G310 2299804-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER über die Beschwerde des deutschen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Oliver MATHIS, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 23.08.2024, Zl. XXXX , betreffend internationalen Schutz zu Recht:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben und der Behörde die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang und Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger Deutschlands, reiste legal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er sich ohne Wohnsitzmeldung aufhält, und beantragte am 13.02.2024 internationalen Schutz; am selben Tag wurde seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdiensts durchgeführt. Dabei gab er an, dass er sich aufgrund seiner Whistleblower Aktivitäten zu den politischen Flüchtlingen zähle. Bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte die sofortige Festnahme durch die Polizei.
Nach niederschriftlicher Einvernahme des BF am 14.03.2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) seinen Antrag auf internationalen Schutz mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid gestützt auf das Protokoll Nr. 24 zum Vertrag von Lissabon über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (im Folgenden kurz als „Asylprotokoll“ bezeichnet) zurück. Das Asylprotokoll sei als unionsrechtliches Primärrecht unmittelbar anwendbar; die in den lit a) bis d) genannten Voraussetzungen träfen für den EU-Mitgliedstaat Deutschland nicht zu. Zwar würde insbesondere lit d) des Asylprotokolls eine individuelle Einzelfallprüfung zulassen; davor sei aber zu entscheiden, ob der Antrag, von dessen offensichtlicher Unbegründetheit auszugehen sei, so viel Substanz habe, dass eine Prüfung notwendig sei, um die Verpflichtungen Österreichs nach der Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten. Diese Voraussetzung treffe hier nicht zu. Der BF habe keine Angaben zur Widerlegung der Vermutung der offensichtlichen Unbegründetheit seines Antrags gemacht.
Dagegen richtet sich die mit einem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verbundene Beschwerde des BF, mit der er die Behebung des angefochtenen Bescheids und die Gewährung von Asyl begehrt. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag sowie einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft geblieben sei, weil das BFA keine einzelfallbezogenen Feststellungen zur Situation in Deutschland getroffen. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheids sei mangelhaft, weil sich das BFA nicht mit seinen individuellen Angaben auseinandergesetzt habe. Der Bescheid sei inhaltlich rechtswidrig, da eine inhaltliche Prüfung seines Antrags geboten gewesen wäre.
Das BFA legte die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem Antrag vor, sie als unbegründet abzuweisen.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang und der entscheidungswesentliche Sachverhalt ergeben sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG.
Eine Kopie des Datenblatts des Reisepasses des BF, aus der sein Name, sein Geburtsdatum und seine Staatsangehörigkeit hervorgehen, liegt vor. Im Zentralen Melderegister ist keine Wohnsitzmeldung registriert.
Rechtliche Beurteilung:
Hat die Behörde – wie hier - einen Antrag zurückgewiesen, dann ist "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung (siehe zuletzt VwGH 04.07.2019, Ra 2017/06/0210).
Die Bunderepublik Deutschland ist ein Mitgliedstaat der EU iSd § 2 Abs 1 Z 18 AsylG und damit gemäß § 19 Abs 1 BFA-VG und dem Einzigen Artikel des Protokoll Nr. 24 über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Asylprotokoll), ABl. 2008 C 115, 305, ein sicherer Herkunftsstaat.
Das österreichische Asylrecht differenziert nicht zwischen Anträgen auf internationalen Schutz von Unionsbürgern und von sonstigen Fremden. Aus der Sicherheit des Herkunftsstaates eines Antragstellers folgt lediglich die Möglichkeit des BFA, über den Antrag ein einem beschleunigten Verfahren mit (unwesentlich) verkürzter Entscheidungsfrist zu entscheiden (§ 27a AsylG) und der Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung die aufschiebende Wirkung abzuerkennen (§ 18 Abs 1 Z 1 BFA-VG). Es besteht keine Befugnis zur Antragszurückweisung aufgrund der Herkunft des Asylwerbers aus einem Mitgliedstaat der EU (vgl. Kofler-Schlögl/Neusieder, Asyl für Unionsbürger*innen in Österreich, Jahrbuch Asylrecht und Fremdenrecht 2022, 181).
Entgegen dem angefochtenen Bescheid (und der regelmäßig vom BVwG bestätigten Vollzugspraxis des BFA, siehe Kofler-Schlögl/Neusieder, Asyl für Unionsbürger*innen in Österreich, Jahrbuch Asylrecht und Fremdenrecht 2022, 181, insbesondere FN 59) ergibt sich eine solche auch nicht aus dem Asylprotokoll, welches in den Mitgliedsstaaten unmittelbar anwendbar ist.
Das Asylprotokoll verbietet es den Mitgliedstaaten, einen von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates gestellten Asylantrag zu berücksichtigen oder zur Bearbeitung zuzulassen, wenn nicht eine der Voraussetzungen der lit. a bis d des Einzigen Artikels des Asylprotokolls vorliegt (vgl. EuGH 3.6.2021, C-650/18, Rn. 40).
Dazu gehören die Suspendierung von Grundrechten im Kriegs- oder Notstandsfall gemäß Art 15 EMRK (lit a); die Einleitung eines „Rechtsstaatlichkeitsverfahrens“ gemäß Art 7 Abs 1 EUV gegen einen Mitgliedstaat (lit b); die Feststellung der Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der EU iSd Art 7 Abs 1 EUV oder der schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung dieser Werte iSd Art 7 Abs 2 EUV durch einen Mitgliedstaat (lit c) oder wenn ein Mitgliedstaat in Bezug auf den Antrag eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats einseitig einen entsprechenden Beschluss fasst; in letzterem Fall wird der Rat umgehend unterrichtet und bei der Prüfung des Antrags von der Vermutung ausgegangen, dass der Antrag offensichtlich unbegründet ist, ohne dass die Entscheidungsbefugnis des Mitgliedstaats in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird (lit d).
Lit. d des Einzigen Artikels des Protokolls Nr. 24 erlaubt eine individuelle Einzelfallprüfung dahingehend, ob der Antrag so hinreichend substantiiert ist, dass eine Prüfung erforderlich ist, um die mitgliedstaatlichen Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten (vgl. idS Matti in Holoubek/Lienbacher [Hrsg], GRC-Kommentar2 [2019], Art. 18 Rz. 23).
Das AsylG 2005 sieht für Asylanträge von Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaates keine verfahrensrechtlichen Sonderregelungen im Vergleich zu Anträgen von Drittstaatsangehörigen vor. Das nach dem AsylG 1997 vorgesehene "Sonderverfahren" der Abweisung eines Antrags als offensichtlich unbegründet wurde mit dem Fremdenrechtspaket 2005, BGBl. I. Nr. 100, abgeschafft. Das Asylgesetz sieht seither eine volle inhaltliche Prüfung des Antrags vor (vgl. RV 952 BlgNR. 22. GP, 6). Die in § 4b AsylG 2005 idF der Regierungsvorlage zum FNG noch vorgesehene Grundlage der Zurückweisung eines Antrags eines Unionsbürgers auf internationalen Schutz als unzulässig wurde nicht in das AsylG 2005 übernommen. Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, dass das AsylG 2005 keine Grundlagen bietet, um Asylanträgen von Unionsbürgern zu begegnen. Schon aufgrund des Einzigen Artikels des Asylprotokolls ist Ausgangspunkt der Prüfung eines Asylantrags eines Unionsbürgers, dass die Mitgliedstaaten füreinander für alle rechtlichen und praktischen Zwecke im Zusammenhang mit Asylangelegenheiten als sichere Herkunftsländer gelten.
Die Auffassung, ein Unionsbürger habe schon aufgrund des Niveaus der Grundrechte und Grundfreiheiten kein rechtliches Interesse an der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz, sofern keine der im Asylprotokoll genannten Ausnahmen vorliege und der Antrag sei aus diesem Grund als unzulässig zurückzuweisen, wird vom VwGH schon im Hinblick auf die Widerlegbarkeit der gesetzlichen Vermutung der grundsätzlich bestehenden staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der Behörden eines als sicherer Herkunftsstaat definierten Staates nicht geteilt. Ein Unionsbürger hat vor diesem Hintergrund bei Stellung eines Antrags auf Asyl in Österreich zum einen die in § 19 Abs. 1 BFA-VG festgeschriebene gesetzliche Vermutung, wonach ein Mitgliedstaat der EU ein sicherer Herkunftsstaat ist, zu widerlegen. Zum anderen hat der Antragsteller die Vermutung des Einzigen Artikels lit. d Asylprotokoll, wonach der Antrag offensichtlich unbegründet ist und sich der Antragsteller des Schutzes des Herkunftsstaates bedienen könnte, zu entkräften. Nach der Rechtsprechung des VfGH trifft einen Antragsteller in Bezug auf die Widerlegung der Vermutung, dass der Antrag offensichtlich unbegründet ist, eine nähere Begründungspflicht (vgl. VwGH 16.05.2024, Ro 2023/19/0001 mit Veweis auf VfGH 22.6.2021, E 2546/2020).
Das BFA trifft eine Ermittlungspflicht, um zu beurteilen, ob der Antrag eines Unionsbürgers auf internationalen Schutz auf seine Begründetheit hin zu prüfen ist und damit im Sinne des Einzigen Artikels des Asylprotokolls „berücksichtigt“ werden muss. Die Bestimmungen des 4. Hauptstücks des AsylG 2005 über den Ablauf des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz bleiben dabei unberührt. Die Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz allein aufgrund des Umstandes, dass der Antragsteller Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaates ist, ist jedoch gesetzlich nicht vorgesehen und daher nicht zulässig (vgl. VwGH 16.05.2024, Ro 2023/19/0001).
Daher kann die Zurückweisung des Antrags des BF auf internationalen Schutz nicht auf das Asylprotokoll gestützt werden. Dieses eignet sich nicht als alleinige Grundlage für die Antragszurückweisung ohne jegliche inhaltliche Prüfung, obwohl prima facie keiner der darin aufgezählten Ausnahmefälle vorliegt, der die Gewährung von Asyl an einen Unionsbürger ermöglichen würde.
Da das BVwG bei einer zurückweisenden Entscheidung auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Antragszurückweisung beschränkt ist, kommt die in der Beschwerde primär angestrebte Zuerkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls nicht in Betracht. Da die Zurückweisung jedoch rechtswidrig war, ist der angefochtene Bescheid in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben; das weitere Verfahren wird unter Abstandnahme von diesem Zurückweisungsgrund zu führen sein.
Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfällt eine mündliche Verhandlung, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG dabei an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.
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