu, ihre Kinder zum Geldverdienen anstatt in die Schule zu schicken, z. B. während der Baumwollernte (ARD 25.10.2020, Min. 1). Obwohl die Kinderarbeit erheblich zurückgegangen ist, stellt sie in der saisonalen landwirtschaftlichen Produktion immer noch ein Problem dar. In der Agrarwirtschaft, mit Ausnahme von Familienbetrieben, wird mobile und saisonale Landarbeit im Nationalen Programm zur Beseitigung von Kinderarbeit (2017-2023) als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit eingestuft, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen, damit verbundenen Risiken. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit beschäftigt sind, stellen eine der am meisten benachteiligten Gruppen dar, was die Arbeits- und Lebensbedingungen in Verbindung mit Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsproblemen betrifft (ILO 5.3.2021, S. 3). Offiziellen Zahlen zufolge sind 720.000 Kinder gezwungen, zum Haushaltseinkommen ihrer Familien beizutragen. Rund 31 % dieser Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, fast 24 % in der Industrie und 45,5 % im Dienstleistungssektor. 20 % der Kinder sind Saisonarbeiter (Duvar 7.6.2021b; vgl. ILO 5.3.2021, S. 2). Das US-amerikanische Arbeitsministerium geht in der Altersgruppe der Sechs- bis 14-Jährigen sogar von einem Anteil von 57 % aus, welcher in der Landwirtschaft arbeitet, gefolgt von fast 16 % in der Industrie und 27 % im Dienstleistungssektor (USDOL 28.9.2022). Der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe 5-17 Jahre wird von der türkischen Statistikbehörde auf 4,4 % geschätzt. 79,7 % der erwerbstätigen Kinder sind in der Altersgruppe 15-17 Jahre, 15,9 % in der Altersgruppe 12-14 Jahre und 4,4 % in der Altersgruppe 5-11 Jahre. Eine Untersuchung nach Geschlecht zeigt, dass 70,6 % der arbeitenden Kinder männlich und 29,4 % weiblich sind (ILO 5.3.2021, S. 2). 2020 starben 22 Minderjährige unter 14 Jahren und 46 im Alter von 15 bis 17 Jahren bei Arbeitsunfällen (Duvar 11.6.2021).

Abgesehen von der Kinderarbeit nimmt infolge der Wirtschaftskrise auch die allgemeine Armut zu, welche insbesondere Kinder betrifft. - Laut Berichten müssen Millionen Kinder aufgrund der Wirtschaftskrise auf ein grundlegendes Menschenrecht verzichten: das auf ausreichende Ernährung. Einer von vier Schülern geht hungrig zur Schule (FAZ 15.12.2022). In der Türkei brechen die Kinder die Schule in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ab, weil sich die Eltern einen Schulbesuch, dazu gehört insbesondere die Verpflegung, nicht mehr leisten können. Laut Omer Yilmaz, Vorsitzender der Schülerelternvereinigung, waren offiziellen Statistiken zufolge im Zeitraum 2021-2022 rund 1,2 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren in keiner Schule eingeschrieben. Nimmt man die Schüler hinzu, die Berufsschulen und offene Schulen besuchen, in denen sie vier Tage die Woche arbeiten, so sind heute fast vier Millionen Kinder außerhalb des regulären Bildungssystems und arbeiten entweder für einen geringen Lohn oder suchen nach einem Arbeitsplatz, so Yilmaz (AlMon 23.11.2022).

o Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Der Zugang zu Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wasser und Unterkünften war die wichtigste Herausforderung nach dem Erdbeben, wobei Kinder häufig am stärksten gefährdet waren. Berichten zufolge schliefen mehrere Kinder im Freien oder lebten in improvisierten Lagern. Die Auswirkungen des Erdbebens auf die Schulbildung der Kinder sind eine zusätzliche Sorge. Kinder in den betroffenen Gemeinden haben aufgrund der obligatorischen Schulschließungen keinen Zugang mehr zu Bildung. Schließlich hat das Erdbeben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kinder ausgebeutet und missbraucht werden. Besonders Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden oder sich in einer unsicheren Situation befinden, sind anfällig für Ausbeutung (KRF 20.2.2023). Mehrere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder wurden aus den Erdbebengebieten vermeldet (EC 8.11.2023, S. 40). Es wird in dem Zusammenhang über Fälle von Kinderhandel und Kinderarbeit berichtet (KRF 20.2.2023).

Viele Türken waren empört über die Stellungnahme von Diyanet, der staatlichen Körperschaft für religiöse Angelegenheiten, wonach Adoptiveltern ihre Adoptivkinder heiraten dürfen. Anlass war der Umstand, dass Tausende Kinder durch die Erdbeben zu Waisen geworden waren. Diyanet begründete dies damit, wonach im Islam eine Adoption nicht vorgesehen sei und folglich diese Kinder vom Erbe ausgeschlossen wären. Allerdings wiesen die Kritiker, insbesondere Anwälte, darauf hin, dass das türkische Zivilrecht sehr wohl die Adoption von Kindern sowie die folgliche Erbberechtigung dieser vorsieht. Ehen zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern hingegen verbietet das türkische Gesetz (AlMon 22.2.2023). Die Europäische Kommission zeigte sich angesichts dieser Fatwa der Religionsbehörde äußerst besorgt (EC 8.11.2023, S. 40).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57).

Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).

Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl.ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Und vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).

Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit online 16.11.2023).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-GovernmentPortal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).

Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023a, S. 57f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).

Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Grundversorgung / Wirtschaft

Letzte Änderung 2024-03-07 13:56

Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3 % abschwächen, verglichen mit rund 4 % im Jahr 2023 und 5,5 % im Jahr 2022 (GTAI 12.12.2023a). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 10.2023, S. 4).

Bis zu den Mai-Wahlen 2023 verfolgte Staatspräsident Erdoğan trotz horrender Inflation eine Niedrigzinspolitik, die kurzfristig die Exporte und den Konsum anregte. Dies befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira, die in der Folge staatlich gestützt wurde. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen sind hoch. Instabile Rahmenbedingungen haben das Vertrauen der Investoren erschüttert. Nach den Wahlen im Frühjahr 2023 vollzog das Land einen Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Leitzins wurde bis Ende November 2023 schrittweise von 8,5 auf 40 % erhöht. Infolgedessen wird für 2024 ein Abschwächen des Wirtschaftswachstums erwartet. Weitere Herausforderungen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende geo- und innenpolitische Spannungen, aber auch hausgemachte Probleme (GTAI 12.12.2023b).

Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 12.12.2023b). Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 10.2023, S. 5). Die seit Juli 2023 wieder steigende offizielle Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr 2023 offiziell 64,77 %. Laut Berechnungen der Forschungsgruppe für Inflation (ENAGrup) stieg der Verbraucherpreisindex für denselben Zeitraum jedoch um 127,21 % (Duvar 3.1.2024a, vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist nach einem Höchststand von 14,2 % im Juli 2020 rückläufig und erreichte im August 2023 mit 9,2 % einen Tiefststand. Neben der hohen

Jugendarbeitslosigkeit von 17,2 % bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im November 2023 bei 52,9 %. Die Erwerbsquote lag bei den Männern mit 70,7 % fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 35,5 % (TUIK 10.1.2024b).

Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2.140 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren (Erhebungszeitraum: Dezember 2022 - Jänner 2023) ergab, dass angesichts der wirtschaftlichen Stagnation 63 % der Befragten bereit sind die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9 % (KAS 1.6.2023). Und auch im Oktober 2023 gaben 39,1 % aller Türken und Türkinnen laut einer Umfrage von MetroPOLL Research an, dass sie gerne in einem anderen Land leben würden. Merklich höher lagen die Werte bei Anhängern der Opposition (Duvar 29.10.2023).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 %, gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch. Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialhilfezahlungen auf 151,9 Milliarden Lira oder 1,01 % des BIP (EC 8.11.2023, S. 102). Der GiniKoeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers offiziell 0,415 im Jahr 2022, der höchste Wert der letzten zehn Jahre (TUIK 4.5.2023) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].

Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024b). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).

Nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 55 % im Jänner 2023 wurde dieser mit Juli 2023 auf 11.400 Lira netto (rund 440 Euro) erhöht, eine Steigerung von 34 %. Die Steigerung lag jedoch immer noch unter der offiziellen Inflationsrate, welche im Mai 2023 fast 40 % betrug. Laut unabhängigen Experten belief sich die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs bei mehr als 100 %. 40 % beträgt der Anteil der Bevölkerung, der vom Mindestlohn lebt. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die oben erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 23.6.2023). Ende Dezember 2023 kündigte die Regierung eine weitere Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 49 % auf rund 17.000 Lira (rund 520 Euro) an, denn seit Juni 2023 bzw. der letzten Erhöhung hatte der Mindestlohn circa 88 Euro an Wert eingebüßt (Duvar 27.12.2023; vgl. WKO 29.12.2023). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023).

Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Sozialbeihilfen / -versicherung

Letzte Änderung 2024-03-07 12:08

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (REFERENCE FOUND: SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).

Arbeitslosenunterstützung

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D..; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).

Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, berechnet am 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54; vgl. MPI-SRSP 3.2022), genauer, wenn das Haushaltseinkommen pro Person ein Drittel des Bruttomindestlohns unterschreitet (MPI-SRSP 3.2022). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen SubstanzMissbrauch und Drogenabhängigkeit ( REFERENCE NOT FOUND: SGK 2016).

Die Gesundheitsausgaben der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. aus eigener Tasche erreichten im Jahr 2022 knapp über 112 Milliarden Lira, was einem Anstieg von 98,8 % gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte an den gesamten Gesundheitsausgaben lag 2022 bei 18,5 %, während dieser 2021 noch 15,9 % ausmachte (TUIK 7.12.2023).

Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:

Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.

Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.

Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).

o GSS - Allgemeine Krankenversicherung

Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, wurde mit dem durch das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz allen türkischen Bürgern der Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Das GSS erfasst Personen, die gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind; Personen, die ein Einkommen oder eine Pension nach dem Gesetz Nr. 5510 über die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung beziehen; Bürger, deren Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Drittel des Mindestlohns beträgt; sowie türkische Staatsbürger, die nicht über eine allgemeine Krankenversicherung verfügen, oder Unterhaltsberechtigte ohne Einkommensermittlung, Kinder unter 18 Jahren, Personen, die Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld beziehen. - Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist. Was die Kosten betrifft, so beträgt die allgemeine Krankenversicherungsprämie für Personen, deren Einkommen über einem Drittel des Bruttomindestlohns liegt, 3 % dieses Bruttomindestlohns. Die Höhe der von den Versicherten im Jahr 2023 zu zahlenden allgemeinen Krankenversicherungsprämie beträgt rund 300 Lira pro Monat (EUAA 8.4.2023).

o Selbstbehalt (Zuzahlungen)

Beim Selbstbehalt (i.e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).

Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen.

Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SRSP 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SRSP 20.6.2020).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022b). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022b).

Behandlung nach Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-07 13:53

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates GrenzkontrollInformationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z.B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2023).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/ • TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail:

almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

o Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).

Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).

2. Beweiswürdigung

Hinsichtlich der Beurteilung der gesetzlichen Mitwirkungs- bzw. Darlegungsverpflichtung der Partei ergeben sich aus der Judikatur insbes. folgende beachtliche Leitlinien:

Beweislast:

Der EGMR hat in seinem Urteil der Großen Kammer vom 23. August 2016, Nr. 59166/12, J.K. u.a. gegen Schweden, (u.a.) ausgeführt, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege, gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide, im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei.

Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (vgl. die Ausführungen in VwGH Rn. 23 des zu Ra 2016/18/0137 ergangenen Erkenntnisses; 03.09.2020, Ra 2020/19/0221).

Nach der Judikatur des EGMR ist es Sache der beschwerdeführenden Partei über Nachfrage „Beweise“ vorzubringen, die zeigen können, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, sie würden im Fall der Vollstreckung der angefochtenen Maßnahme einem realen Risiko ausgesetzt, die einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden, wobei dem ein gewisser Grad an Spekulation innewohnen kann und keine „eindeutigen Beweise“ für die Behauptung einer verbotenen Behandlung zu erbringen sind (vgl. zB uva EGMR Paposhvili gg. Belgien, 13.12.2016, Bsw. 41738/10).

Erhöhte Mitwirkungsverpflichtung der Partei:

Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601; 14.6.2005, 2005/02/0043], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht und Darlegungslast des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).

Wenn Sachverhaltselemente im Ausland ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungspflicht und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, als die Pflicht der Behörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht der Partei in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihr, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhalte beizuschaffen (VwGH 12.07.1990, Zahl 89/16/0069).

Dies entspricht auch der sich insbes. aus § 15 AsylG ergebenden Mitwirkungsverpflichtung sowie aus der Verfahrensförderungspflicht des § 39 Abs 2a AVG, wonach jede Partei ihr Vorbringen so rechtzeitig und vollständig zu erstatten hat, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann.

Glaubhaftmachung:

Nach der Rechtsprechung des VwGH ist - abgesehen vom Fall einer Wahrunterstellung (vgl. dazu etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2019/19/0032, Rn. 13) - die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Asylwerbers zu prüfen. Diese Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung der vom EuGH judizierten unionsrechtlichen Anforderungen (vgl. EuGH 25.1.2018, C-473/16 und EuGH 4.10.2018, C-56/17, Fathi). Erst danach erfolgt die Prognoseentscheidung gemäß §§3, 8 AsylG 2005, ob mit dem als glaubhaft erachteten Vorbringen eine wohl begründete Furcht vor Verfolgung oder reale Gefahr der Verletzung maßgeblicher Rechtsgüter des Asylwerbers glaubhaft gemacht wird (vgl. zur Prognoseentscheidung VwGH 8.9.2016, Ra 2015/20/0217, mwN; vgl. zu der dabei vorzunehmenden einzelfallbezogenen Beurteilung VwGH 2.9.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Behörde einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubhaft anerkennen, wenn der Asylwerber während des Verfahrens im Wesentlichen gleichbleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst sehr spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängten, dass sie nur der Asylerlangung um jeden Preis dienen sollten, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen. Als glaubhaft könnten Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (vgl. zB. VwGH 6.3.1996, 95/20/0650). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.2.1993, 92/03/0011; 1.10.1997, 96/09/0007).

Im Allgemeinen erfolgt eine (vorsätzliche) Falschaussage nicht ohne Motiv (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Auflage, Rz 246ff).

Im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz kann eine derartige Motivationslage, die den Wahrheitswillen eines Antragstellers/einer Antragstellerin zu beeinflussen geeignet ist, darin liegen, dass sie ihrer Überzeugung nach – uU auch durch Suggestion Dritter (vgl. zB „Die 12 ‚Verbote‘ in der Vernehmung“, https://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm#Die 12 'Verbote', mwN) beeinflusst - dadurch gesteigerte Erfolgsaussichten erwartet, um den beantragten Status als Asylberechtigter oder als subsidiär Schutzberechtigter und damit einen Aufenthaltstitel samt Zugang zum Arbeitsmarkt und/oder staatlicher Versorgung zu erlangen (sog. „Folgenberücksichtigung“, siehe oben zitierte Quelle; vgl auch UNHCR Handbuch, Dez. 2011, B/2/f Auswanderer aus wirtschaftlichen Motiven im Unterschied zu Flüchtlingen).

Aus dem Wesen der Glaubhaftmachung ergibt sich somit insbes.:

dass die Ermittlungspflicht der Behörde / des BVwG grds. durch die (auf Nachfrage) vorgebrachten Tatsachen und angebotenen Beweise eingeschränkt ist (VwGH 29.3.1990, 89/17/0136; 25.4.1990, 90/08/0067);

ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte ist die Behörde / das Bundesverwaltungsgericht nicht verpflichtet jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN);

nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann die Beurteilung eines „gar nicht erstatteten Vorbringens“ mitunter sogar auch zu einer vom VwGH wahrzunehmenden Rechtsverletzung führen (vgl. zB VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314);

die allgemeine Behauptung von Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN).

Einleitend ist anzuführen, dass die im Verfahren aufgenommenen Niederschriften mit den Aussagen der bP vollen Beweis iSd § 15 AVG über den Verlauf und Gegenstand der Amtshandlung bilden und mit diesem Inhalt als zentrales Beweismittel der Beweiswürdigung unterzogen werden können.

Die bP trat den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des darin bezeugten Vorganges nicht an.

Nach der Judikatur des VwGH sind grds. weder die Behörde noch das VwG verpflichtet, einer asylwerbenden Person im Wege eines Vorhaltes zur Kenntnis zu bringen, dass Widersprüche vorhanden sind, die im Rahmen der gemäß § 45 Abs. 2 AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu ihrem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihr aus diesem Grund eine Stellungnahme hiezu zu ermöglichen (vgl. VwGH 29.01.2021, Ra 2021/14/0011; 28.06.2018, Ra 2017/19/0447, mwN).

Ad 1.1.1 Identität und Herkunftsstaat:

Das Bundesamt stellte die Identität auf Grund bei der Behörde vorgelegter Identitätsdokumente fest. Da dem Bundesverwaltungsgericht selbst kein herkunftsstaatliches, mit einem Lichtbild versehenes Identitätsdokument im Original vorlag, schließt sich das Gericht den Feststellungen des BFA an. Gleiches gilt in Bezug auf Herkunft, die Volksgruppenzugehörigkeit und Konfession der bP, zumal sich diesbezüglich keine gegenteiligen Anhaltspunkte im Beschwerdeverfahren ergaben.

Ad 1.1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnissen vor der Ausreise:

Dies ergibt sich plausibel aus den in diesen Punkten lebensnahen, gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der niederschriftlich festgehaltenen persönlichen Aussagen der bP.

Ad 1.1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:

Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten widerspruchsfreien, persönlichen Angaben in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde.

Ad 1.1.4. Ausreisemodalitäten:

Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen.

Ad 1.1.5. Aktueller Gesundheitszustand:

Dies ergibt sich plausibel aus ihren persönlichen Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde.

Ad 1.1.6. Aktuelles Privatleben / Familienleben in Österreich

Dies ergibt sich plausibel aus ihren persönlichen Angaben sowie den zitierten amtswegigen Ermittlungsergebnissen des Bundesamtes.

Ad 1.1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet

Ad a) Betreffend ihrer persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:

Gem. § 15 Abs 1 Z1 AsylG hat eine asylwerbende Person im Verfahren alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte „wahrheitsgemäß“ darzulegen. Hier ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die bP in zentralen Punkten dieser Verpflichtung nicht nachkam, wie sich aus nachfolgenden Ausführungen deutlich ergibt.

Das Bundesamt legte im Rahmen der Beweiswürdigung zutreffend dar, dass die bP alle Fragen zu den in der GFK genannten möglichen Verfolgungshandlungen verneint bzw. diese nicht substantiiert dargelegt habe. Auch im Zuge des amtswegigen Ermittlungsverfahrens hätten sich keine diesbezüglichen Hinweise ergeben.

Dem kann auch vom BVwG nichts entgegengesetzt werden, wie sich anhand folgender Passagen aus der Einvernahme vor dem BFA erkennen lässt und wurde im Übrigen die Beweiswürdigung des BFA in der Beschwerde auch nicht substantiiert bekämpft, weshalb das Bundesverwaltungsgericht nicht veranlasst war, das Ermittlungsverfahren zu wiederholen bzw. zu ergänzen (vgl. zB. VwGH 20.1.1993, 92/01/0950; 14.12.1995, 95/19/1046; 30.1.2000, 2000/20/0356; 23.11.2006, 2005/20/0551 ua.).

„[…]

F: Hatten Sie persönlich Probleme mit der türkischen Regierung?

A: Meine Rechte wurde eingeschränkt. Als die Araber in die Türkei kamen, durfte arabisch gesprochen werden, aber wir Kurden haben das Recht, unsere Muttersprache zu sprechen, nie bekommen. In Diyarbakir/Sur werden auf den Feldern Knochen aufgefunden, deren Leichnam nie identifiziert und die Todesursache nie aufgeklärt wurde.

F: Was hat das mit Ihnen zu tun?

A: Diese Personen, die getötet wurde, sind Kurden, deshalb hat das mit mir zu tun. Alle kurdischen Journalisten sind im Gefängnis und die Künstler sind ins Ausland geflüchtet. Kurdische Fernsehkanäle sind verboten.

F: Wurden Sie jemals festgenommen?

A: Nein, ich wurde in Gewahrsam genommen.

F: Wie oft ist das geschehen?

A: Ein Mal für 2 Tage.

[…]

F: Wurden Sie verurteilt?

A: Die Strafverfolgung wurde aufgehoben durch den Antrag meines Anwalts.

[…]

F: Werden Sie jetzt aktuell in der Türkei von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht?

A: Nein, offiziell nicht.

F: Haben Sie sich in der Türkei oder in einem anderen Land je politisch betätigt oder öffentlich geäußert?

A: Nein.

[…]

F: Haben Sie an Demonstrationen teilgenommen?

A: Ja, an Nevroz Festen, aber die letzten 3 Jahre nicht mehr. Davor versäumte ich kein einziges.

[…]

F: Hatten Sie strafrechtliche Probleme deswegen?

A: Nein.

[…]

F: Wurden Sie in der Türkei jemals wegen Ihrer Rasse, politischen Gesinnung, Volksgruppe, Religion oder Angehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt?

A: Ja, natürlich zum Beispiel, weil ich aus Diyarbakir stamme, wurde ich von Nationalisten in Izmir verprügelt, aber ich kann es nicht beweisen. Ich habe am linken Ringfinger eine Verletzung davon getragen. Das war vor 4 Jahren. Ich wurde vom Kommandanten beim Wehrdienst herablassend behandelt. Er sagte mir „Du bist aus Diyarbakir, verpiss dich“. Das Schlimmste war, dass wir nicht in unserer Muttersprache unterrichtet werden, aber in Arabisch ist das möglich.“

Sofern in der Beschwerde neu vorgebracht wird, die bP sei zuletzt auch von unbekannten bewaffneten Männern bedroht worden, handelt es sich nach Ansicht des BVwG hierbei um unzulässige Neuerungen, da dies von der bP selbst im Zuge der Erstbefragung und der niederschriftlichen Einvernahme trotz Möglichkeit nicht vorgebracht wurde.

Gemäß § 20 BFA-VG idgF dürfen in einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes neue Tatsachen und Beweismittel nur vorgebracht werden,

1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat;

2. wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war;

3. wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren oder

4. wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen.

(2) Über die Zulässigkeit des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweise muss nicht entschieden werden, wenn diese für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht maßgeblich sind.

(3) Abs. 1 ist auf Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundesamtes auf Grund eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß dem 7. Hauptstück des AsylG 2005 nicht anzuwenden.

Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zum Neuerungsverbot ist dem Anliegen des Gesetzgebers, Missbräuchen vorzubeugen, auch dadurch Rechnung getragen, dass die Ausnahmen vom Neuerungsverbot „auf jene Fälle beschränkt“ werden, in denen der Asylwerber „aus Gründen, die nicht als mangelnde Mitwirkung“ am Verfahren zu werten sind, „nicht in der Lage war“, Tatsachen und Beweismittel bereits in erster Instanz vorzubringen. Somit bleibt vom Neuerungsverbot ein Vorbringen erfasst, mit dem ein Asylwerber das Verfahren missbräuchlich zu verlängern versucht. (VfGH 15. 10. 2004, G 237/03 ua). Für die Annahme eines Neuerungsverbotes bedarf es nach der Rechtsprechung des VwGH der Auseinandersetzung mit der für die Annahme eines Neuerungsverbotes erforderlichen Voraussetzung der missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens (Hinweis E vom 27. September 2005, 2005/01/0313, und E vom 26. März 2007, 2007/01/0074).

Aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist demnach abzuleiten, dass nicht jede Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens zu einer Durchbrechung des Neuerungsverbotes führt, sondern nur jene, welche „kausal“ dafür ist, dass der Asylwerber „nicht in der Lage war“ die erst im Beschwerdeverfahren vorgebrachten neuen Tatsachen und Beweismittel schon im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen (vgl. auch VwGH 25.9.2007, 2007/18/0418).

Der Sachverhalt, der der Entscheidung des Bundesamtes zugrunde gelegt wurde, hat sich nicht nach dessen Entscheidung maßgeblich geändert. Dies wurde weder in der Beschwerde dargelegt, noch kann dies gerichtswegig erkannt werden (Z1);

eine Mangelhaftigkeit des behördlichen Verfahrens, die dafür kausal war, dass dieses neue Vorbringen erst in der Beschwerde vorgebracht werden konnte, wurde von der bP nicht aufgezeigt, noch kann dies gerichtswegig festgestellt werden (Z2);

die neu erstatteten Umstände wären der bP bereits vor der behördlichen Entscheidung zugänglich, Gegenteiliges wurde nicht konkret dargelegt (Z3);

es wurden keine Gründe in konkreter Weise aufgezeigt, wonach die bP nicht in der Lage gewesen wäre, dies schon beim Bundesamt vorzubringen (Z4).

Das gegenständliche Verfahren hat keinen hinreichenden Anhaltspunkt für das Vorliegen eines dieser Ausnahmetatbestände (Z1 – Z4) hervorgebracht.

Am Boden der zu dieser Bestimmung ergangenen und für deren Auslegung maßgeblichen Judikatur der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (siehe VfGH 15.10.2004, Zahl G237/03 ua., Punkt III.4.7.4.2.; VwGH 27.09.2005, Zahl 2005/01/0313) ist in diesem Kontext noch zu beurteilen, ob diese späte, erst im Stadium der Beschwerde erfolgte Tatsachenbehauptung von dem Versuch gekennzeichnet ist, das Asylverfahren missbräuchlich zu verlängern. Im Rahmen einer gesamthaften Abwägung gelangt das Bundesverwaltungsgericht angesichts der ob dargelegten Ausführungen zu der Ansicht, dass im Falle der bP das Vorliegen eines Missbrauchs zu bejahen ist.

Sofern in der Beschwerde ausgeführt wird, die Behörde hätte mittels Nachfragen den Sachverhalt amtswegig „genauer ermitteln“ müssen, ist auf die oben zitierten Passagen aus der Einvernahme der bP durch das BFA zu verweisen, woraus sich vielmehr Gegenteiliges ergibt.

Die in der Beschwerde dargelegten neuen Umstände – es handelt sich hierbei auch nicht bloß um eine Konkretisierung eines schon im behördlichen Verfahren erstatteten Vorbringens – unterliegen somit dem Neuerungsverbot des § 20 BFA-VG und sind damit im Beschwerdeverfahren nicht beachtlich.

Die bP flüchtete auch nicht, wie nunmehr in der Beschwerde ausgeführt, illegal aus der Türkei, sondern reiste sie legal, unter Verwendung ihres eigenen Reisepasses zunächst nach Serbien, von wo aus sie weiter nach Österreich reiste (AS 4). Dies deutet zum einen darauf hin, dass die bP selbst keine Bedenken hatte, in Behördenkontakt zu treten und zum anderen darauf, dass kein Interesse der türkischen Behörden an der Person der bP besteht und sie daher auch keine Verfolgungshandlungen seitens der Behörden in ihrem Herkunftsstaat zu befürchten hat. Die behauptete illegale Ausreise in der Beschwerde stellt ebenso eine unzulässige Neuerung dar, die in Missbrauchsabsicht erstattet wurde.

Die Ausführungen in der Beschwerde, wonach eine maßgebliche Gefahr bestehe, dass gegen die bP (erneut) ein willkürliches Strafverfahren geführt werde und sie eine mehrjährige Haftstrafe antreten müsse, erweisen sich in diesem Zusammenhang als reine Spekulationen und wurde diesbezüglich auch nichts Konkretes vorgebracht bzw. entsprechende Bescheinigungen zur Glaubhaftmachung vorgelegt.

Für die Ausführungen in der Beschwerde, dass die bP seit Jahren mit Terrorismus in Verbindung gebracht und ihr unterstellt werden, dass sie sich einer terroristischen Vereinigung angeschlossen habe, kamen im Verfahren keine Anhaltspunkte hervor. Auch ist es der bP nicht gelungen, einen Zusammenhang zwischen der Verurteilung ihrer Schwester wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und einer möglichen Gefährdung ihrer Person herzustellen. Von der bP wurde auch nichts davon berichtet, dass ihre in der Türkei lebenden Familienangehörigen relevanten Probleme haben. Dass sich an der Situation der nach wie vor in der Türkei lebenden Familie der bP zwischen der Einvernahme der bP vor dem BFA und der gegenständlichen Beschwerde etwas geändert hätte, das geeignet wäre, die nunmehr behauptete Furcht vor Sanktionen zu begründen, wurde nicht behauptet.

Die nunmehrigen Ausführungen in der Beschwerde erweisen sich sohin als rein spekulative Behauptungen ohne Substanz, denen keine Relevanz in Bezug auf eine (asylrelevante) Gefährdung der bP beigemessen werden kann.

Sofern in der Beschwerde moniert wird, das BFA hätte sich näher mit der PKK/YPG sowie mit dem Vorgehen der türkischen Behörden gegen deren Mitglieder auseinandersetzen müsse, so bleibt unklar, inwiefern dies eine Relevanz in Bezug auf eine asylrelevante Gefährdung der bP aufweist. Eine Mitgliedschaft der bP selbst wurde nie behauptet und kann aufgrund des Vorbringens der bP auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihr eine solche seitens der türkischen Behörden unterstellt wurde.

Bezüglich der in der Beschwerde aufgestellten Behauptung, die bP sei als Kurde neben Diskriminierungen auch mehrmals konkret gegen sie gerichteter psychischer und körperlicher Gewalt durch private und staatliche Akteure ausgesetzt gewesen, ist auf die Aussagen der bP vor dem BFA zu verweisen, aus denen sich derartige Vorkommnisse bzw. Gefährdungssituationen gerade nicht konkret ableiten lassen. Entgegen der Ausführungen in der Beschwerde kann aufgrund der Quellenlage nicht angenommen werden, dass der türkische Staat bei begründetem Sachverhalt kein Verfahren einleiten würde und haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass den bP von den türkischen Behörden tatsächlich kein effektiver Schutz gegen allfällige Angriffe und Bedrohungen gewährt würde.

Hinsichtlich der wiederholt in der Beschwerde erwähnten (asylrelevanten) Verfolgung der bP aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit ist auszuführen, dass glaubhaft ist, dass Kurden in der Türkei verschiedensten Diskriminierungen ausgesetzt sein können und wird insbesondere auch die teils prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition nicht in Abrede gestellt. Im gegenständlichen Fall ist jedoch eine derart exponierte Stellung der bP in der kurdischen Gesellschaft nicht erkennbar.

Die vom BFA vorgenommene Beweiswürdigung ist im Wesentlichen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig.

Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76). Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305, führen beispielsweise in Zitierung des Urteils des Obersten Gerichtshofs vom 29.02.1987, Zahl 13 Os 17/87, aus: „Die aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnene freie Überzeugung der Tatrichter wird durch eine hypothetisch denkbare andere Geschehensvariante nicht ausgeschlossen. Muss doch dort, wo ein Beweisobjekt der Untersuchung mit den Methoden einer Naturwissenschaft oder unmittelbar einer mathematischen Zergliederung nicht zugänglich ist, dem Richter ein empirisch-historischer Beweis genügen. Im gedanklichen Bereich der Empirie vermag daher eine höchste, ja auch eine (nur) hohe Wahrscheinlichkeit die Überzeugung von der Richtigkeit der wahrscheinlichen Tatsache zu begründen, (…)“.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist unter Heranziehung dieser, von der höchstgerichtlichen Judikatur festgelegten, Prämissen für den Vorgang der freien Beweiswürdigung dem BFA nicht entgegenzutreten, wenn es das als ausreisekausal dargelegte Vorbringen dergestalt im Ergebnis als nicht glaubhaft qualifiziert. Die Beweiswürdigung des BFA ist hinreichend tragfähig, um dieses Ergebnis zu stützten und schließt sich das Bundesverwaltungsgericht den hier dargestellten wesentlichen und tragfähigen Argumenten an.

Im Ergebnis ist es der bP mit deren Beschwerde weder gelungen, eine wesentliche Unschlüssigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung aufzuzeigen, noch ist sie dieser im Rahmen der Anfechtungsbegründung, soweit diese infolge partiell unzulässiger Neuerung überhaupt zu berücksichtigen ist, in substantiierter Form entgegengetreten. Hiezu wäre es erforderlich gewesen, dass die bP entweder in begründeter Form eine maßgebliche Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung dargetan oder Argumente vorgebracht hätte, die einerseits zu einer anderen Gewichtung oder Bewertung der verfahrensgegenständlichen Beweismittel führen würden oder aus denen andererseits im Rahmen der allgemeinen Denklogik eine Prävalenz des von ihr dargestellten Geschehnisablaufes gegenüber jenem von der Erstbehörde angenommenen hervorleuchtet, was im Ergebnis zu einer anders gelagerten Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des der weiteren rechtlichen Würdigung zugrunde zu legenden historisch-empirischen Sachverhaltes führen würde.

Ad b) Betreffend ihrer aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft) im Herkunftsstaat:

Die bP hat im Zuge des behördlichen Verfahrens und in der Beschwerde nicht konkret dargelegt, dass eine diesbezügliche entscheidungsrelevante Gefährdung ihrer Person bestehen würde. Angesichts ihrer persönlichen Verhältnisse und der Berichtslage zur Türkei erscheint eine mangelnde Gefährdung auch plausibel.

Ad 1.1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Im Rahmen der Beweiswürdigung wird dargestellt, dass es der bP nicht gelungen ist, glaubhaft zu machen, dass sie die von ihr geschilderten Erlebnisse tatsächlich persönlich so erlebt hat.

Soweit sie versucht, mit ihrer Beschwerde den vom BFA herangezogenen Länderfeststellungen entgegenzutreten, ist anzuführen, dass ausnahmslos Berichte zitiert werden, die im gegenständlich angefochtenen Bescheid enthalten und sohin vom BFA ohnedies bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt wurden und somit nicht geeignet sind, die diesbezügliche Beweiswürdigung des BFA zu erschüttern. Dass es bestimmte Sachlagen in ihrem Herkunftsstaat im Allgemeinen geben kann, wird nicht bestritten, jedoch ist es der bP eben nicht gelungen, ihre persönliche Betroffenheit bzw. Involvierung glaubhaft zu machen, wie sich näher aus der Beweiswürdigung zum Vorbringen ergibt.

Weder aus der Berichtslage des BFA, noch aus den in der Beschwerde angeführten Berichten lässt sich, vor allem unter zentraler Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse, die Prognose stellen, dass die bP im Falle einer Rückkehr eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende asylrelevante Verfolgungsgefahr oder eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende reale Gefährdung für hier maßgebliche Rechtsgüter zu gegenwärtigen hätte.

3. Rechtliche Beurteilung

Ad A)

Nichtzuerkennung des Status als asylberechtigte Person

§ 3 AsylG

(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist eine Person, die aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob eine vernunftbegabte Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen aus Konventionsgründen wohlbegründete Furcht erleiden würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380). Dies trifft auch nur dann zu, wenn die Verfolgung von der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet ausgeht oder wenn die Verfolgung zwar nur von einem Teil der Bevölkerung ausgeübt, aber durch die Behörden und Regierung gebilligt wird, oder wenn die Behörde oder Regierung außerstande ist, die Verfolgten zu schützen (VwGH 4.11.1992, 92/01/0555 ua.).

Gemäß § 2 Abs 1 Z 11 AsylG 2005 ist eine Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art 9 Statusrichtlinie. Demnach sind darunter jene Handlungen zu verstehen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art 15 Abs 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft, Keine Strafe ohne Gesetz) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon – wie in ähnlicher beschriebenen Weise – betroffen ist.

Nach der auch hier anzuwendenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Verfolgung weiters ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 14.10.1998, Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

Verfolgung kann nur von einem Verfolger ausgehen. Verfolger können gemäß Art 6 Statusrichtlinie der Staat, den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschende Parteien oder Organisationen oder andere Akteure sein, wenn der Staat oder die das Staatsgebiet beherrschenden Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren.

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müssen konkrete, den Asylwerber selbst betreffende Umstände behauptet und bescheinigt werden, aus denen die von der zitierten Konventionsbestimmung geforderte Furcht rechtlich ableitbar ist (vgl zB vom 8. 11. 1989, 89/01/0287 bis 0291 und vom 19. 9 1990, 90/01/0113). Der Hinweis eines Asylwerbers auf einen allgemeinen Bericht genügt dafür ebenso wenig wie der Hinweis auf die allgemeine Lage, zB. einer Volksgruppe, in seinem Herkunftsstaat (vgl VwGH 29. 11. 1989, 89/01/0362; 5. 12. 1990, 90/01/0202; 5. 6. 1991, 90/01/0198; 19. 9 1990, 90/01/0113).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Der Antrag war nicht bereits gemäß §§4, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen.

Nach Ansicht des BVwG sind die dargestellten Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK angeführten Grund nicht gegeben.

Wie sich aus den Erwägungen ergibt, ist es der bP nicht gelungen eine solche aus ihrer dargelegten Ausreisemotivation und vorgebrachten Rückkehrbefürchtung glaubhaft zu machen. Hinsichtlich der Nichtglaubhaftmachung wird hier ausdrücklich auf die Ausführungen in der Beweiswürdigung verwiesen.

Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer mit maßgeblicher Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Darüber hinaus leben Familienangehörige der bP mit ebenfalls kurdischer Abstammung nach wie vor in der Türkei und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb der bP auf Grund ihrer kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll.

Auch allgemeine Diskriminierungen, wie etwa soziale Ächtung oder gesellschaftliche Nachteile können für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen. Zur pauschalen Situation der Kurden in der Türkei ist festzuhalten, dass sich diese entsprechend der Länderberichte aktuell derart gestaltet, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner, eine relevante Intensität erreichenden, Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sind. Vereinzelte staatliche Aktionen oder solche von Einzelpersonen richten sich gegen Institutionen und Personen, denen ein Naheverhältnis zur PKK unterstellt wird. Auch Personen in gehobener Stellung könnten Ziel dieser Aktionen werden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein derartiges Interesse gerade an der Person der bP haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Insbesondere wurde im gesamten Verfahren kein Sachverhalt vorgebracht, aus dem sich ergeben würde, dass es sich bei der bP um eine exponierte Person handeln würde. Im Lichte dessen kann das Vorbringen der bP sowohl zur allgemeinen Situation der Kurden in der Türkei als auch zur allgemeinen Sicherheitslage in der Türkei, zu keiner maßgeblichen Gefährdung ihrer Person führen.

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen ist, ist davon auszugehen, dass der bP keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).

Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens der bP keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die bP bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würde, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

Die Beschwerde war somit als unbegründet abzuweisen.

Nichtzuerkennung des Status als subsidiär schutzberechtigte Person

§ 8 AsylG

(1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen, 1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder 2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

(5) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.

(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.

(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.

Art. 2 EMRK lautet:

„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.

Während das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.

Art. 3 EMRK lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB VwGH 26.06.2019, Ra 2019/20/0050) ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.

Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. Der EuGH hat dazu festgehalten, dass das "Vorliegen einer solchen Bedrohung ... ausnahmsweise als gegeben angesehen werden" kann, "wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region ‚allein durch ihre Anwesenheit‘ im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein" (vgl. EuGH 17.2.2009, C-465/07, Elgafaji, Rn. 35). Auch wenn der EuGH in dieser Rechtsprechung davon spricht, dass es sich hiebei um "eine Schadensgefahr allgemeinerer Art" handelt (Rn. 33), so betont er den "Ausnahmecharakter einer solchen Situation" (Rn. 38), "die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre" (Rn. 37). Diesen Ausnahmecharakter betonte der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung, Urteil vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakite, Rn.30.

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zum Ganzen VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).

Weiters hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN).

Dass der Eintritt künftiger ungewisser Ereignisse bloß nicht ausgeschlossen werden kann, wird der Annahme einer realen Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung nicht gerecht (VwGH am 19.01.2022, Ra 2021/20/0209).

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Gefährdung der persönlichen Sicherheit:

Die von der bP vorgebrachte Gefährdung wurde, so, wie von ihr dargelegt und soweit dieser Entscheidungsrelevanz zukommt, als nicht glaubhaft bzw. nicht wahrscheinlich erachtet.

Andere persönliche Gefährdungen, die ihrer Einschätzung nach, aus maßgeblicher aktueller Sicht, gegen eine Rückkehr sprechen könnten, brachte die bP bei der Einvernahme durch die belangte Behörde nicht vor, weshalb es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich eines aktuell „gar nicht erstatteten Vorbringens“ somit keiner weiteren Auseinandersetzung bedurfte (vgl. zB VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

Abgesehen davon, ergibt sich bei ganzheitlicher Bewertung der möglichen Gefahren, unter Berücksichtigung der festgestellten persönlichen Situation der bP in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Herkunftsstaat nicht, dass gerade für sie eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Gefahr bestünde, wegen der Sicherheitslage bei einer Rückkehr einer ernsthaften Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die beschwerdeführende Partei im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein.

Dies wäre nur dann der Fall, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrschen würde, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, und stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat vorliegen. Dies wäre dann der Fall, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 MRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH v. 01.03.2018, Ra 2017/19/0425).

Im gegenständlichen Fall ist es der beschwerdeführenden Partei nicht gelungen, ihre vorgebrachte individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr im dargestellten Ausmaß glaubhaft zu machen, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.

Keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende persönliche Gefährdung im Zusammenhang mit medizinischer Versorgung:

Die beschwerdeführende Partei hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt, weshalb sich daraus kein Rückkehrhindernis ergibt.

Keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende persönliche Gefährdung der Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz:

Die bP hat persönlich nicht in konkreter Weise vorgebracht, dass sie im Falle einer aktuellen Rückkehr, insbesondere hinsichtlich der Erlangung von Lebensmittel oder Unterkunft, relevante Probleme erwarten würde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass für die Gewährung von subsidiärem Schutz die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK nicht ausreichend ist. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, dass exzeptionelle Umstände vorliegen (vgl. VwGH 11.11.2020, Ra 2020/14/0390, mwN). Wenn der - nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts junge, gesunde und arbeitsfähige - Revisionswerber behauptet, er sei mangels familiärer Anknüpfungspunkte auf sich alleine gestellt, zeigt er vor dem Hintergrund der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Lage im Herkunftsstaat nicht auf, dass solche exzeptionellen Umstände vorlägen (vgl VwGH 28.12.2020, Ra 2020/14/0554-7 28. Dezember 2020) (Anm. Hier Russ. Föd)

Hinsichtlich der Grundversorgung in ihrem Herkunftsstaat kann der Berichtslage nach nicht von einer allgemeinen lebensbedrohenden Notlage gesprochen werden, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Art 3 EMRK indizieren würde.

Abgesehen vom Faktum, dass die bP zuletzt nicht äußerte, dass sie aktuell im Falle der Rückkehr nicht in der Lage wäre, das zum Leben unbedingt Erforderliche erlangen zu können, ist Folgendes anzumerken:

Bei der bP handelt es sich um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann mit Schul- und Berufsbildung, der in der Türkei sozialisiert wurde, die Landessprache spricht und dort auch nach wie vor über familiäre / verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte verfügt. Die bP war auch vor der Ausreise schon im Herkunftsstaat erwerbstätig. Unter Zugrundelegung dieses Persönlichkeitsprofiles und der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ist somit nicht ersichtlich, weshalb gerade bei der bP eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende exzeptionelle Gefahr bestünde, dass sie im Falle der Rückkehr in eine aussichtslose und damit Art 3 EMRK relevante Lage geraten sollte. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fordert das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen (VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095), was gegenständlich nicht vorliegt.

Es wäre der beschwerdeführenden Partei zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. Verwandte – erforderlichenfalls unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung - jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer 'Schatten- oder Nischenwirtschaft' stattfinden. Auf kriminelle Aktivitäten wird hiermit nicht verwiesen.

Keine exzeptionellen Art 3 EMRK relevanten Umstände.

Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status als subsidiär Schutzberechtigter zu gewähren.

Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen / Rückkehrentscheidung

§ 10 AsylG Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme

(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn 1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird, 2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird, 3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, 4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder 5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Gegenständlich wurde der Antrag auf internationalen Schutz gem. § 10 Abs 1 Z 3 AsylG sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen.

Zu prüfen ist nunmehr gem. Abs 2 leg cit von Amts wegen, ob der bP ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG zukommt

§ 57 AsylG Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz

(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.

Ein Sachverhalt, wonach der bP gem. § 57 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen wäre, kam nicht hervor.

Rückkehrentscheidung

Das Bundesamt hat gegenständlich entschieden, dass zur Erreichung von in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Interessen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung dringend geboten sei.

In der Beschwerde wird dagegen im Wesentlichen vorgebracht, dass die bP bemüht sei, sich in Österreich zu integrieren und die deutsche Sprache lernen möchte. Er sei im Bundesgebiet nicht straffällig geworden und sei keine Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit.

Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:

§ 9 BFA-VG

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.

Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Für die Beurteilung, ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Art 8 EMRK vorliegt, wird auf die im Erkenntnis des BVwG v. 16.01.2019, L504 1314867-3, dargestellte höchstgerichtliche Judikatur verwiesen.

Ob eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Dabei obliegt es dem Fremden integrationsbegründende Umstände, denen maßgebliche Bedeutung zukommen könnte, geltend zu machen (vgl. etwa VwGH 22.1.2014, 2012/22/0245).

Nicht näher substantiierte – bloße – Behauptungen können keine maßgebliche Verstärkung der Interessen des Fremden dartun (vgl. etwa VwGH 24.9.2009, 2009/18/0294).

Das BFA verneinte das Vorliegen eines schutzwürdigen Familien- und Privatlebens für die bP. Dem wurde in der Beschwerde nicht substantiiert widersprochen. So wurde pauschal ausgeführt, die bP sei unbescholten, integrationswillig und diesbezüglich äußerst bemüht, weswegen eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfe.

Seit der Beschwerdeerhebung wurden überdies keine neuen Umstände vorgebracht, die ein schutzwürdiges Privat- oder Familienleben der bP in Österreich ergeben würden. Da es sich hierbei um Fakten handeln würde, die ihrer persönlichen Sphäre entspringen, besteht diesbezüglich eine besondere Mitwirkung und zudem gem. § 15 AsylG auch eine unverzügliche Mitteilungspflicht der bP.

Die Rückkehrentscheidung greift somit nicht in die durch Art. .8 EMRK gewährleisteten Rechte ein, weshalb diese von der belangten Behörde zu Recht erlassen wurde.

Selbst wenn man ihr auf Grund der ca. 15-monatigen Aufenthaltsdauer und der lebensnahen Annahme, dass sie hier zwischenzeitig über Freunde und Bekannte verfügt, ein relevantes Privatleben zubilligen würde, stünde dem insbesondere das gewichtige öffentliche Interesse an einer geordneten Zuwanderung entgegen, das gegenständlich die privaten Interessen an einem Verbleib überwiegen würde. Es käme also auch in diesem Fall zu einer Bestätigung der Rückkehrentscheidung.

Zulässigkeit der Abschiebung

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

§ 50 FPG Verbot der Abschiebung

(1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Die Zulässigkeit der Abschiebung der bP in ihren Herkunftsstaat ist gem. § 46 FPG gegeben, da nach den gegenständlichen, die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würden.

Frist für freiwillige Ausreise

Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

§ 55 FPG Frist für die freiwillige Ausreise

(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.

(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.

(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Das Bundesamt hat die Frist für die freiwillige Ausreise gegenständlich iSd § 55 Abs 2 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides festgelegt. In der Beschwerde wurde dem nicht konkret entgegengetreten. Insbesondere wurden keine besonderen Umstände dargelegt, wonach eine längere Frist erforderlich wäre.

Absehen von einer mündlichen Beschwerdeverhandlung

Gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Die Beschwerde begründete den Antrag auf Durchführung der Verhandlung im Wesentlichen damit, „dass in der Beschwerde die Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens aufgezeigt und der entscheidungswesentliche Sachverhalt nicht vollständig erhoben und wesentliche Aspekte des Vorbringens nicht berücksichtigt worden seien“. Weiters habe das BVwG aktualisierte Länderberichte heranzuziehen, wodurch sich sowieso eine Verhandlungspflicht ergebe.

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt wurde nach Ansicht des BVwG vom Bundesamt vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben und ist bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch als aktuell und vollständig zu erachten. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben sich aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes keine hinreichenden Anhaltspunkte die einer nochmaligen Anhörung der bP und Ergänzung des Verfahrens bedurft hätte.

Die hier maßgeblichen Beweismittel – die Niederschriften - bilden vollen Beweis iSd § 15 AVG. Das Bundesamt hat die Nichtglaubhaftmachung nicht konkret auf den persönlichen Eindruck gestützt, sondern in nachvollziehbarer Weise im Wesentlichen auf den Inhalt der Aussagen der Partei.

Das Bundesamt hat die, die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt und hat das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung geteilt.

In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender, für die Beurteilung relevanter Sachverhalt konkret und substantiiert behauptet, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG 2014 festgelegte Neuerungsverbot verstößt.

Es konnte daher davon ausgegangen werden, dass der Sachverhalt als hinreichend geklärt erachtet werden und eine Verhandlung entfallen konnte.

Ad B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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