JudikaturBVwG

W126 2281113-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
14. Oktober 2024

Spruch

W126 2281113-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sabine FILZWIESER-HAT als Einzelrichterin über die Beschwerde der minderjährigen XXXX , geb. XXXX StA. Somalia, Staatsangehörigkeit: Somalia, gesetzlich vertreten durch XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2023, Zahl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 iVm § 2 Abs. 1 Z 15 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine minderjährige somalische Staatsangehörige, reiste am 31.08.2023 legal mit einem Visum in Österreich ein und stellte im Wege ihrer gesetzlichen Vertretung am 11.09.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz.

4. Mit im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Ihr wurde gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 und 5 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

5. Gegen Spruchpunkt I. des rechtswirksam zugestellten Bescheides wurde Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

6. Am 29.04.2024 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der Mutter bzw. gesetzlichen Vertreterin der Beschwerdeführerin sowie deren Rechtsvertreterin statt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist somalische Staatsangehörige, wurde am XXXX geboren und gehört dem Clan der Asharaf, XXXX an. Sie wird durch ihre Mutter gesetzlich vertreten. Sie kommt aus der Region Gedo, wo sie bis zu ihrem 6. Lebensjahr mit ihrer Mutter bis zu deren Ausreise gelebt hat und danach bei der Tante der Mutter mütterlicherseits im Dorf XXXX Diese sowie deren Mann und Kinder sowie zwei Schwestern der Mutter leben nach wie vor im Heimatdorf. Ende 2021 ist die Beschwerdeführerin nach Äthiopien gegangen, wo sie bei einer Verwandten mütterlicherseits gewohnt hat. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind geschieden, ihr Vater lebt in Kairo. Ihrer Mutter kommt in Österreich der Status der subsidiär Schutzberechtigten zu.

1.2. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Somalia:

Der Beschwerdeführerin droht im Herkunftsstaat weibliche Genitalverstümmelung (FGM), und es kann auch eine ihr drohende Zwangsheirat nicht ausgeschlossen werden. Die Beschwerdeführerin verfügt in Somalia über Verwandte, es steht ihr aber kein ausreichender Schutz durch männliche Verwandte, durch ihren Clan oder von staatlicher Seite zur Verfügung.

Der Beschwerdeführerin kommt in Österreich der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu.

1.3. Zur maßgeblichen Lage in Somalia werden nachfolgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba)

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Jubaland wurde im Jahr 2013 gebildet, damals wurde auch Ahmed Mohamed Islam 'Madobe' zum Präsidenten gewählt (HIPS 2021). Bei der Präsidentenwahl im Jahr 2019 hat die damalige Bundesregierung versucht, Madobe durch einen loyalen Präsidenten abzulösen. Dieser Versuch scheiterte, und Ahmed Madobe wurde - bei einer umstrittenen Wahl - als Präsident bestätigt (HIPS 8.2.2022). Im August 2022 hat das Parlament in Kismayo die Verfassung von Jubaland geändert und das eigene sowie das Mandat von Präsident Madobe bis August 2024 verlängert. Dies wurde (UNSC 1.9.2022b) und wird von der Opposition kritisiert. Eigentlich wäre die Amtszeit im August 2023 zu Ende gegangen (Sahan/SWT 14.6.2023). Die Lage in Jubaland ist relativ ruhig. Die nächstes Jahr stattfindenden Wahlen können aber neue Probleme mit sich bringen (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Die in der Region Gedo neugebildete Union of Presidential Candidates um den ehemaligen Vizepräsidenten Fartag zeigt, dass es nach wie vor eine aufrechte Opposition der Marehan zu Madobe gibt (BMLV 1.12.2023).

Auch wenn Jubaland offiziell der Bundesregierung untersteht, stellt der Bundesstaat in der Realität ein weitgehend unabhängiges Gebilde dar, das von einer signifikanten Präsenz kenianischer Truppen gestützt wird (GITOC/Bahadur 8.12.2022; vgl. BS 2022a). Überhaupt hängt Präsident Madobe stark von Kenia ab (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Andererseits überschneiden sich in diesem Bundesstaat sowohl komplexe regionale und nationale Politik als auch Clanbeziehungen. Jubaland wird von vielen Clans bewohnt, aber die beiden dominanten Clans sind die Marehan (v.a. in Gedo) und die Ogadeni (v.a. in Lower Juba) (Sahan/SWT 14.6.2023). Dies sind die beiden Pole in Jubaland. Historisch haben diese beiden Clans kaum Gemeinsamkeiten. Sie spielen seit Jahren Äthiopien und Kenia gegeneinander aus, denn auch zwischen diesen beiden Ländern gibt es eine ständige Rivalität um regionale Machtansprüche (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Das vorrangige Ziel der Regierung von Jubaland ist die Herstellung der Autorität über das gesamte beanspruchte Gebiet – gegenüber jedermann, egal ob al Shabaab, Regierung oder Clans (BMLV 1.12.2023).

In Gedo kam es im Juni 2023 zu politischen Unruhen, als der Präsident einen neuen Gouverneur und vier Stellvertreter für die Region ernannt hat. Die amtierende Regierung von Gedo hatte die Ernennungen abgelehnt (ACLED 30.6.2023). Nach wochenlangen Spannungen um die von Madobe eingesetzte neue Verwaltung lenkten die Marehan ein und akzeptierten den neuen Gouverneur. Auch der nunmehrige Ex-Gouverneur erklärte seine Unterstützung für Madobe. Es sollen dafür erhebliche Geldmittel an Vertreter der Marehan geflossen sein (BMLV 1.12.2023). Die Akzeptanz des neuen Gouverneurs hängt offenbar auch an der Unterstützung der Bundesregierung für Madobe und an der Gleichgültigkeit Äthiopiens (Sahan/SWT 12.7.2023). Oppositionelle in Jubaland haben darüber geklagt, dass die Bundesregierung Druck auf die Behörden in Gedo ausübt, damit diese mit Präsident Madobe kooperieren. Demnach hat die Bundesregierung gedroht, Gehälter einzubehalten (HO 9.7.2023). Viele Politiker Gedos und auch viele Einwohner stehen trotzdem auch weiterhin in Opposition zur Verwaltung Madobes (Sahan/SWT 12.7.2023). Eine Quelle erklärt, dass die Marehan von Äthiopien abhängig sind. Zudem verfügt bei der Frage von Gedo die politische Seite von Ex-Präsident Farmaajo über maßgeblichen Einfluss (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023).

In Kismayo hat sich die Verwaltung durch Jubaland gefestigt und diese funktioniert. Dies gilt auch für die Kooperation mit anderen Clans und deren Beteiligung an Regierungsaufgaben. Die Kooperation kenianischer Truppen mit lokalen Sicherheitskräften ist mit ein Grund für die in Kismayo gegebene, relative Stabilität (BMLV 1.12.2023).

[…]

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 1.12.2023).

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 1.12.2023). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

[…]

Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba)

Jubaland kontrolliert nur Teile des eigenen Gebietes. Middle Juba wird weiterhin von al Shabaab dominiert. Die Region Gedo steht nicht auf einer Linie mit der Führung von Präsident Madobe, und nur zwei von sechs Bezirken in Lower Juba stehen unter der Kontrolle von Jubaland (Sahan/SWT 14.6.2023; vgl. Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. PGN 23.1.2023). Den ländlichen Raum kontrolliert weitgehend al Shabaab. Auch die Gebiete zwischen Afmadow und Kismayo sowie zwischen der kenianischen Grenze und Kismayo werden von der Gruppe kontrolliert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. PGN 23.1.2023). Nach anderen Angaben befindet sich die Verbindung Kismayo-Afmadow-Kenia unter Kontrolle der Regierung. Jubaland nahm mit Anfang Feber 2023 den Kampf gegen al Shabaab wieder auf. Derzeit konzentrieren sich die Operationen auf den Unterlauf des Juba-Flusses. Laut Präsident Madobe ist die Einnahme von Buale das Ziel Jubalands (BMLV 1.12.2023).

Lower Juba: Die Region steht in Teilen unter Kontrolle von ATMIS, der kenianischen Armee, Kräften von Jubaland; und al Shabaab. Die Städte Kismayo, Afmadow und Dhobley sowie die Orte Tabta, Dif, Koday und Kolbiyow werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert. Jamaame steht unter Kontrolle von al Shabaab; dies gilt auch für den nördlichen Teil Lower Jubas. Auch Badhaade und das Umland in Richtung Norden werden von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023). Die Front zu al Shabaab verläuft an der Straße Richtung Jamaame bei Bar Sanguuni, wo auch immer wieder Angriffe stattfinden (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Afmadow und Dhobley sind Bastionen von Jubaland, dort gibt es starke Checkpoints und eine große Präsenz. Beide Städte können laut einer Quelle als ziemlich sicher bezeichnet werden (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). In Dhobley befinden sich das Kommando der Kenianer und ein Ausbildungslager, in Afmadow, Tabda und Bilis Qooqaani jeweils Stützpunkte. Diese Achse - inkl. Hosingow - kann als relativ sicher (BMLV 1.12.2023) und hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 9.2.2023).

Kismayo: Die Stadt gilt als sicher (AJ 14.9.2022) bzw. friedlich (BMLV 1.12.2023; vgl. Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Die Stadt hat hinsichtlich Sicherheit das Niveau von Garoowe (Puntland) erreicht. Der einzige Unterschied ist, dass die Front hier erheblich näher ist. Das letzte auffällige Ereignis hinsichtlich der Sicherheitslage in Kismayo war die Unruhe rund um die Wiederwahl von Präsident Madobe im Jahr 2019 (BMLV 1.12.2023). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass Kismayo eine der sichersten Städte in Somalia außerhalb Somalilands und sicherer als Städte in Puntland ist (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass es sehr sicher ist, sich in Kismayo aufzuhalten, auch wenn es hin und wieder zu Anschlägen kommt (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass Kismayo definitiv nicht der sicherste Dienstort ist, aber die Lage dort besser ist, als beispielsweise in Baidoa (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). In der Stadt wird versucht, Clanstreitigkeiten friedlich zu lösen. Die Bevölkerung hat verstanden, dass sie von einer Friedensdividende profitiert (BMLV 1.12.2023). Es gibt ein funktionierendes Gerichtssystem (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021), die Regierung gilt als relativ stabil (BMLV 1.12.2023; vgl. ACCORD 31.5.2021). Ihr ist es zudem gelungen, eine Verwaltung zu etablieren. Diese ist gefestigt und funktioniert (BMLV 1.12.2023).

In Kismayo gibt es kenianische Kräfte. Die Sicherheitskräfte von Jubaland haben eine gute Reputation und eine starke Präsenz in der Stadt (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Regierungskräfte kontrollieren Kismayo, es gibt ausreichend Sicherheitskräfte. Der Aufbau von Polizei und Justiz wurde und wird international unterstützt. Die Polizei wurde in den letzten Jahren von AMISOM bzw. ATMIS, Kenia und UN ausgebildet, sie hat ein relativ gutes Ausbildungsniveau erreicht. Es gibt eine klare Trennung zwischen Polizei und anderen bewaffneten Kräften (BMLV 1.12.2023). Die Sicherheitskräfte in Kismayo bauen auch auf Informationen aus der Bevölkerung. Die Bedrohungslage durch al Shabaab in der Stadt wurde reduziert (NMG 25.10.2022; vgl. Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Durch die fähige nachrichtendienstliche und Sicherheitsstruktur wurde auch die Kriminalität eingeschränkt (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Das verhängte Waffentrageverbot in der Stadt wird umgesetzt, die Kriminalität ist auf niedrigem Niveau, es gibt kaum Meldungen über Morde. Folglich lässt sich sagen, dass die Polizei in Kismayo entsprechend gut funktioniert. Zivilisten können sich in Kismayo frei und relativ sicher bewegen (BMLV 1.12.2023).

Jubaland kontrolliert etwa einen Umkreis von 30 km um Kismayo (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023, BMLV 1.12.2023, PGN 23.1.2023). Hier ist es Jubaland gelungen, ein sicheres Umfeld zu schaffen (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Gemäß einer anderen Quelle handelt es sich hingegen nur um einen Umkreis von 15 km (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Ein Mitarbeiter einer Organisation für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit gibt an, dass sich die eigenen internationalen Mitarbeiter in Kismayo bei Tag in der ganzen Stadt normal bewegen können. Es gibt kaum Einschränkungen. Bestimmte Einschränkungen gibt es für IDP-Lager am Rande der Stadt, größere Einschränkungen für solche außerhalb der Stadt. Entlang des Juba bewegen sich Mitarbeiter dieser Organisation bis Goobweyn. Allerdings gibt es im Schnitt jedes Monat eine Woche, in welcher die Sicherheitsbestimmungen verschärft und damit die Bewegungen für internationale Mitarbeiter komplett eingeschränkt werden (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023).

Al Shabaab ist nur sehr eingeschränkt in und um Kismayo aktiv. Die Gruppe hat keinen großen Einfluss in der Stadt. Dies beweist auch, dass die Kooperation zwischen Polizei und Bevölkerung funktioniert (BMLV 1.12.2023; vgl. Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Anschläge durch al Shabaab in Kismayo sind zur Seltenheit geworden (BMLV 1.12.2023). In der Stadt gibt es keine derartige „Besteuerung“ der Wirtschaft, wie al Shabaab dies etwa in Mogadischu praktiziert. Es gibt keine direkte Besteuerung von Gütern in der Stadt oder am Hafen. Trotzdem profitiert die Gruppe stark vom Hafen und kann Einkommen generieren, da sie Güter an Checkpoints außerhalb der Stadt besteuert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Rückkehrer aus Kenia kommen primär nach Kismayo. Gegenwärtig ist die Zahl an neuen Rückkehrern nicht sehr groß. Das Zusammenleben der Bevölkerung mit IDPs bzw. von Bevölkerung und Rückkehrern funktioniert relativ gut. Für al Shabaab sind Rückkehrer kein Ziel (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung von Jubaland hat es geschafft, die Stadt für alle ehemaligen Einwohner zugänglich zu machen - und zwar aus zahlreichen vormals streitenden Clans. Gleichzeitig wurde aber das Risiko von Clankämpfen reduziert (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Präsident Madobe setzt sich auch außerhalb von Kismayo für Vermittlungen zwischen Clans ein. So etwa im Gebiet von Dif, wo es im Juni 2022 zu Auseinandersetzungen gekommen ist (RKIS 27.6.2022). Zur Bekräftigung der Vermittlungsversuche wurden dorthin auch Darawish-Truppen entsandt (MUST 8.6.2022).

Middle Juba: Die ganze Region und alle Bezirkshauptstädte (Buale, Jilib, Saakow) stehen unter Kontrolle der al Shabaab (PGN 23.1.2023; vgl. Sahan/SWT 14.6.2023). Jilib ist de facto die Hauptstadt der Gruppe (C4/Jamal 15.6.2022).

Gedo: Die Städte Baardheere, Belet Xaawo, Doolow, Luuq und Garbahaarey sowie die Orte Ceel Waaq und Buurdhuubo werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert. Die Orte und das Umland von Ceel Cadde und Qws Qurun befinden sich unter Kontrolle von al Shabaab. Dies gilt weitgehend auch für das übrige Zwischengelände der Region (BMLV 1.12.2023; vgl. PGN 23.1.2023). Die Städte Luuq, Garbahaarey, Doolow und Baardheere können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Die Grenzstadt Doolow sowie Luuq werden als sicher erachtet. Diese Städte und das direkte Grenzgebiet zu Äthiopien sind relativ frei von al Shabaab und stabil. Auch Garbahaarey gilt als stabil. Ceel Waaq wird – als einziger Teil von Gedo – von Sicherheitskräften Jubalands und kenianischen Truppen kontrolliert (BMLV 1.12.2023). In Teilen von Gedo steht die Bundesarmee, in anderen Teilen stehen mit Jubaland alliierte bewaffnete Gruppen (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Entlang der Grenze zu Äthiopien wurde die Liyu Police aus der äthiopischen Somali Region durch Truppen der äthiopischen Armee ersetzt (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vgl. BMLV 14.9.2023).

Mit Bezug auf al Shabaab gibt es seit 2021 keine wesentlichen Veränderungen. Die Gruppe nutzt die von ihr in Gedo gehaltenen Gebiete v.a. als Ausgangsbasis für Angriffe in Kenia (BMLV 1.12.2023).

Vorfälle: In den Regionen Lower Juba (1,038.602), Middle Juba (366.851) und Gedo (938.249) leben nach Angaben einer Quelle 2,343.702 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 34 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 20 dieser 34 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 21 derartige Vorfälle (davon 12 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und "violence against civilians" ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Lower Juba 0,67; Gedo 1,07; Middle Juba 1,09;

[…]

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen - allgemein

Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden (USDOS 12.4.2022, S. 37/40). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland (AA 28.6.2022, S. 18). Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten (SPC 9.2.2022). Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist (AA 28.6.2022, S. 15).

Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern, Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen (SIDRA 6.2019b, S. 6). Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt. Viele solche Fälle werden nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt (SPC 9.2.2022).

Gemäß einer aktuellen Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (SLS 6.4.2021). Der Salafismus stellt in Somalia das größte Hindernis für die Förderung von Frauen dar. Trotzdem wächst die Zahl an Polizistinnen und Soldatinnen, und auch in Behörden werden zunehmend Frauen angestellt (Sahan 9.9.2022).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten (USDOS 12.4.2022, S. 40). Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär (AA 28.6.2022, S. 17). Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet (LIFOS 16.4.2019, S. 10; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 40). Sie genießen nicht die gleichen Rechte und den gleichen Status wie Männer und werden diesen systematisch untergeordnet. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (USDOS 12.4.2022, S. 40).

Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst (ICG 27.6.2019, S. 3). Frauen sind das ökonomische Rückgrat der Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie (SIDRA 6.2019b, S. 2). Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (TE 11.3.2019; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 11). Außer bei großen Betrieben spielen Frauen eine führende Rolle bei den Privatunternehmen. In Mogadischu und Bossaso gehören ca. 45 % aller formellen Unternehmen Frauen (WB 22.3.2022).

Politik: Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben (AA 28.6.2022, S. 18). Die eigentlich vorgesehene 30-%-Frauenquote für Abgeordnete im somalischen Parlament wird nicht eingehalten. Aktuell liegt diese bei 20 % (UNSC 13.5.2022, Abs. 2; vgl. ÖB 11.2022, S. 12) im Unterhaus und 26 % im Oberhaus (14 von 54 Sitzen) (USDOS 12.4.2022, S. 31; vgl. ÖB 11.2022, S. 12; UNSC 8.2.2022, Abs. 12). In der neuen Regierung nehmen Frauen 10 Sitze ein, was einen Anteil von 13 % ausmacht (UNSC 1.9.2022, Abs. 9).

Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37), bleiben häusliche (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze (USDOS 12.4.2022, S. 34/37).

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs (FH 2022a, G3; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34ff, ÖB 11.2022, S. 11). Im Jahr 2021 kam es zu einem Anstieg an derartigen Fällen, oft werden Opfer auch getötet (HRW 13.1.2022; vgl. UNFPA 14.4.2022). Auch im Jahr 2022 ist die Zahl an Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter gestiegen. Im Jahr 2021 setzten sich die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wie folgt zusammen: 62 % physische Gewalt; 11 % Vergewaltigungen; 10 % sexuelle Übergriffe; 7 % Verweigerung von Ressourcen; 6 % psychische Gewalt; 4 % Zwangs- oder Kinderehe. 53 % der Fälle ereigneten sich im Wohnbereich der Opfer. 2021 war eine hohe Rate an Partnergewalt zu verzeichnen; mit der Rücknahme von Covid-19-bedingten Einschränkungen ist die Rate an Partnergewalt zuletzt gesunken. 74 % aller registrierten Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs (UNFPA 14.4.2022). Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert (USDOS 12.4.2022, S. 35).

Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen. Klassische Muster sind: a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure; und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete. Nach anderen Angaben wiederum ereignet sich der Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der Covid-19-Maßnahmen zugenommen hat. Alleine im Juli 2021 wurden von der UN 168 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert - darunter auch Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen. Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt (USDOS 12.4.2022, S. 35f). Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können (TE 11.3.2019). Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt (AA 28.6.2022, S. 17).

Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings handelt es sich um ein Vergehen gegen Anstand und Ehre - und nicht gegen die körperliche Integrität (HRW 13.1.2022). Die Strafandrohung beträgt 5-15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod (USDOS 12.4.2022, S. 34). Das Problem im Kampf gegen sexuelle Gewalt liegt insgesamt nicht am Mangel an Gesetzen – sei es im formellen Recht oder in islamischen Vorschriften (SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Woran es mangelt, ist der politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen (SIDRA 6.2019b, S. 5ff; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34). Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert (AA 28.6.2022, S. 17). Hinsichtlich einer Strafverfolgung von Vergewaltigern gibt es keine Fortschritte (UNSC 13.5.2022, Abs. 60).

Bei Vergewaltigungen kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. BS 2022, S. 19). Generell herrscht Straflosigkeit (USDOS 12.4.2022, S. 35; vgl. ÖB 11.2022, S. 11). Nach anderen Angaben nimmt die Zahl erfolgreicher Strafverfolgung bei Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt zu. Mädchen und Frauen haben demnach Vertrauen gewonnen und zeigen Fälle an. Trotzdem gibt es noch zahlreiche Mängel und Hürden, wenn Opfer Gerechtigkeit suchen (UNFPA 14.4.2022).

Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind (SIDRA 6.2019b, S. 2). Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung (USDOS 12.4.2022, S. 36). Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet (TE 11.3.2019). Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. UNFPA 14.4.2022; UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur zögerlich; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen (USDOS 12.4.2022, S. 36).

Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt (USDOS 12.4.2022, S. 36; vgl. AA 28.6.2022, S. 18; UNSC 10.10.2022, Abs. 132), was u. a. an der Angst vor Rache, vor Stigmatisierung und am schwachen Justizsystem und der allgemeinen Straflosigkeit der Täter liegt (UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers (SIDRA 6.2019b, S. 5ff), oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen (TE 11.3.2019; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 36). Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft (SEM 31.5.2017, S. 49; vgl. ÖB 11.2022, S. 11; SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Manchmal übergibt die Polizei ohne Zustimmung des Opfers oder der Familie des Opfers einen Vergewaltigungsfall an traditionelle Rechtsinstrumente (UNSC 6.10.2021).

Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden (UNSC 13.5.2020, Abs. 56f). Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (UNSC 13.11.2020, Abs. 49).

Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet (USDOS 12.4.2022, S. 35). In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert (UNSC 13.5.2020, Abs. 48/58). Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias (UNSC 10.8.2021, Abs. 48). In Baidoa wurde ein Mann, der eine Frau ermordet hatte, zum Tode verurteilt und Anfang Juni 2022 öffentlich von einem Erschießungskommando exekutiert (GN 7.6.2022). In zwei Vergewaltigungsfällen an Minderjährigen in Jubaland und Galmudug wurden die Täter (ein Soldat und ein Clanmilizionär) verhaftet, die Opfer wurden medizinisch versorgt (UNSC 1.9.2022, Abs. 61).

Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können (USDOS 12.4.2022, S. 37). Zudem gibt es nur wenig Unterstützung in Fällen von Vergewaltigung, da es kaum spezialisierte Anbieter hinsichtlich psycho-sozialer Unterstützung oder zur Behandlung von Traumata gibt (UNFPA 14.4.2022). Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste (UNICEF 29.6.2021). UNFPA unterstützt insgesamt 31 solche Einrichtungen sowie 16 Gesundheitseinrichtungen, welche für Opfer spezialisierte Behandlungen anbieten (UNFPA 5.2022). In ganz Somalia sind 74 NGOs und internationale Organisationen aktiv, um Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. In Mogadischu und in Puntland sind z.B. jeweils mehr als 20 Organisationen aktiv. Im Jahr 2021 wurden durch diese Anbieter ca. 51.000 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt, fast 10.000 Opfern wurde ein safe space zur Verfügung gestellt (UNFPA 14.4.2022). In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung (USDOS 12.4.2022, S. 35). Insgesamt mangelt es allerdings an Schutzeinrichtungen. In Puntland gibt es einige Frauenhäuser, im Süd-/Zentralsomalia hingegen gibt es nur sehr wenige derartige Einrichtungen für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt (UNFPA 14.4.2022).

Sexuelle Gewalt - Puntland: Nur in Puntland gibt es ein entsprechendes Gesetz hinsichtlich sexueller Übergriffe (UNFPA 14.4.2022). Dort haben die Behörden zudem Maßnahmen getroffen, um die Straflosigkeit im Bereich sexualisierter Gewalt effektiver bekämpfen zu können. Bei der Generalstaatsanwaltschaft wurde eine eigene Abteilung eingerichtet (AA 18.4.2021, S. 16). Bei drei Vergewaltigungsfällen Ende 2021 und Anfang 2022 in den Bezirken Bossaso, Galkacyo und Garoowe wurden Verdächtige verhaftet (UNSC 8.2.2022, Abs. 62). Insgesamt blieb die Umsetzung des Gesetzes bislang begrenzt (AA 18.4.2021, S. 16), und der Regierung wird vorgeworfen, in Fällen sexueller Gewalt zu intervenieren oder Untersuchungen zu verhindern (HRW 13.1.2022). In Puntland gibt es eine von UNFPA unterstützte, mobile Rechtshilfe-Klinik, die Frauen und Mädchen aus vulnerablen und marginalisierten Gruppen berät und rechtlich unterstützt (GN 10.11.2022b).

Frauen - al Shabaab: In den von ihr kontrollierten Gebieten gelingt es al Shabaab, Frauen und Mädchen ein gewisses Maß an physischem Schutz zukommen zu lassen. Die Gruppe interveniert z. B. in Fällen häuslicher Gewalt (ICG 27.6.2019, S. 2/6). Al Shabaab hat Vergewaltiger – mitunter zum Tode – verurteilt (USDOS 12.4.2022, S. 37). Dies ist auch ein Grund dafür, warum es in den Gebieten der al Shabaab nur vergleichsweise selten zu Vergewaltigungen kommt (ICG 27.6.2019, S. 6; vgl. DI 6.2019, S. 9).

Andererseits legen Berichte nahe, dass sexualisierte Gewalt von al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird (AA 28.6.2022, S. 18). Die Zahl an Zwangs- und Frühehen durch al Shabaab hat zugenommen (UNSC 6.10.2021). Dabei zwingt al Shabaab Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren zur Ehe. Diese sowie deren Familien haben generell kaum eine Wahl. Solche Zwangsehen gibt es nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten (USDOS 12.4.2022, S. 37). Nach anderen Angaben werden die meisten Ehen mit Mitgliedern der al Shabaab freiwillig eingegangen, auch wenn der Einfluss von Eltern und Clan sowie das geringe Alter bei der Eheschließung nicht gering geschätzt werden dürfen. Eine solche Ehe bietet der Ehefrau und ihrer Familie ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität, selbst Witwen beziehen eine Rente (ICG 27.6.2019, S. 8). Demgegenüber stehen Berichte, wonach viele Eltern ihre Töchter in Städte gebracht haben, um sie vor dem Zugriff durch al Shabaab in Sicherheit zu bringen (DI 6.2019, S. 9).

Al Shabaab schränkt die Freiheit und die Möglichkeiten von Frauen auf dem Gebiet unter ihrer Kontrolle signifikant ein (TE 11.3.2019). Die Anwendung einer extremen Form der Scharia resultiert in einer entsprechend weitgehenden Diskriminierung von Frauen (AA 28.6.2022, S. 18). Diese werden etwa insofern stärker ausgeschlossen, als ihre Beteiligung an ökonomischen Aktivitäten als unislamisch erachtet wird (USDOS 12.4.2022, S. 40). Nach anderen Angaben hat al Shabaab einen pragmatischen Zugang. Da immer mehr Familien vom Einkommen der Frauen abhängig sind, tendiert die Gruppe dazu, sie ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen zu lassen. Und dies, obwohl Frauen nominell das Verlassen des eigenen Hauses nur unter Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) erlaubt ist (ICG 27.6.2019, S. 11).

Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 11.2022, S. 10). Es gibt keine Zivilehe (LI 14.6.2018, S. 7). Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38). Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (LI 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).

Ehe-Alter / Kinderehe: Generell sind die Ausdrücke "Erwachsener" und "Kind" in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert (SPA 1.2021). Zwar ist gemäß somalischem Zivilrecht für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen (ICG 27.6.2019, S. 8), doch Scharia und Tradition nehmen eine Heiratsfähigkeit bei Erreichen der Pubertät an (LI 14.6.2018, S. 7). Generell herrscht unter den relevanten Stakeholdern keine Einigkeit darüber, wann denn nun eigentlich das Heiratsalter erreicht ist (UNFPA 14.4.2022) - und dies, obwohl Somalia die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, die eigentlich gegen eine Ehe vor dem Alter von 18 Jahren spricht (Sahan 19.9.2022). Laut Gesetzen sollen beide Ehepartner das "age of maturity" erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen (USDOS 12.4.2022, S. 42; vgl. Sahan 19.9.2022). Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 42; vgl. FH 2022a, G3) – gerade in ärmeren, ländlichen Gebieten (ICG 27.6.2019, S. 8; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27; LI 14.6.2018, S. 7). Denn die Scharia, in der kein Mindestalter vorgesehen ist, hat das Familiengesetz weitestgehend ersetzt (Sahan 19.9.2022). Oft werden Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht (FIS 5.10.2018, S. 27). Eltern ermutigen Mädchen zur Heirat, in der Hoffnung, dass die Ehe dem Kind finanzielle und soziale Absicherung bringt und dass diese die eigene Familie finanziell entlastet. Zudem wird eine frühe Ehe als kulturelle und religiöse Anforderung wahrgenommen (UNFPA 14.4.2022). Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist (AV 7.2017, S. 36). Schätzungen zufolge heiraten 45 % der Mädchen vor ihrem 18. und 8 % vor ihrem 15. Geburtstag. Die Dürre hat das Risiko für viele Mädchen erhöht, bereits in jungen Jahren einer Ehe zugeführt zu werden. Es ist zu einem starken Anstieg der Zahl an Kinderehen gekommen. Viele durch die Dürre verarmte Familien holen Töchter aus den Schulen und verheiraten diese, um vom Brautgeld (yarad) leben zu können. In einem unsicheren Umfeld – etwa in einem IDP-Lager – wollen Eltern u.U. auch die Tochter vor Missbrauch schützen, indem sie diese verheiraten (Sahan 19.9.2022).

Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (LI 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 28.6.2022, S. 18). Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal (SPA 1.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr (USDOS 12.4.2022, S. 43). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (LI 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. LI 14.6.2018, S. 10).

Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (LI 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. LI 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (LI 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der "runaway marriages", bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LI 14.6.2018, S. 11).

Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich (LI 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (LI 14.6.2018, S. 18). Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (LI 14.6.2018, S. 19). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019, S. 9).

In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (LI 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27).

Mädchen / Frauen - Weibliche Genitalverstümmelung und -Beschneidung (FGM/C)

Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (Crawford 2015, S.65f). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM vor:

a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (gudniinka fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; Crawford 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 68).

b) Andererseits die Sunna (gudniinka sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. Crawford 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29) bzw. laut einer dritten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (Crawford 2015, S. 41ff/66f). Denn die Sunna wird nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (sunna kabir) und die kleine Sunna (sunna saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. Crawford 2015, S. 41ff/66f). De facto kann unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).

[…]

Laut einer in Puntland gemachten Studie gibt es auch noch andere Namen für FGM, etwa Dhufaanid (Kastration) oder Tolid (Zunähen) (UNFPA 4.2022).

Durchführung: Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (LI 14.9.2022, S. 11). Diese "Medizinisierung" von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021). FGM/C wird also zunehmend im medizinischen Bereich durchgeführt – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. Die Durchführung durch medizinisches Personal ist teilweise schon gängige Praxis – in Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für "FGM clinics". Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen. Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (Crawford 2015, S. 73f). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).

Verbreitung: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und bleibt die Norm (LI 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von "mehr als 90 %" (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC Yussuf 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022).

Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017).

Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (Crawford 2015, S. 69). Vielen Menschen – v.a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2017 haben 40,6 % angegeben, von einer Infibulation betroffen zu sein (AV 2017, S. 29). Jedenfalls ist die Quote an Infibulationen im ganzen Land rückläufig (Crawford 2015, S. 70). Während in der ältesten Altersgruppe vier von fünf Frauen eine Infibulation erlitten haben, ist es bei der jüngsten Altersgruppe nicht einmal eine von zwei (28TM o.D.). Generell geht der Trend in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022).

FGM kann als gesellschaftliche Konvention erachtet werden, die von den meisten Menschen als selbstverständliche angesehen wird. Daher stellt sich üblicherweise nicht die Frage, ob der Eingriff durchgeführt wird. Vielmehr geht es um die praktischen Aspekte der Umsetzung (LI 14.9.2022). Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; LI 14.9.2022, S. 11; Crawford 2015, S. 85). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Dabei geht es bei dieser Entscheidung weniger um das "ob" als vielmehr um das "wie und wann" (LI 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022). Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter maßgeblich in die Entscheidung involviert (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26). Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt (FIS 5.10.2018, S. 31).

In der Diaspora lebende Mädchen werden „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Allerdings nimmt in der Diaspora die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (LI 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich Teile der Bevölkerung gegen jegliche Art von FGM. Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (Crawford 2015, S. 65; vgl. LI 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41).

Überhaupt ist der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, der Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden (Crawford 2015, S. 82). Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (Crawford 2015, S. 73). Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41). Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. LI 14.9.2022, S. 11). Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig", eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und sichert die Heirat (LI 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Dahingegeben werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder un-somalisch (LI 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (Crawford 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden mitunter in der Schule gehänselt und drangsaliert und sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier buurya qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (LI 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).

Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach anderen Angaben stellt der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung dar, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen FGM ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (LI 14.9.2022).

Eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, wird versuchen, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). Nur wenige Mütter "bekennen", dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (Crawford 2015, S. 65). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Natürlich werden nicht ständig die Genitalien von Mädchen überprüft. Aber Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41). Da gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden, ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht (LI 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (Crawford 2015, S. 83). Spätestens bei der Verheiratung ist der physische Status jedenfalls klar (ACCORD 31.5.2021, S. 41).

Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f).

Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen ein Alter von 5-10 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39), UN News nennt ein Alter von 5-9 Jahren (UNN 4.2.2022); in Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (28TM o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 28.6.2022, S. 19). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Laut einer Quelle ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna in Somaliland auf 5-8 Jahre gesunken (PC 1.2018, S. 22). Eine weitere Quelle bestätigt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022).

Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (LI 14.9.2022). Im Jahr 2018 hat man über vier Mädchen aus Galmudug und Puntland erfahren, dass diese im Zuge einer FGM bzw. an deren Folgen verstorben sind. Diese Mädchen waren 10 - 11 Jahre alt. Ein weiteres Mädchen, das fast gestorben wäre, war bei der Vornahme der FGM sieben Jahre alt (CNN 11.10.2018). Die somalische Regierung gibt in einer Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2020 folgende Zahlen an:

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

In der Übergangsverfassung steht, dass eine Beschneidung von Mädchen der Folter gleichkommt und daher verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. UNICEF 29.6.2021; LIFOS 16.4.2019, S. 28f; ÖB 11.2022, S. 12). Allerdings mangelt es an einer Definition von "Beschneidung", und es wird kein Strafmaß genannt. Das Strafgesetz von 1964 sieht zwar Strafen für die Verletzung einer Person vor, es sind aber keine Fälle bekannt, wo FGM/C dahingehend einer Strafverfolgung zugeführt worden wäre – selbst dann, wenn ein Mädchen an den Folgen der Verstümmelung verstorben ist (LIFOS 16.4.2019, S. 28f). Insgesamt gibt es jedenfalls keine nationale Gesetzgebung, welche FGM ausdrücklich verbietet oder kriminalisiert (LI 14.9.2022; vgl. TEA 17.12.2022).

Generell mangelt es den Behörden landesweit an Integrität und Kapazität, um eine für die Beschneidung eines Mädchens verantwortliche Person rechtlich zu verfolgen. Es gibt folglich auch keine Beispiele dafür, wo eine solche Person bestraft worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 42).

Die Regierung bemüht sich, gegen die Praxis vorzugehen (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings gibt es kein spezifisches Gesetz gegen FGM/C (UNFPA 5.3.2021; vgl. UNN 4.2.2022; UNICEF 29.6.2021). Unklar bleibt, ob ein künftiges Gesetz alle Formen von FGM verbieten wird, oder nur eine abgemilderte Form der Beschneidung vorsehen würde (AA 28.6.2022, S. 19). Die Frage, ob nur eine bestimmte oder alle Formen von FGM/C verboten werden sollen, hat die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes (auf Bundesebene) seit 2016 verzögert (TRF 27.2.2019). Gesetzesvorschläge scheiterten wiederholt an der fehlenden Zustimmung des Parlaments (AA 28.6.2022, S. 19). Denn es gibt zwei unterschiedliche Agenden: Die eine will jegliche Form von FGM/C ausrotten. Die andere richtet sich gegen die schweren Formen und ist für die Erhaltung der Sunna (WHO Typ I). Diese divergierenden Ansichten haben zu einem Stillstand bei der Entwicklung einer nationalen FGM/C-Politik geführt (PC 1.2018, S. 24). Der Staat und religiöse Führer haben insgesamt zwar wichtige Schritte gesetzt, um FGM zu kriminalisieren und auszurotten. Allerdings stellen Ineffizienz, Korruption und Nepotismus im Rechtsstaat bedeutende Hindernisse bei der Umsetzung dar. Außerdem gibt es nach wie vor religiöse Führer, die sich gegen ein Verbot der Sunna aussprechen (LIFOS 16.4.2019, S. 41f).

In Puntland hingegen wurde im Juni 2021 die sogenannte FGM Zero Tolerance Bill vom Präsidenten unterzeichnet und vom Ministerkabinett verabschiedet. Damit sind alle Formen von FGM verboten worden. Nicht nur Beschneiderinnen, sondern auch an einer FGM beteiligtes medizinisches Personal, Eltern und Helfershelfer werden mit dem Gesetz kriminalisiert (UNFPA 6.10.2021). Schon 2013 hatten religiöse Führer und Akademiker eine Fatwa veröffentlicht, wonach jede Form von FGM verboten ist (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 29; CEDOCA 9.6.2016, S. 22). Das neue Gesetz hatte bislang allerdings wenig praktische Änderungen zur Folge (AA 28.6.2022, S. 18).

Al Shabaab hatte ursprünglich jede Form von FGM verboten. Mittlerweile gilt das Verbot für die Infibulation, während die Sunna akzeptiert wird (LIFOS 16.4.2019, S. 22/41f). Generell ist al Shabaab nicht Willens, dieses Verbot auf dem von ihr kontrollierten Gebiet auch umzusetzen. Die Gruppe unterstützt die Tradition nicht, geht aber auch nicht aktiv dagegen vor (DIS 1.2016, S. 8). So zeigt das Verbot auf dem Gebiet von al Shabaab kaum einen Effekt (LI 31.3.2022, S. 15).

Internationale und lokale NGOs führen Sensibilisierungsprogramme durch (UNFPA 4.2022; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 22f), landesweit bemühen sich die Regierungen, die Verbreitung von FGM einzuschränken (AA 2.4.2020, S. 16) – speziell jene der Infibulation (LIFOS 16.4.2019, S. 41f). Mit durch internationale Organisationen finanzierten Kampagnen wird landesweit gegen FGM angekämpft, auch einige Ministerien sind aktiv. UNFPA gibt an, dass 890 somalische Gemeinden zwischen 2014 und 2017 die Durchführung von FGM aufgegeben haben (LIFOS 16.4.2019, S. 31). UNFPA führt die Kampagne „Dear Daughter“, mit welcher Eltern – und v.a. Mütter – hinsichtlich der Folgen von FGM sensibilisiert werden (TEA 17.12.2022). Auch Medien, Prominente und religiöse Persönlichkeiten werden in Kampagnen eingebunden (CEDOCA 9.6.2016, S. 24f). Während das Thema früher als Tabu erachtet wurde, sprechen Politiker und Persönlichkeiten sich heute öffentlich gegen FGM aus (TEA 17.12.2022).

Bereits im Jahr 2011 erhobene Zahlen für Puntland zeigten eine rückläufige FGM-Rate. In der Altersgruppe 45-49 waren 2011 97,8 % der Frauen von irgendeiner Form von FGM betroffen, in jener von 15-19 Jahren waren es 97,3 %, in der Gruppe 10-14 waren es 82,3 % (CEDOCA 9.6.2016, S. 15). Die Infibulationsrate ist von 93,2 % im Jahr 2005 auf 86,7 % im Jahr 2011 zurückgegangen (CEDOCA 9.6.2016, S. 10; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 14). Im Jahr 2011 waren ca. 90 % der über 25-Jährigen, 85,4 % der 20-24-Jährigen und 79,7 % der 15-19-Jährigen von einer Infibulation betroffen (CEDOCA 9.6.2016, S. 10). Auch eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Infibulationsrate in Puntland zurückgeht - und auch die Sunna Kabir. Die Sunna Saghir (im Sinne einer moderaten Beschneidung der Klitoris) hingegen ist auf dem Vormarsch (CEDOCA 9.6.2016, S. 10; vgl. Crawford 2015, S. 70). Dementgegen gaben bei einer puntländischen Studie im Jahr 2018 nur 65 % der befragten Frauen an, selbst beschnitten zu sein; nur ein Drittel gab an, dass die eigene Tochter beschnitten sei (LIFOS 16.4.2019, S. 20).

Schon 1985 hat ein Trend eingesetzt, mit dem sich die Sunna nunmehr zur üblichsten Form der Beschneidung entwickeln konnte (FIS 5.10.2018, S. 30f). Obwohl es sich bei der Infibulation immer noch um das am weitesten verbreitete Verfahren handelt, ist der Anteil der Mädchen, die infibuliert werden, in letzter Zeit zugunsten weniger umfangreicher Verfahren - etwa der Sunna - zurückgegangen. Letztere trifft auf gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz (LI 14.9.2022). So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt (Crawford 2015, S. 70). Gemäß Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2017 ist in Mogadischu kaum ein unter 18-Jähriges Mädchen infibuliert; dagegen kommen sowohl große als auch kleine Sunna breitflächig zur Anwendung. Insgesamt waren bei dieser Studie rund ein Viertel der beschnittenen Unter-18-Jährigen von Infibulation, die große Mehrheit von kleiner und großer Sunna betroffen. Die Infibulation ist also insgesamt zurückgedrängt worden (STC 9.2017), dies wird von mehreren Quellen bestätigt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f/39; vgl. DIS 1.2016, S. 7; FIS 5.10.2018, S. 30f; PC 1.2018, S. 22ff; BMC Yussuf 2020, S. 1f). Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus (AV 2017, S. 19). Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („community“) FGM nicht durchgeführt wird (AV 2017, S. 25). Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab (CEDOCA 9.6.2016, S. 7). Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken (BMC Yussuf 2020, S. 2). Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt (RE 15.2.2021). Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht soweit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als "Sunna" bezeichnet wird (Crawford 2015, S. 70).

Schlussendlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia auch noch Bevölkerungsgruppen oder Gemeinschaften, wo generell keine Infibulation durchgeführt wird. Dies betrifft etwa einige ländliche Gemeinden der Rahanweyn sowie einige Bantugruppen an der äthiopischen Grenze, aber auch die städtischen Gemeinschaften der Reer Xamar und Reer Baraawe. Dort gibt es zwar eine Beschneidung (Sunna), nicht aber eine Infibulation. Jedenfalls sind solche Gruppen die Ausnahme und nicht die Regel (Crawford 2015, S. 71f).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben der Beschwerdeführerin und ihrer gesetzlichen Vertreterin sowie dem vorgelegten Reisepass. Die Feststellungen unter 1.1. zu ihrer Person und ihren Familienangehörigen stützen sich auf die glaubhaften und übereinstimmenden Aussagen der Beschwerdeführerin und ihrer Mutter, insbesondere in der mündlichen Verhandlung.

Die Feststellungen zu ihrer Einreise und ihrem Aufenthalt in Österreich ergeben sich unstrittig aus dem Verwaltungsakt.

2.2. Die Feststellungen zum Fluchtvorbringen stützen sich auf die von ihr und ihrer Mutter insbesondere in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts getätigten glaubhaften Angaben sowie dem in der Beschwerdeverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck der erkennenden Richterin.

Die Schilderungen der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zu ihren Befürchtungen waren durchwegs nachvollziehbar, in sich schlüssig und stringent und stehen mit den Länderberichten in Einklang. Auch vermochte die Mutter der Beschwerdeführerin glaubhaft darzutun, dass sie ihre Tante „angefleht“ habe, keine FGM bei ihrer Tochter vornehmen zu lassen, dass es aber auf Dauer nicht möglich sein werde, sich dem zu entziehen, da ihre Tochter als „unrein“ gelte und nicht verheiratet werden könne, wenn sie unbeschnitten sei. Sie wolle sie aber davor bewahren, sie selbst leider immer noch an den Folgen. Auch angesichts dieser Ausführungen kann - obwohl die Mutter gegen FGM ist, den Länderberichten zu entnehmen ist, dass die Entscheidung über die Vornahme von FGM in erster Linie bei der Mutter liegt, FGM in Somalia rückläufig ist und die Beschwerdeführerin über den Einfluss ihrer Mutter einer Beschneidung bisher entgehen konnte - im konkreten Fall die zwangsweise Vornahme von FGM bei der nunmehr siebzehnjährigen Beschwerdeführerin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen worden, dies auch vor dem Hintergrund einer möglichen Verheiratung. Die Beschwerdeführerin gab überzeugend und glaubhaft an, sich außer vor FGM auch davor zu fürchten zwangsweise mit einem älteren Mann verheiratet zu werden, zumal sie schon über sechzehn Jahre alt sei, sowie vergewaltigt und danach getötet zu werden, was auch Deckung in den Länderberichten findet. In einer Gesamtbetrachtung der Aussagen im Verfahren in Zusammenschau mit der Berichtslage erscheint das Vorbringen zu ihrer Furcht vor Verfolgung in Somalia daher insgesamt als glaubhaft. Die Feststellung zum mangelnden Schutz erging darüber hinaus auf Grundlage der Länderberichte.

2.3. Die fallbezogenen Feststellungen zur Lage in Somalia stützen sich auf das vom Bundesverwaltungsgericht im Zuge der Ladung zur Beschwerdeverhandlung ins Verfahren eingeführten Länderinformationen der Staatendokumentation vom 08.01.2024, Version 6. Die Länderfeststellungen gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

Zur Zuerkennung des Status der Asylberechtigten:

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.2. Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 27.06.1995, 94/20/0836; 23.07.1999, 99/20/0208; 21.09.2000, 99/20/0373; 26.02.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 12.09.2002, 99/20/0505; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 m.w.N.).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

3.3. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin eine ihr in ihrem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen landesweit drohende Verfolgung glaubhaft gemacht hat:

Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Somalia haben sich zwar keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle somalischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Somalias einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von solchen Einschränkungen und Diskriminierungen könnte allerdings bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, etwa der Zugehörigkeit zu einem niederen Clan oder bei Fehlen eines sozialen oder familiären Netzwerkes, jedoch Asylrelevanz erreichen.

Im gegenständlichen Fall sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Asyl, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund, insofern gegeben, als es der Beschwerdeführerin – wie oben dargelegt – gelungen ist, eine (drohende) Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe glaubhaft zu machen. Die Beschwerdeführerin, die zudem minderjährig ist, ist der bestimmten sozialen Gruppe von Frauen zugehörig, denen in Somalia FGM droht. Auch drohende Zwangsheirat kann nicht ausgeschlossen werden.

Bei den Verfolgern handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, doch ist nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes eine mangelnde Schutzfähigkeit des Staates zu berücksichtigen (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119). Angesichts der Berichtslage bzw. der nur äußerst schwach ausgeprägten staatlichen Strukturen in Somalia kann nicht davon ausgegangen werden, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden ausreichend schutzfähig und schutzwillig wären, um die die Beschwerdeführerin treffende Verfolgungsgefahr ausreichend zu unterbinden. Der Beschwerdeführerin steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Landesteilen Somalias zur Verfügung. Da darüber hinaus keine von der Beschwerdeführerin verwirklichte Asylausschluss- oder -endigungsgründe festzustellen waren, ist der Beschwerde stattzugeben, dieser der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG auszusprechen, dass der Beschwerdeführerin somit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Gemäß § 3 Abs. 4 iVm § 75 Abs. 24 AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu, wenn er einen Antrag auf internationalen Schutz nicht vor dem 15.11.2015 gestellt hat. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.

Der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz wurde am 11.09.2023, sohin nicht vor dem 15.11.2015, gestellt; der Beschwerdeführerin, der der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, kommt daher eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu.

Zu Spruchteil B)

3.2. Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (vgl. dazu die zu Spruchpunkt A zitierte Rechtsprechung), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (z.B. VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0002, mwN).

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