Spruch
W284 2274879-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. WAGNER-SAMEK über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH) gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.04.2023, Zl. 1321507705-222670611, zu Recht:
A) Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 25.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Es erfolgte am 26.08.2022 eine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
2. Am 02.03.2023 wurde der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen.
Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer seinen syrischen Personalausweis, sein Familienbuch sowie sein Militärbuch im Original vor. Eine durch die zuständige Landespolizeidirektion veranlasste Dokumentenüberprüfung ergab die Unbedenklichkeit des vorgelegten Personalausweises.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 21.04.2023 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ihm wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für 1 Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Gegen die Versagung des Asylstatus erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der am XXXX geborene und demnach 45-jährige Beschwerdeführer namens XXXX ist syrischer Staatsangehöriger, spricht Arabisch und gehört der Volksgruppe der Araber an. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.
1.1.2. Der Beschwerdeführer ist in der Ortschaft XXXX in der Provinz Latakia in Syrien geboren und aufgewachsen. Im Jahr 2012 zog er mit seiner gesamten Familie zu seiner Tante in die Stadt XXXX in der Provinz Idlib in Syrien. Der Beschwerdeführer verließ XXXX aufgrund der schlechten Sicherheitslage und des vorherrschenden Bürgerkrieges; er zog nicht wegen einer drohenden Verfolgung nach XXXX . Seine Häuser und seine Geschäfte in XXXX wurden bei Kampfhandlungen zerstört. Er lebte vier Jahre in XXXX und konnte dort Fuß fassen.
1.1.3. Im Juli 2015 verließ der Beschwerdeführer Syrien und war bis 15.08.2022 in der Türkei aufhältig, wo er in der Stadt XXXX lebte. Er verließ die Türkei am 15.08.2022 und reiste nach Europa.
1.1.4. Der Beschwerdeführer besuchte elf Jahre die Schule. Danach betrieb er drei Supermärkte in XXXX . In der Türkei betrieb der Beschwerdeführer ein eigenes Geschäft für Süßwaren.
1.1.5. Der Beschwerdeführer ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Ehefrau und seine Kinder leben in der Türkei. Seine Eltern leben in der Stadt XXXX in Syrien. Der Beschwerdeführer hat fünf Schwestern und zwei Brüder, wobei ein Bruder und eine Schwester in Deutschland leben; eine weitere Schwester lebt in Finnland. Drei Schwestern und ein Bruder leben in Syrien; der Bruder lebt in der Stadt XXXX . Ein Onkel des Beschwerdeführers lebt in Österreich.
1.1.6. Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers, die Stadt XXXX in der Provinz Idlib steht unter der Kontrolle der militanten islamistischen Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS). Die Stadt XXXX in der Provinz Latakia steht unter der Kontrolle des syrischen Regimes.
1.1.7. Der Beschwerdeführer ist gesund und strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Der Beschwerdeführer hat in Syrien den verpflichtenden Militärdienst von 15.12.1996 bis 15.06.1999 abgeleistet. Der Beschwerdeführer absolvierte während seines Militärdienstes eine Ausbildung zur Luftabwehr. Er wurde am 16.06.1999 mit der Reservisten-Nummer: 340/599 als Reservist eingetragen. Dem Beschwerdeführer kam beim syrischen Militär kein besonderer Rang zu und er trug seit dem Militärdienst keine Waffe mehr.
1.2.2. Bisher wurde der Beschwerdeführer nicht zum Reservedienst einberufen und hat sich sohin auch nicht einer konkret an ihn persönlich gerichteten Einberufung entzogen oder einer solchen nicht Folge geleistet.
1.2.3. Aufgrund seines Alters sowie mangels Vorliegen besonderer Qualifikationen ist es nicht wahrscheinlich, dass er im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat als Reservist einberufen wird. Es steht insgesamt nicht fest, dass der Beschwerdeführer von der syrischen Regierung wegen der Militärdienstleistung bzw. wegen Wehrdienstverweigerung gesucht wurde bzw. wird.
1.2.4. Das syrische Regime kann in jenen Teilen der Provinz Idlib, welche sich unter der Kontrolle der Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) befinden, keine Personen zum Reservedienst einberufen. Im gegenwärtigen Zeitpunkt droht dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsort nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die zwangsweise Rekrutierung durch die Streitkräfte des syrischen Regimes, durch die Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) und/oder eine der sonstigen Konfliktparteien und er läuft auch nicht Gefahr, von einer der Konfliktparteien unmittelbar persönlich verfolgt zu werden. Auch bei einem Kontakt mit dem syrischen Regime bei einer Rückkehr in den Herkunftsort ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer zwangsweisen Rekrutierung durch das syrische Regime zu rechnen.
1.2.5. Der Beschwerdeführer war keiner Verfolgung durch die Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) ausgesetzt und droht ihm auch aktuell keine Verfolgung durch diese.
1.2.6. Der Beschwerdeführer ist wegen seiner Herkunft, wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, wegen seines Aufenthalts in Österreich, wegen seiner Asylantragstellung und/oder wegen seiner allgemeinen Wertehaltung in Syrien keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Er ist auch nicht aus sonstigen Gründen bedroht, von der syrischen Regierung oder einer sonstigen Konfliktpartei als oppositioneller Gegner angesehen zu werden. Gegen ihn bestehen in Syrien keine Fahndungsmaßnahmen.
1.2.7. Dem Beschwerdeführer droht somit in Syrien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund seiner ethnischen, religiösen, staatsbürgerlichen Zugehörigkeit oder wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, Version 9 vom 17.07.2023, auszugsweise wiedergegeben:
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
"Versöhnungsabkommen" (auch "Beilegungsabkommen")
Letzte Änderung 2023-07-13 15:02
Die syrischen Behörden nutzen sogenannte "reconciliation agreements" [in anderen Quellen auch als "settlement agreements" - Beilegungsabkommen - bezeichnet] seit Beginn des Konfliktes (NMFA 5.2022). Die Evakuierung der von Rebellen gehaltenen Gemeinde Daraya im August 2016 markierte dabei einen Wendepunkt in der Nutzung von Versöhnungsabkommen durch die syrische Regierung als Strategie zur Rückeroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete. Bis zur Vereinbarung in Daraya waren in verschiedenen Gemeinden in ganz Syrien örtlich begrenzte Waffenstillstände eingesetzt worden. Sowohl die lokalen Waffenstillstände als auch die Versöhnungsvereinbarungen sind eine militärische Strategie, mit der Rebellengebiete entweder sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt zum Einlenken gezwungen werden sollen, um Menschen und Gebiete in den Staat wiedereinzugliedern (MEE 28.3.2018). Das Verfahren ist grundsätzlich für Personen gedacht, die im Sicherheitsapparat aktenkundig sind oder die von den Behörden im Zusammenhang mit einer offenen Angelegenheit gesucht werden. Sowohl Kombattanten als auch Zivilisten können Versöhnungsvereinbarungen unterzeichnen. Es gibt lokale und individuelle Versöhnungsabkommen (NMFA 5.2022).
Lokale Versöhnungsabkommen in ehemaligen Oppositionsgebieten
Die "Versöhnungsprozesse" scheinen ad hoc durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass sie variieren und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann. Für die praktische Umsetzung der Vereinbarungen ist ein "Versöhnungsausschuss" zuständig. Dieses Gremium ist kein Gericht. Es gibt kein materiell-rechtliches Verfahren und das Justizministerium ist nicht beteiligt. Das Ergebnis ist kein Urteil, sondern eine Sicherheitserklärung. Der Inhalt des Abkommens kann nicht angefochten werden. Die betreffende Person gibt ihre leichten Waffen ab und erklärt schriftlich, dass sie von Widerstandstätigkeiten absehen wird. Im Gegenzug verspricht die syrische Regierung, die Vorwürfe aus dem Strafregister zu streichen und den Namen der Person von den Fahndungslisten zu entfernen. Männer, die noch ihren Militärdienst ableisten müssen, haben sechs Monate Zeit, sich beim Rekrutierungsbüro zu melden. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten (NMFA 5.2022).
Der Abschluss der "Versöhnungsabkommen" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat. Die Vereinbarungen mit Rebellentruppen werden meist am Ende einer Belagerung durch Regierungstruppen abgeschlossen (ÖB Damaskus 12.2022). Laut der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 8.11.2021). Im Allgemeinen bieten die Versöhnungsverfahren zwei Möglichkeiten: eine Versöhnungsvereinbarung zu unterzeichnen und weiterhin im Regierungsgebiet zu leben oder in das Oppositionsgebiet im Nordwesten Syriens zu ziehen (NMFA 5.2022). Die Vereinbarungen beinhalten oft die Evakuierung der Gebiete von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden (ÖB Damaskus 12.2022). Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. OFPRA 13.12.2022) und sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA 5.2022; vgl. SACD 8.11.2021, TIMEP 15.10.2021).
Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017), oder den Männern im wehrpflichtigen Alter wird eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 29.3.2023). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung werden jedoch nicht eingehalten. Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht, über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger (BS 23.2.2022) oder zur Schonfrist vor dem Einzug zum Militärdienst wurden gebrochen (AA 29.3.2023). Es wird von willkürlichen Verhaftungen von Personen berichtet, die sich zuvor mit der syrischen Regierung "versöhnt" hatten (UNHRC 7.2.2023; vgl. HRW 12.1.2023) und es kommt trotz Abkommen zu Verhaftungen und dem Verschwinden von früheren Kämpfern in deren Häusern oder an Checkpoints. Es gibt Berichte über die gezielte Tötung von ehemaligen Kämpfern, die sich nunmehr den syrischen Streitkräften angeschlossen haben (ÖB Damaskus 12.2022). Beispielsweise in "versöhnten" Gebieten in Dara'a kam es zu Tötungen von Personen durch Unbekannte (SHRC 26.1.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), wobei in Anbetracht der Konfliktlage vermutet wird, dass das Regime und der Iran hinter vielen dieser Operationen stehen (SHRC 26.1.2023).
Der Abschluss von "Versöhnungsabkommen" in bestimmten Gebieten schützt die dortige Bevölkerung nicht vor dem willkürlichen, rücksichtslosen Verhalten der dort präsenten regierungsfreundlichen Milizen (OFPRA 13.12.2022). Diese Menschenrechtsverletzungen decouragieren auch die Rückkehr von geflüchteten Personen. Durch mehrere Gesetzeserlässe wurde die Regierung 2019 zur Konfiskation des Eigentums von "Terroristen" ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet (ÖB Damaskus 12.2022).
Generell lässt sich seitens der Regierung das Bestreben feststellen, möglichst schnell wieder staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten zu etablieren. Allerdings gibt es offenbar große Herausforderungen für die syrische Regierung, dieses Bestreben flächendeckend umzusetzen (ÖB Damaskus 12.2022).
Individuelle Versöhnungsabkommen
Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen sowie zusätzliche Genehmigungsverfahren siehe Kapitel Rückkehr, Unterkapitel "Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort".
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Nordwest-Syrien
Letzte Änderung 2023-07-11 11:40
Während das Assad-Regime etwa 60 % des Landes kontrolliert, was einer Bevölkerung von rund neun Millionen Menschen entspricht, gibt es derzeit [im Nordwesten Syriens] zwei Gebiete, die sich noch außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: Nord-Aleppo und andere Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von der von Ankara unterstützten Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army, SNA) kontrolliert werden, und das Gebiet von Idlib, das von der militanten islamistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert wird. Zusammen kontrollieren sie 10 % des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 4,4 Millionen Menschen, wobei die Daten zur Bevölkerungsanzahl je nach zitierter Institution etwas variieren [Anm.: andere Quellen weisen den Anteil des Staatsgebiets unter der Kontrolle der syrischen Regierung mit ca. 70 % aus, s. z.B. AA 29.3.2023] (ISPI 27.6.2023).
Das Gebiet unter Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS)
In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wird von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchläuft, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023). Das Gebiet beherbergt aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hat die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtet. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Scham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterscheidet sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hat derzeit keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hat sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023). HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets in Idlib auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen "Errettungs-Regierung" [auch Heilsregierung, ḥukūmat al-ʾinqāḏ as-sūrīyah/Syrian Salvation Government, SSG] aufgebaut (AA 29.3.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, sind in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Auch al-Qaida und der Islamische Staat (IS) sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020). Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 sind neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).
Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen die HTS als terroristische Vereinigung (AA 29.3.2023). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führt sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vgl. CTC Sentinel 2.2023). HTS geht gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vgl. CTC Sentinel 2.2023) und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisiert so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vgl. Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021).
Die Gebiete unter Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen
Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vgl. Brookings 27.1.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden von bewaffneten Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Duldung des Missbrauchs und der Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
Die Lage in den von der Türkei und Türkei-nahen Milizen, darunter der Syrischen Nationalarmee (SNA, vormals "Freie Syrische Armee"), kontrollierten Gebieten im Norden um die Städte Afrîn und Jarabulus im Norden des Gouvernements Aleppo bleibt instabil. Auch kam es dort immer wieder zu teils umfangreichen Kampfhandlungen, insbesondere zwischen Türkei-nahen Milizen und der HTS einerseits, sowie Türkei-nahen Milizen, der kurdischen YPG (Yekîneyên Parastina Gel) und in der Region eingesetzten Truppen des Regimes andererseits. Durch den Beschuss eines Marktplatzes in der türkisch kontrollierten Stadt al-Bab (Gouvernement Aleppo) durch Regimetruppen wurden etwa im August 2022 mindestens 20 Zivilpersonen getötet und rund 40 verletzt. Anfang Oktober 2022 rückte HTS aus dem Nordwesten auf die Stadt Afrîn und Umgebung vor, nachdem es innerhalb der SNA nach dem Mord an einem zivilgesellschaftlichen Aktivisten zu teils gewalttätigen internen Auseinandersetzungen kam (AA 29.3.2023). Die Auseinandersetzungen standen dabei im Zusammenhang mit dem lukrativen und weitverbreiteten Drogenhandel in Syrien sowie konkurrierenden Interessen verschiedener Brigaden innerhalb der SNA (TWI 19.10.2022). Dies war der erste größere Gebietsaustausch zwischen den Kriegsparteien seit zwei Jahren (Forbes 22.10.2022). Nach rund zwei Wochen zogen sich die Kämpfer der HTS wieder aus Afrîn zurück (MEE 25.10.2022).
Um die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch die Kämpfe der SNA zu verringern, haben viele lokale Versammlungen und die örtliche Polizei versucht, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gruppen daran zu hindern, mit automatischen oder schweren Waffen in die Städte einzudringen. Dennoch werden zivile Gebiete bei Zusammenstößen zwischen den Gruppen immer noch schwer getroffen und die häufigen Zusammenstöße zwischen den SNA-Gruppen, die in Gebieten wie Afrin, Jarabulus und Tal Abyad operieren, haben auch zu Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt (MEE 25.10.2022). Im Norden Aleppos kommt es weiterhin zu Angriffen auf Zivilisten. Die CoI des UN-Menschenrechtsrats dokumentierte im zweiten Halbjahr 2022 fünf Angriffe, die 60 Todesopfer forderten. Trotz eines offensichtlichen Rückgangs der Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen in diesem Zeitraum wurden Zivilisten bei Bodenangriffen getötet oder verletzt, auch in ihren Häusern in einem Vertriebenenlager oder auf öffentlichen Märkten. Dem Untersuchungsbericht für das zweite Halbjahr 2022 zufolge hat die CoI des UN-Menschenrechtsrats begründeten Anlass zu der Annahme, dass Mitglieder der SNA weiterhin willkürlich Personen der Freiheit beraubten und Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt und einige in einer Weise festhielten, die einem Verschwindenlassen gleichkam. SNA-Mitglieder haben auch weiterhin Folter, einschließlich Vergewaltigung, und grausame Behandlung, Mord, Geiselnahme sowie Plünderung begangen, die allesamt als separate Kriegsverbrechen gelten können (UNHRC 7.2.2023). Nach Angaben der NGO Syrians for Truth and Justice (STJ) begehen SNA-Fraktionen ungestraft und unbehelligt vom türkischen Militär, das sie unterstützt und eine effektive Kontrolle in der Region ausübt, wiederholt und systematisch Verstöße. Seit 2018 haben mehrere unabhängige lokale und internationale Organisationen sowie die zuständigen UN-Gremien massive Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, darunter Tötungen, willkürliche Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen, Misshandlungen, Folter, Plünderungen und Beschlagnahmungen von Eigentum sowie die Nötigung kurdischer Einwohner, ihre Häuser zu verlassen, und die Behinderung der Rückkehr von Einheimischen an ihre ursprünglichen Wohnorte nach Feindseligkeiten, demografischen Veränderungen und Versuche der Türkisierung (STJ 16.5.2023). Während des Jahres 2022 führten mit der Türkei verbundene Oppositionsgruppierungen angeblich außergerichtliche Tötungen durch (USDOS 20.3.2023).
Gouvernment Lattakia
Letzte Änderung 2023-07-13 16:08
Provinzweite Sicherheitsvorfälle und -entwicklungen
Lattakia (ein Kerneinflussgebiet des Assad-Regimes) blieb auch weiterhin von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Lattakia und Idlib (AA 29.3.2023). Das Armed Conflict Location Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.-30.6.2023 im Gouvernement Lattakia die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen und Todesopfern, welche in der nachstehenden Tabelle mit Angaben zur Gebietskontrolle auf Ebene der Sub-Distrikte (Nahiya) von Liveuamap kombiniert wurde (Darstellung der Staatendokumentation auf Basis von Daten von ACLED und Liveuamap; ACLED o.D., Liveuamap):
[…]
Unter den von ACLED verzeichneten sicherheitsrelevanten Vorfällen befanden sich auch Zusammenstöße am 17.4.2023 zwischen Milizionären der al-Assad- und al-Deeb-Familien - beide verwandt mit Bashar al-Assad - in der Stadt al-Qardaha. Hintergrund war ein Streit über das Management des Hafens von Lattakia und Drogen. Dabei wurde eine unbekannte Zahl an Beteiligten getötet (ACLED o.D.) [Anm.: Zur politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Drogen, besonders Captagon, für das Regime siehe die Kapitel Politische Lage sowie Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Im Juni tötete ein Drohnenangriff auf die Stadt Qardaha, aus der die al-Assad-Familie stammt, einen Menschen und verletzte einen zweiten leicht. Am Tag zuvor waren in der 35 Kilometer entfernten Stadt Salhab eine Frau und ein Kind von einer Drohne getötet worden. Als Hintergrund wird das Wiederaufflammen der Kampfhandlungen an manchen Frontabschnitten zwischen Regierungskräften und Rebellen in Nordwest-Syrien genannt (Reuters 23.6.2023) [Anm.: siehe dazu Liveuamap 3.7.2023 im Unterkapitel Nordwest-Syrien].
Die Sicherheitslage in und um Lattakia Stadt sowie sicherheitsrelevante Entwicklungen
Ein massiver Luftangriff Ende August 2022 auf eine mutmaßliche Waffenfabrik nahe der westsyrischen Stadt Masyaf sowie Ende Dezember 2021 auf den Hafen in Lattakia wurde von der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte der israelischen Luftwaffe zugerechnet (AA 29.3.2023). Die beiden Luftschläge auf den Hafen von Lattakia hatten mutmaßlich Warenlager von Iran-nahen Milizen zum Ziel und verursachten erhebliche Sachschäden (TOI28.12.2021; vgl. MEE 7.12.2021). Der Hafen von Lattakia ist der wichtigste Hafen der syrischen Regierung (MEE 7.12.2021). Über ihn wird ein Großteil der syrischen Importe in das vom Krieg zerrüttete Land gebracht (TOI 28.12.2021).
Die Nachrichtenagentur Reuters deckte auf, dass iranische humanitäre Hilfslieferungen für die Erdbebengebiete, die an den (zivilen) Flughäfen von Lattakia, Damaskus und Aleppo eintrafen, auch als Deckmantel für den Import militärischer Güter dienten (SNHR 5.5.2023, vgl. Reuters 12.4.2023). In diesem Zeitraumfanden auch israelische Luftschläge u.a. auf den Flughafen Aleppo statt (Standard 7.3.2023, Reuters 12.4.2023). Mittlerweile soll die Beunruhigung der syrischen Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei israelischen Angriffen in Syrien in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).
Zudem wurden Verhaftungen durch die lokale Abteilung der Preventive Security publik, welche sich gegen ZivilistInnen und MedienmitarbeiterInnen richteten, die Kritik an der Korruption und die schlechten Lebensbedingungen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten geäußert hatten. Die MedienmitarbeiterInnen werden unter dem Gesetz gegen Cyberkriminalität angeklagt, was bei Kritik der Zustände in den Regimegebieten zur Rechtfertigung von Verhaftungen von Staatsangestellten und anderen BürgerInnen herangezogen wird (SNHR 2.6.2023). Ein Blogger und Aktivist aus der Lattakia Stadt wurde im März im Zuge einer Vorladung verhaftet, weil er auf Facebook die Anwendung des (neuen) Gesetzes gegen Folter in den Regimegebieten gefordert hatte. Anklagepunkte umfassen unter anderem 'das Unterminieren des Geists der Nation' sowie diverse Anklagepunkte auf Basis des Gesetzes gegen Cyberkriminalität (SNHR 3.5.2023).
Im Mai 2023 wurde 24 Gefangene freigelassen, von denen die meisten aus Lattakia und Homs stammen. Alle waren einige Tage bis hin zu einigen Monaten lang ausschließlich von den Geheimdiensten festgehalten worden (SNHR 2.6.2023).
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung 2023-07-14 13:56
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vgl. ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).
Rekrutierungspraxis
Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]
Amnestien allgemein
Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21 Amnestiedekrete erlassen [Ende Dezember 2022 folgte ein weiteres Amnestiedekret, s. weiter unten], wobei in den meisten dieser Dekrete die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben wurden (SNHR 16.11.2022). Der syrische Präsident hat dabei für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vgl. SNHR 16.11.2022, MED 10.2021). Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vgl. SNHR 16.11.2022). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent sowie unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vgl. EB 3.4.2020, MED 10.2021) und als ein Propagandainstrument der Regierung bezeichnet (DIS 5.2020; vgl. MED 10.2021).
Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen, und nicht von jenen, deren Verhaftung politisch motiviert ist (USDOS 20.3.2023). Der Ausschluss von politischen Gefangenen von den Amnestien ist der Haft- und Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Amnestien schlossen Gefangene aus, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden (USDOS 20.3.2023).
Erhebungen der Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen von 21 Amnestiedekreten aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).
Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2022 verstießen Regimekräfte gegen frühere Amnestieabkommen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten durchführten, in denen zuvor Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet worden waren (USDOS 20.3.2023).
Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher (DIS 5.2020). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und wird unverändert fortgesetzt (AA 29.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 29.3.2023). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021).
Kürzlich erlassene Amnestien
Präsident Assad erließ am 21.12.2022 mit dem Legislativdekret Nr. 24 eine Generalamnestie, die unter anderem für die Tatbestände "interne und externe Desertion" gilt, so diese vor dem Inkrafttreten des Erlasses begangen wurden (SANA 21.12.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (MEMO 22.12.2022).
Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für "terroristische Verbrechen" erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (SO 3.5.2022). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie. Laut SNHR wurden mindestens 586 Personen im Zusammenhang mit dem Amnestiedekret aus der Haft entlassen (SNHR 16.11.2022). Das Amnestiedekret wurde laut Human Rights Watch (HRW) allerdings willkürlich und ohne Transparenz umgesetzt und führte nur zur dokumentierten Freilassung einer kleinen Zahl von Inhaftierten, gemessen an den Tausenden von Personen, die nach wie vor verschwunden sind, viele davon seit 2011, ohne dass es Informationen über ihren Verbleib gibt (HRW 12.1.2023).
Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für "interne" und "externe Desertion", die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 ("interne Desertion") und 101 ("externe Desertion") des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vgl. SNHR 16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 ("Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind") und 103 ("Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten") aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).
Amnestien in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung
Am 10.10.2020 erließ die sog. "Selbstverwaltung" in Nordost-Syrien eine "Generalamnestie" für Strafgefangene (AA 4.12.2020; vgl. NPA 10.10.2020). Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche IS-Sympathisanten. Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA 4.12.2020). Das Amnestiedekret Nr. 7 des syrischen Präsidenten vom 30.4.2022 fand beispielsweise keine Anwendung in Raqqa, das unter der Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) steht (EB 9.6.2022).
Am 2.4.2022 erließ die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) nahestehende "Syrische Heilsregierung" im Gouvernement Idlib ein Dekret, mit dem sie Berichten zufolge eine "Amnestie" für Urteile gewährte, die sie aus Gründen des öffentlichen Rechts verhängt hatte, und die Hälfte der Strafe von Gefangenen "umwandelte", die ein Urteil oder eine ähnliche Strafe erhalten hatten. Nach Angaben von SNHR bezog sich die Amnestie nicht auf Gefangene, die wegen Kritik an der HTS inhaftiert worden waren (USDOS 20.3.2023).
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
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Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung 2023-07-17 07:31
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)
Letzte Änderung 2023-07-17 08:02
Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 29.7.2022). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in ihre eigenen Strukturen zu integrieren (FIS 14.12.2018), indem sie Mitglieder der Milizen, welche im wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die syrische Armee zwingt (MEI 18.7.2019). Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr möglich, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der deutlich höheren Bezahlung der Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen, Milizen in die syrische Armee zu integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.7.2019). Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).
Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten hoch (STDOK 8.2017). Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Nichtsdestotrotz gab es Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des bewaffneten Konflikts in Syrien. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).
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Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung 2023-07-12 14:46
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 % der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 15.5.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 15.5.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 29.3.2023). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019). Es gibt keine Rechtssicherheit, und die Gefahr, Opfer staatlicher Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019). Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Anm.: Zum dahinschwindenden öffentlichen Verkehrssystem und seinen gestiegenen Fahrpreisen siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge
Letzte Änderung 2023-07-13 13:23
Binnenvertriebene (IDPs)
Ende 2022 waren 12,4 Millionen SyrerInnen weiterhin entweder Flüchtlinge außerhalb des Landes oder Binnenvertriebene (IDPs - internally displaced persons) in Syrien. Es kam zu keinen bedeutenden Rückkehrbewegungen, und so betrug die Zahl der syrischen Flüchtlinge 5,5 Millionen Menschen. Die Anzahl der IDPs stieg auf 6,9 Millionen Menschen - ein Drittel der Bevölkerung und ein Anstieg um 100.000 Personen seit Ende 2021 (WFP 8.4.2023).UNOCHA weist darauf hin, dass es sich um die höchste Zahl an Binnenvertriebenen weltweit handelt. Bereits vor dem Erdbeben (am 6.2.2023) waren fast 80 Prozent der IDP-Haushalte mindestens fünf Jahre vertrieben, und viele durchlebten mehrere Vertreibungen (UNOCHA 14.2.2023) [Anm.: die genauen Zahlen an Flüchtlingen und IDPs variieren je nach Quelle und Berichtszeitpunkt]. Umfassende und landesweite Informationen über Binnenvertreibung fehlen (UNOCHA 14.2.2023).
Während einige SyrerInnen begannen, in ihre Heime in Gebiete zurückzukehren, wo die Kampfhandlungen nachgelassen haben, kam es im Laufe von 2022 auch zu neuer Gewalt und neuen Fluchtbewegungen (FH 9.3.2023). Bei den intern Vertriebenen (IDPs) blieb mit 356.000 RückkehrerInnen die Zahl gegenüber 2019 (1,2 Mio.) weit zurück, wobei der Großteil der Bewegungen innerhalb der Gouvernements erfolgte. Bis August 2020 kehrten rund 300.000 Menschen zurück, der Großteil davon innerhalb/nach Idlib und Aleppo. Die Zahlen der neu Vertriebenen sind erneut weit höher; es gab 2020 wie im Jahr zuvor 1,8 Mio. IDP-Bewegungen insgesamt. Im Zuge der Eskalation des Konfliktes in Idlib wurden von Dezember 2019 bis März 2020 knapp 1 Mio. Menschen vertrieben (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich sexueller Ausbeutung oder durch Arbeit sowie bezüglich Menschenhandel. Dies trifft auch auf die relativ stabilen Gebiete unter Regierungskontrolle zu, denn dort ist der Zugang zu Arbeit und Investitionen oft von persönlichen oder politischen Beziehungen bzw. Beziehungen auf Basis der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, abhängig (FH 9.3.2023).
Im Zeitraum 6. bis 8.2.2023 [Anm.: zum Erdbeben vom 6.2.2023 siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft] wurden mehr als 30.000 Fluchtbewegungen in Nordwest-Syrien verzeichnet. Es ist wahrscheinlich, dass viele IDPs nochmals vertrieben werden. Berichte dazu gibt es bereits aus Deir-ez-Zor, Aleppo, Hama, Lattakia und Tartus. Das Erdbeben hat nicht nur weitere Fluchtbewegungen aufgrund beschädigter/unsicherer Unterkünfte verursacht, sondern auch die Aussichten für eine sichere Rückkehr von denjenigen bereits binnenvertriebenen Personen verringert, die ursprünglich aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten stammen (UNOCHA 14.2.2023).
Sicheres Obdach ist eines der Hauptbedürfnisse nach dem Erdbeben (UNOCHA 14.2.2023). Im Dezember 2022 [Anm.: also noch vor dem Erdbeben vom 6.2.2023] lebten in Syrien bereits 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der UNO von 2020 wohnten 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Im August 2022 lebten 30 Prozent der IDPs außerhalb von Lagern, und 43 Prozent der zurückgekehrten, ehemals binnenvertriebenen Haushalte in Nordwest-Syrien lebten in risikoanfälligen Unterkünften, z. B. bezüglich Wetterereignissen und Naturkatastrophen (UNOCHA 14.2.2023).
Besonders problematisch blieb auch laut CoI (United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) die Lage im Vertriebenenlager in Rukban innerhalb der von den USA garantierten sogenannten 'deconflicting zone' an der Grenze zu Jordanien. Schätzungen zufolge leben in diesem Lager noch rund 10.000 Menschen (rund 80 Prozent davon Frauen und Kinder) unter prekären Bedingungen - ohne zuverlässige Versorgung und hinreichenden Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Von der UNO unterstützte Versuche einer Evakuierung des Lagers in dafür vorgesehene Aufnahmelager im durch das Regime kontrollierten Homs waren 2019 gescheitert, vermutlich in erster Linie aus Sicherheitserwägungen. Im Jahr 2021 haben örtlichen Angaben zufolge rund 5.000 Personen das Camp verlassen (AA 29.3.2023).
Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 29.3.2023). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10 bezüglich Zonen für einen Wiederaufbau, um regierungstreue Personen zu belohnen, und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 2.6.2022). Als Gründe für die Rückkehr/Nichtrückkehr wird von den Betroffenen neben der Sicherheitslage zunehmend die schlechte wirtschaftliche Situation ins Treffen geführt. Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom sogenannten Islamischen Staat gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir-Ez-Zor). Laut Mitteilung von UNMAS (United Nations Mine Action Service) vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen - also rund 50 Prozent der Bevölkerung - dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs. Ein Drittel aller Opfer von Explosionen ist gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden, und mehr als 20 Prozent haben Gehör- oder Sehvermögen verloren. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: zu Gefahren von Explosivstoffen besonders für Kinder siehe auch das Unterkapitel Kinder im Kapitel Relevante Bevölkerungsgruppen].
Gefährdungslage - Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 4.12.2020). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).
Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem 'Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur' (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 % um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).
Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
2.1.1. Die Identität des Beschwerdeführers (Name, Staatsangehörigkeit und Geburtsdatum) kann aufgrund seiner Angaben (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 40) in Verbindung mit dem im Original vorgelegten syrischen Personalausweis (vgl. AS 99f) festgestellt werden.
Die Feststellungen zu Volksgruppenzugehörigkeit, Religionsbekenntnis und den Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers ergeben sich aus den durchwegs gleichbleibenden und unbedenklichen Ausführungen des Beschwerdeführers (vgl. Erstbefragung 26.08.2022, AS 3f; Einvernahme 02.03.2023, AS 34, 40). Ferner konnten die Einvernahmen des Beschwerdeführers unter Beiziehung eines Dolmetschers bzw. einer Dolmetscherin in arabischer Sprache durchgeführt werden.
2.1.2. In Bezug auf den Geburtsort und Wohnort des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat ist vorauszuschicken, dass sich für den von ihm genannten Geburtsort in den Niederschriften und Übersetzungen seiner Dokumente unterschiedliche Bezeichnungen finden, konkret „Slama“ (vgl. bspw. AS 36, 253) und „ XXXX “ (vgl. bspw. AS 38). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts wird damit jedoch stets derselbe Ort bezeichnet, zumal die Ortsbezeichnungen nur geringfügig in ihren Schreibenweisen voneinander abweichen, was auf die freie Übersetzung des Ortsnamens in die deutsche Sprache zurückzuführen ist bzw. auf einen einfachen Schreibfehler. In der Folge wird dieser Ort einheitlich mit dem Namen „ XXXX “ bezeichnet.
Die Feststellungen zum Geburtsort des Beschwerdeführers, seinem Aufwachsen, seinem Aufenthalt und seinem Wohnort im Herkunftsstaat bis zu seiner Ausreise gründen auf den glaubwürdigen und nachvollziehbaren Angaben des Beschwerdeführers (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 36ff), wonach er aufgrund der Machtübernahme der „Freien Syrischen Armee“ („FSA“, nunmehr: „Syrische Nationale Armee – SNA“) bzw. der Luftangriffe in seinem Geburtsort XXXX im Jahr 2012 mit seiner Familie in die Stadt XXXX , welche damals unter der Kontrolle des syrischen Regimes stand, zu seiner Tante übersiedelte.
Der Beschwerdeführer führte selbst an, vier Jahre mit seiner gesamten Familie in XXXX gelebt zu haben (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 37f), was dafür spricht, dass der Beschwerdeführer in XXXX Fuß fassen konnte. Weiters leben die Eltern und der Bruder des Beschwerdeführers nach wie vor in XXXX (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 44), weshalb sich der Großteil seines sozialen Netzwerks in Syrien in XXXX befindet. Alleine die Unzufriedenheit des Beschwerdeführers mit den gesellschaftlichen Regeln in XXXX spricht nicht gegen die Annahme, dass er sich dort erfolgeich neu amsiedeln konnte; er verweilte auch noch mindestens eineinhalb Jahre nach der Machtübernahme oppositioneller Gruppen in XXXX . Laut eigenen Angaben wurden seine Häuser und Supermärkte in XXXX zerstört (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 44), weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei XXXX nach wie vor um den Ort im Herkunftsstaat handelt zu dem der Beschwerdeführer den stärksten Bezug hat, sondern XXXX , wo er familiäre Anknüpfungspunkte hat und sich aufgrund der prekären Sicherheitslage in XXXX niederließ. Überdies relevierte der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt im Verfahren, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, in XXXX Fuß zu fassen, weshalb XXXX als Herkunftsort des Beschwerdeführers festzustellen war.
2.1.3. Die Feststellungen zur Ausreise aus Syrien, Einreise in Österreich, Asylantragstellung sowie Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stützen sich auf den vorliegenden Akt zur Zl. W284 2274879-1 (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 38f sowie Bescheid des BFA 21.04.2023, AS 131ff).
2.1.4. Die Feststellungen zur Ausbildung und zum beruflichen Werdegang des Beschwerdeführers beruhen auf seinen unbedenklichen Angaben (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 39, 44). Das Gericht sieht keinen Anlass, die diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers hierzu in Zweifel zu ziehen.
2.1.5. Die Feststellungen zum Familienstand des Beschwerdeführers, zu seinen Familienangehörigen und deren Aufenthaltsorten ergeben sich aus den im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im erstinstanzlichen Verfahren (vgl. Erstbefragung 26.08.2022, AS 5; Einvernahme 02.03.2023, AS 43f, 48) sowie dem vom Beschwerdeführer dem BFA im Original vorgelegten syrischen Familienbuch (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 41).
2.1.6. Die Feststellungen betreffend die Gebietskontrolle des Geburtsortes sowie des Herkunftsortes des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 37f) in Verbindung mit den Kapiteln „Nordwest-Syrien“ (S. 31ff) und „Gouvernment Lattakia“ (S. 67f) der Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, Version 9 vom 17.07.2023 sowie der Nachschau unter https://syria.liveuamap.com.
2.1.7. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers sind aus seinen Angaben (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 34f) sowie aus dem Umstand, dass keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, aus welchen Gegenteiliges hervorgehen würde, abzuleiten.
Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers beruhen auf dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Strafregisterauszug.
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Aus dem dahingehend widerspruchsfreien und daher glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem BFA ergibt sich, dass der Beschwerdeführer in Syrien Ende der 1990er Jahre während eines Zeitraums von zweieinhalb Jahren den verpflichtenden Wehrdienst abgeleistet hat und während seines Militärdienstes die Ausbildung zur Luftabwehr absolvierte (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 46). Seine Angaben wurden weiters durch das von ihm im Original vorgelegte syrische Militärbuch bestätigt (vgl. AS 75ff). Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer seit seinem Militärdienst keine Waffe mehr getragen hat, basiert auf seinen glaubwürdigen Angaben (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 48).
2.2.2. In Bezug auf die Befürchtung, der Beschwerdeführer müsse im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat kämpfen, ist zunächst festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in der Erstbefragung noch in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt auch nur ansatzweise dargetan hat, während seines Aufenthalts im Herkunftsstaat einen Hinweis auf eine Einberufung zum Reservedienst erhalten zu haben; der Beschwerdeführer verneinte dies sogar explizit (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 46). Vor diesem Hintergrund war festzustellen, dass er sich zu keinem Zeitpunkt einer persönlich an ihn gerichteten Einberufung entzogen oder einer solchen nicht Folge geleistet hätte.
2.2.3. Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer – unabhängig vom Vorliegen eines Einberufungsbefehls im Entscheidungszeitpunkt - zum Reservedienst eingezogen werden könnte: Nach den im Wesentlichen unbestrittenen Länderberichten bleibt ein syrischer Mann gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet. Der mittlerweile 45-jährige Beschwerdeführer hat diese Altersgrenze bereits überschritten. Das Gericht verkennt nicht, dass auch Männer bis zum Alter von 55 oder sogar 62 Jahren eingezogen werden. Die Länderberichte spiegeln derartige Konstellationen jedoch nur fallweise wieder. Etwaige besondere Qualifikationen (zB Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) und der Rang (vgl. Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, Version 9 vom 17.07.2023, S. 112ff „Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst“) sind hierbei ausschlaggebend. Derartige spezifische Spezialkenntnisse wurden vom Beschwerdeführer nicht erlangt. Selbst wenn man einbezieht, dass er während des Grundwehrdienstes organisatorisch einer Luftabwehreinheit zugeteilt gewesen ist, wie sein Militärbuch preisgibt, war er dort gerade nicht in den für die Luftverteidigung spezifischen Bereichen eingesetzt, sondern hat lediglich jene Funktionen erfüllt, für die keine spezifischen Qualifikationen erworben werden mussten, weshalb er keine relevanten militärischen Kenntnisse in diesem Bereich erlangt hat, wovon mangels diesbezüglichen Vorbringens auszugehen ist. Dass er auch keinen besonderen Rang innehatte, steht damit in Einklang. Überdies darf auch nicht verkannt werden, dass der Beschwerdeführer seine militärische Ausbildung bereits 1999, somit vor einem knappen Vierteljahrhundert, beendete. Daher spricht auch der äußerst lang verstrichene Zeitraum klar dagegen, dass ein besonderes Interesse an der Person des Beschwerdeführers bestehen würde, diesen an Kampfhandlungen zu beteiligen, zumal nicht vorausgesetzt werden kann, dass er, ein normaler Rekrut bei der Luftwaffe, über die dem heutigen Stand der Technik entsprechenden Kenntnisse verfügt um dem syrischen Militär dienlich zu sein.
Er präzisierte nicht, welche militärische Spezialausbildung er erhalten habe (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 46) und brachte zu keinem Zeitpunkt – auch nicht in der Beschwerde – vor, dass er eine spezielle Qualifikation für den Militärdienst in Syrien aufweist. Dass der Beschwerdeführer mit der beschriebenen, deutlich mehr als 20 Jahre zurückliegenden Tätigkeit während des Grundwehrdienstes über besondere Fähigkeiten oder Kenntnisse verfügt, die ein besonderes Interesse des syrischen Militärs an einer Einberufung zum Reservedienst – trotz Überschreitens der gesetzlichen Altersgrenze von 42 Jahren – begründen, kann nicht plausibel angenommen werden. Er hat keinerlei militärische Erfahrung und keinen entsprechenden Rang, der ihn besonders interessant als Reservist machen würde. Auch seine berufliche Tätigkeit u.a. als Betreiber von Supermärkten bzw. einem Süßwarengeschäft begründet kein konkretes militärisches Interesse. Weiters lebte er lange Zeit in vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten, während er sich im wehrfähigen Alter befand und als Reservist eingetragen war, ohne dass Rekrutierungsversuche von Seiten der syrischen Armee unternommen wurden. Dies spricht ebenfalls dafür, dass kein besonderes Interesse der syrischen Armee am Beschwerdeführer gegeben ist.
Vor diesem Hintergrund ist ein besonderes Interesse der syrischen Armee an seiner Person auszuschließen. Insgesamt war daher festzustellen, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Syrien schon aus diesem Grund nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt ist, zum Reservedienst einberufen zu werden.
Anzumerken ist auch, dass der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA selbst keine konkreten Rückkehrbefürchtungen im Zusammenhang mit einer ihm drohenden Einberufung zum Reservedienst oder allfälligen Repressalien aufgrund dessen Verweigerung nannte:
Er gab von sich aus – ausdrücklich - an, dass ihn der Militärdienst in Syrien aufgrund seines Alters nicht mehr betreffe (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 47), weshalb auch von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung (s. unten 3.2.) – ausnahmsweise – Abstand genommen werden durfte.
Es ist an dieser Stelle weiters festzuhalten, dass der Beschwerdeführer im gesamten erstinstanzlichen Verfahren kein einziges Mal vorbrachte, dass er den Dienst mit der Waffe ablehnt. Er führte lediglich aus, dass er – sollte er eine Waffe tragen müssen – Angst davor hat, umgebracht zu werden (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 45). Er gab an, dass er – sollte er vom syrischen Regime aufgefordert werden mit ihnen zu kämpfen – dies auch machen müsse (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 46), nicht jedoch, dass er dies ablehnt. Das erstmalig in der Beschwerde erhobene Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er aus Angst vor einem Einzug zum Wehrdienst beim syrischen Militär flüchtete (vgl. Beschwerde25.05.2023, AS 285), steht im Widerspruch zu seinem bisherigen Vorbringen und ist daher unglaubwürdig. Selbst auf mehrfache Nachfrage der Behörde zu seinen Fluchtgründen erwähnte er kein einziges Mal eine Angst vor der Ableistung des Reservedienstes im syrischen Regime.
2.2.4. Weiters befindet sich der Herkunftsort des Beschwerdeführers - wie festgestellt - im von der Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierten Gebiet. Wie den Länderberichten zu entnehmen ist, unterhält die syrische Regierung keine Präsenz in diesen Gebieten und kann keine Personen von dort für die Armee rekrutieren. Die syrische Regierung hat lediglich Zugriff auf das Melderegister von Idlib, was jedoch genutzt wird, um die Suche nach jungen Männern die das wehrfähige Alter erreichen zu erleichtern (vgl. hiezu Länderinformation der Staatendokumenation Syrien, Version 9 vom 17.07.2023, S. 117).
Betreffend die Gefahr einer Rekrutierung durch eine nichtstaatliche Gruppierung ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren nicht behauptet hat, jemals einem gezielt gegen seine Person gerichteten Rekrutierungsversuch durch die Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) oder eine sonstige nichtstaatliche Gruppierung ausgesetzt gewesen zu sein. Die Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) selbst führt keine Zwangsrekrutierungen durch, weshalb auch eine solche für den Beschwerdeführer nicht zu befürchten ist (vgl. hiezu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 9 vom 17.07.2023, S. 140).
2.2.5. Der Beschwerdeführer gab befragt zu seinen Fluchtgründen an, dass in XXXX die Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), vormals: Al Nusra Front, an der Macht gewesen sei. Er habe sich einen Bart wachsen lassen müssen und habe in der Öffentlichkeit keine Zigaretten rauchen dürfen. Das Leben unter der Kontrolle der HTS habe ihm nicht gefallen; es sei zu streng und es habe zu wenig Freiheit gegeben, weshalb er in die Türkei geflüchtet sei (vgl. Einvernahme 02.03.2023, AS 44ff). Selbst auf konkrete Nachfrage des BFA brachte der Beschwerdeführer keine sonstigen Fluchtgründe vor. Der Beschwerdeführer führte auch zu keinem Zeitpunkt aus, dass konkrete Verfolgungshandlungen jedweder Art von der HTS gegen seine Person stattgefunden hätten.
2.2.6. Zusammengefasst bestehen keine entscheidungsrelevanten, konkreten Hinweise dafür, dass der Beschwerdeführer von der syrischen Regierung oder einer sonstigen Konfliktpartei als Gegner angesehen und verfolgt werden wird.
Ferner ist aus den Länderberichten auch nicht ersichtlich, dass jedem Rückkehrer, der unrechtmäßig ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und dieser deshalb asylrelevante Verfolgung zu befürchten hat. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Schwelle dafür, als oppositionell betrachtet zu werden, in Syrien allgemein niedrig ist sowie, dass Personen aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen werden. Es übersieht auch nicht, dass in Syrien ganz bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. In Bezug auf den Beschwerdeführer ergeben sich jedoch im Verfahren keine Hinweise darauf, dass allgemeine Berichte und darauf basierende Gefährdungsmomente im gegenständlichen Fall auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers anzuwenden sind.
Darüber hinaus kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz dem syrischen Staat bekannt geworden ist, da es den österreichischen Behörden verboten ist, Daten über Asylwerber an Behörden aus deren Herkunftsstaat zu übermitteln. Sohin finden sich keine ausreichend validen Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer mit verfahrensrelevanter Wahrscheinlichkeit unmittelbar konkret gefährdet ist in Syrien ins Blickfeld der syrischen Regierung zu geraten und von dieser wegen einer ihm zugeschriebenen oppositionellen Gesinnung unmittelbar und konkret persönlich verfolgt zu werden. Gegenteiliges wurde weder in der Beschwerde noch in der mündlichen Verhandlung substantiiert dargetan.
2.2.7. Abschließend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer im Verfahren nicht dargetan hat, im Herkunftsstaat aufgrund seiner Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit einer gezielt gegen seine Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt zu sein (vgl. Einvernahme 13.07.2022, AS 63). Auch aus den der gegenständlichen Entscheidung als Sachverhalt zugrunde gelegten Länderberichten lässt sich eine Gefährdung des Beschwerdeführers wegen seiner Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit nicht ableiten.
2.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die den Länderfeststellungen zu Grunde liegenden Berichte wurden dem Beschwerdeführer übermittelt und die Bedeutung dieser Berichte erklärt, insbesondere, dass aufgrund dieser Berichte die Feststellungen zu seinem Herkunftsstaat getroffen werden, sowie deren Zustandekommen. Ihm wurde die Möglichkeit gegeben zu den Länderberichten Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer ist den Länderfeststellungen nicht substantiiert entgegengetreten. Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Art 9 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), im Weiteren: Statusrichtlinie, sieht vor:
„Artikel 9
Verfolgungshandlungen
(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung
a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder
b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.
(2) Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen, und
f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
(3) Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.“
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066; VwGH 21.5.2021, Ro 2020/19/0001; VwGH 28.3.2023, Ra 2023/20/0027; mwN).
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. VwGH 2.2.2023, Ro 2022/18/0002; VwGH 28.3.2023, Ra 2023/20/0027; mwN).
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387; mwN).
Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009; mwN).
Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001; mwN).
Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichts vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (vgl. VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386; mwN).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108; mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 18.03.2021, Ra 2020/18/0450, mwN).
3.1.2. Der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist zu entnehmen, wie mit dem Umstand, dass der Beschwerdeführer das Herkunftsgebiet zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt nicht erreichen könne, umzugehen ist, zumal es sich hier eben nicht um den Einwand einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative handelt sondern um die – durch die Gewährung des subsidiären Schutzes – einzig offen bleibende Prüfung hinsichtlich der Örtlichkeit im Herkunftsstaat, nämlich der Prüfung, ob eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsgebiet droht. Es kommt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nämlich auf Feststellungen zur Sicherheitslage, Rückkehrsituation und Erreichbarkeit der Herkunftsregion der Beschwerdeführer für die Klärung des Sachverhalts im Hinblick auf den Asylstatus nicht an (VwGH 27.05.2015, Ra 2015/18/0041).
Die Verfolgung muss dem Beschwerdeführer im Herkunftsgebiet drohen. Zur Klärung der Frage, welches Gebiet als Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers anzusehen ist, ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach in Fällen, in denen Asylwerber nicht auf Grund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang auf Grund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen sei (VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192; VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442-13). Die Bestimmung der Heimatregion des Beschwerdeführers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm – sollte dies der Fall sein und dem nicht die Rechtskraftwirkung der Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten entgegenstehen – im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht. Zur Bestimmung der Heimatregion kommt in diesem Sinn der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Beschwerdeführers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem der Beschwerdeführer geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192; VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442-13).
Wie festgestellt, verließ der Beschwerdeführer die Stadt XXXX aufgrund der Luftangriffe und zog - mit seiner gesamten Familie - zu seiner Tante in die Stadt XXXX . Wie ebenfalls festgestellt, konnte der Beschwerdeführer aus den oben genannten Gründen dort Fuß fassen, weshalb nunmehr von der Stadt XXXX als Herkunftsort des Beschwerdeführers auszugehen ist.
Es wird an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass mangels bereits erfolgter oder drohender Verfolgung des Beschwerdeführers von sämtlichen Konfliktparteien in seinem Herkunftsstaat, selbst bei anderweitiger Beurteilung seiner Herkunftsregion, keine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers vorliegt, weshalb die Entscheidung auch in Einklang mit der unlängst ergangenen Rechtsprechung des VfGH vom 05.10.2023, E 1178/2023-14, steht.
3.1.3. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen 45-jährigen Mann, der den Pflichtwehrdienst im Herkunftsstaat abgeleistet hat, und dem auch aktuell keine Einberufung zum Reservedienst droht. Insgesamt bestehen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, vom syrischen Regime oder einer der weiteren Konfliktparteien rekrutiert zu werden.
Dem Beschwerdeführer ist es überdies nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass er einer Verfolgung durch die Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ausgesetzt war bzw. dass ihm eine solche aktuell im Herkunftsstaat droht.
Ob von einer Verfolgung gesprochen werden kann, hängt von der Intensität eines zu befürchtenden Eingriffs ab. Als solche gelten bspw. die zuvor angeführten Handlungen gemäß Art. 9 Abs. 2 Status-RL. Wie festgestellt, war der Beschwerdeführer unzufrieden mit den in seiner unter der Kontrolle der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) stehenden Herkunftsregion geltenden gesellschaftlichen Normen und empfand er diese als Einschränkung. Er unterließ jedoch im gesamten Verfahren zu relevieren, inwiefern dies eine asylrelevante Verfolgung seinerseits darstellen soll. Allgemeine Einschränkungen im gesellschaftlichen Leben begründen noch keine asylrelevante Verfolgung.
3.1.4. Eine aufgrund der herrschenden Willkür dennoch mögliche Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung lediglich aufgrund seiner Herkunft aus einem unter oppositioneller Kontrolle stehenden Gebiet oder aufgrund seiner Ausreise ist nicht maßgeblich wahrscheinlich und wurde diesem Risiko ohnehin bereits durch die Gewährung des subsidiären Schutzes Rechnung getragen.
3.1.6. Es ergaben sich auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer als Angehöriger der arabischen Volksgruppe sowie aufgrund seines sunnitisch-moslemischen Glaubens einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Im Übrigen bestehen auch keine Hinweise, dass gegen ihn aktuell im Herkunftsstaat Fahndungsmaßnahmen bestehen. Es ergibt sich auch aus den Länderberichten keine Verfolgung aller Rückkehrer, die im Ausland um Asyl angesucht haben (vgl. VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147).
Der Beschwerdeführer konnte zusammengefasst nicht glaubhaft machen, dass ihm im Herkunftsstaat aufgrund einer vermeintlich unterstellten politischen Gesinnung - oder aus anderen Gründen - Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
3.1.7. Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 21.11.1995, 95/20/0329; mwN).
Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würde, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
3.1.7. Der Bürgerkriegszustand betrifft nicht speziell den Beschwerdeführer, sondern die gesamte syrische Bevölkerung in gleicher Weise und ist daher nicht asylrelevant.
Auch aus der allgemeinen Lage in Syrien lässt sich konkret für den Beschwerdeführer kein Status eines Asylberechtigten ableiten. Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden (vgl. etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0798 sowie VwGH 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. z.B. VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529, sowie VwGH 08.09.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre.
3.1.8. Eine asylrelevante Verfolgung bei einer Einreise des Beschwerdeführers nach Syrien ist nicht zu prüfen, da dem Beschwerdeführer – wie festgestellt – weder von Seiten des syrischen Regimes, der Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) noch von einer sonstigen Konfliktpartei als Gegner angesehen und verfolgt (werden) wird. Es bestünde daher keine asylrelevante Verfolgungsgefahr bei einer Durchreise des Beschwerdeführers durch nicht von der Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Gebiete.
3.1.9. Der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl war daher der Erfolg zu versagen.
3.2. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.
Im vorliegenden Beschwerdefall ergibt sich bereits aus dem Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes und dem Vorbringen des Beschwerdeführers während des erstinstanzlichen Verfahrens, dass ihm der Status des Asylberechtigten aus den oben angeführten Gründen nicht zuzuerkennen ist, insbesondere in Hinblick darauf, dass vom Beschwerdeführer selbst in keinem Zeitpunkt des erstinstanzlichen Verfahrens Fluchtgründe iSd der GFK releviert wurden. Die mündliche Erörterung lässt daher eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten, sodass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben konnte.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützen, die bei den jeweiligen Erwägungen wiedergegeben wurde. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
4. Daher war spruchgemäß zu entscheiden.