Spruch
G314 2274355-1/3E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der rumänischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Klaus SCHIMIK, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2023, Zl. XXXX , betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots samt Nebenentscheidungen:
A) Der Beschwerde wird insofern Folge gegeben, als der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs 3 VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zur allfälligen Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen wird.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
Verfahrensgang und Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin (BF), eine in Österreich laut Strafregister nach wie vor unbescholtene rumänische Staatsangehörige ohne Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet, wurde am XXXX 2023 in Rumänien festgenommen und am XXXX 2023 nach Österreich ausgeliefert, wo sie seither in der Justizanstalt XXXX angehalten wird. Am XXXX 2023 wurde über sie die Untersuchungshaft verhängt.
Am XXXX 2023 wurde die BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme vernommen. Dabei leugnete sie die Begehung einer strafbaren Handlung und betonte, sie sei unschuldig.
Ohne das Ergebnis des gegen die BF geführten Strafverfahrens abzuwarten, erließ das BFA den nunmehr angefochtenen Bescheid, mit dem es gegen sie gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein mit fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erließ (Spruchpunkt I.), ihr keinen Durchsetzungsaufschub erteilte (Spruchpunkt II.) und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannte (Spruchpunkt III.). Dies wurde mit dem gegen die BF bestehenden dringenden Tatverdacht in Zusammenschau mit dem Umstand, dass sie aus dem Ausland eigens zum Zweck der Tatbegehung nach Österreich eingereist sei, begründet. Ohne nähere Begründung ging das BFA davon aus, dass von einer ausgeprägt negativen Zukunftsprognose auszugehen sei. Abgesehen von ihrem in Österreich lebenden Bruder würden alle Verwandten der BF in Rumänien leben. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und die Versagung eines Durchsetzungsaufschubs wurden ebenfalls mit ihrem strafbaren Verhalten, ihrer Mitgliedschaft bei einer kriminellen Vereinigung und der Einreise in das Bundesgebiet eigens zur Tatbegehung begründet.
Nach Erlassung dieses Bescheids, der der BF am XXXX 2023 zugestellt wurde, übermittelte die Justizanstalt XXXX dem BFA am XXXX 2023 eine Kopie des Ausweises der BF.
Gegen den Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften, unrichtiger Tatsachenfeststellungen und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Beschwerde, die am XXXX 2023 zur Post gegeben wurde. Die BF beantragt damit die Anberaumung einer Beschwerdeverhandlung und die ersatzlose Aufhebung (gemeint offenbar: Behebung) des angefochtenen Bescheids, hilfsweise die Reduktion der Dauer des Aufenthaltsverbots und die Erteilung eines Durchsetzungsaufschubs. Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass nicht nachvollziehbar sei, warum gegen sie als Ersttäterin ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot erlassen worden sei, zumal strafgerichtliche Verurteilungen für sich genommen nicht ausreichen würden, um ein Aufenthaltsverbot zu rechtfertigen. Das BFA habe ihr Privat- und Familienleben und das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht bzw. nur marginal berücksichtigt. Der Umstand, dass sie erstmals straffällig geworden sei, hätte bei der Zukunftsprognose ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Die Versagung eines Durchsetzungsaufschubs sei nicht nachvollziehbar, weil die BF ohnedies vorhabe, nach der Haftentlassung freiwillig auszureisen.
Am XXXX 2023 informierte die Justizanstalt XXXX das BFA über den Strafantritt der BF, am XXXX 2023 über ihre voraussichtliche Entlassung am XXXX 2023. Gleichzeitig übermittelte das Landesgericht XXXX dem BFA den Beschluss vom XXXX über die bedingte Entlassung der BF am XXXX 2023.
Das BFA legte die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte, sie als unbegründet abzuweisen. Im Vorlagebericht wird darauf hingewiesen, dass das Strafurteil am XXXX 2023 angefordert worden sei und dem BVwG bei Einlangen umgehend nachgereicht werden würde. Die Beschwerde und die Verwaltungsakten langten am XXXX 2023 beim BVwG und am XXXX bei der zuständigen Außenstelle Graz des BVwG ein.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang und die entscheidungswesentlichen Feststellungen ergeben sich aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG (Abfragen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, Zentralen Melderegister und Strafregister). Entscheidungswesentliche Widersprüche liegen insoweit nicht vor, sodass sich eine eingehendere Beweiswürdigung erübrigt.
Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über eine Bescheidbeschwerde iSd Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG wie die vorliegende dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z 1) oder dessen Feststellung durch das Gericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z 2). Wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, hat das Gericht gemäß § 28 Abs 3 VwGVG dann meritorisch zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an die Behörde zurückverweisen, die dann an die rechtliche Beurteilung, von der das Gericht ausgegangen ist, gebunden ist.
§ 28 VwGVG normiert einen prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte (siehe z.B. VwGH 19.06.2020, Ra 2019/06/0060). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt dann in Betracht, wenn die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Behörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Wenn die Behörde den entscheidungswesentlichen Sachverhalt unzureichend festgestellt hat, indem sie keine für die Sachentscheidung brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert hat, ist eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG zulässig (vgl. VwGH 28.03.2017, Ro 2016/09/0009).
Solche gravierenden Ermittlungslücken liegen hier vor, zumal die BF laut Strafregister nach wie vor unbescholten ist und dem BVwG kein Strafurteil vorliegt. Die Beschwerde weist zu Recht darauf hin, dass bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des oder der Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des oder der Fremden abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (siehe z.B. VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0091). Hier hat das BFA keine Ermittlungen dazu angestellt, welcher Tat(en) die BF für schuldig befunden wurde, welche Zeit seither verstrichen ist, welchen Schaden sie angerichtet hat, ob sie mit einem oder mehreren Mittätern oder gar als Mitglied einer kriminellen Vereinigung tätig geworden ist und welche Strafbemessungsgründe berücksichtigt wurden. Die Frage, ob und wenn ja, für welche Dauer ein Aufenthaltsverbot zu erlassen ist, bedarf einer eingehenden Auseinandersetzung mit allen Umständen des Falles (etwa auch mit der Frage, eine führende oder untergeordnete Tatbeteiligung, eine einmalige Tat oder wiederholte Tathandlungen vorlagen). Ebensowenig wurden Erhebungen zur finanziellen Situation der BF vorgenommen, obwohl das BFA diese als relevant für die Wiederholungsgefahr erachtete. Das bloße Fehlen einer Beschäftigung im Inland ist dafür – insbesondere im Hinblick auf den im angefochtenen Bescheid angenommenen Lebensmittelpunkt der BF in ihrem Herkunftsstaat – nicht ausreichend.
In Bezug auf die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und die Versagung eines Durchsetzungsaufschubs ist darauf hinzuweisen, dass dafür ebenfalls das Gesamtverhalten der BF maßgeblich ist, was dagegen spricht, dass diese Spruchpunkte alleine mit dem Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung begründet werden können. Überlegungen, die schon bei der Entscheidung über die Verhängung eines Aufenthaltsverbots anzustellen sind, vermögen die Begründung für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG und die Versagung eines Durchsetzungsaufschubes keinesfalls zu ersetzen. Es genügt nicht, zur Notwendigkeit der sofortigen Ausreise der BF im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auf eine - die Aufenthaltsbeendigung als solche rechtfertigende - Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch sie zu verweisen, sondern es ist darüber hinaus darzutun, warum die Aufenthaltsbeendigung sofort - ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens - zu erfolgen hat. Dazu ist es nicht ausreichend, jene Überlegungen ins Treffen zu führen, die schon bei der Entscheidung über die Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme selbst maßgeblich waren. Es bedarf daher einer über die Erwägungen für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes nach § 67 FPG hinausgehenden besonderen Begründung, weshalb die Annahme gerechtfertigt ist, der weitere Aufenthalt der BF während der Dauer des Beschwerdeverfahrens gefährde die öffentliche Ordnung oder Sicherheit derart, dass ihre sofortige Ausreise bzw. Abschiebung schon nach Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides - ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens - erforderlich ist (siehe VwGH 16.01.2020, Ra 2019/21/0360) Diesen Anforderungen wird die Begründung der Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Bescheids nicht gerecht, zumal aus den Verwaltungsakten derzeit keine besondere Begründung für die Notwendigkeit der sofortigen Ausreise der BF bereits nach Erlassung des erstinstanzlichen Bescheids ersichtlich ist. Sie hat offenbar erstmals das Haftübel verspürt, wobei erfahrungsgemäß von einer erhöhten spezialpräventiven Wirkung des Erstvollzugs auszugehen ist, und hat angekündigt, Österreich nach der Haftentlassung zu verlassen.
Aus diesen Gründen sind derzeit nur ansatzweise relevante Ermittlungsergebnisse vorhanden und es liegt nahe, dass das BFA die konkrete Auseinandersetzung mit den Taten der BF und ihrem Persönlichkeitsbild unterlassen hat, damit die Ermittlungen dazu durch das BVwG vorgenommen werden, zumal der Bescheid noch vor ihrer strafgerichtlichen Verurteilung erlassen wurde und bis zur Aktenvorlage keine Urteilsausfertigung, ja nicht einmal eine Eintragung im Strafregister, vorlag. Daher sind die Voraussetzungen für die Zurückverweisung der Sache an das BFA gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG erfüllt. Auf Basis der vorliegenden Beweisergebnisse ist weder Gefährdungsprognose noch eine Interessenabwägung iSd § 9 BFA-VG nachvollziehbar möglich. Die notwendige Ergänzung des Ermittlungsverfahrens erreicht ein solches Ausmaß, dass ihre Nachholung durch das BVwG weder im Interesse der Raschheit gelegen noch mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Da das BFA bislang keine geeigneten Schritte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts gesetzt hat und dieser in zentralen Teilen ergänzungsbedürftig ist, kann derzeit noch nicht beurteilt werden, ob gegen die BF eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen ist und wenn ja, in welcher Dauer. Im Ergebnis ist der angefochtene Bescheid daher gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur allfälligen Erlassung eines neuen Bescheids nach Verfahrensergänzung an das BFA zurückzuverweisen.
Eine mündliche Verhandlung entfällt gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG, weil schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Die Revision ist mangels einer grundsätzlichen Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG, insbesondere wegen der Einzelfallbezogenheit der Entscheidung über die Anwendung des § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG (siehe z.B. VwGH 31.01.2019, Ra 2018/07/0486), nicht zuzulassen.