Spruch
W114 2267824-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Arabische Republik Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 27.01.2023, Zl. 1286582105/211486289, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 17.04.2023 und am 15.06.2023 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX , geboren am XXXX im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF, ein Staatsbürger der Arabischen Republik Syrien, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet in Österreich am 08.10.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In seiner Erstbefragung am 08.10.2021 gab er unter anderem an, syrischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und Moslem zu sein. Er sei in Dashisha Margada im Governement Hasaka in Syrien geboren. Er habe acht Jahre lang eine Grundschule besucht und habe zuletzt in Syrien als Chauffeur gearbeitet. Er sei verheiratet. Neben seinen Eltern und seiner Ehefrau befänden sich in Syrien eine minderjährige Tochter, drei minderjährige Söhne, drei Brüder und drei Schwestern. Er habe auch zuletzt vor seiner Ausreise aus Syrien in Dashisha Margada gelebt.
Er habe bereits drei Jahre vor seiner tatsächlichen Ausreise aus Syrien den Entschluss gefasst, Syrien zu verlassen und sei dann Ende Juli 2021 illegal in die Türkei ausgereist. Sein Ziel sei Deutschland gewesen, weil sich dort Onkeln und Tanten aufhalten würden. Er wolle immer noch nach Deutschland.
Zu seinen Gründen, warum er Syrien verlassen habe, sagte er, dass in Syrien Krieg herrsche und es dort keine Sicherheit gebe. Er wolle nicht zum Militär eingezogen werden. Er wolle nicht kämpfen. Er sei aus Angst um sein Leben geflüchtet. Das seien seine einzigen Fluchtgründe.
3. Im Zuge seines Asylverfahrens legte der BF am 20.06.2022 bzw. am 23.06.2022 Ablichtungen von syrischen Identifikationsdokumenten vor.
4. Mit Schriftsatz vom 02.09.2022 bzw. einem weiteren Schriftsatz vom 20.10.2022 erhob der BF, damals vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in 1010 Wien, Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht.
5. In seiner Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren: BFA) am 27.10.2022 wies sich der BF durch:
einen syrischen Personalausweis,
ein syrisches Militärbuch,
eine syrische Heiratsurkunde samt Übersetzung in die deutsche Sprache,
einen Auszug aus dem Familienregister samt Übersetzung in die deutsche Sprache,
und Kopien von Reisepässen seiner Ehefrau und seiner vier Kinder
aus.
Befragt zur im BFA eingebrachten Säumnisbeschwerde führte der BF aus, dass der beauftragte Rechtsanwalt für den BF lediglich „einen Termin machen sollte“. Der BF wünsche auch eine Zustellung behördlicher Schriftstücke direkt an sich selbst.
In der Einvernahme führte er aus, dass er am 30.12.2010 eine Tauglichkeitsprüfung für die syrische Armee bestanden, aber seinen Militärdienst in Syrien nicht abgeleistet habe. Bis zu seiner Ausreise aus Syrien sei er vom syrischen Assad-Regime für eine Rekrutierung nicht greifbar gewesen. Sein Herkunftsgebiet stehe auch aktuell unter kurdischer Kontrolle.
Auf die Frage, ob er allein ausgereist sei, oder, ob er seine Familie bei sich gehabt habe, führte er aus, dass er mit einem Cousin und vier anderen Freunden ausgereist sei. Die Finanzierung der Kosten seiner Ausreise, die EUR 5.000.-- betragen hätten, sei ihm leichtgefallen, da es ihm in Syrien gut gegangen sei. Sein Vater besitze in Syrien auch eine große Landwirtschaft.
Auf die Aufforderung, seine Flucht- und Asylgründe „genau“ zu schildern, führte der BF aus, dass das aufgrund des Militärdienstes geschehen sei. Er würde vom syrischen Regime und von den Kurden verfolgt werden, wobei sich sein Herkunftsgebiet unter kurdischer Kontrolle befinden würde. Er sei am 30.12.2010 zum syrischen Heer einberufen worden und sei seither Deserteur. Auf die Frage, ob das sämtliche Fluchtgründe seien, führte er aus, dass es (in Syrien) viele Gruppierungen geben würde, die alle wollen würden, dass man für sie kämpfe. Es sei schlimm. Entweder müsse man töten oder man würde getötet werden. Er sei auch im August 2019 einmal aufgefordert worden, seinen Militärdienst anzutreten. Auf Nachfrage führte der BF dazu aus, dass er, als er gehört habe, dass Kurden anwesend seien, er mit einem Motorrad weggefahren sei. Er selbst habe mit Kurden nicht gesprochen. Ihm sei erzählt worden, dass er und ein Bruder sich auf einer Liste befinden würden.
Die Frage, ob er noch etwas Wichtiges mitteilen wolle, verneinte er. Befragt nach dem fluchtauslösenden Moment, wies er darauf hin, dass er psychisch am Boden gewesen sei. Er sei von den Kurden und vom Regime gesucht worden. Er habe sich bereits seit vier Jahren mit einer Ausreise aus Syrien auseinandergesetzt. Ein Onkel sei im Jahr 2019 von den Kurden verhaftet worden und bis heute würden sie nichts von ihm wissen. Ein Cousin sei seit 2013 beim Militär und sie wüssten auch seither nichts über ihn. Bei einer Rückkehr nach Syrien würden – ohne dies weiter auszuführen oder nachvollziehbar zu begründen – auf ihn Folter, Gefängnis und die Todesstrafe warten.
Die Frage, warum er bis nach Österreich gereist sei, beantwortete er damit, dass hier die Familienzusammenführung gut gehe und die Kinder hier zur Schule gehen könnten.
6. Mit Bescheid des BFA vom 27.01.2023, Zl. 1286582105/211486289, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Arabische Republik Syrien zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde im Wesentlichsten zusammenfassend in dieser Entscheidung ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine aktuelle mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vorgebracht oder glaubhaft gemacht habe und auch aus der Aktenlage bzw. im Laufe des Asylverfahrens keine asylrelevanten Gründe hätten festgestellt werden können. Dazu wird auch weiter in der angefochtenen Entscheidung umfassend unter Hinweis auf die in der angefochtenen Entscheidung getroffenen Feststellungen insbesondere auf der Grundlage des aktuellsten Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022 und in einer ausführlichen und sehr nachvollziehbaren Beweiswürdigung dargelegt, dass der BF bei einer Rückkehr nach Syrien eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht habe.
Dieser Bescheid wurde – wie in der Einvernahme des BF vor dem BFA von diesem gefordert – direkt an den Beschwerdeführer am 01.02.2023 durch persönliche Übergabe zugestellt.
7. Ebenfalls mit Bescheid des BFA vom 27.01.2023, Zl. 1286582105/211486289, wurde unter Hinweis auf § 16 Abs. 1 VwGVG „das Verfahren über die Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht vom 20.10.2022“ eingestellt.
8. Gegen die abweisende Entscheidung hinsichtlich der Gewährung des Status eines Asylberechtigten erhob der BF, nunmehr vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, im Weiteren: BBU, mit Schriftsatz vom 21.02.2023 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
In dieser Beschwerde wird – ohne auf die entscheidenden Gründe der angefochtenen Entscheidung einzugehen und diesen entgegenzutreten – neuerlich nur ausgeführt, dass er bei einer Rückkehr vom syrischen Regime und kurdischen Milizen zwangsweise rekrutiert und in diesem Zusammenhang asylrelevant verfolgt werden würde.
Zusätzlich wird in dieser Beschwerde textbausteinmäßig ausgeführt, dass dem BF, der nunmehr sein syrisches Herkunftsgebiet nicht sicher und legal erreichen könne und aus dem Umstand, dass er Syrien illegal verlassen habe, in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, in Europa gelebt habe, und damit als jemand, dem zumindest unterstellt werde, gegenüber dem syrischen Regime oppositionell eingestellt zu sein, auf Grund einer daraus sich ergebenden politisch motivierten Verfolgung, der Status eines Asylberechtigten zu gewähren gewesen sei. Wer jedoch aktuell und konkret dieser Verfolger sei, und ob bzw. wie dieser Verfolger sich des Beschwerdeführers in seinem Herkunftsgebiet in Syrien bemächtigen könnte, wurde jedoch vom Verfasser dieser Beschwerde nicht nachvollziehbar ausgeführt.
Ein Vorbringen, dass mittlerweile neue und zusätzliche Fluchtgründe vorliegen würden, die allenfalls zu einer von der angefochtenen Entscheidung abweichenden Beurteilung führen müssten, wird in dieser Beschwerde nicht einmal behauptet, geschweige denn vorgetragen.
Schließlich wird in dieser Beschwerde auch ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung gestellt.
9. Die gegenständliche Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem BVwG am 01.03.2023, mit Schreiben des BFA vom 27.02.2023, zur Entscheidung vorgelegt.
10. Mit der Ladung zur mündlichen Beschwerdeverhandlung am 06.03.2023 zur GZ W114 2267824-1/3Z, wurde auch dem Beschwerdeführer vom BVwG umfangreiches damals aktuellstes Informationsmaterial zu Syrien, insbesondere die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der arabischen Republik Syrien fliehen vom März 2021, eine Anfragebeantwortung von ACCORD – Syrien - Höchstalter für die Wehrpflicht im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet vom 05.08.2022, eine Anfragebeantwortung von ACCORD Syrien - Wehrdienstverweigerung und Desertion vom 08.09.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien - Fragen des BVwG zu syrischen Wehrdienstgesetzen vom 16.09.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – Syrien - Fragen des BVwG zur Bestrafung von Wehrdienstverweigerung und Desertion vom 16.09.2022, der EUAA-Bericht zu Syria: security situation vom September 2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien - Fragen des BVwG zu Strafregisterbescheinigung und Sicherheitsfreigabe vom 14.10.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien vom 14.10.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB) vom 14.10.2022, und das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 8, Stand: 29.12.2022 zum Parteiengehör übermittelt.
Weder das BFA noch der BF oder seine Rechtsvertretung haben im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG auf entsprechende Aufforderung durch das BVwG zu diesem Informationsmaterial eine substanziierte und sich damit auseinandersetzende Stellungnahme eingebracht.
11. Am 17.04.2023 fand in entschuldigter Abwesenheit eines Vertreters des BFA im BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, bei der der Beschwerdeführer hinsichtlich der Plausibilität und Nachvollziehbarkeit seiner von ihm behaupteten Fluchtgründe und einer allenfalls daraus sich ergebenden Verfolgungsgefahr befragt wurde.
Insbesondere wurde dem BF und auch der anwesenden Vertretung des BF bereits in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass den im Zuge des Parteiengehörs vom BVwG übermittelten Unterlagen zu Syrien entnommen werden könnte, dass das syrische Assad-Regime in von Kurden kontrollierten Gebieten und damit auch in Dashisha Margada, dem Herkunftsgebiet des BF nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit rekrutiere, bzw. zwangsweise rekrutieren würde, weil das Assad-Regime in der Regel auf dort befindliche Personen keinen Zugriff habe, und dass die kurdischen Milizen in von ihnen kontrollierten Gebieten und damit ebenfalls in Dashisha Margada Rekrutierungen von 31jährigen Syrern nicht vornehmen würden. Hinsichtlich der kurdischen Selbstverteidigungspflicht, wie die Wehrpflicht im von kurdischen Milizen kontrollierten Teil Nordost-Syriens bezeichnet werde, gebe es ein Alterslimit von 24 Jahren und der 31jährige Beschwerdeführer habe dieses Alterslimit bereits überschritten.
Diesem Vorbringen wurde weder vom BF noch von seiner Vertretung unter Hinweis auf nachvollziehbare Nachweise, widersprochen. Damit wurde auch vor dem BVwG weder vom BF noch von seiner Vertretung glaubhaft gemacht, dass der BF aktuell bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet Dashisha Margada wegen einer ihm drohenden zwangsweisen Rekrutierung durch das syrische Assad-Regime, noch durch kurdische Milizen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr betroffen wäre. Der BF selbst gestand in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 17.04.2023 ein, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet aus Altersgründen nicht mehr gefährdet wäre, von kurdischen Milizen zwangsweise rekrutiert zu werden, wies aber weiterhin auf die in der Arabischen Republik Syrien geltende generelle Wehrpflicht des syrischen Assad-Regimes hin.
Der BF selbst erkannte, dass sein bisheriges Vorbringen nicht dazu führen würde, dass ihm ausgehend vom bisherigen Vorbringen im Asylverfahren als auch im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG deswegen der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden könnte. Daher änderte der BF nunmehr erstmals in der Beschwerdeverhandlung am 17.04.2023 seine Taktik und versuchte darzulegen, dass zwischenzeitig „ein Onkel“ von den Kurden festgenommen worden sei und er selbst in diesem Zusammenhang nunmehr auch von den Kurden deswegen gesucht werden würde.
Auf dem Mobiltelefon „dieses Onkels“, der am 20.10.2022 von den Kurden festgenommen worden sei, sei die Mobilfunknummer seines eigenen - im vom türkisch Militär kontrollierten Teil Nordsyriens befindlichen - Schleppers gefunden worden. Die Kurden würden davon ausgehen, dass es sich bei diesem Schlepper um einen Kämpfer der Freien Syrischen Armee handeln würde, der damit auch mit dem Beschwerdeführer in Kontakt stehe. Die Kurden würden damit davon ausgehen, dass auch der Beschwerdeführer sich dort aufhalte und ein Kämpfer der Freien Syrischen Armee sei. Der am 20.10.2022 festgenommene Onkel sei eingesperrt und zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden. Zusätzlich sei auch von Kurden gegen ihn selbst ein Suchbefehl herausgegeben worden. Sollte der BF nunmehr nach Syrien in sein Herkunftsgebiet, das unter kurdischer Kontrolle stehe, zurückkehren, würde er zumindestens festgenommen, verurteilt und eingesperrt werden.
In diesem Zusammenhang teilte der BF dem BVwG mit, dass die Kurden sich „vor ca. fünf Monaten“ (und damit ca. Mitte November 2022, als über den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 08.10.2021 noch lange keine Entscheidung des BFA vorlag und damit dieses Verfahren noch nicht abgeschlossen war) nach der Verhaftung „des Onkels“ bei seinem Vater nach seinem Verbleib erkundigt hätten.
Das erkennende Gericht, das Zweifel an der neuen Fluchtgeschichte hatte, fragte in der Beschwerdeverhandlung am 17.04.2023 den BF, welche Nachweise, dass diese Geschichte auf wahren Begebenheiten beruhen würde, der BF in der Lage sei, vorzulegen. Der BF selbst fragte, welche Nachweise erforderlich seien, damit diese Geschichte geglaubt werden würde und damit zu einer Gewährung des Status eines Asylberechtigten führen würden. Der vorsitzende Richter gab zu verstehen, dass ein Dokument, aus dem sich ergebe, dass „der Onkel“ des BF verhaftet und verurteilt worden sei, nicht ausreichend sei, damit dem BF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden könnte. Wesentlich sei, dass dem BVwG glaubhaft gemacht werden würde, dass dem BF selbst mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Syrien eine asylrelevante Verfolgungsgefahr drohen würde.
Dem BF wurde über sein Ersuchen eine Frist zur Vorlage entsprechender Unterlagen bis 15.05.2023 gewährt.
12. Am 15.05.2023 wurden von der BBU zwei mit arabischen Schriftzeichen versehene Schriftstücke samt Übersetzungen vom 11.05.2023 in die deutsche Sprache vorgelegt.
Das erste Dokument weist in der deutschen Übersetzung folgenden Inhalt auf: „An alle Sicherheitsbehörden, Fachabteilungen und alle Kontrollpunkte in Rojava
Es wird um Verbreitung des Namens der Person XXXX , Sohn des XXXX , seine Mutter XXXX , geboren XXXX in Al-Dashisha. Dies, da wir bestätigte Informationen, Nachrichten und Berichte sowie Geständnisse seines Onkels XXXX , Sohn des Abd, seine Mutter Jaziah Al-ALI, geboren am 18.08.1994, welcher am 20.10.2022 verhaftet wurde, erhalten haben. Bei ihm handelt (es) sich um einen Einwohner des Dorfes Dashisha. Nach den Ermittlungen und Untersuchungen gegen ihn, hat er, in voller Geschäftsfähigkeit gestanden, dass sein Neffe XXXX Verbindung mit externen Parteien in Ras al-Ain (Sere-Kaniye) hat, und zwar mit dem sogenannten Abu Yazan al-Mashhadani, ein Anführer einer terroristischen bewaffneten Gruppierung. Hiefür wurden Beweise auf dem Handy von XXXX gefunden sowie Telefonate zwischen XXXX und Yazan al-Mahhadani.
Weiters informieren sie darüber, dass XXXX von uns gesucht wurde.
Wir danken für Ihre Kooperation und Ihr Verständnis bei der Erreichung von Sicherheit und Stabilität innerhalb der Grenzen von Rojava.
Direktion des Generalamtes für Sicherheit in der Provinz Aljazeera.
Siegel: Direktion des Generalamtes für Sicherheit in der Provinz Aljazeera, Unterschrift“
Bei diesem Schriftstück handelt es sich um eine eingescannte Kopie eines Schreibens mit dem oben übersetzten Inhalt, dessen tatsächlicher Autor bzw. dessen Herkunft unbekannt sind. Dazu hat der Beschwerdeführer in einer weiteren mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 15.06.2023 behauptete, dass es sich bei diesem Schriftstück um einen gegen seine Person gerichteten Such- und Haftbefehl handle und damit nachgewiesen worden sei, dass er in seinem Herkunftsgebiet in Syrien gesucht werde und bei einer Rückkehr nicht nur verhaftet, sondern auch jedenfalls wegen einer ihm zumindest unterstellten kurdenfeindlichen Gesinnung politisch von Kurden verfolgt werden würde.
Die vom BF mitvorgelegte Übersetzung in die deutsche Sprache des zweiten Schriftstückes hat folgenden Inhalt: „Zentralgefängnis QANAT AL SUAIS Finanzbeleg Br. 4740 Name des Häftlings: XXXX Name des Besuchers: Sein Bruder XXXX Betrag: 100 Datum: 10.01.2023 ABU JIHAD, e.h. Unterschrift“
Dazu wurde vom Beschwerdeführer in der fortgesetzten mündlichen Beschwerdeverhandlung am 15.06.2023 erklärt, dass es sich bei diesem Schriftstück um den Beweis handle, dass sein Onkel UWAED in Syrien inhaftiert und von seinem Bruder, dem Halbbruder des Vaters des BF mit dem Namen Fathi Besuch erhalten habe, der einen Betrag hinterlassen habe, mit dem sich sein Onkel in der Haft erforderliche Gegenstände des täglichen Lebens beschaffen könne.
13. In der fortgesetzten mündlichen Beschwerdeverhandlung am 15.06.2023 wurde der Beschwerdeführer über die Herkunft und den Erhalt der beiden vorgelegten Schriftstücke befragt sowie Fragen zu Voll- und Halbgeschwistern seiner Eltern gestellt. Diese Verhandlung endete damit, dass der Beschwerdeführer angab, dass ein Halbonkel (Halbbruder seines Vaters) mit dem Namen Awad seit dem 30.06.2019 von Kurden inhaftiert sei und seine Familie über dessen aktuellem Aufenthalt bzw. darüber, ob er überhaupt noch am Leben sei, nichts wisse und ein weiterer Halbonkel (Halbbruder seines Vaters) mit dem Namen Uwaed, sich seit dem 20.10.2022 ebenfalls in Haft bei den Kurden befinde, wobei dieser Halbonkel am 10.01.2023 von einem weiteren Halbonkel mit dem Namen Fathi im kurdischen Zentralgefängnis Qanat Al Suais besucht worden sei, während das erste, als auch das zweite vom Beschwerdeführer vorgelegte Schriftstück von einem Mann (Halbonkel des BF) mit dem Namen Awaid, und nicht mit dem Namen Uwaed, berichten.
Auch in der fortgesetzten mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde auf eine mündliche Verkündung des Erkenntnisses Abstand genommen, jedoch die mündliche Verhandlung, als auch das Ermittlungsverfahren als abgeschlossen erklärt.
II. Daraus ergibt sich für das Bundesverwaltungsgericht:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des verfahrensgegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz des BF vom 08.10.2021, der diesbezüglichen Erstbefragung am 08.10.2021 und der Einvernahme des BF vor dem BFA am 27.10.2022, dem vom BF im Asylverfahren vorgelegten syrischen Personalausweis, dem vom BF im Asylverfahren vorgelegten syrischen Militärbuch, der vom BF im Asylverfahren vorgelegten syrischen Heiratsurkunde samt der von ihm vorgelegten Übersetzung dieser Urkunde in die deutsche Sprache, dem vom BF im Asylverfahren vorgelegten Auszug aus dem syrischen Familienregister samt der von ihm vorgelegten Übersetzung in die deutsche Sprache, die seine Identität bestätigen, des angefochtenen Bescheides des BFA vom 27.01.2023, Zl. 1286582105/211486289, der gegen diesen Bescheid eingebrachten Beschwerde vom 21.02.2023, der Einsichtnahme in die Bezug habenden Verfahrensunterlagen des BFA, einer Berücksichtigung der UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der arabischen Republik Syrien fliehen vom März 2021, des Berichtes des Danish Immigration Service – Country of origin information – Syria – Military recruitment in Hasakah Governorate vom Juni 2022, der Anfragebeantwortung von ACCORD – Syrien - Höchstalter für die Wehrpflicht im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet vom 05.08.2022, des EUAA-Berichtes zu Syria: security situation vom September 2022, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien vom 14.10.2022, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB) vom 14.10.2022, des EUAA – Leitfaden Syrien vom Februar 2023, einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Frage der Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus, etc. vom 20.03.2023, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation - Türkei / Syrien - Einreise türkisch-syrische Grenze, Weiterreise in AANES Gebiete, besonders Tal Rifaat vom 05.04.2023, des aktuellsten Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022 (aus dem COI-CMS – Version 8), einer Einsichtnahme in das Strafregister des Beschwerdeführers, der vom Beschwerdeführer dem BVwG im Wege der BBU am 15.05.2023 vorgelegten zwei Schriftstücke samt den vom BF vorgelegten Übersetzungen in die deutsche Sprache und den Ergebnissen der am 17.04.2023 bzw. am 15.06.2023 im BVwG durchgeführten Beschwerdeverhandlung, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX im Gouvernement al Hasaka in Syrien geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Arabisch.
Er besuchte in Syrien acht Jahre eine Grundschule und war in Syrien zuletzt als Chauffeur tätig.
Der Beschwerdeführer heiratete am 06.06.2015. Er ist verheiratet und Vater von einer minderjährigen Tochter und von drei minderjährigen Söhnen, die sich auch aktuell in Dashisha Margada aufhalten.
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2010 von der syrischen Armee gemustert, leistete in Syrien bislang jedoch keinen Wehrdienst ab.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Am 01.08.2021 verließ der Beschwerdeführer sein Herkunftsgebiet in Syrien und reiste schlepperunterstützt bis nach Österreich, wo er am 08.10.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus seinem syrischen Herkunftsgebiet Dashisha Margada war der BF ca. 29 ½ Jahre alt. Der BF selbst hat (abgesehen von einer einzigen vom BF erzählten verbalen Aufforderung im Jahr 2019) von keinen tatsächlichen Rekrutierungs- oder Zwangsrekrutierungsversuchen von einer Konfliktpartei des in Syrien stattfindenden Bürgerkrieges mit vielen Konfliktparteien berichtet, obwohl er sich vor seiner Ausreise aus Syrien mehr als zehn Jahre lang im wehrpflichtigen Alter in Syrien aufgehalten hat.
1.2.2. Der BF verließ sein Herkunftsgebiet Dashisha Margada nach eigenen Angaben aus Furcht in Syrien als Soldat seinen Wehrdienst ableisten zu müssen. Diese Furcht stellt sich jedoch als weitgehend unbegründet dar, bzw. kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuell vom syrischen Assad-Regime oder von kurdischen Milizen zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen werden würde und in diesem Zusammenhang eine asylrelevante Verfolgungsgefahr zu gewärtigen hätte.
1.2.3. Die Herkunftsregion Dashisha Margada steht aktuell unter ausschließlicher Kontrolle durch kurdische Milizen. Die Grenze zum Gebiet, in dem ausschließlich das syrische Assad-Regime die Kontrolle hat, befindet sich ca. 120 km entfernt von Dashisha Margada in südlicher Richtung.
Das syrische Assad-Regime unterhält in Dashisha Margada oder in unmittelbarer Umgebung von Dashisha Margada keine Enklaven oder Kontrollpunkte, die – so wie bei Al Hasaka oder bei Qamishli – vom syrischen Assad-Regime kontrolliert werden (Anfragebeantwortung von ACCORD zu Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2] vom 02.06.2023).
1.2.4. In Syrien besteht ein verpflichtendes Wehr- und Reservedienstalter für männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 42 Jahren. Der nunmehr 31-jährige Beschwerdeführer hat in Syrien bislang keinen Wehrdienst abgeleistet.
Es sind keine Berichte bekannt, wonach das syrische Assad-Regime im Herkunftsgebiet Dashisha Margada dort befindliche wehrpflichtige syrische Männer für die syrische Assad-Armee rekrutiert bzw. zwangsweise rekrutiert.
Damit besteht bei einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsgebiet Dashisha Margada in Syrien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, vom syrischen Assad-Regime verfolgt, rekrutiert oder zwangsrekrutiert zu werden. Damit besteht für den BF bei einer Rückkehr nach Dashisha Margada in Syrien keine Gefahr vom syrischen Assad-Regime asylrelevant verfolgt zu werden (insbesondere auch Anfragebeantwortung von ACCORD zu Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2] vom 02.06.2023, Seite 4f).
1.2.5. Mit Stand Juni 2022 ist im von kurdischen kontrollierten Milizen Teil Nord- bzw. Nordost-Syriens das Dekret Nr. 3 vom 04.09.2021 weiterhin in Kraft, welches Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (geboren 1998 oder später) zum "Wehrdienst" in der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ verpflichtet. Das Alter ist nun in allen betreffenden Gebieten dasselbe, während es zuvor je nach Gebiet variierte. Vor dem Dekret Nr. 3 war auch das Alterslimit höher - bis 40 Jahre. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war.
Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht", so wird die Wehrpflicht im kurdisch kontrollierten Teil Syriens bezeichnet, erfolgen durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim Büro für Selbstverteidigungspflicht ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des "Wehrdiensts" dokumentiert wird - z.B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird.
In allen von der AANES verwalteten Regionen ist die kurdische Wehrpflicht obligatorisch. Die „Pflicht zur Selbstverteidigung“ gilt für alle ursprünglichen Einwohner Nordost-Syriens, die innerhalb der Grenzen der AANES leben. Alle Ethnien und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktumeen) müssen den „Selbstverteidigungsdienst“ leisten.
Araber wurden zunächst nicht zum Dienst herangezogen. Dies hat sich jedoch seit 2020 schrittweise geändert. Es gibt jedoch Gebiete, in denen Proteste zu einer vorübergehenden Aussetzung der Pflicht geführt haben.
Angesichts des Alters des BF mit 31 Jahren fällt der Beschwerdeführer nicht mehr unter die kurdische Selbstverteidigungspflicht. Das bedeutet, dass das erkennende Gericht nicht davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer als 31jähriger Rückkehrer in sein Herkunftsgebiet Dashisha Margada aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei kurdischen Milizen seinen Wehrdienst ableisten müsste und dazu gezwungen werden würde bzw. in diesem Zusammenhang von kurdischen Milizen einer damit verbundenen asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre.
1.2.6. Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Syrien nicht aus politischen Gründen asylrelevant von den Kurden verfolgt werden, weil diese die Auffassung vertreten würden, dass sich der Beschwerdeführer im von der Freien Syrischen Armee kontrollierten Gebiet Nordsyriens oder im vom türkischen Militär oder mit diesem verbündeten syrischen Milizen kontrollierten Teil Nordsyriens aufgehalten hat, und dort auf Seiten der Freien Syrischen Armee oder von sonstigen syrischen Milizen insbesondere gegen kurdische Milizen gekämpft hat oder für diese gegen kurdische Interessen militärisch aktiv gewesen ist. Der Beschwerdeführer würde auch nicht deswegen, weil er mit einem Schlepper, der sich in Nordsyrien aufgehalten hat, und der dem Beschwerdeführer in weiterer Folge eine illegale Ausreise aus Syrien ermöglicht hat, telefonisch in Kontakt gestanden ist, bei einer Rückkehr nach Syrien in seinen Herkunftsort Dashisha Margada mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Kurden asylrelevant verfolgt werden.
1.2.7. Der Beschwerdeführer hat gegenüber dem erkennenden Gericht nicht glaubhaft gemacht, dass sein Onkel deswegen festgenommen, zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt wurde und zwischenzeitig auch inhaftiert wurde, weil er vom BF eine Telefonnummer eines Schleppers, der ihm die illegale Einreise in die Türkei ermöglicht hat, erhalten hat.
1.2.8. Der Beschwerdeführer vermochte auch nicht glaubhaft machen, dass er von kurdischen Milizen überall gesucht werden würde bzw. dass tatsächlich ein realer auf realen Fakten basierender Suchbefehl betreffend den Beschwerdeführer im von kurdischen Milizen kontrollierten Teil Syriens existent ist. Beim vom BF im Wege der BBU am 15.05.2023 vorgelegten „Suchbefehl“ handelt es sich entweder um eine Fälschung oder ein Gefälligkeitsschreiben.
1.2.9. Damit wird zusammengefasst ausgeführt, dass sich in der gegenständlichen Angelegenheit nicht festgestellt werden kann, dass aktuell der BF bei einer Rückkehr in sein syrisches Herkunftsgebiet As Suwar mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr, im Besonderen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr, die auf einem in der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltenen Konventionsgrund beruht, ausgesetzt wäre oder eine solche Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
„[…]
Politische Lage:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.01.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 25.02.2019). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba’athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer anderer religiöser Minderheiten. In der Praxis hängt der politische Zugang nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten (FH 24.02.2022).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen („Shabiha“). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018).
Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016). Ein Ende der Kampfhandlungen in Syrien ist nicht in Sicht. Der Konflikt ist eingefroren, das Land ist geteilt. Dank russischer Unterstützung hat Machthaber Bashar al-Assad seine Macht wieder gefestigt, auch wenn seine Truppen nur einen Teil des Landes – die Rede ist von rund zwei Dritteln – kontrollieren (DF 16.11.2022).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba’ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba’ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige. Die syrische Verfassung stellt auch sicher, dass die Ba’ath-Partei die Mehrheit in allen Regierungsgremien und Vereinigungen der Bevölkerung, wie Arbeiter- und Frauenorganisationen, hat (USDOS 12.04.2022). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft in Frage stellen könnten (FH 24.02.2022). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch Verfassung und bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich. Durch diese Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.11.2021).
Ausländische Akteure wie Iran, Russland und die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den vom Regime kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik häufig den von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen oder der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) untergeordnet (FH 24.02.2022).
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Ausländische Akteure wie Iran, Russland und die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den vom Regime kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik häufig den von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen oder der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) untergeordnet (FH 24.02.2022).
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Exkurs zur aktuellsten Lage in der türkisch-syrischen Grenzregion:
Am 06.02.2023 war das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien von einem heftigen Erdbeben betroffen. Die Epizentren dieser Beben befanden sich auf türkischem Territorien nördlich von Syrien, jedoch mit großen Auswirkungen auch für Nordsyrien. Die türkisch-syrische Grenzregion, insbesondere die Provinz Idlib und das Governement Aleppo sind davon massiv betroffen. Es gab mehr als 50.000 Todesopfer beidseits der Grenze zu beklagen. Angesichts der politischen Situation kam es zu großen Verzögerung bei internationaler Hilfe. Insbesondere das von der freien syrischen Armee gehaltene Gebiet um Idlib und der von kurdischen Milizen kontrollierte Nordosten Syriens konnte nur sehr schwer erreicht werden. Hilfe erreicht diese Gebiete – wenn überhaupt – nur zögerlich und kam in vielen Fällen daher zu spät. Der Zugang nach Idlib wurde vom Assad-Regime in Damaskus behindert, während der Zugang zum kurdischen Nordosten Syriens auch sehr aktiv von der türkischen Erdogan-Regierung beeinträchtigt wurde. Nach internationaler Berichtslage kam es insbesondere im kurdischen Teil Syriens auch nach dem Erdbeben zu Gefechten zwischen kurdischen und türkischen Einheiten und zu Bombardierungen kurdischer und syrischer Stellungen durch türkische Luftstreitkräfte.
Im Mai 2022 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei erwäge eine Militäroperation zur Ausweitung der türkisch kontrollierten Gebiete in Syrien, um dem Einfluss der YPG entgegenzuwirken (CRS 08.11.2022; vgl. HRW 17.08.2022). Erdogan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vgl. RND 27.11.2022; vgl. HRW 17.08.2022). Zuletzt konzentrierte er seine Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Kobanê als Symbol des Widerstandes des kurdischen Selbstverwaltungsgebiets (auch Rojava) steht im Fokus der türkischen Angriffe. Dörfer und das Zentrum von Kobanê werden immer wieder attackiert (ANF 29.11.2022).
Am 20.11.2022, eine Woche nach einem Bombenanschlag in Istanbul am 13.11.2022, bei dem sechs Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden (OSES 29.11.2022; vgl. AW 30.11.2022, AJ 22.11.2022), startete die Türkei die sogenannte "Claw-Sword Air Operation". Die Regierung in Ankara macht die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG für den Anschlag verantwortlich. Sowohl PKK als auch YPG und die Demokratischen Kräfte Syriens, die wichtigste Bodentruppe im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens, haben eine Beteiligung an dem Bombenanschlag in Istanbul bestritten (HRW 07.12.2022; vgl. DZ 20.11.2022; OSES 29.11.2022). Als Vergeltungsmaßnahme hat das türkische Militär eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak geflogen (AW 30.11.2022; vgl. AJ 22.11.2022). Eine Bodenoffensive werde "zu gegebener Zeit" beginnen, so Erdoğan. Es wäre die vierte Militäroperation in Nordsyrien, wo die Türkei mit den Invasionen von 2016, 2018 und 2019 die YPG aus der Grenzregion zurückgedrängt hat und große Landstriche besetzt hält. Auf diese Weise will Ankara die YPG eindämmen. Zugleich erhofft sich die Türkei, syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei in dieser Region anzusiedeln (RND 27.11.2022). Seit dem 19.11.2022 attackiert die türkische Armee das kurdische Selbstverwaltungsgebiet mit Kampfbombern, Artillerie und Drohnen. Dabei sind Dutzende Zivilisten und Mitglieder der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Außerdem wurden mehr als zwanzig Soldaten des Assad-Regimes getötet (ANF 29.11.2022). Die kurdische Miliz SDF teilten mit, türkische Flugzeuge hätten bei den Angriffen auch zwei Dörfer mit Binnenflüchtlingen in Nordsyrien unter Beschuss genommen. Die türkischen Angriffe hätten außerdem zivile Infrastruktur zerstört, darunter Getreidesilos, ein Kraftwerk und ein Krankenhaus. Türkischen Angaben hingegen zufolge handle es sich bei den zerstörten Zielen um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots. Die SDF im Norden Syriens hat Vergeltung für türkische Luftangriffe auf ihre Stellungen angekündigt (DZ 20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53 000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 07.12.2022). Die verstärkten Militäraktionen in Teilen des Nordwestens und Nordostens Syriens haben die Angst vor einem weiteren Ausbruch des Konflikts geweckt, der sich auf bewohnte Zivilgebiete und überfüllte humanitäre Einrichtungen auswirken könnte. In ganz Nordsyrien wurden Berichten zufolge Zivilisten verletzt und wichtige zivile Infrastrukturen beschädigt, wodurch der Zugang der Menschen zu lebenswichtigen Gütern wie Strom und Wasser gefährdet ist (SIRF 01.12.2022; vgl. HRW 07.12.2022).
Die USA, Russland und Iran haben öffentlich vor einem weiteren türkischen Einmarsch in Nordostsyrien gewarnt (HRW 17.08.2022). Die USA haben zur "sofortigen Deeskalation" aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vgl. USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdoğan zumindest die Duldung Moskaus. Putins Syrien-Beauftragter Alexander Lawrentjew forderte die Türkei auf, "von exzessiver Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen" (RND 27.11.2022). Am 30.11.2022 verlegte Russland Truppenverstärkungen in ein Gebiet in Nordsyrien, das von kurdischen Kämpfern und Regierungstruppen kontrolliert wird, wie Anwohner und ein Kriegsbeobachter sagten. Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) erklärte, Russland verstärke seine Truppen auf einem von der Regierung kontrollierten Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Tal Rifa'at (AN 30.11.2022).
Im Mai 2023 fanden in der Türkei Parlaments- und die Präsidentschaftswahl statt, bei der in einem zweiten Wahlgang der bisherige Staatspräsident Erdogan wieder, wenn auch nur knapp als Wahlsieger hervorging. Damit ist zu befürchten, dass die Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und dem von Kurden kontrollierten Teil Nord- bzw. Nordostsyriens weitergehen und neuerlich eskalieren, zumal Erdogan seine Forderung eines 30 km breiten Landstreifens auf syrischem Boden entlang der gesamten Grenze zwischen der Türkei und Syrien, der von türkischen Streitkräften kontrolliert wird, bislang nicht durchsetzen konnte, um derart eine Staatsbildung eines eigenständigen Kurdistans bzw. türkische Gebiets- und Einflussverluste zu verhindern.
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 09.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens, die als "Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı") bekannt wurde. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des IS kommt (TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB 01.10.2021).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP 15.10.2019). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021).
Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 01.01.2020; vgl. AA 19.05.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.05.2020).
Ein nach einer neuerlichen Eskalation Ende Februar/Anfang März 2021 zwischen den Präsidenten Erdogan und Putin vereinbarter Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation. Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den erwähnten Konfliktparteien (ÖB 01.10.2021). Im Juli 2021 erlebten die Orte in Nordwest-Syrien und in den Gebieten Ra's al-'Ayn and Tell Abyad die größte Eskalation seit Beginn des Waffenstillstands im März 2020. Durch Beschuss wurden im Juli 2021 mindestens 42 Zivilisten, davon sieben Frauen und 27 Kinder getötet und zumindest 89 Zivilisten (davon 15 Frauen und 36 Kinder) verletzt (UNOCHA 7.2021). In den Regionen Afrin und Ra's al-'Ayn in Aleppo werden improvisierte Sprengsätze an Fahrzeugen (VBIEDs) häufig in frequentierten zivilen Gebieten wie Märkten und belebten Straßen gezündet. Bei sieben derartigen Angriffen wurde die Tötung und Verstümmelung von mindestens 243 Frauen, Männern und Kindern dokumentiert - die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist jedoch wesentlich höher (UNHRC 14.09.2021).
Die Türkei verstärkte ihre militärische Präsenz, u.a. in Form von Beobachtungsposten, dehnt die türkische Verwaltung auf die besetzten Gebiete in Syrien aus und errichtet auch zivile Strukturen.
In der türkischen Besatzungszone Al-Bab im Nordwesten von Syrien sind bei einem Raketenangriff auf einen Markt im August 2022 mindestens 17 Menschen getötet worden. Zudem seien 35 Menschen verletzt worden, teilte die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mit. SOHR machte Truppen des syrischen Regimes für den Angriff verantwortlich (ANF 17.08.2022). Insgesamt nahmen die Gefechte, Luftschläge und Bombardierungen im vergangenen Jahr besonders im südlichen Idlib zu (BBC 15.03.2022). Der UN-Sondergesandte für Syrien warnte bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates zu Syrien am 29.11.2022 vor der Gefahr einer militärischen Eskalation in Syrien. Dabei verwies er unter anderem auf die Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen in der letzten von Rebellen gehaltenen Hochburg im Nordwesten Idlibs (AW 30.11.2022).
Dashisha Margada das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers:
Dashisha Margada wurde im Zuge des arabischen Frühlings in Syrien, der mit Demonstrationen gegen das Assad-Regime im Jahr 2011 begann, sehr rasch von zum syrischen Assad-Regime oppositionellen Kräften übernommen, deren militärischer Arm zwischenzeitig als „Freie syrische Armee“ bezeichnet wird.
Mit Erstarken des radikalen Islams in Syrien wurde die Kontrolle über Dashisha Margada im Jahr 2013 vom Islamischen Staat (ISIS) übernommen, der seinerseits am 29.06.2014 ein islamisches Kalifat ausrief.
ISIS war in Nordsyrien von Anfang an massiven Angriffen durch Rebellen, darunter die Freie Syrische Armee (FSA) und die Islamische al Nusra-Front, ausgesetzt. Nachdem ISIS Anfang Januar 2014 einige bedeutende syrische Aktivisten in ihren Gefängnissen ermordet hatte, brachen bereits Anfang Jänner 2014 verstärkt offene Kämpfe zwischen ISIS und den Rebellen aus, denen sich immer mehr Rebellengruppen anschlossen. Mehrere Vermittlungsversuche zwischen ISIS und den Rebellen waren zuvor gescheitert.
Bereits Anfang Februar 2014 hatte ISIS unter den syrischen Rebellengruppen keinen Verbündeten mehr, insbesondere auch unter der al-Nusra-Front und der islamischen Armee. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten, YPG und YPJ (Frauenbataillone), verteidigten schon seit längerem die kurdischen Gebiete gegen Einfälle des ISIS.
Mitte August 2014 berichteten Aktivisten, dass IS-Kämpfer 700 Angehörige des regionalen Stammes der Schuʿaitat, darunter 600 Zivilisten, im Gouvernement Deir ez-Zor gefangen genommen und getötet hätten. Deir ez-Zor war damals eine von der Freien Syrische Armee besetzte Enklave in einem von ISIS kontrollierten Gebiet.
In weiterer Folge waren insbesondere kurdische Milizen mit amerikanischer Luftunterstützung bemüht das Herkunftsgebiet des BF vom Einfluss von ISIS zu befreien, was Ihnen letztlich auch im Jahr 2019 gelang. Dashisha Margada befindet sich seither unter kurdischer Kontrolle, während die Gouvernementshauptstadt Deir ez-Zor, die sich ca. 120 km südsüdwestlich entfernt von Dashisha Margada befindet, unter Kontrolle des syrischen Assad-Regimes steht. Die Stadt Deir ez-Zor befindet sich unmittelbar an der Grenze zwischen dem kurdisch kontrollierten Nordosten Syriens und dem daran südlich anschließendem Gebiet Syriens, welches vom Assad-Regime kontrolliert wird.
Angesichts des Umstandes, dass die kurdische SDF das syrische Assad-Regime nach der letzten türkischen militärischen Eskalation im Jahr 2019 im syrisch-türkischen Grenzgebiet um Unterstützung ersucht hat, ist es nicht mehr ausgeschlossen, dass auch militärische Einheiten des Assad-Regimes auf dem Weg in das syrisch-türkische Grenzgebiet auch im kurdisch kontrollierten Gouvernement Al-Hasaka und auch in den Gouvernements Deir ez-Zor und Aleppo präsent sind. Diese Präsenz führt jedoch nicht dazu, dass im von kurdischen Milizen kontrollierten Teil Nordost-Syriens überall und außerhalb von Enklaven, die vom syrischen Assad-Regime kontrolliert werden (bei Al Hasaka und bei Qamishli bzw. am Flughafen in Quamishli) dort vom Assad-Regime wehrpflichtige Männer zum syrischen Assad-Regime rekrutiert werden.
Gebietskontrolle:
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden. Diese jüngste Phase der Deeskalation ist jedoch von Natur aus unbeständig und konnte vor allem dank des fragilen russisch-türkischen Bündnisses im Nordwesten Syriens und der vorübergehenden, aber immer noch andauernden US-Präsenz im Nordosten Syriens aufrechterhalten werden. Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (IPS 20.05.2022). Vor allem Teile des Nordens, Nordwestens und Nordostens Syriens befinden sich weiterhin außerhalb der Kontrolle der Regierung (OHCHR 28.06.2022).
Am Syrienkonflikt ist eine Vielzahl von Akteure beteiligt (IL 12.08.2022). Die Präsenz ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Akteure vor Ort zu kontrollieren (BS 29.04.2020). Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) sind nicht in der Lage, Gebiete von der Türkei zurückzuerobern. Die Amerikaner, Russen, Israelis und Iraner akzeptieren die derzeitige Pattsituation (MEI 26.04.2022). Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach legitimen Positionen zu streben (BS 29.04.2020). Das Regime hat zwei Lehren aus dem Konflikt gezogen: Widerspruch mit allen Mitteln niederzuschlagen und verschiedene Akteure gegeneinander auszuspielen, um an der Macht zu bleiben. Aber diese Taktik bringt nicht wirkliche Stabilität oder Sicherheit. Ein permanenter Kampf um ein Minimum an Kontrolle inmitten eines sich verschlechternden sozioökonomischen Umfelds, in dem seine Souveränität von internen und externen Akteuren infrage gestellt wird, ist die Folge (BS 23.02.2022).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) dominiert (MEI 26.04.2022). Die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen (BS 23.02.2022).
Der Islamische Staat (IS) wurde im März 2019 aus seinem Gebiet in Syrien zurückgedrängt, nachdem kurdische Kräfte seine letzte Hochburg erobert hatten (FH 04.03.2020). Im Nordosten aber auch in anderen Teilen des Landes verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 01.10.2021).
Nordost-Syrien:
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, 'Ain al-'Arab (Kobane) und die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS 04.12.2018). 2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022).
Der militärische Arm der PYD, die YPG, ist die dominierende Kraft innerhalb des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet "belohnt" zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 04.12.2018a). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 12.04.2022). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung (Syrian Democratic Council; politischer Arm der SDF) und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren. Die Zusammenarbeit auf technischer Ebene resp. der Güteraustausch (Raffinierung/Kauf von Erdöl; Aufkauf von Weizen) hat sich auch verkompliziert (ÖB 01.10.2021). Im Juni 2022 erklärte Präsident Erdoğan, dass eine neue türkische Militäroperation geplant sei, die sich gegen Gebiete an der syrisch-türkischen Grenze wie Kobane ('Ayn al-'Arab), Tal Rifa'at und Manbij richten würde, die von den kurdisch SDF kontrolliert werden (AJ 18.11.2022).
Das syrische Regime, die HTS und andere bewaffnete Gruppen in Idlib sowie die PYD in ihren Regionen haben autoritäre Systeme beibehalten oder aufgebaut. Dabei setzt das Regime am meisten und die PYD am wenigsten auf gewaltsame Unterdrückung zur Machterhaltung. Doch selbst im günstigsten Fall sind die Möglichkeiten der Bürger, ihren Interessen Gehör zu verschaffen, stark eingeschränkt (BS 23.02.2022). Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 04.12.2018). Die kurdischen Führungskräfte der YPG erklären, ihr Ziel sei die regionale Autonomie innerhalb eines dezentralisierten Syriens, nicht die Unabhängigkeit (Reuters 14.11.2022). Die PYD ist weniger gewalttätig in ihrer Repression, übt aber eine strikte Kontrolle in ihrem Einflussbereich aus. Während die kurdische Verfassung demokratisch ist, trägt die Herrschaft der PYD starke autoritäre Züge; der politische Wettbewerb ist nicht offen, sondern wird sorgfältig kontrolliert (BS 23.02.2022). Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP (Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak) nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der Democratic Union Party (PYD), welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 01.10.2021). Die Türkei betrachtet die YPG als syrischen Ableger der PKK. Obwohl die USA und die EU die PKK als Terrororganisation betrachten, betrachten sie die YPG als eine eigenständige Organisation und führen sie nicht auf ihren Terrorlisten (SWP 30.05.2022).
Sicherheitslage:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Es ist zu beachten, dass die durch die türkischen Offensiven im Nordosten ausgelöste Dynamik verlässliche grundsätzliche Aussagen und Trendeinschätzungen schwierig macht. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB 01.10.2021).
Die folgenden Karten zeigen Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien:
Quelle: CC 03.11.2022 mit Stand 30.09.2022
Quelle: UNHRC 14.09.2022 (mit Stand 6.2022)
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 04.12.2018). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.04.2016). Militärisch kontrolliert das syrische Regime den Großteil des Landes mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die andauernde und massive militärische Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten des Irans bzw. durch von Iran unterstützte Milizen einschließlich Hizbollah, der bewaffnete oppositionelle Kräfte wenig entgegensetzen können. Die Streitkräfte des Regimes selbst sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.11.2021). Das Wiederaufflammen der Kämpfe und die Rückkehr der Gewalt geben laut UNHRC (UN Human Rights Council) Anlass zur Sorge. Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.09.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen hat am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat vor den besorgniserregenden und gefährlichen Entwicklungen in Syrien gewarnt. Dabei wies er insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022).
Die Unabhängige internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Arabische Republik Syrien stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien, die sie als "Operation Claw-Sword" bezeichnet und die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielt, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße getroffen hat (HRW 07.12.2022). Die Türkei hat seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien gestartet (France24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 07.12.2022).
Im Nordwesten Syriens führte das Vordringen der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen. Russland verstärkte seine Luftangriffe in Idlib, und die Türkei griff kurdische und Regimekräfte an. Russland setzte die Bombardierungen in der Provinz Idlib am 7., 11. und 17.10.2022 fort und belastete damit den Waffenstillstand vom März 2020 (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Quelle: Zenith 11.02.2022
Mittlerweile leben 66 % der Bevölkerung wieder in den von der Regierung kontrollierten Territorien (ÖB 01.10.2021). Mehr als zwei Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung leben in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes. Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte HTS sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und ihr nahestehender bewaffneter Gruppierungen in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten SDF und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes. Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex, die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren (AA 29.11.2021).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen des Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.01.2022). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
In weiten Teilen des Landeseine besteht eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. Laut der COI gab es in Afrin und Ra's al-'Ayn zwischen Juli 2020 und Juni 2021 zahlreiche Sicherheitsvorfälle durch Sprengkörper und Sprengfallen (u.a. IEDs), die häufig an belebten Orten detonierten und bei denen mindestens 243 Zivilisten ums Leben kamen. Laut dem UN Humanitarian Needs Overview von 2020 sind in Syrien 11,5 Mio. Menschen der Gefahr durch Minen und Fundmunition ausgesetzt. 43 % der besiedelten Gebiete Syriens gelten als kontaminiert. Ca. 25 % der dokumentierten Opfer durch Minenexplosionen waren Kinder. UNMAS (United Nations Mine Action Service) hat insgesamt bislang mehr als 12.000 Opfer erfasst. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zor sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Trotz eines "Memorandum of Understanding" zwischen der zuständigen UNMAS und Syrien behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und -Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.11.2021).
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Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
Mit Stand Dezember 2022 befinden sich die Gouvernorate al-Hassakah und Ar-Raqqa sowie Teile von Deir Ez-Zor nördlich des Flusses Euphrat und Teile des Gouvernements Aleppo um Manbij und Kobanê sowie das Gebiet um Tal Rifa'at unter der Kontrolle der kurdisch geführten SDF [Anm.: Syrian Democratic Forces - Syrische Demokratischen Kräfte der selbsternannten Selbstverwaltungsregion, auch Autonomous Administration of North and East Syria - AANES] (Liveuamap Stand 02.12.2022).
Die folgende Karte zeigt die Machtverhältnisse in der Region mit Stand 02.12.2022:
Quelle: Liveuamap 02.12.2022
Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 02.10.2020). Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB 01.10.2021; vgl. AA 29.11.2021; JsF 09.09.2022). Am 04.09.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 09.09.2022). Die kurdischen, sogenannten "Selbstverteidigungseinheiten" (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien vorgehen. Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).
Nach wie vor kommt es trotz der am 22.10.2019 in Sotschi zwischen Russland und der Türkei vereinbarten Waffenruhe immer wieder zu lokalen Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen am Rande der türkisch kontrollierten Zone zwischen pro-türkischen Milizen und Einheiten der SDF, insbesondere an den Rändern der türkisch kontrollierten Zone im Raum um Tal Tamar rund 30 km südlich von Ra's al-'Ayn sowie südlich von Tal Abyad (AA 29.11.2021; vgl. USDOD 04.11.2021). Die "Deeskalationszone", die sich von den nordöstlichen Bergen von Latakia bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft, wurde nach einem Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan am 05.03.2020 mit einer Waffenruhe belegt. In der Region ist es jedoch zu einer spürbaren Eskalation der Militäroperationen durch russische und regimetreue Kräfte und den ihnen nahestehenden Milizen gekommen, einschließlich des täglichen Bombardements mit Dutzenden von Raketen und Artilleriegranaten und russischen Luftangriffen, die alle zu erheblichen menschlichen Verlusten und Sachschäden geführt haben (SOHR 02.12.2022).
Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der "Syrian National Army" (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB 01.10.2021). Seit Mai 2022 droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit einer zusätzlichen militärischen Bodenoperation im Nordosten Syriens, welche die Städte Tel Rifa'at und Manbij im Gouvernement Aleppo zum Ziel hat (HRW 17.08.2022; vgl. CC 03.11.2022). Dieser geplante Einmarsch wäre ein weiterer in einer Serie seit 2016 (HRW 17.08.2022). Die von Präsident Erdoğan ankündigte Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien gegen das Selbstverwaltungsgebiet (auch Rojava) ist laut Einschätzung des IFK (Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement) "weiterhin möglich": "Im Gegensatz zu früheren Operationen (z.B. Afrin 2018) dürfte dieses Mal aber die Existenz „Rojavas“ auf dem Spiel stehen" (IFK 8.2022). Auch das Risiko terroristischer Anschläge, insbesondere, aber nicht ausschließlich durch Untergrundgruppen des IS bleibt in Nordostsyrien sehr hoch (AA 29.11.2021).
Auf folgender Karte ist das Konfliktgeschehen zwischen Türkei und SDF für den Zeitraum 01.07.2022 bis 30.09.2022 auf Basis von ACLED-Daten verortet:
Quelle: CC 03.11.2022 (Daten von The Carter Center und ACLED)
ACLED registrierte im dritten Quartal 2022 270 Konfliktfälle zwischen verschiedenen kurdischen bewaffneten Gruppen und türkischen Streitkräften oder von der Türkei unterstützten Oppositionsgruppen. Dies ist ein Rückgang um 30 % im Vergleich zum letzten Quartal. Der Rückgang erfolgte trotz der Rhetorik und der Besorgnis über einen neuen türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Die Zahl der türkischen Drohnenangriffe ist weitgehend gleich geblieben (28 Ereignisse im zweiten Quartal und 29 im dritten Quartal). Die Angriffe beschränkten sich jedoch nicht mehr auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfinden; im Juli und August 2022 schlugen türkische Drohnen auf Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobani, Tell Abyad, Ar-Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und al-Hassakah (CC 03.11.2022).
SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Ar-Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS gewesen (PBS 22.02.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Die Entwicklungen im Nordosten haben bis dato noch nicht zu dem befürchteten, großflächigen Wiedererstarken des IS geführt (ÖB 01.10.2021), allerdings führt der IS weiterhin militärische Operationen und Gegenangriffe durch und IS-Zellen sind nach wie vor in der Lage, ein Sicherheitsvakuum zu nutzen und Attentate zu verüben (SOHR 29.11.2022).
Die SDF leiteten mit Unterstützung der internationalen Koalition gegen den IS regelmäßige Sicherheitskampagnen ein (SOHR 29.11.2022; vgl. UNHRC 14.09.2022), die sich gegen IS-Zellen und Personen richteten, die beschuldigt wurden, mit diesen Zellen zu verkehren (SOHR 26.12.2021; vgl. USDOD 04.11.2021). Im Nordosten, aber auch in anderen Teilen des Landes, verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 01.10.2021; vgl. ICG 18.11.2021, COAR 28.05.2021) und Einrichtungen der Selbstverwaltung (COAR 28.05.2021). Es wurde auch von Angriffen auf Mitarbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021). SOHR hat seit Anfang 2022 181 Operationen des IS, darunter bewaffnete Angriffe und Explosionen, in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung dokumentiert. Laut Statistiken des SOHR wurden bei diesen Operationen 135 Menschen getötet, darunter 52 Zivilisten und 82 Angehörige der SDF, der Inneren Sicherheitskräfte und anderer militärischer Formationen, die in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung operierten. Bei diesen Angriffen wurde der Angriff auf das Sina'a-Gefängnis in al-Hassakah nicht berücksichtigt, bei dem es zu schweren Verlusten kam (SOHR 29.11.2022).
Am 20.01.2022 griffen Kämpfer des IS das Sina'a-Gefängnis in al-Hassakah an (ANI 26.01.2022). Im Sina'a-Gefängnis befanden sich geschätzte 3.500 inhaftierte IS-Kämpfer wie auch rund 700 Minderjährige, darunter 150 ausländische Staatsbürger, die von ihren Eltern in das selbsternannte Kalifat gebracht worden waren. Vertreter der SDF gaben an, dass IS-Kämpfer, die sich in einem Teil des Gefängnisses verschanzt hatten, Minderjährige als menschliche Schutzschilde verwendeten (NYT 25.01.2022). Bei den meisten Gefangenen handelte es sich um prominente IS-Anführer, die in den vergangenen Jahren administrative und militärische Positionen in den vom IS kontrollierten Gebieten in Syrien innegehabt hatten (AM 26.01.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (AJ 26.01.2022).
Der Angriff löste tödliche Zusammenstöße zwischen den SDF und den IS-Kämpfern aus. Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten und Geiseln nahmen (ANI 26.01.2022). Die Kämpfe zwischen der von den USA unterstützten kurdisch geführten Miliz und IS-Kämpfern weiteten sich auf Stadtteile rund um das Gefängnis im Nordosten Syriens aus (NYT 25.01.2022). In fast allen Vierteln rund um das Gefängnis kam es zu Zusammenstößen (UNHRC 14.09.2022). US-Truppen begannen am 24.01.2022, aus der Luft und auch am Boden einzugreifen. US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das (vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte (NYT 25.01.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000 Einwohner von al-Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.01.2022; vgl. NYT 25.01.2022, EUAA 9.2022). Während der Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS. In den zehn Tagen andauernden Gefechten starben laut SDF über 500 Menschen, Dreiviertel davon IS-Kämpfer (TWP 24.02.2022). Die geflohenen Bewohner durften danach zurückkehren, wobei es jedoch auch im Zuge der Kampfhandlungen und der Suche nach verschanzten IS-Kämpfern zu Zerstörungen von Privathäusern und Geschäften gekommen war (MPF 08.02.2022). Der Angriff auf das Sina'a-Gefängnis ist eine deutliche Erinnerung an die Bedrohung, die vom IS im Nordosten Syriens noch immer ausgeht, und an die Verwundbarkeit der dort lebenden Zivilisten (OHCHR 18.11.2022).
Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft wurden, erfolgte die Aktion in al-Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe, während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nutzt dabei besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens aus, z.B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung zusammenarbeiteten (TWP 24.02.2022). Das Ausüben von koordinierten und ausgeklügelten Anschlägen in Syrien und im Irak wird von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation als Indiz dafür gesehen, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.01.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS in letzter Zeit im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert. Am 28.09.2022 gaben die SDF bekannt, dass sie eines der größten Waffenverstecke des IS seit Anfang 2019 erobert haben. Sowohl die Größe des Fundes als auch sein Standort sind ein Beleg für die wachsende Bedrohung, die der IS im Nordosten Syriens darstellt (TWI 12.10.2022). Laut dem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli 2022 sind einige der Mitgliedstaaten der Meinung, dass der IS seine Ausbildungsaktivitäten, die zuvor eingeschränkt worden waren, insbesondere in der Wüste Badiya wieder aufgenommen habe (EUAA 9.2022).
Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davon in al-Hol (ÖB 01.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 07.11.2022), auch aus Österreich (ÖB 01.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.02.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten. Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt und es ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden. 64 % der Bewohner von al-Hol sind Kinder (MSF 07.11.2022), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 05.05.2022; vgl. MSF 11.2022). Im Jahr 2021 war die häufigste Todesursache in al-Hol, mit 38 % aller Todesfälle im Lager, der Tod im Zusammenhang mit Straftaten. Laut Ärzte ohne Grenzen wurden zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen in dem Lager auch 30 Mordversuche gemeldet (MSF 11.2022). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 06.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Flüchtlingslagers al-Hol ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination des IS und andere Aktivitäten begünstigt. Die SDF sahen sich gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager in Nordsyrien abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 03.12.2022).
Auf der folgenden Karte sind die militärischen Akteure der Region wie auch militärische und infrastrukturelle Maßnahmen, welche zur Absicherung der kurdischen "Selbstverwaltung" (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) nötig wären, eingezeichnet:
Quelle: TWI 15.03.2022
Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.02.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.03.2022). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (ES 30.06.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem wurde gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.08.2021) sowie steigende Treibstoffpreise protestiert (AM 30.05.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement al-Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.08.2021; vgl. AM 30.05.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Die Gefahr eines türkischen Angriffs droht ständig an der Grenze, und obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.03.2022).
Provinz Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zor fast vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands und Irans größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-Zor führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der Westseite des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic Forces (SDF) bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte damals noch ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) eingenommen (EASO 5.2020; vgl. DZ 24.03.2019). Mehr als 70.000 Flüchtlinge aus dem IS-Gebiet sind in dem von Kurden kontrollierten Lager al-Hol untergekommen, wo Hilfsorganisationen von einer dramatischen humanitären Lage berichten (DZ 24.03.2019; vgl. USIP 11.05.2022).
Das Gouvernement Deir ez-Zor ist grob in zwei Kontrollbereiche unterteilt. Der westliche Teil des Gouvernements - d.h. vor allem die Gebiete westlich des Euphrat - wird von der syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten kontrolliert. Dieses Gebiet umfasst die wichtigsten Städte (Deir Ez-Zor, Mayadin und Al-Bukamal) und die logistische Route, die die von der Regierung kontrollierten Gebiete mit der syrisch-irakischen Grenze verbindet. Der östliche Teil des Gouvernements - die meisten Gebiete östlich des Euphrat - wird von den kurdisch dominierten SDF und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition kontrolliert (EUAA 9.2022; vgl. JfS 06.01.2021). Da die SDF ihre Einflusssphären in der Region von der östlichen Seite her bis zum Euphrat ausdehnten, ist das al-Omar-Feld nun als die größte US-Militärbasis in Syrien bekannt. Das Feld im Osten von Deir ez-Zor ist das größte Ölfeld in Syrien (EB 23.09.2022; vgl. EUAA 9.2022).
Die Bemühungen der Regierung Syriens in den 2017 vom IS zurückeroberten Gebieten die Kontrolle zu übernehmen, sind begrenzt, was der lokalen regierungsfreundlichen Miliz, den Nationalen Verteidigungskräften (NDF), freie Hand ließ und zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen führte, darunter Plünderungen und die gewaltsame Aneignung von zivilem Eigentum (WI 04.09.2020). Das vom Regime kontrollierte Deir ez-Zor wird von einem komplizierten Geflecht lokaler und nicht-lokaler Sicherheitskräfte bewacht, von denen viele auch wichtige soziale und wirtschaftliche Funktionen in ihren Städten erfüllen. Stammesmilizen, die mit den NDF verbündet sind, Geheimdienstoffiziere und ihre Milizen, Freiwillige und Wehrpflichtige der Republikanischen Garde und der Syrischen Arabischen Armee (SAA) aus dem Westen sowie eine Vielzahl ausländischer und syrischer Milizen, die unter anderem mit Iran verbündet sind, bemannen Außenposten und verwalten Städte im gesamten Gouvernement. Die Spannungen zwischen den lokalen Sicherheitskräften und der von Damaskus aus kommandierten SAA haben in den Jahren nach der Befreiung der Provinz vom IS stetig zugenommen (MEI 19.04.2021). Nach März 2019 ist die Präsenz der syrischen Regierung in den westlichen Teilen des Gouvernements Deir Ez-Zor begrenzt geblieben, was zu iranisch-russischer Konkurrenz um Ressourcen und Land geführt hat (WI 04.09.2020).
Das Gebiet von Deir ez-Zor galt 2019 als Kerngebiet der IS-Aktivität in Syrien, vor allem die Gebiete im Süden von Bosaira in Richtung Diban (BBC 27.10.2019). Der IS konnte im Jahr 2020 seinen Aufstand und seine klandestinen Operationen geringer Intensität in Zentralsyrien ausweiten und hat im ganzen Land Hochburgen und Zufluchtsorte errichtet, auch in der ostsyrischen Wüste und im von den SDF kontrollierten Deir ez-Zor (ICCT 28.06.2022). Die IS-Bewegung hat vor allem in der Wüstenregion Badia entlang der syrischen-irakischen Grenze wieder zugenommen, was Experten zu Folge zu weiteren IS-Angriffen im Nordosten Syriens führen könnte. Der IS bedroht nach wie vor fast alle Parteien in Syrien, die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen im syrischen Konflikt und das fragile Sicherheitsumfeld haben es dem IS ermöglicht, zu wachsen und sich durch die verschiedenen Kontrollgebiete zu bewegen (CC 03.11.2022; vgl. NI 08.08.2022). Die IS-Präsenz zwischen Deir ez-Zor und Badia ist besonders hartnäckig. Die Wüste ist gebirgig und dünn besiedelt, und es hat keine systematische, anhaltende Militär- und Sicherheitskampagne gegeben, um die Kämpfer aufzuspüren, und aus diesen unmöglich zu kontrollierenden Gebieten zu vertreiben (NI 08.08.2022). In den Jahren 2020 und 2021 wurden regelmäßige Aktivitäten von Schläferzellen in den von den SDF kontrollierten Gebieten gemeldet, wobei sich die Sicherheitslage um Deir ez-Zor und in den Gebieten um Shaddadi verschlechtert hat (ICCT 28.06.2022). Das Tal des mittleren Euphrat und die Wüstengebiete im Gouvernement Deir ez-Zor werden als IS-Unterstützungsgebiet beschrieben, das seine Mitglieder nutzen können, um Sicherheitsoperationen zu umgehen und Waffen, Ausrüstung und Personal über die syrisch-irakische Grenze zu bringen (USDOD 03.11.2020).
Der IS nutzt die Gebiete in der syrischen Wüste im Gouvernement Deir ez-Zor als sicheren Zufluchtsort und als Basis für Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung und die SDF (UNSC 03.02.2021; vgl. AM 29.12.2021) sowie auf iranische Milizen und russische Streitkräfte. Auch wurde von Angriffen auf Arbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021). Die Sicherheitslage in Deir ez-Zor wird demnach durch Angriffe des IS gegen Regierungstruppen und heftigen Kämpfen mit diesen (NPA 13.11.2021; vgl. Asharq 30.08.2021, USDOS 16.12.2021) beeinträchtigt, sowie auch durch Angriffe des IS auf die SDF bzw. Operationen der SDF gegen den IS, z.T. unter Beteiligung von US-Streitkräften (MEMO 29.12.2021; vgl. K24 23.09.2021, BAMF 20.12.2021, USDOD 03.11.2021). Die Beeinträchtigung resultiert auch aus den Stammesprotesten in den von den SDF kontrollierten Teilen von Deir ez-Zor (AM 30.05.2021; vgl. AM 22.02.2021) und infolge der mit Iran zusammenhängenden Sicherheitsvorfällen (hauptsächlich US-amerikanische und israelische Luftangriffe) in den von der Regierung Syriens kontrollierten Teilen des Gouvernements (AnA 13.01.2021; vgl. ACLED 13.10.2021, AC 18.05.2021, EUAA 9.2022). Im April und Mai 2021 kam es in Deir ez-Zor zu zahlreichen Tötungen, die häufig auf IS-Aktivitäten zurückgeführt wurden (EUAA 9.2022; vgl. UNSC 17.06.2021). Die SDF führten mehrere Razzien gegen den IS durch, die sich sowohl auf das nördliche und nordöstliche als auch auf das östliche und nordwestliche Umland von Deir ez-Zor konzentrierten (EUAA 9.2022; vgl. ANHA 11.05.2021). Auch für das erste Halbjahr 2022 registrierte der UN-Sicherheitsrat eine Konzentration von IS-Aktivitäten im Gouvernement Deir ez-Zor (EUAA 9.2022; vgl. UNSC 15.07.2022). Der Osten des Gouvernements gilt als das Gebiet, in dem die Autorität der SDF am schwächsten ist (EUAA 9.2022).
Der IS hat großteils darauf verzichtet, die Verantwortung für seine Angriffe zu übernehmen, und widersprüchliche Berichte erschweren die Verifizierung von IS-Aktivitäten (CC 05.08.2022). Im dritten Quartal 2022 gab es einen Rückgang an offiziellen Meldungen bezüglich Sicherheitsvorfällen in Zusammenhang mit dem IS - 144 sicherheitsrelevante Ereignisse statt 185 im vorherigen Quartal. Allerdings wurden im September 2022 61 IS-bezogene Konfliktereignisse gemeldet, verglichen mit 34 im Juli 2022, was darauf hindeutet, dass die IS-Aktivität weiter zunehmen könnte, wenn sie nicht kontrolliert wird. Analysten argumentieren, dass sich die Gruppe ohne kontinuierliche militärische Gegenmaßnahmen neu formieren wird (CC 03.11.2022). Dass der IS nach wie vor eine widerstandsfähige Bedrohung ist, und darüber hinaus auch die Gefahr besteht, dass er nun besser in der Lage sein könnte, größere Operationen durchzuführen oder die Dynamik seiner Angriffe zu erhöhen, zeigt sich auch in den Koordinierungsbemühungen im Zusammenhang mit dem Sina'a-Anschlag vom Januar 2022 (ICCT 28.06.2022).
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Die Sicherheitslage zwischen militärischer Situation und Menschenrechtslage:
Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 % der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle woanders. Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen Schiitenmilizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.02.2021). Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Realität des Nachkriegssyriens. Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, da die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 09.05.2022). Gebiete in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021). Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021). Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen haben Berichten zufolge häufig Verstöße und Misshandlungen begangen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 12.04.2022; vgl. HRW 13.01.2022).
Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 01.12.2022; vgl. CC 03.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 01.12.2022; vgl. FH 24.02.2022). Im Oktober 2022 kam es in den vom Regime kontrollierten Gebieten zu einer alarmierenden Eskalation der Gewalt. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) dokumentierte den Tod von 161 Menschen in den vom syrischen Regime und den mit ihm verbundenen Milizen kontrollierten Gebieten (SOHR 06.11.2022). In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.02.2020). Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Sweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).
Der IS verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv; es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 01.10.2021; vgl. DIS 5.2022). Die Lage im westlichen Teil des Provinz Homs hat sich im vergangenen Jahr im Großen und Ganzen verbessert, insbesondere in städtischen Gebieten wie Homs-Stadt, wo die Sicherheitsvorfälle zurückgegangen sind. Im nördlichen Teil der Provinz wurden Spannungen und Angriffe ehemaliger Rebellengruppen auf syrische Regierungstruppen gemeldet (DIS 5.2022). Der Westen des Landes, insbesondere Tartus und Lattakia, war im Verlauf des Konflikts vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 29.11.2021; vgl. ÖB 01.10.2021). Im Hinterland von Lattakia kommt es immer wieder zu einem Übergreifen des Konflikts von Idlib aus (ÖB 01.10.2021; vgl. AA 29.11.2021). Die Streitkräfte des Regimes sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben. Trotz des absoluten Rückgangs der Anzahl von Kampfhandlungen in Folge der Rückeroberung weiter Landesteile ist nicht von einer nachhaltigen Befriedung des Landes auszugehen (AA 29.11.2021).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen "Hort der Ruhe" in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 01.07.2022; vgl. EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und Damaskus-Umland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.03.2020; vgl. COAR 25.10.2021). Darunter war z.B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.01.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet (AN 01.07.2022).
Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 03.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. In den Monaten seit Beginn der Invasion der Ukraine haben die russischen Streitkräfte einen erheblichen Schwund an Personal und Material hinnehmen müssen. Informationen gesammelt durch Open Source Intelligence verwiesen im August 2022 auf den Abzug einer S-300-Luftabwehrbatterie nach Russland, während die ukrainischen Streitkräfte im September 2022 erklärten, dass sie davon ausgingen, dass ein zuvor in Syrien stationiertes russisches Fallschirmjägerregiment ebenfalls nach Russland zurückverlegt wurde. Da Russland seine Kampftruppen abgezogen hat, hat es Berichten zufolge diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 03.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen. Einigen Berichten zufolge könnten sich das iranische Korps der Revolutionsgarden (IRGC) und seine Verbündeten von der Hizbollah in frei gewordenen russischen Stützpunkten niedergelassen haben. Der iranische Aufbau von Streitkräften und Infrastruktur könnte seinen Einfluss in Syrien am Vorabend einer möglichen türkisch-syrischen Annäherung, die von Russland kultiviert wird, verstärken (CC 03.11.2022).
Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den iranischen Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genutzt werden, durch (ÖB 01.10.2021; vgl. AA 29.11.2021, UNHCR 14.08.2020). Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt. Im Jahr 2021 hat sich das Ausmaß der israelischen Luftangriffe erhöht, wobei im Jahr 2021 mindestens 56 Konfliktfälle verzeichnet wurden (CC 03.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 03.11.2021). Im Dezember 2021 führte Israel zwei Luftschläge auf den Hafen von Lattakia durch, welche mutmaßlich Warenlager von Iran-nahen Milizen zum Ziel hatten und erhebliche Sachschäden verursachten (Times of Israel 28.12.2021; vgl. MEE 07.12.2021). Der Hafen von Latakia ist der wichtigste Hafen der syrischen Regierung (MEE 07.12.2021). Über ihn wird ein Großteil der syrischen Importe in das vom Krieg zerrüttete Land gebracht (Times of Israel 28.12.2021). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 03.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u.a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.06.2022). Auch gab es am 05.07.2022 nahe der Stadt Tartous einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 05.07.2022). Israel hat bisher hunderte Luftschläge zugegeben, welche u.a. das Ziel haben, eine Verfestigung der iranischen Militärpräsenz in Syrien zu verhindern (JP 11.06.2022).
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Rechtsschutz / Justizwesen
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Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
In Gebieten unter Kontrolle der sogenannten „Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ übernimmt diese quasi-staatliche Aufgaben wie Verwaltung und Personenstandswesen (AA 29.11.2021). In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (engl. Abk.: AANES) - auch kurd. "Rojava" genannt, setzten die Behörden einen Rechtskodex basierend auf einen "Gesellschaftsvertrag" ("social contract") durch. Diese besteht aus einer Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht und Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an EU-Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt (USDOS 12.04.2022, vgl. NMFA 6.2021). Verfahren gegen politische Gefangene werden in der Regel vor Strafgerichten oder vor einem Gericht für Terrorismusbekämpfung verhandelt. In Ersteren können Inhaftierte einen Anwalt beauftragen, in zweiteren laut International Center for Transitional Justice (ICTJ) nicht (NMFA 6.2021).
Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 12.04.2022). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.07.2017). Juristen, welche unter diesem Justizsystem agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).
Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jesidischen, arabischen und assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines Stammesgerichtssystems, bekannt als "Madbata", für die Klärung von intertribalen Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira-Region in der Provinz Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung dienen, welche die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stammesältesten geeinigt hat. Aufgrund von schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen Justiz wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen (AM 04.04.2021).
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Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichteten jedoch von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung vermeintlicher Oppositioneller einsetzten, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und sogar schon vor 2011 dokumentiert wurde. Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.04.2022). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.01.2021; vgl. AI 070.4.2021, USDOS 12.04.2022, AA 04.12.2020).
In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen (SHRC 24.01.2019).
Das Auswärtige Amt fasst die Haftbedingungen in Syrien als "unverändert grausam und menschenverachtend" zusammen. Dies ist allgemein der Fall, gilt jedoch besonders für diejenigen Haftanstalten, in denen DissidentInnen und sonstige politische Gefangene festgehalten werden (AA 29.11.2021). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände danach aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.11.2021). NGOs berichten, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlungen, Bestrafungen und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten verüben (USDOS 12.04.2022; vgl. TWP 23.12.2018). Gefängnispersonal und Nachrichtendienstoffiziere sowie weitere Regimetruppen und regierungstreue Kräfte begingen sexuellen Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern (USDOS 12.04.2022). Unter den von der UN Commission of Inquiry (COI) dokumentierten Fällen waren die jüngsten betroffenen Buben und Mädchen elf Jahre alt (HRW 13.01.2022). Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 30.03.2021). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. (AA 29.11.2021; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021).
Systematische Folter, Hinrichtungen und die Haftbedingungen führen zu einer hohen Sterblichkeitsrate von Gefangenen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung (USDOS 12.04.2022). Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 12.04.2022; vgl. SHRC 24.01.2019). Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 12.04.2022). SNHR schätzt die Gesamtzahl der verschwunden gelassenen Personen auf mindestens 100.000, hinter fast 85% dieser steckt das Regime (HRW 13.01.2022). Zehntausende Menschen sind weiterhin in willkürlicher Haft, darunter humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten und friedliche Aktivisten (AI 07.04.2021).
In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.01.2020; vgl. ÖB 01.10.2021).
Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) den Tod von mindestens 14.565 Personen, darunter 181 Kinder und 93 (erwachsene) Frauen, durch Folter durch die Konfliktparteien und die kontrollierenden Kräfte in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.06.2021). Im gesamten Jahr 2021 zählte SNHR insgesamt 104 Todesopfer aufgrund von Folter (SNHR 01.01.2022). Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen. (AA 29.11.2021). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht: Im Jahr 2020 lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 09.01.2021). Die syrische Regierung übergibt nicht die sterblichen Überreste der Verstorbenen an die Familien (HRW 14.01.2020).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Gefängnissen sind jedoch keine Neuerungen der Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.01.2019).
Am 04.11.2020 ließ die syrische Regierung 60 Personen aus Gefängnissen im südlichen Syrien und Damaskus frei (HRW 13.01.2022).
Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür, dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (NMFA 7.2019). Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.11.2021).
Syrien hat am 30.03.2022 das Anti-Folter-Gesetz Nr. 16 per Präsidialdekret erlassen, das Folter zu einem Straftatbestand (Verbrechen) macht und harte Strafen für alle Personen (Privatpersonen oder Beamte) vorsieht, die Folter anwenden. Nichtsdestotrotz hat SNHR seit dem Inkrafttreten des Dekrets von Ende März bis Juni 2022 elf Todesfälle durch Folter in syrischen Haftanstalten dokumentiert und kritisiert unter anderem, dass das Dekret keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.06.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.03.2022, vgl. STJ 12.07.2022).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten, Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Berichte dazu betreffen u.a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), IS (Islamischer Staat), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 12.04.2022).
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Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 29.12.2022
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.09.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.05.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.11.2021).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB 01.10.2021).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB 01.10.2021; vgl. EASO 4.2021).
Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 04.12.2020). Die im März 2020 und Mai 2021 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetzbuch, darunter Fahnenflucht; die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB 01.10.2021).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).
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Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021). Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).
Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018; vgl. ICG 09.05.2022). In Homs führt die Militärpolizei beispielsweise stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 03.06.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 03.06.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht. Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen vor Ort die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen (Rechtsexperte 14.09.2022).
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.09.2022).
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Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
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Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
Wehrpflichtgesetz der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“
Mit Stand Juni 2022 ist das Dekret Nr. 3 vom 04.09.2021 weiterhin in Kraft, welches Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (geboren 1998 oder später) zum "Wehrdienst" in der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ verpflichtet. Das Alter ist nun in allen betreffenden Gebieten dasselbe, während es zuvor je nach Gebiet variierte. Vor dem Dekret Nr. 3 war auch das Alterslimit höher - bis 40 Jahre. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022).
Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim Büro für Selbstverteidigungspflicht ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des "Wehrdiensts" dokumentiert wird - z.B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022).
Nach Protesten gab es auch ein temporäres Aussetzen der Wehrpflicht wie z.B. in Manbij im Juni 2021. Ob jemand aus Afrin, das sich nun nicht mehr unter Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet, wehrpflichtig wäre, ist aktuell unklar. Die "Wehrpflicht" gilt nicht für Personen außerhalb des "Selbstverwaltungsgebiets", außer der Betreffende hat mindestens fünf Jahre im "Selbstverwaltungsgebiet" gewohnt (DIS 6.2022).
Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.07.2019). Laut Medienberichten waren insbesondere Lehrer von Zwangsrekrutierungsmaßnahmen betroffen. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Burschen und Mädchen (AA 29.11.2021). Laut DIS beziehen sich die Berichte von Zwangsrekrutierungen manchmal eher auf den Selbstverteidigungsdienst oder auf andere Gruppen als die SDF (Syrian Democratic Forces) (DIS 6.2022).
Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB 29.09.2020). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird dieses Gesetz auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 29.11.2021), während das Danish Immigration Service nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen dem Militärdienst zu entgehen, laut dem Gesetz zur Selbstverteidigungspflicht durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für den Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Im Fall von Verweigerung aus Gewissensgründen oder im Fall einer Verhaftung wegen Wehrdienstverweigerung erhöht sich der Wehrdienst laut EASO [Anm.: inzwischen in European Union Asylum Agency, EUAA umbenannt] auf 15 Monate. Spät eintreffende Wehrdienstpflichtige müssen einen Monat länger Wehrdienst leisten (EASO 11.2021). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: zur nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts (ÖB 29.09.2020). Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB 29.09.2020).
Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem "Wehrdienst" Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).
Im Ausland (Ausnahme Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).
Ursprünglich betrug die Länge des "Wehrdiensts" sechs Monate, wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert. Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr, und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen (DIS 6.2022). Einer anderen Quelle zufolge dauert der Wehrdienst sechs Monate mit Ausnahme des Zeitraums Mai 2018 bis Mai 2019, als dieser zwölf Monate umfasste (EASO 11.2021). In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je Gebiet entschieden wird, z.B. die Verlängerung um einen Monat im Jahr 2018 wegen der Lage In Baghouz. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Auch nach Angaben der Vertretung der "Selbstverwaltung" gab es auch Fälle, in welchen Personen der Wehrdienst um einige Monate verlängert wurde (DIS 6.2022).
Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hassakah, wo es im Jänner 2022 zu dem IS-Befreiungsversuch mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z.B. bei den Kämpfen gegen den sogenannten Islamischen Staat von 2016-2017 in Raqqa (DIS 6.2022).
Nach dem abgeleisteten "Wehrdienst" gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).
Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).
Proteste gegen die "Wehrpflicht"
Das Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht" stößt bei den Bürgern in den von den SDF kontrollierten Gebieten auf heftige Ablehnung, insbesondere bei vielen jungen Männern, welche die vom Regime kontrollierten Gebiete verlassen hatten, um dem Militärdienst zu entgehen (EB 12.07.2021). Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 01.06.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 02.06.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 07.06.2021).
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Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst
Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Am 14.04.2022 besetzten die SDF und die Asayish für einen Tag die Verwaltungseinrichtungen, was Berichten zufolge eine Reaktion auf die Belagerung des kurdischen Stadtteils Sheikh Maqsoud in Aleppo durch das Regime war (DIS 6.2022).
Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie über eine Präsenz im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernorate verfügt, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen. Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.09.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022).
Exkurs: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – Syrien – Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung vom 14.10.2022:
Vom BVwG wurde die Staatendokumentation mit folgender Frage befasst:
1. Wie gestaltet sich aktuell die Wehrpflicht in den Territorien, welche sich nicht unter der Hoheit der syrischen Armee befinden? – Ersuchen um Aktualisierung der Berichte bzw.
1.1. Hat die syrische Armee aktuell einen konkreten Zugriff auf Personen, die sich auf dem Gebiet der YPG oder durch sonstige Gruppierungen befinden, um diese zum Wehrdienst einzuziehen?
Zusammenfassung:
Gemäß den nachfolgend zitierten Quellen kann die syrische Regierung die allgemeine Wehrpflicht in Gebieten, welche nicht unter ihrer Kontrolle stehen, nicht umsetzen. In Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) ist sie gemäß einer Quelle eingeschränkt in der Lage, zu rekrutieren. Eine andere Quelle gibt dagegen an, dass die syrische Regierung in diesen Gebieten zwar Zugriff hat, aber dennoch keine Rekrutierungen durchführt.
Einzelquellen:
Ein befragter Militärexperte des österreichischen Verteidigungsministeriums berichtet:
[…] Wehrpflicht außerhalb von Regimegebieten
In Gebieten, die nicht unter der Kontrolle des Regimes stehen, ist eine Wehrpflicht de facto nicht umsetzbar – es fehlt der Zugriff auf die Administration und die davon betroffenen Personen. Es sei denn, eine Person würde aus dem Oppositionsgebiet ins Regimegebiet wechseln, allerdings müsste die Begründung für den Seitenwechsel und das bleibende Restrisiko, sich womöglich doch auf einer Fahndungsliste des Regimes zu befinden, wohl überlegt sein. […]
Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer „reguläre Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten „HTS-Wehrpflicht“ in ldlib liebäugelte, damit dem „Staatsvolk“ von ldlib eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte.
Was die Kurdengebiete bzw. Gebiete unter Kontrolle der YPG anbelangt, so hat das Regime grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen, sieht sie aber ebenfalls als illoyal an und versucht gar nicht sie zu rekrutieren. Nur Kurden, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten leben, unterliegen somit einer faktischen Wehrpflicht. […]
(BMLV – Bundesministerium für Landesverteidigung (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.09.2022))
Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernorate präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir-Ezzor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen.
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden.
Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) operiert hauptsächlich im Gouvernement Idlib und anderen Gebieten im Nordwesten Syriens (Grenzstädte zur Türkei). Das Gouvernement Idlib befindet sich vollständig außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann [gemäß der o.g. AFB der Staatendokumentation vom 17.03.2022 befindet sich ein kleiner Teil des Gouvernements unter Kontrolle der syrischen Regierung, Anm.]. Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen und sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichtert, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verlassen.
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriert, von der Türkei unterstützt wird und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA) besteht. Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden.
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 01.03.2011 und 31.03.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.06.2022). Laut UN-Menschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.08.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 08.02.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 08.02.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen (HRW 13.01.2022).
Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.04.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.02.2022).
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Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung: 09.08.2022
Die Regierung, Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 12.04.2022). Landesweit wurden zahlreiche Checkpoints eingerichtet. Überlandstraßen und Autobahnen werden zeitweise gesperrt (BMEIA 05.04.2022). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land (AA 05.04.2022). Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile von einander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte "Versöhnungskarte" vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Listen. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen (DIS/DRC 2.2019).
Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich (DIS 9.2019), bzw. ziemlich willkürlich, sein. Die fehlende Rechtssicherheit und die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018). In den Gebieten des Regimes verlangen die Mitarbeiter der Sicherheitsdienste für eine sichere Passage durch ihre Checkpoints Bestechungsgeld. So werden z.B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben. Die ungefähr fünf Kontrollpunkte werden von verschiedenen Teilen des Sicherheitsapparats betrieben. Rückkehrende aus dem Libanon bezahlen Schmuggler, um die Checkpoints zu umgehen (HRW 20.10.2021).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.01.2019). Vom 24.06. bis zum 09.09.2021 wurde Dara'a al-Balad von der syrischen Regierung und russischen Streitkräften belagert. Die Hauptverbindungsstraßen zwischen Dara'a al-Balad, dem Teil von Dara'a, der noch unter der teilweisen Kontrolle der versöhnten Oppositionellen stand, und anderen Teilen der Stadt sowie zu den Außenbezirken waren abgeschnitten (COAR 05.07.2021).
Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. Die HTS greift systematisch in die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und schreibt ihnen die Begleitung durch einen "mahram", einem nahen männlichen Verwandten, in der Öffentlichkeit vor (USDOS 12.04.2022).
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung: 09.08.2022
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet, verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer (USDOS 12.04.2022). Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt: Insbesondere in den Gouvernements Aleppo und Idlib ist die Lage weiterhin fragil, und es kommt nach wie vor zu teils intensiven Kampfhandlungen. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 31.03.2022).
Anmerkung: Gemäß einer Auskunft der Staatendokumentation vom 14.10.2022 ist der Grenzübergang Peshkhabour (PK-BCP) die einzige offizielle Ausreisestelle auf dem Landweg aus dem Irak für Flüchtlinge, die über einen regulären Grenzübergang nach Syrien zurückkehren wollen. Dieser Grenzübergang ist aktuell ganztägig geöffnet und ermöglicht – ohne dabei von syrischen Regimetruppen des ASSAD-Regimes kontrolliert zu werden - für Syrienrückkehrer auch eine Rückkehr in ihr Land.
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen „black lists“ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Seit 01.08.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt (ÖB 01.10.2021). Das stellt ein weiteres Hindernis für eine Rückkehr dar. Fälle, bei denen Rückkehrende am Grenzübergang Nasib nicht den Betrag in syrischen Pfund ausgehändigt bekamen, sind von Human Rights Watch dokumentiert. Anfang April 2021 wurden Vertriebene von der Zahlung ausgenommen (HRW 20.10.2021).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen das Reisen zu verbieten (USDOS 12.04.2022).
Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Infolge der COVID-19-Pandemie verfügte Maßnahmen wurden bereits wieder sowohl für Reisen in das Ausland, als auch bei der Einreise nach Syrien gelockert. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde wieder aufgenommen (BMEIA 19.08.2020), ist aber weiterhin reduziert (BMEIA 05.04.2022). Der Flughafen Damaskus und Grenzübergänge werden regelmäßig unter Angabe drohender Gewalt als Begründung geschlossen (USDOS 12.04.2022).
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Infrastruktur
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.07.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 07.04.2020).
Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 04.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).
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Rückkehr
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Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens lässt die Regierung derzeit keinen Wohnsitzwechsel zu. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die Rückkehrer von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 04.12.2020).
Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen. Die Einrichtung eines Wohnsitzes ist nur mit Genehmigung der Behörden möglich (ÖB 21.08.2019). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen dürfen. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB 29.09.2020). Auch Jahre nach der Rückeroberung von Homs durch die Regierung benötigen die Bewohner immer noch eine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Häuser (TE 28.06.2018; vgl. CMEC 15.05.2020).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn,- Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie ISIS-Angriffen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.02.2020). Eine Reihe von Stadtvierteln in Damaskus sind nach wie vor teilweise oder vollständig gesperrt, selbst für Zivilisten, die kurz nach ihren ehemaligen Häusern sehen wollen (SD 19.11.2018). So durften die Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch nach der Wiedererlangung der Kontrolle durch das Regime weitgehend nicht zurückkehren (EB 08.07.2020; vgl. AI 9.2021). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können und eine Sicherheitsfreigabe besteht. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten rund 1.2 Millionen Menschen in Yarmouk, davon 160.000 Palästinenser) (TOI 17.11.2022). Nach Angaben von Aktivisten durften bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 06.05.2020). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen nicht zurück, oder, da sie keine Häuser mehr haben, in die sie zurückkehren könnten. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem "Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur" (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (WB 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019). So berichtet UNHCR von einer "sehr begrenzten" und "abnehmenden" Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94% um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022).
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Exkurs: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – Syrien – Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien vom 14.10.2022:
Vom BVwG wurden an die Staatendokumentation folgende Fragen gestellt:
1. Wie viele Personen, insbesondere auch solche im wehrdienstfähigen Alter, so unterscheidbar, sind in den letzten Jahren bzw. bis dato wieder selbstorganisiert nach Syrien zurückgekehrt?
2. Ist in Anbetracht der anzunehmend hohen Anzahl von auch sich im wehrdienstpflichtigen Alter befindlichen rückkehrenden Personen eine durchgehend systematische Verfolgung einfacher Militärdienstentzieher (nicht Deserteure) in aktuellen Berichten dokumentiert bzw. welche konkreten Berichte, in welcher Anzahl gibt es hierzu?
Zusammenfassung:
Anzahl der Rückkehrer:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass UNHCR im Zeitraum 2016-30.6.2022 die selbstorganisierte Rückkehr von 325.551 syrischen Flüchtlingen aus der Türkei, dem Libanon, Jordanien, dem Irak, Ägypten und anderen nordafrikanischen Ländern nach Syrien dokumentiert hat [eine Aufschlüsselung nach unterschiedlichen Variablen und weitere Details können den Einzelquellen entnommen werden, Anm.]. Die Gesamtzahl der Rückkehrer aus Ländern in der Region könnte jedoch wesentlich höher sein.
Die verfügbaren Informationen zur Anzahl der Rückkehrer aus Europa nach Syrien sind begrenzt. Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück, im selben Jahr suchten zehn Syrer bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr aus den Niederlanden nach Syrien an. Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 Syrer mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück.
Das für Rückkehrer zuständige Ministerium der Syrischen Arabischen Republik gibt an, dass insgesamt [seit Beginn des Konflikts 2011] eine Million ins Ausland vertriebene Syrer nach Syrien zurückgekehrt sei. Diese Zahl kann nicht unabhängig überprüft werden und Angehörige der Opposition werfen der Regierung vor, sie aus politischen Gründen zu hoch anzusetzen.
Ein befragter Experte gibt an, dass keine bzw. nur schwache Rückkehr von wehrpflichtigen Flüchtlingen in die Regimegebiete erfolgt. Die Datenlage zum Alter der Rückkehrer ist jedoch begrenzt. Laut Angaben von UNHCR befand sich 2021 etwas weniger als ein Drittel der rund 3.400 freiwilligen Rückkehrer aus dem Irak nach Syrien, die sich bei UNHCR registriert haben, im Alter zwischen 18 und 59 Jahren. Die Mehrheit der Rückkehrer aus dem Irak kehrte in die Gouvernorate al-Hasakah und Aleppo zurück, die größtenteils von den Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces, SDF) kontrolliert werden. Gemäß einer Studie zu Rückkehrern, welche Daten von Beginn des Konflikts bis Mitte 2018 berücksichtigt hat, kehrten Rückkehrer aus dem Nahen Osten und Nordafrika [d.h. jene Personen, welche von UNHCR registriert werden, Anm.] mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zurück, wenn sie über 44 Jahre alt waren, als jene aus der Altersgruppe der 15-44-Jährigen. Gemäß der Studie bestand bei der Rückkehrwahrscheinlichkeit nur ein kleiner, statistisch signifikanter Unterschied zwischen Gebieten mit hoher und niedriger Konfliktintensität. Ein möglicher Erklärungsansatz ist, dass das Risiko, eingezogen zu werden, im ganzen Land [unter Kontrolle der syrischen Regierung, Anm.] besteht.
Behandlung von Rückkehrern:
Auch hinsichtlich der Behandlung von Rückkehrern in Syrien berichten Quellen von einer eingeschränkten Informationslage. So müssen Syrer die Rückkehrentscheidung mitunter auf Basis von unvollständigen Informationen treffen. Ein Rückkehrer berichtete, dass er Bewohner seines Dorfes vor der Rückkehr zur Sicherheitslage dort befragte, jedoch keine ehrliche Antwort erhielt, weil die DorfbewohnerInnen die Überwachung durch einen Nachrichtendienst fürchteten.
Keine Organisation konnte bisher systematische Nachforschungen durchführen, um zu erfassen, was mit den Rückkehrern nach der Rückkehr geschieht – auch UNHCR war dazu nicht in der Lage. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet Verstöße gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster für die Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen in dieser Hinsicht zu beobachten sind.
Unter anderem gehören Personen, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, zu jener Gruppe von Rückkehrern, die in Gefahr laufen, bei ihrer Ankunft in Syrien festgenommen, (vorübergehend) eingesperrt, verhört, gefoltert und/oder vor Terrorismusgerichten gestellt zu werden. Den Einzelquellen können anekdotische Berichte zu Wehrdienstverweigerern entnommen werden, die nach ihrer Rückkehr nach Syrien inhaftiert und u.U. gefoltert wurden [wie schon erwähnt, existieren keine systematischen Erhebungen über die Behandlung von Rückkehrern, Anm.].
Die in Frage 2 implizierte Annahme, dass eine systematische Verfolgung von Wehrdienstverweigerern durch die syrischen Behörden angesichts einer hohen Anzahl an Wehrdienstverweigerern und Deserteuren aus Zeit- und Ressourcengründen nicht möglich wäre, konnte in ähnlicher Form in einem Bericht des Danish Immigration Service (DIS) vom Mai 2022 gefunden werden. Eine nicht namentlich genannte syrische Menschenrechtsorganisation, welche vom DIS im April 2022 befragt wurde, tätigt darin die Aussage, dass die Familien von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren früher von den Behörden schikaniert wurden, heute jedoch nur mehr ein- oder zweimal nach dem Verbleib des Wehrdienstverweigerers befragt werden und somit keine Probleme mit den Behörden mehr haben. Es folgt die Aussage, wonach man auch bedenken sollte, dass es zu viele Wehrdienstverweigerer und Deserteure gibt, als dass die Behörden Zeit und Ressourcen für solche Fälle aufwenden könnten. Wehrdienstverweigerer und Deserteure selbst werden gemäß dieser Quelle nach einer kurzen Inhaftierung (einige Tage oder Wochen) zum Militärdienst geschickt, sofern sie nicht an oppositionellen Aktivitäten beteiligt waren [den Einzelquellen kann das gesamte vom DIS veröffentlichte Gesprächsprotokoll entnommen werden, Anm.].
Es gibt laut dieser Quelle keine Berichte darüber, dass diejenigen, die die Wehrdienstbefreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme hatten. Andere Quellen berichten, dass unter anderem auch Rückkehrer bei ihrer Ankunft von den syrischen Behörden verhaftet, inhaftiert und gefoltert worden seien, die eine Statusbereinigung vorgenommen hatten. Eine erteilte positive Sicherheitsüberprüfung stellt keinesfalls eine Garantie für eine sichere Rückkehr nach Syrien dar. Einzelne Betroffene berichten, dass sie durch die Teilnahme an „Versöhnungsprozessen“ [betrifft Männer aus ehemals aufständischen Gebieten, Anm.] einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden.
Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine zu große Abschreckung, um beispielsweise nach Aleppo zurückzukehren. Die Militärpolizei stellt dort regelmäßig Kontrollpunkte an wichtigen Kreuzungen auf und führt Hausdurchsuchungen durch, um Männer zu finden, die zum Wehrdienst eingezogen werden sollen. Sogar Jugendliche ohne weitergehende Ausbildung, die keine Verbindungen zur Opposition haben, scheuen sich aufgrund der drohenden Einberufung, in der Stadt zu arbeiten.
Die oben erwähnte syrische Menschenrechtsorganisation, welche vom DIS im April 2022 befragt wurde, betonte, dass die Behandlung von Rückkehrern in einem Kontext zu sehen ist, in dem der zuständige Beamte am Grenzübergang die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen: Ein Beamter kann einer Person Probleme bereiten, die eigentlich keine offenen Angelegenheiten mit dem syrischen Staat hat, und dagegen andere passieren lassen, bei denen dies sehr wohl der Fall ist. Dies kann auch zum Zweck der Erpressung von Rückkehrern durch die Sicherheitskräfte an Kontrollpunkten geschehen. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung von Rückkehrern beeinflusst, ist die starke Fragmentierung des syrischen Sicherheitsapparats. Verschiedenen Quellen zufolge kann dies dazu führen, dass Personen, darunter auch Rückkehrer, von einem dieser Geheimdienste eine positive Sicherheitsüberprüfung erhalten und gleichzeitig von einem anderen der Geheimdienste zur Fahndung ausgeschrieben sind.
Flüchtlinge
Es wird geschätzt, dass sich 23.600 nicht-palästinensische Flüchtlinge in Syrien aufhalten. Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z.B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 12.04.2022).
Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisen, und über einen gültigen Pass verfügen. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind mit wachsenden Risiken und verstärkten Sicherheitsmaßnahmen bei Checkpoints konfrontiert (USDOS 12.04.2022).
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Gemäß UNHCR kehrten im Zeitraum 2016-30.06.2022 insgesamt 325.551 syrische Flüchtlinge selbstorganisiert aus der Türkei, dem Libanon, Jordanien, dem Irak, Ägypten und anderen nordafrikanischen Ländern nach Syrien zurück. Bei den gemeldeten Zahlen handelt es sich nur um die vom UNHCR überprüften oder überwachten Zahlen, die nicht die Gesamtzahl der Rückkehrer widerspiegeln, die wesentlich höher sein könnte. Nachstehend können graphische Darstellungen zur Verteilung der Anzahl an Rückkehrern im zeitlichen Verlauf sowie nach Ausgangsland entnommen werden (Aktualisierungsstand 30.06.2022):
Einer Information von UNHCR zu Syrern, welche im Jahr 2021 aus dem Irak nach Syrien zurückgekehrt sind, ist zu entnehmen, dass mit Stand 31.12.2021 96 % der 254.561 syrischen Flüchtlinge und Asylsuchenden im Irak in der Kurdischen Region des Irak (KR-I) leben. Die Anzahl der spontanen Rückkehrer hat seit Beginn des Jahres 2020 abgenommen, was vor allem mit der Verschlechterung der Sicherheits- und Versorgungslage in Syrien, COVID-19-Beschränkungen und vollständigen (seit März 2020) oder teilweisen Grenzschließungen zu tun hat.
Daten über spontane Rückkehrbewegungen werden von UNHCR-Mitarbeitern durch Haushaltsbefragungen im 10 km von der Grenze entfernten Derabon-Zentrum erhoben, wo die Flüchtlinge UNHCR und den Behörden ihre Rückkehrabsicht mitteilen und ihre aufenthaltsbezogenen Dokumente aushändigen, die ihnen den Aufenthalt als Flüchtling in KR-I ermöglichen, bevor sie zum Grenzübergang Peshkhabour (PK-BCP) weiterreisen. Die Daten sind repräsentativ für das Profil der syrischen Flüchtlinge und Asylbewerber, die spontan über Derabon zurückkehren, und sich bei UNHCR melden. Obwohl die Rückkehr über andere informelle Grenzübergänge begrenzt ist, könnten einige spontane Rückkehrer dem UNHCR unbekannt sein.
Diese Analyse wird auch durch zusätzliche Daten aus anderen Erhebungen ergänzt, die 2021 und 2022 im Irak durchgeführt wurden.
Gemäß den Erhebungen von UNHCR waren 27,24 % der Rückkehrer und 28,3 % der Rückkehrerinnen, welche von UNHCR erfasst wurden, zwischen 18 und 59 Jahren alt, wobei UNHCR insgesamt 3.403 freiwillige Rückkehrer zählte [s. graphische Darstellung in der Originalquelle, Anm.].
Der Grenzübergang Peshkhabour (PK-BCP) ist die einzige offizielle Ausreisestelle auf dem Landweg aus dem Irak für Flüchtlinge, die über einen regulären Grenzübergang nach Syrien zurückkehren wollen. Berichten zufolge sind Grenzübertritte an informellen Grenzübergängen aufgrund der hohen Risiken im Zusammenhang mit der Unsicherheit, den Kosten von Schmugglern und dem für viele zugänglichen Verfahren am PK-BCP selten.
Die Wehrpflicht, einschließlich der Zwangsrekrutierung durch bewaffnete Gruppen, sowie das Risiko der Schikane und Verhaftung von Personen, die als Mitglieder rivalisierender politischer Parteien wahrgenommen werden, sind nach wie vor die Hauptgründe, die von einer Rückkehr nach Syrien abhalten, zusammen mit der Sorge um die Sicherheit aufgrund der allgemeinen Gewalt, der Präsenz bewaffneter Kräfte/Gruppen und der sporadischen Drohungen und Fälle von Militäroperationen/ Angriffen.
Mehr als 97 % der Flüchtlinge, die 2021 aus dem Irak nach Syrien zurückkehrten, lebten in KR-I, wo die meisten Flüchtlinge, vor allem kurdischer Abstammung, ansässig sind. Die Mehrheit kehrte in die Gouvernements Al-Hasaka (65 %) und Aleppo (28 %) zurück, Gebiete, die weitgehend von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) in Nordostsyrien kontrolliert werden. So berichten diese Rückkehrer kurdischer Volkszugehörigkeit von weniger Schutzbedenken auf der Reise von der KR-I zu ihrem Rückkehrort innerhalb der Autonomen Administration Nordostsyrien (AANES) als in anderen Gebieten Syriens.
Aus einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Türkei/Syrien vom 05.04.2023 hinsichtlich der Einreise an der türkisch-syrischen Grenze, Weiterreise in AANES Gebiete, besonders Tal Rifaat ist zu entnehmen, dass abgesehen von mehr als 325.551 von UNHCR registrierten Syrienrückkehrern im Zeitraum 2016-30.06.2022 gerade nach dem gewaltigen Erdbeben vom Februar 2023 sich Grenzübertritte aus der Türkei nach Syrien von Syrienrückkehrern deutlich intensiviert haben und innerhalb nur eines einzigen Monats allein in das von Rebellen gehaltene Gebiet etwa 40.000 syrische Rückkehrer gezählt wurden.
2. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Inhalt der dem BVwG vom BFA vorgelegten Unterlagen im gegenständlichen Beschwerdeverfahren.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem BFA, in der Beschwerde und vor dem BVwG, die im Wesentlichsten mit den Angaben in den vom ihm beim BFA vorgelegten Dokumenten übereinstimmen.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seiner Schulbildung, seinem Aufwachsen in Syrien, seiner Berufserfahrung, seinem Familienstand und seinen Familienangehörigen, sowie zu seiner Reise nach Österreich gründen sich auf den diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben vor den Organen der öffentlichen Sicherheit, dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG. Aus einer vom BF vorgelegten Kopie einer syrischen Heiratsurkunde ergibt sich, dass der BF verheiratet ist. Auch die Existenz seiner vier Kinder bewies er durch die Vorlage entsprechender Kopien derer syrischen Reisepässe. Das BVwG hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers, sowie den vom BF im Asylverfahren vorgelegten Dokumenten, deren Echtheit auch vom BFA letztlich nicht angezweifelt wurde, zu zweifeln.
Dass der Beschwerdeführer gesund ist, hat er selbst in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ausgeführt. Auch den Eindruck, den der BF in der mündlichen Verhandlung hinterließ, bestätigte diese Angabe des BF.
Die Feststellung, dass sich seine Ehefrau und seine vier minderjährigen Kinder in Dashisha Margada aufhalten, hat der Beschwerdeführer selbst vor dem BFA und auch vor dem BVwG ausgeführt.
Dass der BF im Jahr 2010 vom syrischen Regime gemustert wurde, jedoch bis zu seiner Ausreise aus Syrien niemals einen Wehrdienst abgeleistet hat, wird ihm geglaubt.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich durch eine Einschau in das Strafregister des BF, das aktuell keinen Eintrag ausweist.
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Die Feststellung, dass das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, Dashisha Margada, aktuell ausschließlich durch kurdische Milizen kontrolliert wird, ergibt sich aus einer Internetabfrage auf https://syria.liveuamap.com/de, wo das Gebiet rund um den Ort Dashisha Margada frei von jeglicher Kontrolle durch das syrische Assad Regime ausgewiesen ist. Erst in einer Entfernung von ca. 120 km in südlicher Richtung – wie auch vom BF selbst bestätigt – beginnt das Gebiet, in welchem das syrische Assad Regime die Kontrolle ausübt bzw. auch Handhabe auf dort befindliche Wehrpflichtige hat. In nördlicher Richtung befinden sich erst in einer Entfernung von ca. 60 km in der syrischen Stadt Al-Hasaka bzw. etwas außerhalb dieser Stadt Enklaven, in der das syrische Assad-Regime die Kontrolle innehat und auch entsprechenden Zugriff auf dort befindliche Wehrpflichtige hätte (vgl. Anfragebeantwortung von ACCORD zu Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2] vom 02.06.2023, Seite 4f).
Zudem hat auch der BF selbst bestätigt, dass sein Herkunftsgebiet Dashisha Margada ausschließlich unter kurdischer Kontrolle steht. Auch in der Beschwerde wird darauf hingewiesen, dass das Herkunftsgebiet des BF unter kurdischer Kontrolle steht.
Betreffend eine Einziehung zum Wehrdienst in der syrischen Armee wird noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers – die syrische Ortschaft Dashisha Margada - in welcher der Beschwerdeführer lebte, aktuell nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung, sondern der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF- engl. Syrian Democratic Forces, SDF) samt deren militärischem Arm der YPG (kurdisch: Yekîneyên Parastina Gel; Volksverteidigungseinheiten) steht. In diesem Zusammenhang ergibt sich auch aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 14.10.2022 betreffend „Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB)“ zusammengefasst, dass die syrische Regierung die allgemeine Wehrpflicht in Gebieten, welche nicht unter ihrer Kontrolle stehen, nicht umsetzen kann. In Gebieten unter Kontrolle der „Autonomous Administration of North and East Syria“ (zu denen das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers Dashisha Margada gehört) ist sie gemäß einer Quelle eingeschränkt in der Lage, zu rekrutieren. Eine andere Quelle gibt dagegen an, dass die syrische Regierung in diesen Gebieten zwar Zugriff habe, aber dennoch keine Rekrutierungen durchführe (vgl. S. 2; ebenfalls Anfragebeantwortung von ACCORD zu Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2] vom 02.06.2023, Seite 4f).
Konkret wird in der Anfragebeantwortung zum einen ein Militärexperte des österreichischen Verteidigungsministeriums damit zitiert, dass das Regime in den Kurdengebieten bzw. Gebieten unter Kontrolle der YPG grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen habe, sie aber als illoyal ansehe und gar nicht versuche, sie zu rekrutieren. Zum anderen berichtet ein Rechtsexperte der österreichischen Botschaft, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltungsregion in der Lage sei, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten. Die Regierung könne dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt im Zentrum der Gouvernements präsent sei, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin habe die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und könne dort keine Personen einberufen (vgl. S. 3).
Ähnlich heißt es im aktuellen EUAA-Bericht „Syria: Targeting of Individuals“ vom September 2022, dass die syrische Regierung im Allgemeinen nicht in der Lage ist, Wehrpflichtige in SDF-kontrollierten Gebieten zu rekrutieren. Einige Quellen berichten, dass in den von der Regierung kontrollierten Sicherheitsquadraten in Hasaka und Qamishli Zwangsrekrutierung in die syrische Armee durchgeführt werden, während andere dagegen nicht erwarten, dass Personen, die diese Sicherheitsquadrate betreten, eingezogen werden würden (vgl. S. 40).
Daraus ergibt sich für den Fall des Beschwerdeführers zum einen, dass für sein Herkunftsgebiet in Dashisha Margada eine Zugriffsmöglichkeit der syrischen Behörden auf Wehrpflichtige zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Diese ist verglichen mit Gebieten unter Kontrolle der Assad-Regierung aber stark eingeschränkt und es bestehen keine Hinweise darauf, dass Rekrutierungen dort auch tatsächlich durchgeführt werden. Der Beschwerdeführer hat auch von keinen konkreten Zwangsrekrutierungen in Dashisha Margada, die er selbst wahrgenommen hat, berichtet. Der Beschwerdeführer ist mittlerweile 31 Jahre alt und verfügt über keine besonderen militärischen Kenntnisse. In einer Gesamtbetrachtung dieser Umstände ist es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass die syrischen Behörden ihre – in seinem Herkunftsgebiet stark eingeschränkten – Zugriffsmöglichkeiten gerade dafür verwenden würden, den Beschwerdeführer im Fall einer - theoretischen - Rückkehr zum Wehrdienst einzuziehen.
2.2.2. Sofern der Beschwerdeführer eine ihm drohende Rekrutierung, allenfalls Zwangsrekrutierung und offensichtlich eine damit verbundene Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet nach Dashisha Margada durch kurdische Milizen behauptet, wird vom BVwG auf das sich aus dem Dekret Nr. 3 vom 04.09.2021 ergebende Alterslimit von 24 Jahren für Wehrpflichtige im Kurdengebiet hingewiesen. Der diesbezügliche Hinweis auf Dekret Nr. 3 wurde vom erkennenden Gericht dem aktuellsten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.12.2022 auf Seite 123 ff entnommen. Auch in der verfahrensgegenständlichen Beschwerde wird ausdrücklich auf dieses Dekret hingewiesen, ohne jedoch die sich daraus zwingend ergebenden Schlussfolgerungen selbst zu berücksichtigen. Da dieses Dekret erst nach der Ausreise des Beschwerdeführers aus Syrien erlassen wurde, entsprechen die eigenen Wahrnehmungen des BF zur kurdischen Rekrutierungspraxis nicht mehr der aktuellen Situation. Der BF ist mit seinen 31 Jahren und mit seinem Geburtsjahrgang XXXX schlichthin zu alt, um bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet Dashisha Margada mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gefährdet zu sein, seiner kurdischen Selbstverteidigungspflicht nachkommen zu müssen und im Zusammenhang damit einer allfälligen asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt zu sein. Auch eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien hinsichtlich der Rekrutierungspraxis bei YPG und zur Rekrutierung von Arabern vom 08.03.2023 bestätigt diese im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.12.2022 auf Seite 123 ff getätigten Angaben. Der Beschwerdeführer und auch seine Rechtsvertretung haben es nicht geschafft diese Ausführungen nachvollziehbar zu widerlegen und derart glaubhaft zu machen, dass der BF bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr betroffen ist.
Der Vollständigkeit wegen ist anzumerken, dass die Gefahr einer Rekrutierung des Beschwerdeführers aufgrund des nach den Länderberichten teils willkürlichen Vorgehens der syrischen Regierung wie auch anderer Gruppen in Einzelfällen nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes genügt die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung jedoch nicht. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100 und 0101). Dies ist gegenständlich - wie dargelegt - nicht der Fall.
2.2.3. Hinsichtlich des nicht einmal in seiner Beschwerde erwähnten Verfolgungsgrundes, den er erst erstmals in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgetragen hat, wird vorweg noch einmal darauf hingewiesen, dass der BF im Asylverfahren dargelegt hat, dass er deswegen nach Österreich gekommen sei und hier einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, weil in Österreich eine Familienzusammenführung besonders einfach sei. Der Beschwerdeführer hat auch im gesamten Beschwerdeverfahren den Eindruck hinterlassen, dass er sich nicht wirklich vor einer Verfolgung in Syrien fürchtet. Ihm geht es – so der Eindruck, den der BF in zwei mündlichen Beschwerdeverhandlungen hinterlassen hat – viel mehr darum, dass er selbst, aber im Besonderen auch seine vier Kinder und seine Ehefrau frei von allfälligen kriegerischen Auseinandersetzungen in einem sicheren, prosperierenden und mit einem guten sozialen System ausgestatteten Land leben können, in dem seine Kinder möglichst gute Ausbildungsmöglichkeiten haben und für seine Familie möglichst optimale Zukunftsaussichten bestehen.
Dabei ist es für den BF von besonderer Bedeutung über den Status eines Asylberechtigten zu verfügen, weil derart ein möglichst rascher Familiennachzug seiner in Syrien aufhältigen Frau und Kinder weitaus rascher und einfacher erfolgen kann.
2.2.4. Dass ein Halbbruder seines Vaters sich in einem kurdischen Gefängnis befindet und am 10.01.2023 von dessen Bruder XXXX besucht wurde, wird vom erkennenden Gericht nicht in Abrede gestellt.
Die Behauptung des Beschwerdeführers, dass dieser Halbbruder seines Vaters jedoch deswegen von kurdischen Milizen am 20.10.2022 festgenommen, und mittlerweile – so der BF - bereits zu einer Haftstrafe mit einem Ausmaß von 10 Jahren verurteilt worden sei und jedenfalls seine Freiheitsstrafe bereits spätestens am 10.01.2023 angetreten habe, weil er die Telefonnummer seines Schleppers, der sich im von Türken besetzten und kontrollierten Teil Nordsyriens aufhalte, und der sich als Kämpfer der Freien Syrischen Armee herausgestellt habe, wobei dieser Halbbruder seines Vaters die Mobiltelefonnummer vom Beschwerdeführer erhalten habe, wird dem Beschwerdeführer nicht geglaubt. Insbesondere der Zeitraum zwischen der vom BF behaupteten Festnahme des Halbbruders seines Vaters am 20.10.2022, und des Besuches dessen Bruder im bereits begonnen Strafvollzug, und das verhängte Ausmaß der zehnjährigen Haftstrafe sind mit einer halbwegs glaubwürdigen Geschichte nicht in Einklang zu bringen. Für das erkennende Gericht ist nicht nachvollziehbar, dass innerhalb einer so kurzen Zeitspanne im kurdischen Nordsyrien so rasch von der Verhaftung weg ein kurdisch/syrisches Strafverfahren durchgeführt wurde, das so endete, dass der Halbonkel wegen des vom BF benannten Deliktes zu einer derart hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei und er bereits drei Monate später im Rahmen des Strafvollzuges in einem kurdischen Gefängnis besucht werden konnte.
Die vom BF behauptete Geschichte - so der Eindruck, den das erkennende Gericht während mehr als vier Stunden mündlicher Verhandlung gewann - wird vom BF offensichtlich als letzter Ausweg gesehen, dass ihm deswegen allenfalls doch noch – so offensichtlich die Auffassung des Beschwerdeführers - der Status eines Asylberechtigten erteilt werden könnte, ist derart konstruiert, dass sie schlichtweg nicht geglaubt wird. Der BF vermochte diese Geschichte auch nicht aus eigenem Antrieb – ohne zahlreiches konkretisierendes Nachfragen durch das erkennende Gericht – vollständig und eigenständig zu erzählen.
Erst, als der BF vom BVwG in der ersten mündlichen Verhandlung am 17.04.2022 darauf hingewiesen wurde, dass der Nachweis der Verurteilung des Halbbruders seines Vaters nicht ausreiche, dass das BVwG davon ausgehen könne, dass auch der BF selbst bei einer Rückkehr nach Syrien asylrelevant verfolgt werden würde, führte dazu, dass der BF schließlich am letzten Tag der ihm vom BVwG zugestandenen Frist für die Vorlage weiterer Dokumente, vom BF der kurdische „Suchbefehl“, der sehr auffällig nunmehr einen Zusammenhang zwischen der Verurteilung des Halbonkels und einer eigenen Verfolgungsrelevanz herstellt, vorgelegt wurde. Nach Auffassung des erkennenden Gerichtes handelt es sich dabei jedoch nicht um eine tatsächlich in Syrien existierende reale Fahndung, sondern entweder um eine Fälschung, oder höchstens um ein Gefälligkeitsschreiben.
Dazu wird vom erkennenden Gericht auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien betreffend die Echtheitsüberprüfung von Dokumenten vom 09.02.2023 hingewiesen, wonach neben gefälschten Dokumenten auch echte Dokumente unwahren Inhalts im Umlauf sind.
Dabei wurde weiter auch berücksichtigt, dass nach Transparency International Syrien sich hinsichtlich des Korruptionsindexes weltweit unter 180 bewerteten Staaten gemeinsam mit dem Südsudan noch vor Somalia an 178. Stelle befindet und demnach davon auszugehen ist, dass bei Zahlung eines entsprechenden Betrages in Syrien auch „gewünschte Dokumente“ auf Originalpapier ausgestellt, und natürlich auch als Kopie via WhatsApp weitergeleitet werden.
Sollte sich das BVwG jedoch irren und würden kurdische Behörden tatsächlich aktuell nach dem BF fahnden, wäre es dem BF bei einem Kontakt mit kurdischen Behörden unter Vorlage der mit dem jeweiligen Datum versehenen österreichischen Dokumente aus seinem Asylverfahren sehr leicht möglich nachzuweisen, dass er sich nicht als Kämpfer der Freien Syrischen Armee in Syrien aufgehalten hat, sondern tatsächlich Syrien verlassen hat und versucht hat, in Österreich Fuß zu fassen. Derart würde auch der Vorwurf, dass er ein Kämpfer für die Freie Syrische Armee sei, fallengelassen werden müssen und eine vom BF deswegen behauptete asylrelevante Verfolgungsgefahr auch nicht weiter bestehen.
2.2.5. Weder der BF, noch die BBU vermochten glaubhaft zu machen, dass der BF bei einer Rückkehr nach Syrien deswegen eine asylrelevante Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, weil der BF Syrien illegal verlassen hat, bzw. weil er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Der BF bzw. die BBU haben schlicht dafür keine entsprechenden Nachweise erbracht bzw. diesbezüglich nicht so logisch und schlüssig argumentiert, dass dieses Vorbringen als glaubhaft bezeichnet werden könnte.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Beschwerdeverfahren vom BVwG eingebrachten Länderberichten, hinsichtlich derer auch im Vorfeld der beim BVwG abgehaltenen mündlichen Verhandlung das Parteiengehör durchgeführt wurde. Das Länderinformationsblatt und die herangezogenen Anfragebeantwortungen basieren auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen von staatlichen Stellen, als auch von renommierten Nichtregierungsorganisationen und gewährleisten einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Syrien. Für das BVwG bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte bzw. den ins Beschwerdeverfahren eingebachten Anfragebeantwortungen zu zweifeln.
Auch der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung haben gegen die ins Verfahren eingebrachten Berichten und Anfragebeantwortungen kein Vorbringen erstattet, sodass diese Berichte und Anfragebeantwortungen ungekürzt und unwidersprochen in voller Länge dem Beschwerdeverfahren zugrunde gelegt werden können.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
3.1.3. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).
3.1.4. Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
3.1.5. Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist somit die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.).
3.1.6. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
3.1.7. Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 2005 setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627). Nach ständiger Rechtsprechung stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, 92/01/0560). Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
3.1.8. Im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erscheint es nicht unschlüssig, wenn den ersten Angaben, die ein Asylwerber nach seiner Ankunft in Österreich macht, gegenüber späteren Steigerungen erhöhte Bedeutung beigemessen wird (vgl. VwGH 08.07.1993, 92/01/1000; VwGH 30.11.1992, 92/01/0832; VwGH 20.05.1992, 92/01/0407; VwGH 19.09.1990, 90/01/0133). Der Umstand, dass ein Asylwerber bei der Erstbefragung gravierende Angriffe gegen seine Person unerwähnt gelassen hat, spricht gegen seine Glaubwürdigkeit (VwGH 16.09.1992, 92/01/0181). Auch unbestrittenen Divergenzen zwischen den Angaben eines Asylwerbers bei seiner niederschriftlichen Vernehmung und dem Inhalt seines schriftlichen Asylantrages sind bei schlüssigen Argumenten der Behörde, gegen die in der Beschwerde nichts Entscheidendes vorgebracht wird, geeignet, dem Vorbringen des Asylwerbers die Glaubwürdigkeit zu versagen (Vgl. VwGH 21.06.1994, 94/20/0140). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, 2001/20/0006, zum Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 23.01.1997, 95/20/0303 zu Widersprüchen bei einer mehr als vier Jahre nach der Flucht erfolgten Einvernahme hinsichtlich der Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in seinem Heimatdorf nach seiner Haftentlassung) können für sich allein nicht ausreichen, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. dazu auch VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).
3.1.9. Einzelfallrelevant kann aber immer nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Die Verfolgungsgefahr muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
3.1.10. Die Verfolgungsgefahr muss ferner dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 23.07.1999, 99/20/0208; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177; VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
3.1.11. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt zusammenfassend dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
3.1.12. Wie sich aus den obigen Feststellungen und der zugehörigen Beweiswürdigung ergibt, ist es dem Beschwerdeführer weder im vorangegangenen Asylverfahren vor dem BFA noch im gegenständlichen Beschwerdeverfahren vor dem BVwG gelungen, eine aktuelle, konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr maßgeblicher Intensität und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines Konventionsgrundes im Sinne der GFK ausgehend von staatlicher Seite (Assad-Regime) beziehungsweise vor den Kurden oder der YPG oder von anderen Personen oder Personengruppen für den Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Herkunftsregion des Beschwerdeführers in Syrien darzutun bzw. glaubhaft zu machen.
3.2.1. Wie festgestellt hat der Beschwerdeführer von keinen in Dashisha Margada stattgefundenen Zwangsrekrutierungen aus eigener Wahrnehmung berichtet. Er hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr aktuell in Dashisha Margada einer Verfolgungsgefahr infolge einer ihm drohenden Rekrutierung oder Zwangsrekrutierung ausgesetzt wäre.
3.2.2. Unbeschadet des Umstandes, dass der BF eine erforderliche asylrelevante Verfolgungsgefahr für eine Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht glaubhaft gemacht hat, steht einer allfälligen Relevanz des erstmals in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erstatteten Vorbringens hinsichtlich einer dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Dashisha Margada drohende Verfolgungsgefahr durch kurdische Behörden infolge einer ihm unterstellten antikurdischen politischen Gesinnung, weil er ein Kämpfer der Freien Syrischen Armee sei, aber auch das im Beschwerdeverfahren geltende Neuerungsverbot des § 20 BFA-VG entgegen:
Gemäß § 20 Abs. 1 BFA-VG dürfen in einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des BFA neue Tatsachen und Beweismittel nur vorgebracht werden,
1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat;
2. wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war;
3. wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren oder
4. wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen.
Für die Annahme eines Neuerungsverbotes bedarf es nach ständiger Rechtsprechung der Auseinandersetzung mit der für die Annahme eines Neuerungsverbotes erforderlichen Voraussetzung der missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens (VwGH 27.09.2005, 2005/01/0313; VwGH 26.03.2007, 2007/01/0074).
Gegenständlich hat sich weder der Sachverhalt nach der Entscheidung des BFA maßgeblich geändert, noch war das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft – wie beweiswürdigend ausgeführt, hatte der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vor dem BFA ausreichend Gelegenheit, seine Fluchtgründe umfassend zu schildern – noch waren dem Beschwerdeführer bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des BFA die später vorgebrachten Tatsachen nicht zugänglich, noch bestehen objektivierbare (z.B. durch medizinische Befunde untermauerte) Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen wäre, diese vorzubringen. Jedenfalls hätte der BF seine „neuen Fluchtgründe“ noch vor einer Entscheidung durch das BFA diesem in einem gesonderten Schriftsatz bekanntgeben können oder, wenn er diese geltend hätte machen wollen, auch mitteilen müssen. Diese Mitwirkung hat er jedoch aus eigenem Verschulden unterlassen.
Das erkennende Gericht geht von einem neuen Vorbringen des Beschwerdeführers aus, mit dem dieser das Verfahren missbräuchlich zu verlängern versucht. Durch diese missbräuchliche Verlängerung versucht er im Falle der Stattgebung seiner Beschwerde auf Basis des neu erstatteten Vorbringens die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten „zu gewinnen“. Dass es dem Beschwerdeführer nicht gleichgültig, welchen Schutzstatus er erhält, wurde bereits durch die zulässige Erhebung einer Beschwerde widerlegt. Damit verbunden ist nämlich auch der Rechtsvorteil einer rascheren bzw. wesentlich einfacheren Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau und seinen vier minderjährigen Kindern verbunden, die offensichtlich vom BF durch die Beschwerdeerhebung intendiert ist. Dazu hat er insbesondere auch bereits Kopien der syrischen Reisepässe seiner vier Kinder und seiner Ehefrau ins Asylverfahren eingebracht.
Einem allfälligen Einwand des Beschwerdeführers, er habe als rechtsunkundige Person nicht gewusst, dass der konkrete Fluchtgrund für das Asylverfahren von zentraler Bedeutung sei, ist entgegenzuhalten, dass er vom BFA ausdrücklich aufgefordert wurde seine Flucht- und Asylgründe genau zu schildern und anschließend noch einmal nachgefragt wurde, ob er alle Fluchtgründe genannt habe. Anschließend wurde dann noch weiter nach dem fluchtauslösenden Grund ganz konkret nachgefragt.
Dazu wird vom erkennenden Gericht hingewiesen, dass eine juristische Ausbildung für die Erfüllung der Mitwirkungspflicht durch eine schutzsuchende Person nicht erforderlich ist.
Bezüglich des – unzutreffenden – Vorwurfs des Beschwerdeführers, wonach das behördliche Ermittlungsverfahren mangelhaft gewesen sei, wird auf die Feststellungen und die beweiswürdigenden Ausführungen und die wörtliche Wiedergabe des Inhaltes bzw. den Verlauf der behördlichen Einvernahme vor dem BFA verwiesen. Gerade in der gegenständlichen Angelegenheit hat das BFA in vorbildlicher Art und Weise eine umfassende sehr klare, präzise und in sich schlüssige Beweiswürdigung vorgenommen, welche vom Verfasser der Beschwerde offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Das Bundesverwaltungsgericht gelangte zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer nach Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus durch die belangte Behörde in rechtsmissbräuchlicher Absicht ein neues – zudem nicht den Tatsachen entsprechendes – Vorbringen erstattete, um den Asylstatus zu erlangen.
Der Beschwerdeführer ist sohin mit dem erstmals in der Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG erstatteten Vorbringen auf das Neuerungsverbot gemäß § 20 BFA-VG zu verweisen, weshalb dieses außer Betracht zu bleiben hat und dessen mangelnde Glaubhaftigkeit nicht weiter von Belang ist (vgl. VwGH 29.07.2015, Ra 2015/18/0036).
3.2.3. Der Beschwerdeführer kann seinen Herkunftsort Dashisha Margada grundsätzlich über den Landweg aus jedem mit einem Flugzeug legal und sicher erreichbaren Flughafen in der Türkei über einen syrisch-türkischen Grenzübergang oder über einen sicher erreichbaren Flughafen in Kurdisch-Irak und über einen Grenzübergang an der syrisch-irakischen Grenze, der von kurdischen Milizen kontrolliert wird, erreichen, ohne mit syrischen Assad-Behörden in Kontakt treten zu müssen. Zudem wird vom erkennenden Gericht darauf hingewiesen, dass es bei der Frage der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten auf eine sichere Erreichbarkeit des Herkunftsortes nicht ankommt (VwGH 03.01.2023, Ra 2022/01/0328).
3.2.4. Wenn – so wie die BBU dies offensichtlich in sehr vielen Beschwerdeverfahren, in denen sie syrische Asylwerber vertritt, intendiert – dass jeder Person, die Syrien illegal verlässt und/oder in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, in Syrien eine asylrelevante Verfolgung drohen würde, würde das in konsequenter weiterer logischen Abfolge – wenn man diese Auffassung der BBU mittragen würde - dazu führen, dass jedem Syrer, der entweder illegal Syrien verlassen hat und/oder in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, in Österreich auch tatsächlich der Status eines Asylberechtigten zu gewähren wäre. Dies würde jedoch nicht nur in Widerspruch zum in Österreich auf der Rechtsgrundlage der Statusrichtlinie anzuwendenden Regelungswerk des Asylrechtes stehen, sondern würde auch den Sinn und die Anwendbarkeit der Genfer Flüchtlingskonvention selbst in Frage stellen. Das erkennende Gericht weist in diesem Zusammenhang auf den klaren Wortlaut des § 3 AsylG 2005 hin, wonach hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten vom Asylwerber jedenfalls eine Verfolgung im jeweiligen Herkunftsstaat glaubhaft zu machen ist. Ein bloßer Hinweis, dass jemand sein Herkunftsland illegal verlassen hat und in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, stellen nach dem klaren Wortlaut des § 3 AsylG keine Gründe dar, die – unabhängig vom Herkunftsstaat - dazu führen, dass einem Asylwerber der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.
3.2.5. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten oder sonstigen Gründen in seiner Herkunftsregion keine asylrelevante Verfolgung.
Auch aus der aktuellen allgemeinen Lage in Syrien lässt sich für den Beschwerdeführer eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht herleiten: Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellen nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 17.06.1993, 92/01/1081; VwGH 14.03.1995, 94/20/0798). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529; VwGH 08.09.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
Insgesamt liegen sohin keine Umstände vor, wonach es ausreichend wahrscheinlich wäre, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre. Daher war die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten durch das BFA im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des BVwG auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.