Spruch
W169 2259438-1/9E
Im namen der republik
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2022, Zl. 1284522903-211307805, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.02.2023, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Somalia, stellte nach illegaler und schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 10.09.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag führte der Beschwerdeführer an, dass er aus Beledweyne stamme, der Volksgruppe der Ashraf angehöre, sich zum Islam bekenne und verheiratet sei. Seine Muttersprache sei Somali. Er habe acht Jahre die Schule besucht. Sein Vater sei verstorben, in Somalia würden seine Ehefrau, seine Mutter und elf Geschwister leben. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er von der Al Shabaab angeworben worden sei, das aber nicht gewollt habe. Seine Mutter habe ihm den Schlepper bezahlt und er sei geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.
2. Anlässlich seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 10.01.2022 führte der Beschwerdeführer an, dass er in Beledweyne geboren worden sei, dem Clan der Ashraf, einem Subclan der Reer Aw Hassa, sowie der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime angehöre. Er sei seit Juli 2018 verheiratet und gesund. In Somalia habe er acht Jahre die Schule besucht und nicht gearbeitet. Seine Mutter habe für eine Hilfsorganisation gearbeitet und er habe ihr bei der Verteilung von Geld und Lebensmitteln geholfen. Seine Familie habe in Beledweyne von der Landwirtschaft gelebt und sie seien von Angehörigen in den USA unterstützt worden. Sein Vater sei im Jahr 2000 verstorben. Seine Mutter, ein Bruder, eine Schwester, fünf Halbbrüder und eine Halbschwester seien in einem Flüchtlingslager in Kenia aufhältig. Ein Halbbruder sowie eine Halbschwester des Beschwerdeführers würden in den USA leben. Mit Behörden in seiner Heimat habe er keine Probleme gehabt.
Zu seinen Fluchtgründen brachte der Beschwerdeführer vor, dass er ein Monat schulfrei gehabt und in dieser Zeit seine Mutter bei ihrer Tätigkeit für eine Hilfsorganisation unterstützt habe. Seine Mutter habe Geld und Lebensmittel unter armen Familien verteilt. Sie sei von Angehörigen der Al Shabaab angerufen und aufgefordert worden, Zakat zu zahlen, weil sie das Geld von „dieser ungläubigen Hilfsorganisation“ bekomme. Seine Mutter habe das Geld nicht zahlen können, weswegen ihr alternativ angeboten worden sei, den Beschwerdeführer der Al Shabaab zu übergeben. Seine Mutter habe erwidert, dass es die Entscheidung des Beschwerdeführers sei, ob er sich der Al Shabaab anschließe. Daraufhin sei der Beschwerdeführer mehrmals von der Al Shabaab angerufen worden. Er hätte sich an den Kämpfen beteiligen oder sie hätten Schutzgeld bezahlen sollen. Dies sei im September 2018 passiert. Eine andere Familie in seinem Heimatort sei in einer vergleichbaren Situation gewesen. Der Sohn sei von der Al Shabaab entführt worden und nicht wieder aufgetaucht. Deshalb habe der Beschwerdeführer Angst gehabt und sei aus Somalia geflüchtet. Seine Mutter sei mit den weiteren Familienangehörigen zeitgleich nach Kenia gezogen. Für eine kurze Zeit sei sie dann mit den Kindern in Mogadischu gewesen. Da ihr dort von einer Hilfsorganisation mitgeteilt worden sei, dass die Al Shabaab in Beledweyne nach ihr suche, sei sie nach Kenia zurückgekehrt. Im Falle einer Rückkehr nach Mogadischu würde der Beschwerdeführer aufgrund der Bekanntheit seiner Mutter wieder flüchten müssen.
Zu seinen Lebensumständen in Österreich gab der Beschwerdeführer an, dass er sich für einen Deutschkurs angemeldet habe, nicht Mitglied in einem Verein oder in einer sonstigen Organisation sei, soziale Kontakte in seiner Unterkunft geknüpft habe und Fußball spiele.
Am Ende der Einvernahme wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, das aktuelle Länderinformationsblatt zu Somalia ausgehändigt zu bekommen. Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Ausfolgung des Länderinformationsblattes und die Möglichkeit, eine Stellungnahme dazu abzugeben.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde und monierte nach Wiederholung seiner bisher im Verfahren getätigten Angaben unter Angabe näherer Gründe mangelhafte Feststellungen, eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
5. Am 16.02.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt nicht erschienen. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt (siehe Verhandlungsprotokoll).
In der mündlichen Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer eine Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme zu dem aktuellen Länderinformationsblatt zu Somalia gewährt, die der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung am 21.02.2023 schriftlich beim Bundesverwaltungsgericht einbrachte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.
Er ist Staatsangehöriger von Somalia, gehört der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime und dem Clan der Ashraf, Subclan Reer Aw Hassan, an. Seine Muttersprache ist Somali. Der Beschwerdeführer ist seit Juli 2018 verheiratet. Er ist gesund.
Der Beschwerdeführer wurde in Beledweyne, Region Hiiraan, geboren. Er besuchte in Somalia acht Jahre die Schule und ging keiner Arbeit nach. Er unterstützte seine Mutter, die für eine Hilfsorganisation arbeitete. Mit seiner Mutter, seinem Bruder, einer Schwester und einer Halbschwester mütterlicherseits sowie seiner Ehefrau lebte der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise im Oktober 2018 in einer Hütte in seinem Heimatort. Sein Vater ist im Jahr 2000 verstorben. Der Beschwerdeführer verfügt noch über sechs Halbbrüder und zwei Halbschwestern väterlicherseits.
Der Beschwerdeführer hatte keine Probleme mit den Behörden in Somalia.
Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers wurde er in seinem Heimatort nicht von der Al Shabaab aufgefordert, sich ihnen anzuschließen und wurde nicht aus diesem Grund mit dem Tod bedroht. Die Mutter des Beschwerdeführers wurde ebenso wenig von der Al Shabaab wegen ihrer Tätigkeit für eine Hilfsorganisation bedroht. Die Familie des Beschwerdeführers ist aufgrund dessen nicht nach Kenia gezogen. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in sein Heimatgebiet keine erhöhte Gefahr – etwa einer Zwangsrekrutierung - durch die Al Shabaab.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgehalten:
1. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Letzte Änderung: 25.07.2022
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2022). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIFOS 9.4.2019, S. 6).
Quelle: PGN 12.2021
Quellen:
ACLED - Armed Conflict Location Event Data Project (2022): Curated Data - Africa (14 January 2022), https://acleddata.com/curated-data-files/, Zugriff 19.1.2022
LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (9.4.2019): Somalia - Folkbokförning, medborgarskap och identitetshandlngar, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007147/190423300.pdf, Zugriff 18.5.2022
PGN - Political Geography Now (12.2021): Somalia Control Map Timeline - December 2021, per e-Mail, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://controlmaps.polgeonow.com/2021/12/who-controls-somalia-crisis-timeline/, Zugriff 27.6.2022
2. Sicherheitslage in HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle)
Letzte Änderung: 25.07.2022
Die Macht der Regierung von HirShabelle ist auf Teile von Middle Shabelle bzw. Jowhar beschränkt. Sie hat phasenweise Einfluss entlang der Straße von Jowhar nach Mogadischu. Zudem kann HirShabelle auch in Belet Weyne – beschränkt – Einfluss ausüben (BMLV 7.7.2022). Dahingegen kontrolliert al Shabaab auch weiterhin große Teile des Bundesstaates - v. a. ländliche Gebiete und wichtige Versorgungswege (HIPS 8.2.2022, S. 28). Die Hauptroute von Mogadischu nach Jowhar gilt als gefährlich (Bryden 8.11.2021). Die Sicherheitslage entlang der Straße Jowhar - Buulo Barde - Belet Weyne hat sich verschlechtert, die Straße gilt nicht als durchgehend sicher (BMLV 7.7.2022), als de facto (für Regierungszwecke) unpassierbar (BMLV 7.7.2022; vgl. Bryden 8.11.2021). Staatsvertreter und Menschen, die sich gegenüber al Shabaab nicht als loyal bezeichnen, können die meisten Städte des Bundesstaates nur auf dem Luftweg sicher erreichen (HIPS 8.2.2022, S. 28).
Hiiraan: Belet Weyne, Buulo Barde und Jalalaqsi befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM (PGN 12.2021). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Im Nordwesten Hiiraans ist al Shabaab nur in geringer Stärke präsent. Vor allem der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist aktuell als sicher anzusehen (BMLV 7.7.2022). Wesentliche Teile von Hiiraan befinden sich hingegen unter Kontrolle von al Shabaab – vor allem die Gebiete westlich der Straße Jalalaqsi – Belet Weyne (PGN 12.2021).
Die Miliz der Macawiisley ist östlich von Belet Weyne auch weiterhin gegen al Shabaab aktiv (BMLV 7.7.2022), teils gemeinsam mit Regierungskräften - etwa bei der Übernahme des Ortes Jiraacle im Juni 2022 (ACLED 23.6.2022). Immer wieder wehren sich lokale Clans gegen al Shabaab. Z. B. töteten Hawadle / Ali Madaxweyne bei einem Racheangriff mehr als ein Dutzend Kämpfer der al Shabaab, nachdem diese zuvor einen Clanältesten getötet hatte (ACLED 9.6.2022).
Die UN unterstützt in Hiiraan den Versöhnungsprozess zwischen Dir und Hawadle und auch jenen zwischen Jejele und Makane (UNSC 10.8.2021, Abs. 27). Beim Konflikt zwischen Abdalla Aroni und Eli Oumar konnte die Regionalregierung vermitteln (UNSC 17.2.2021, Abs. 33).
In Hiiraan leistet aufgrund des Konflikts um die Neuwahl des Präsidenten von HirShabelle der sogenannte Hiiraan Salvation Council unter dem ehemaligen Armeegeneral Abukar Huud Widerstand gegen die Regierung von HirShabelle. Schon im Jänner 2021 war es bei Kämpfen zwischen Kräften der Regierung und Milizen von General Huud zu Todesopfern gekommen (HO 16.2.2021). Zusätzlich hat Huud Zulauf von anderen Clans erhalten (Sahan 15.3.2021). Am 12.7.2021 traf General Huud erstmals für Verhandlungen mit einem Vertreter der Regierung von HirShabelle zusammen. Trotzdem sind die Spannungen zwischen Milizen, die zu General Huud loyal stehen, und der Regierung von HirShabelle immer größer geworden (UNSC 10.8.2021, Abs. 8). Im August 2021 hat die Hiiraan Salvation Army kurzfristig die Kontrolle über Belet Weyne übernommen, um einen Besuch des Präsidenten von HirShabelle zu verhindern; sie zog sich aber dann zurück (PGN 12.2021). Zum Jahreswechsel 2021/2022 kam es in der Nähe von Belet Weyne zu Kämpfen zwischen beiden Seiten, acht Menschen wurden getötet und elf Weitere verletzt. Die Kampfhandlungen endeten nach Intervention von Ältesten (UNSC 8.2.2022, Abs. 24).
Aufgrund dieser Zuspitzung der Rivalität zwischen lokalen Clans und der Regierung von HirShabelle kam es zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage um Belet Weyne. In der Stadt selbst ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der al Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer ATMIS-Truppen und der äthiopischen Armee (BMLV 7.7.2022). Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und Teile einer Formed Police Unit von ATMIS (BMLV 7.7.2022; vgl. AMISOM 23.2.2021). Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte. Clankonflikte werden nicht in der Stadt, sondern mehrheitlich außerhalb ausgetragen. Die in Belet Weyne vorhandene Präsenz der al Shabaab scheint kaum relevant (BMLV 7.7.2022). Allerdings kam es am 23.3.2022 zu zwei schweren Anschlägen der Gruppe. Dabei wurden in Belet Weyne 47 Personen getötet und 90 verletzt. Unter den Toten fand sich auch eine neugewählte Abgeordnete zum somalischen Unterhaus (AQ8 4.2022); nach anderen Angaben wurden sogar 50 Menschen getötet und 106 verletzt. Bereits im Feber 2022 waren bei einem Anschlag auf eine Wahlveranstaltung in Belet Weyne mindestens 18 Menschen getötet worden (UNSC 13.5.2022, Abs. 17ff).
Bewohner von Buulo Barde beklagten sich im Feber 2021, dass ihr Bezirk von al Shabaab abgeriegelt worden ist (Sahan 2.3.2021b). Im September 2021 haben die Islamisten auch den dortigen Flughafen überfallen (HIPS 8.2.2022, S. 28). Im Bezirk Matabaan kam es Ende Juni 2022 zu schweren Kämpfen zwischen Regierungskräften und al Shabaab (GN 27.6.2022).
Middle Shabelle: Jowhar, Balcad und Cadale befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM (PGN 12.2021). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 7.7.2022). Adan Yabaal und der gesamte nördliche Teil von Middle Shabelle befinden sich unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 12.2021). Die Gruppe ist in Middle Shabelle am Vorrücken, die Region ist einer ihrer operativen Schwerpunkte und dient al Shabaab als Angriffskorridor nach Mogadischu. Die Gruppe nutzt verstärkt die direkt von Norden nach Mogadischu kommende Versorgungsroute westlich von Balcad. Dazu hat al Shabaab Raum in der Nähe von Balcad eingenommen und ist näher an die Stadt gerückt. Das Gebiet ostwärts der Hauptverbindung von Balcad nach Jowhar befindet sich unter Kontrolle von al Shabaab (BMLV 7.7.2022). Dort haben Sicherheitskräfte 2021 den Kampf gegen al Shabaab verstärkt - v. a. im Gebiet Jowhar (ACLED 9.6.2021). Eine größere Offensive der Bundesarmee Ende Mai traf auf Widerstand von al Shabaab (UNSC 10.8.2021, Abs. 13). In diesem Zusammenhang kam es auch zu Fluchtbewegungen (UNOCHA 17.6.2021, S. 3). Die eigentlich vorgesehen Operation Badbaado 2, im Zuge derer al Shabaab von den Hauptversorgungsrouten vertrieben werden hätte sollen, wurde nie initiiert (HIPS 8.2.2022, S. 28).
Die größeren Städte befinden sich zwar unter Regierungskontrolle, diese Kontrolle ist allerdings völlig auf die Stadtgebiete begrenzt. Das Land zwischen den Städten ist „bandits’ country“ (BMLV 7.7.2022). Dabei war die Verbindungsstraße von Jowhar nach Mogadischu vor einiger Zeit noch derart sicher, dass auch hochrangige Vertreter der Bundesregierung hier häufig den Landweg nutzten. Mittlerweile können Vertreter von HirShabelle diese Straße nicht mehr verwenden. Sie und Vertreter der Bundesregierung benutzen auf diesen 90 Kilometern den Luftweg, über welchen auch die Versorgung für AMISOM abgewickelt wird (HIPS 2021, S. 17). Mitte Mai 2022 führte al Shabaab einen groß angelegten Angriff auf einen Stützpunkt burundischer Truppen in Ceel Baraf. Dutzende Kämpfer beider Seiten wurden dabei getötet (ACLED 16.5.2022).
Zwar ist al Shabaab im Dezember 2021 nach Balcad vorgedrungen (HIPS 8.2.2022, S. 28), doch würde AMISOM die Stadt nicht aufgeben – die Stadt gilt, wie erwähnt, als konsolidiert. Al Shabaab kann eine derartige Stadt also angreifen aber nicht einnehmen (BMLV 7.7.2022).
In Jowhar kommt es regelmäßig zu Aktivitäten von al Shabaab (HIPS 2021, S. 18). Im Bereich von Jowhar kam es in der Vergangenheit auch zu Kämpfen zwischen der eigentlich gegen al Shabaab gerichteten Miliz der Macawiisley und Sicherheitskräften (PGN 12.2021). Im Feber 2021 hatte al Shabaab eine Blockade gegen Jowhar geführt, diese wurde nach Verhandlungen schließlich beendet (UNSC 6.10.2021). Allerdings gilt die Stadt trotzdem als relativ ruhig. Dort befindet sich das Brigadekommando der burundischen AMISOM-Kräfte und ein Bataillon dieser Truppen (BMLV 7.7.2022).
Vorfälle: In den beiden Regionen Hiiraan und Middle Shabelle lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,04 Millionen Einwohner (UNFPA 10.2014, S. 31f). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 64 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie „violence against civilians“). Bei 39 dieser 64 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 32 derartige Vorfälle (davon 24 mit je einem Toten). In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2021 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie „violence against civilians“, in welcher auch „normale“ Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:
Quelle: (ACLED 2022 und Vorgängerversionen)
Quellen:
ACLED - Armed Conflict Location Event Data Project (23.6.2022): ACLED Regional Overview –Africa (11-17 June 2022), https://reliefweb.int/attachments/bd270633-3cec-48ba-ba6e-dabd4f41719c/acleddata.com-Regional%20Overview%20Africa%2011-17%20June%202022.pdf, Zugriff 29.6.2022
ACLED - Armed Conflict Location Event Data Project (9.6.2022): ACLED Regional Overview – Africa (28 May-3 June 2022), https://reliefweb.int/attachments/59f55df6-16c5-4a03-9b1f-4d2d97c a04cc/acleddata.com-Regional%20Overview%20Africa%2028%20May-3%20June%202022.pdf, Zugriff 29.6.2022
ACLED - Armed Conflict Location Event Data Project (16.5.2022): ACLED Regional Overview – Africa (23 April-6 May 2022), https://reliefweb.int/attachments/2a3c6057-9c85-4e59-b9ec-011 d62928fcb/Regional%20Overview_%20Africa%2023%20April-6%20May%202022.pdf, Zugriff 29.6.2022
ACLED - Armed Conflict Location Event Data Project (2022): Curated Data - Africa (14 January 2022), https://acleddata.com/curated-data-files/ , Zugriff 19.1.2022
ACLED - Armed Conflict Location Event Data Project (9.6.2021): ACLED Regional Overview – Africa (29 May - 4 June 2021), https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/acleddata.co m-Regional%20Overview%20Africa29%20May-4%20June%202021.pdf , Zugriff 8.7.2022
AMISOM (23.2.2021): AMISOM Police evaluates state of operations in HirShabelle State, https://amisom-au.org/2021/02/amisom-police-evaluates-state-of-operations-in-hirshabelle-state/, Zugriff 8.7.2022
AQ8 - Anonyme Quelle 8 (4.2022): Bei der Quelle handelt es sich um einen analytischen Newsletter
BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (7.7.2022): Interview der Staatendokumentation mit einem Länderexperten
Bryden, Matt / The Elephant (8.11.2021): Fake Fight: The Quiet Jihadist Takeover of Somalia, https://www.theelephant.info/long-reads/2021/11/08/fake-fight-the-quiet-jihadist-takeover-of-som alia/#.YYjpCzdaMR4.twitter, Zugriff 25.5.2022
GN - Goobjoog News (27.6.2022): Heavy fighting ongoing in Mataban as troops launch assault on Al-Shabaab, https://goobjoog.com/english/heavy-fighting-ongoing-in-mataban-as-troops-launc h-assault-on-al-shabaab/, Zugriff 29.6.2022
HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (8.2.2022): State of Somalia Report 2021, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2021-English-versi on.pdf, Zugriff 21.2.2022
HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (2021): State of Somalia Report 2020, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2020-Final-2.pdf, Zugriff 23.6.2022
HO - Hiiraan Online (16.2.2021): Hiiraan resistance faction gives HirShabelle Gov’t officials 48 hrs to exit from Beletweyne, https://www.hiiraan.com/news4/2021/Feb/181682/hiiraan_resistance_f action_gives_hirshabelle_government_48_hrs_to_withdraw_vp_from_beletweyne.aspx, Zugriff 7.7.2022
PGN - Political Geography Now (12.2021): Somalia Control Map Timeline - December 2021, per e-Mail, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://controlmaps.polgeonow.com/2021/12/wh o-controls-somalia-crisis-timeline/, Zugriff 27.6.2022
Sahan - Sahan / Warqaad (15.3.2021): The Somali Wire Issue No. 102, per e-Mail, Originallink auf Somali: https://www.warqaad.info/jabhada-abuukar-xuud-oo-hub-agab-kale-lagu-wareejiyey-saw irro/
Sahan - Sahan / Gedo Times (2.3.2021b): The Somali Wire No. 93, per e-Mail, Originallink auf Somali: https://www.gedotimes.com/2021/03/01/sawirobulshada-buulo-barde-oo-ka-cabanaya-g odoon-ay-galiyeen-alshabaab/
UNFPA - UN Population Fund (10.2014): Population Estimation Survey 2014 – Somalia, https://somalia.unfpa.org/sites/default/files/pub-pdf/Population-Estimation-Survey-of-Somalia-PESS-2 013-2014.pdf , Zugriff 8.7.2022
UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (17.6.2021): Somalia Humanitarian Bulletin, May 2021, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Somalia_%20Hum anitarian%20Bulletin_May%202021_final.pdf , Zugriff 8.7.2022
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UNSC - UN Security Council (8.2.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/101], https://www.ecoi.net/en/file/local/2068141/S_2022_101_E.pdf, Zugriff 21.2.2022
UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849), https://reliefweb.int/attachments/17a953bc-861a-348a-a59b-1e182f053030/S_2021_849_E.pdf , Zugriff 14.6.2022
UNSC - UN Security Council (10.8.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/723], https://www.ecoi.net/en/file/local/2058501/S_2021_723_E.pdf, Zugriff 18.5.2022
UNSC - UN Security Council (17.2.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/154], https://www.ecoi.net/en/file/local/2046029/S_2021_154_E.pdf, Zugriff 8.7.2022
3. Al Shabaab
Letzte Änderung: 26.07.2022
Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz (AA 28.6.2022, S. 5; vgl. SPC 9.2.2022). Zuletzt hat al Shabaab an Macht gewonnen (VOA 17.5.2022). Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen (TNH 20.5.2021). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias (BMLV 7.7.2022; vgl. BBC 18.1.2021) bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in „Großsomalia“ (USDOS 2.6.2022, S. 6) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 19.5.2021). Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah. Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus (UNSC 6.10.2021). Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (FP 22.9.2021).
Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit (ACCORD 31.5.2021, S. 7; vgl. FP 22.9.2021). V.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben (FP 22.9.2021). Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (BS 2022, S. 10).
Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen (BS 2022, S. 10). Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (HO 12.9.2021). Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung (ICG 27.6.2019, S. 1). Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (UNSC 6.10.2021). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 28.6.2022, S. 5/19).
Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 7.7.2022; vgl. JF 18.6.2021). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 7.7.2022).
Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden 8.11.2021). Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (C4 15.6.2022).
Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 12.4.2022, S. 29). Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattet letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (UNSC 6.10.2021).
Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft (Sahan 30.6.2022). Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021, S. 13). Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (FIS 7.8.2020, S. 15f).
Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk (Maruf 14.11.2018). Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer (VOA 17.5.2022), jedenfalls mindestens 10.000 Mann an permanent verfügbarer Kampftruppe; mit einer Hinzunahme diverser Dorfmilizen ist diese Zahl vervielfachbar (BMLV 7.7.2022). Eine Quelle vom Mai 2021 spricht von 5.000-10.000 (bewaffneten) Angehörigen der al Shabaab (ACCORD 31.5.2021, S. 8). Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln (WP 31.8.2019). Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 7.7.2022). Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann (BBC 27.5.2019). Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyad ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf 14.11.2018).
Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position (BBC 18.1.2021) bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis (FP 22.9.2021). Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (HIPS 2021, S. 3). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 12.2021).
Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021, S. 8). Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (LI 21.5.2019a, S. 3). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 7.7.2022). In den meisten Städten verfügt die Gruppe zudem über Schattenverwaltungen (FP 22.9.2021). „Kontrolliert“ wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch „exemplarische Gewalt“; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (ACCORD 31.5.2021, S. 8).
Kapazitäten: Al Shabaab hat insgesamt an Stärke gewonnen - auch hinsichtlich personeller und materieller Kapazitäten (BMLV 7.7.2022). Die Gruppe weitet ihren Einfluss ständig aus – nicht nur in den eigenen Gebieten, sondern auch in den nominell unter Kontrolle der Regierung befindlichen Landesteilen (Bryden 8.11.2021). Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z.B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021, S. 9).
Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel „Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen“]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem (BS 2022, S. 10), dort wird alles und jeder besteuert (HI 10.2020, S. 2f; vgl. BBC 18.1.2021). Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, S. 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (UNSC 6.10.2021).
Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen (UNSC 6.10.2021). Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen (Bryden 8.11.2021). In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (HI 10.2020, S. 1ff).
Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat (FDD 11.8.2021). Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel (FIS 7.8.2020, S. 18). So wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (HIPS 2021, S. 3).
Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren (VOA 17.5.2022). Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh (BS 2022, S. 10; vgl. UNSC 6.10.2021); sowie auf manche Dienstleistungen (HIPS 2020, S. 13). Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder „Einkommenssteuer“ an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 10.2020, S. 6f). Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (WP 31.8.2019).
Quellen:
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BBC - BBC News / Harper, Mary (27.5.2019): Somalia’s frightening network of Islamist spies, https://www.bbc.com/news/world-africa-48390166, Zugriff 23.6.2022
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Bryden, Matt / The Elephant (8.11.2021): Fake Fight: The Quiet Jihadist Takeover of Somalia, https://www.theelephant.info/long-reads/2021/11/08/fake-fight-the-quiet-jihadist-takeover-of-som alia/#.YYjpCzdaMR4.twitter, Zugriff 25.5.2022
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TNH - The New Humanitarian (20.5.2021): Somalia’s political crisis explained, https://www.thenew humanitarian.org/news-feature/2021/5/20/somalias-political-crisis-explained, Zugriff 6.7.2022
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WP - The Washington Post (31.8.2019): ‘If I don’t pay, they kill me’: Al-Shabab tightens grip on Somalia with growing tax racket, https://www.washingtonpost.com/world/africa/if-i-dont-pay-they-kill-me-al-shabab-tightens-its-grip-on-somalia-with-growing-tax-racket/2019/08/30/81472b38-b eac-11e9-a8b0-7ed8a0d5dc5d_story.html, Zugriff 6.7.2022
4. (Zwangs-)Rekrutierungen
Letzte Änderung: 26.07.2022
(Zwangs-)Rekrutierung: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB 3.2020, S. 5). Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert (HI 12.2018, S. 1). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool (Marchal 2018, S. 107). Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten (EASO 9.2021c, S. 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (Ingiriis 2020).
Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (Ingiriis 2020), jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, S. 92). Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z. B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zurAufklärung (BMLV 7.7.2022). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018, S. 105). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen (FIS 7.8.2020, S. 18; vgl. ICG 27.6.2019, S. 2). Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren (Khalil 1.2019, S. 14). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021, S. 36/40). Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 19.7.2022; vgl. FIS 7.8.2020, S. 17f). Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen (BMLV 19.7.2022). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z.B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM oder die Regierung äußern (EASO 9.2021c, S. 21).
Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 9.2021c, S. 18).
Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt (EASO 9.2021c, S. 21). Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlenden religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle (FIS 7.8.2020, S. 17; vgl. Khalil 1.2019, S. 33). Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle (Khalil 1.2019, S. 33). Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden (Felbab 2020, S. 120f). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52% der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 % (Botha 2019). Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen (SIDRA 6.2019a, S. 4). Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent (Khalil 1.2019, S. 16). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (Botha 2019).
Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer (FIS 7.8.2020, S. 17). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans (Khalil 1.2019, S. 14f; vgl. EASO 9.2021c, S. 20). Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018, S. 34). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 12.4.2022, S. 42f). So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020).
Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 19.7.2022).
Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (NLMBZ 1.12.2021, S. 18).
Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 19.7.2022). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, S. 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (BMLV 19.7.2022; vgl. UNSC 28.9.2020, Annex 7.2).
Quellen:
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrerinnen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022
BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (7.7.2022): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation
Botha, A. / Security Institute for Governance and Leadership in Africa, Stellenbosch University (2019): Reasons for joining and staying in al-Shabaab in Somalia, Research Brief 5/2019, https://www.sun.ac.za/english/faculty/milscience/sigla/Documents/Navy%20News%202019/SIGLA%20 Brief%205%202019.pdf, Zugriff 23.6.2022
EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targeted_profiles.pdf, Zugriff 23.6.2022
Felbab - Felbab-Brown, Vanda (2020): The Problem with Militias in Somalia; in: Hybrid Conflict, Hybrid Peace: How Militias and Paramilitary Groups Shape Post-conflict Transitions, Adam Day (Hrsg.), UN University, https://i.unu.edu/media/cpr.unu.edu/post/3895/HybridConflictSomaliaWeb .pdf, Zugriff 23.6.2022
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission +to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf/2abe79e2-baf3-0a23-97d1-f6944 b6d21a7/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf, Zugriff 12.5.2022
HI - Hiraal Institute (12.2018): Al-Shabab’s Military Machine, https://hiraalinstitute.org/wp-content /uploads/2018/12/The-Al-Shabab-Military.pdf, Zugriff 23.6.2022
ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011897/b145-women-and-al-shabaab_0.pdf, Zugriff 9.6.2022
Ingiriis, M. H. (2020): The anthropology of Al-Shabaab: the salient factors for the insurgency movement’s recruitment project, in: Small Wars Insurgencies, Vol. 31/2, 2020, pp. 359-380, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, S.18,https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targ eted_profiles.pdf, Zugriff 23.6.2022
Khalil - Khalil, James / Brown, Rory / et.al. / Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (1.2019): Deradicalisation and Disengagement in Somalia. Evidence from a Rehabilitation Programme for Former Members of Al-Shabaab, https://static.rusi.org/20190104_whr_4-18_deradicalisation_and_disengagement_in_somalia_web.pdf, Zugriff 23.6.2022
Marchal, R. (2018): Une lecture de la radicalisation djihadiste en Somalie [Lecture on jihadist radicalisation in Somalia], in: Politique Africaine, Vol. 2018/1 (no. 149), S.89-111, https://www.cair n.info/revue-politique-africaine-2018-1-page-89.htm, Zugriff 23.6.2022
NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021. pdf, Zugriff 11.5.2022
ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (3.2020): Asylländerbericht Somalia, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2042214/%C3%96B+2020-03-00.pdf, Zugriff 11.5.2022
SIDRA - Somali Institute for Development Research and Analysis (6.2019a): The Idle Youth Labor Force in Somalia: A blow to the Country’s GDP, https://sidrainstitute.org/wp-content/uploads/2019/ 06/Youth-Policy-Brief.pdf, Zugriff 23.6.2022
UNSC - UN Security Council (28.9.2020): Letter dated 28 September 2020 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council; Final report of the Panel of Experts on Somalia [S/2020/949], https://www.ecoi.net/en/file/local/2039997/S_2020_949_E.pdf, Zugriff 23.6.2022
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Mangels Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments steht die Identität des Beschwerdeführers nicht fest.
Die Feststellungen zur Staats-, Religions- und Clanzugehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Muttersprache, seinem Familienstand, seinem Gesundheitszustand, seiner Herkunft, seinem Schulbesuch, seiner (mangelnden) Arbeitserfahrung, seinen Lebensumständen in Somalia und seinen Familienverhältnissen folgen seinen weitgehend gleichbleibenden und plausiblen Angaben im Rahmen des Verfahrens.
Dass der Beschwerdeführer keine Probleme mit den Behörden in Somalia hatte, ergibt sich aus seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 10.01.2022 (AS 68) und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 16.02.2023 (Verhandlungsprotokoll S. 11).
Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, wonach er von der Al Shabaab telefonisch aufgefordert worden sei, sich ihnen anzuschließen und er deswegen mit dem Umbringen bedroht worden sei, ist nicht glaubhaft, zumal sein diesbezügliches Vorbringen zum einen widersprüchlich und zum anderen nicht nachvollziehbar ist. So widersprach sich der Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung hinsichtlich der Anzahl der Anrufe seitens der Al Shabaab, als er vorerst erklärte, dass er zweimal angerufen worden sei, hingegen im Laufe der weiteren Verhandlung vorbrachte, einen dritten Anruf erhalten zu haben und auf Nachfrage der erkennenden Richterin hinsichtlich eines weiteren Anrufes erklärte, dass es keinen vierten Anruf gegeben habe, weil er danach sein Handy ausgeschalten habe (siehe Verhandlungsprotokoll S. 7f). Zudem divergierten auch die Aussagen des Beschwerdeführers zum Inhalt der Telefonate, was ebenso darauf schließen ließ, dass der Beschwerdeführer diese Anrufe tatsächlich nicht erhalten hat. Während er in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur telefonischen Bedrohung seitens der Al Shabaab ausführte, dass die Person, die ihn angerufen habe, sich als Angehöriger der Al Shabaab vorgestellt und ihn darauf hingewiesen habe, dass sie als Familie ihren Beitrag zu leisten hätten, „entweder finanziell oder eine Person“ (AS 65), erklärte er in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zum ersten Anruf demgegenüber im gänzlichen Widerspruch, dass sie ihn angerufen und zwei Sachen verlangt hätten, nämlich, dass er für sie arbeite und wenn er dies nicht tue, nicht am Leben bleiben würde. Sie hätten ihm gesagt, dass er für die Regierung und eine Hilfsorganisation arbeite, obwohl er für sie arbeiten könne (Verhandlungsprotokoll S. 7). Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen im Laufe des Verfahrens steigerte, indem er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erstmals vorbrachte, dass die Al Shabaab ihn verbal mit dem Umbringen bedroht habe (Verhandlungsprotokoll S. 6f und 8). Des Weiteren ist angesichts der Ausführungen des Beschwerdeführers zum dritten Anruf durch die Al Shabaab, in dem ihm gesagt worden sei, dass sie nicht länger auf seine Entscheidung warten und sich bei ihm wegen eines Treffpunkts melden würden (Verhandlungsprotokoll S. 8), nicht nachvollziehbar, warum ihm nicht im Zuge dieses Telefonats bereits ein Treffpunkt genannt worden ist. Auch vermochte der Beschwerdeführer nicht nachvollziehbar zu begründen, woher die Angehörigen der Al Shabaab seine Telefonnummer kannten und woher sie von seiner Tätigkeit für eine Hilfsorganisation wussten (Verhandlungsprotokoll S. 7). Darüber hinaus gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung an, dass er seinen Heimatort zwei bis drei Tage nach dem dritten Anruf der Al Shabaab verlassen habe (Verhandlungsprotokoll S. 9). Dahingegen erzählte er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, dass er Somalia verlassen habe, nachdem in seinem Heimatort der Sohn einer Familie, die in einer vergleichbaren Situation gewesen sei, von der Al Shabaab entführt worden und nicht wieder aufgetaucht sei. Aufgrund dieses Vorfalles habe der Beschwerdeführer solche Angst gehabt, sodass er aus Somalia geflüchtet sei (AS 64). Es ist jedenfalls nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer dieses für ihn einschneidende Ereignis, welches ihn schlussendlich zur Ausreise veranlasst habe, im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit keinem Wort erwähnte. Ferner ist nicht nachvollziehbar, dass die Al Shabaab nicht auch versucht hat, den 25-jährigen Bruder des Beschwerdeführers dazu zu bewegen, sich ihnen anzuschließen. Die diesbezügliche Begründung des Beschwerdeführers, wonach die Al Shabaab wegen seiner Arbeit ausschließlich an ihm interessiert gewesen sei, vermochte nicht zu überzeugen, weil sich der Beschwerdeführer damit auf die Arbeit seiner Mutter bezog (Verhandlungsprotokoll S. 11). Auch in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab er an, dass er aufgrund der Bekanntheit seiner Mutter nicht nach Mogadischu zurückkehren könne (AS 66).
Dass es sich bei dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers um ein Konstrukt handelt, wird ebenso aus seinen widersprüchlichen Angaben hinsichtlich der Bedrohung seiner Mutter durch die Al Shabaab augenscheinlich. Während der Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung zunächst erklärte, nicht zu wissen, wieso die Al Shabaab zu dem von ihm genannten Zeitpunkt an ihn herangetreten sei, sie nach ihm gesucht und ihm gesagt hätten, entweder er arbeite für die Al Shabaab oder sie würden ihn umbringen (Verhandlungsprotokoll S. 6), führte er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an, dass Angehörige der Al Shabaab seine Mutter aufgefordert hätten, Zakat zu zahlen oder den Beschwerdeführer der Al Shabaab zu übergeben. In weiterer Folge sei er mehrmals von ihnen angerufen und vor die Wahl gestellt worden, entweder er beteilige sich an den Kämpfen oder seine Familie solle das Schutzgeld zahlen (AS 63f). Dieser Vorfall stellt einen zentralen Punkt des Vorbringens des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dar und hat seinen eigenen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zufolge seine Verfolgung durch die Al Shabaab ausgelöst. Völlig widersprüchlich dazu erklärte er aber im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, nicht zu wissen, ob jemand aus seiner Familie von der Al Shabaab bedroht worden sei. Erst auf Nachfrage der erkennenden Richterin, ob seine Mutter mit der Al Shabaab Probleme gehabt habe, bemerkte der Beschwerdeführer offenbar diesen Widerspruch und behauptete nun, dass seine Mutter von der Al Shabaab bedroht worden sei, weil sie viel Zakat zahlen oder den Beschwerdeführer zur Al Shabaab schicken habe müssen (Verhandlungsprotokoll S. 9). Auch erklärte der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auf wiederholte Nachfrage, weshalb seine Mutter Zakat zahlen habe sollen, dass er es nicht wisse und glaube, dass die Al Shabaab gewusst habe, dass sie es sich nicht leisten könne und somit den Beschwerdeführer zur Al Shabaab schicken müsse (Verhandlungsprotokoll S. 9f). Im weiteren Verlauf gab er an, seine Mutter habe Zakat zahlen müssen, um ihr Leben zu schützen, damit sie weiterarbeiten dürfe (Verhandlungsprotokoll S. 10). Demgegenüber erzählte er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, dass die Al Shabaab von seiner Mutter Zakat verlangt habe, weil sie wissen würden, dass sie Geld von „dieser ungläubigen Hilfsorganisation“ erhalte (AS 63f). Da der Beschwerdeführer sohin die Bedrohung seiner Mutter durch die Al Shabaab und die Gründe dafür widersprüchlich schilderte, geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass dieses Vorbringen des Beschwerdeführers nicht der Wahrheit entspricht. Darüber hinaus führte der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung an, dass seine Mutter seit der Aufnahme ihrer Tätigkeit im Jahr 2017 Zakat an die Al Shabaab zahlen habe müssen (Verhandlungsprotokoll S. 10), während er in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl lediglich angab, dass die Al Shabaab schon mehrmals die Zahlung von Zakat gefordert habe (AS 64). Widersprechend dazu wurde in der Beschwerde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer nicht wisse, ob seine Mutter bis zu dem Vorfall Zakat bezahlt habe (AS 244). Unabhängig von diesen Widersprüchen blieb das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers aber auch vage, zumal er im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung nicht in der Lage war, die Bedrohung seiner Mutter durch die Al Shabaab ausführlich zu schildern (Verhandlungsprotokoll S. 9f). Insbesondere vermochte er auch nicht anzugeben, wann seine Mutter von der Al Shabaab telefonisch bedroht worden sei (Verhandlungsprotokoll S. 10). In Anbetracht seines Vorbringens vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hätte der Beschwerdeführer zumindest in der Lage sein müssen, diesen Vorfall zeitlich vor der gegen ihn gerichteten telefonischen Bedrohung durch die Al Shabaab einzuordnen.
Soweit der Beschwerdeführer behauptete, dass seine Mutter und seine bis dahin in Somalia aufhältigen (Halb-)Geschwister aufgrund seiner Fluchtgründe ebenfalls seinen Heimatort verlassen hätten (AS 64; Verhandlungsprotokoll S. 11), kann dem aufgrund des Umstandes, dass eben diese Fluchtgründe des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sind, nicht gefolgt werden. Nicht nur widersprach der Beschwerdeführer damit seinen Angaben in der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.09.2021, wonach seine Mutter, seine elf Geschwister und seine Ehefrau in Somalia leben würden (AS 23), sondern tätigte er im Laufe des Verfahrens auch unterschiedliche Angaben zum Zeitpunkt der Ausreise seiner Familie aus Somalia, sodass diese Ausführungen des Beschwerdeführers auch aus diesem Grund als nicht glaubhaft zu werten sind. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte der Beschwerdeführer an, dass seine Mutter und seine Geschwister zeitgleich mit ihm (im Oktober 2018) Somalia verlassen hätten, wobei seine Mutter mit den Kindern für eine kurze Zeit aus Kenia nach Mogadischu zurückgekehrt sei. Aufgrund der Bedrohung durch die Al Shabaab sei sie wieder nach Kenia gereist (AS 64). Im Widerspruch dazu erklärte er im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, dass seine Familie im Jahr 2019 nach Kenia gereist sei und bis dahin in seinem Heimatort gelebt habe, wobei er keinen konkreten Ausreisezeitpunkt zu nennen vermochte (Verhandlungsprotokoll S. 4f). In diesem Zusammenhang ist es für das Bundesverwaltungsgericht außerdem nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung angab, dass seine Familie Angst gehabt habe, dass sich die Al Shabaab an ihnen rächen würde, weil seine Mutter den Beschwerdeführer weggeschickt habe (Verhandlungsprotokoll S. 11), seine Familie sich aber trotzdem seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge noch mindestens drei Monate in seinem Heimatort aufgehalten hat und nicht zeitnah geflüchtet ist.
Aufgrund dieser widersprüchlichen, nicht nachvollziehbaren und vagen Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen war somit davon auszugehen, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers in seiner Gesamtheit nicht der Wahrheit entspricht. Da der Beschwerdeführer somit keine Bedrohung durch die Al Shabaab glaubhaft machen konnte und er auch kein erhöhtes Risikoprofil hat, kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass er zukünftig in das Visier von Al Shabaab – etwa in Hinblick auf eine Zwangsrekrutierung – geraten könnte. Dies umso mehr, als den obigen Länderberichten zu entnehmen ist, dass Beledweyne nicht unter Kontrolle der Al Shabaab steht, eine solche Rekrutierung aber grundsätzlich nur in Gebieten droht, die unter Kontrolle dieser Gruppierung stehen.
Andere Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht und sind auch vor dem Hintergrund der Länderberichte nicht hervorgekommen.
2.2. Zu den Feststellungen zur Situation in Somalia:
Die Feststellungen zur Situation in Somalia beruhen auf den angeführten Quellen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 27.07.2022 (Version 4). Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Ein Vergleich mit dem kürzlich aktualisierten Länderinformationsblatt vom 17.03.2023 (Version 5) hat keine für das Verfahren maßgebliche Änderung – insbesondere auch keine Verschlechterung – der Lage in Somalia ergeben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zum Spruchteil A)
3.1. Zu der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Das Vorbringen des Antragstellers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 10.08.2019, Ra 2018/20/0314).
Wie beweiswürdigend unter Punkt II.2.1. ausgeführt wurde, ist das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zu einer individuellen Bedrohung durch die Al Shabaab nicht glaubhaft. Es besteht daher keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Beschwerdeführers aus Konventionsgründen. Dies gilt aus den beweisgewürdigten Gründen auch in Bezug auf eine behauptete Gefahr der Zwangsrekrutierung im Falle einer Rückkehr (vgl. dazu auch VwGH 17.09.2019, Ra 2019/18/0273). Die bloß entfernte Möglichkeit einer Zwangsrekrutierung nach einer Rückkehr reicht nicht aus, um eine Verfolgungsgefahr annehmen zu können.
Da sohin keine Umstände vorliegen, wonach es ausreichend wahrscheinlich wäre, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre, ist die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich des Status eines Asylberechtigten durch das Bundesamt im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zum Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt, sondern ausschließlich tatsachenlastig ist. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zum Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.