JudikaturBVwG

W202 2268465-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
01. Juni 2023

Spruch

W202 2268465-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard SCHLAFFER als Einzelrichter über die Beschwerde XXXX , geboren am XXXX Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.02.2023, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.05.2023 zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 06.11.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass die Lage in Afghanistan sehr schlecht sei. Es gäbe dort keine Sicherheit und die Taliban herrschten in Afghanistan. Als ihre Universität in Kabul angegriffen worden sei, habe er vom zweiten Obergeschoss springen müssen und habe sich dabei die Hand gebrochen. In seiner Ortschaft hätten mehrere Personen versucht, ihn zu überreden, dass er sich den Taliban anschließe. Als seine Familie das gehört habe, hätten sie Angst bekommen und ihm geraten, dass er aus Afghanistan flüchten solle. Sonst habe er keine weiteren Fluchtgründe.

2. Am 12.10.2022 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass die Universität in Kabul am 02.11.2020 angegriffen worden sei, als der BF selbst im siebten Semester an der Uni studiert habe. Es sei unklar, ob der Angriff vom IS oder von den Taliban ausgegangen sei. Bei diesem Angriff sei er verletzt worden, weil er aus dem zweiten Stockwerk heruntergesprungen sei. Danach sei er nicht weiter auf die Uni gegangen, sondern habe in ihren Obstgärten zu arbeiten begonnen. Am 17.07.2021 sei ein bekannter Jugendlicher zu ihm gekommen und habe von ihm verlangt, dass er zu den Taliban gehe und denen beim heiligen Krieg helfen solle. Er habe diese Aufforderung nicht ernst genommen. Dieser Junge sei aber zwei Tage später mit einer anderen Person zu ihm gekommen und diese hätten ihm gesagt, dass sie zum Talibankommandanten in ihrer Region gehen sollten. Sie seien dann zu diesem gegangen und dieser habe ihn aufgefordert, an der Seite der Taliban gegen die Ungläubigen in den Krieg zu ziehen. Der BF habe aus Angst zugesagt, er sei dann zurück zu seinen Eltern gegangen und habe ihnen davon erzählt. Dann sei er zu seiner Schwester weitergereist. Dies sei am 19.07.2021 gewesen. Daraufhin hätten seine Eltern ihm geraten, dass er Afghanistan verlassen solle.

3. Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm gem. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und die ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe aufgrund seiner vagen und oberflächlichen Angaben keine drohende asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen können. Eine Rückführung nach Afghanistan erscheine jedoch derzeit nicht zumutbar, weil sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde.

4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der BF fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger Feststellungen, unrichtiger Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung geltend gemacht wurde.

5. Am 13.03.2023 langte die Beschwerde inklusive des mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsaktes beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6. Am 24.05.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, in welcher der BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Das Bundesamt blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , wurde am XXXX geboren und ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Seine Muttersprache ist Paschtu.

Der BF stammt aus Kabul, wo er bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie gelebt hat. Seine Familie ist nach wie vor in Afghanistan aufhältig.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen

Der BF ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen individuellen, gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

1.3.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 21.03.2023, Schreibfehler teilweise korrigiert): „[...] 3. Politische Lage

Letzte Änderung: 21.03.2023

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 20.07.2022). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das Islamische Emirat Afghanistan (USIP 17.08.2022; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem „islamischen Recht und den afghanischen Werten“ regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweisen bestimmen (USIP 17.08.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen (AA 20.07.2022).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban rasch die Staatsgewalt (USIP 17.08.2022; vgl. AA 20.07.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. REU 07.09.2021a; VOA 19.08.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 08.09.2021; vgl. DIP 04.01.2023). Innerhalb weniger Wochen kündigten sie „Interims“-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.08.2022; vgl. AA 20.07.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.08.2022; vgl. HRW 04.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.08.2021; vgl. USDOS 12.04.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.09.2021; vgl. GD 20.09.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 20.07.2022).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 20.07.2022) Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 08.09.2021; vgl. REU 07.09.2021b, Afghan Bios 05.04.2022).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 07.09.2021; vgl. REU 07.09.2021b, Afghan Bios 16.02.2022) der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.02.2021 unterzeichnete (AJ 07.09.2021; vgl. VOA 29.02.2020) und Abdul Salam Hanafi (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 07.07.2022b) der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 07.07.2022b; vgl. UNSC o. D. a.). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 30.05.2022; vgl. 8am 05.10.2021, UNGA 28.01.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 04.08.2022a; vgl. JF 05.11.2021) als Innenminister (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 22.12.2022) und Amir Kahn Mattaqi als Außenminister (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 04.08.2022a), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 04.08.2022a; vgl. UNSC o. D. b. ). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 04.08.2022b) dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 04.08.2022b; vgl. RFE/RL 29.08.2020). Auch hohe Beamte auf subnationaler Ebene, darunter Provinzgouverneure, Polizeichefs, Abteilungsleiter, Bürgermeister und Distriktgouverneure, wurden in weiterer Folge ernannt (UNGA 28.01.2022; vgl. 8am 05.10.2021).

Nach ihrer Machtübernahme kündigten hochrangige Taliban-Führer eine weitreichende Generalamnestie an, die Repressalien für Handlungen vor der Machtübernahme durch die Taliban untersagte, auch gegen Beamte und andere Personen, die mit der Regierung vor dem 15.08.2021 in Verbindung standen (USDOS 12.04.2022a; vgl. UNGA 28.01.2022). Es wird jedoch berichtet, dass diese Amnestie nicht konsequent eingehalten wurde, und es kam zu willkürlichen Verhaftungen, gezielten Tötungen und Angriffen auf ehemalige afghanische Regierungsmitarbeiter (ANI 20.07.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a, UNGA 28.01.2022).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.08.2022). Diese Dynamik wurde am 23.03.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.08.2022; vgl. RFE/RL 24.03.2022, UNGA 15.06.2022), was Experten als ein Zeichen für eine Spaltung der Gruppe in Bezug auf die künftige Ausrichtung der Herrschaft in Afghanistan bezeichnen (GD 06.07.2022). Seitdem sind die Mädchenbildung und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von „duellierenden Machtzentren“ zwischen den in Kabul und Kandahar ansäßigen Taliban zu sprechen (USIP 17.08.2022), und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 03.06.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.08.2022).

Die Taliban haben die Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen auch 2022 fortgesetzt und ehemaliges Regierungspersonal durch Taliban-Mitglieder ersetzt, wobei sie häufig versuchten, verschiedenen Gruppen entgegenzukommen und durch diese Ernennungen interne Spannungen zu lösen. Im Januar verkleinerten die Behörden die frühere unabhängige Kommission für Verwaltungsreform und öffentlichen Dienst und legten sie mit dem Büro für Verwaltungsangelegenheiten zusammen. Am 07.04.2022 kündigte das Justizministerium der Taliban die Abschaffung der Abteilung für politische Parteien an und schloss damit die Registrierung von politischen Parteien aus. Am 04.05.2022 wurden die Unabhängige Menschenrechtskommission, die Kommission für die Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Sekretariate von Ober- und Unterhaus des Parlaments aufgelöst (UNGA 15.06.2022).

Bisher hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 30.10.2022; vgl. RFE/RL 01.05.2022), dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). [...]

4. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 21.03.2023

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.05.2021; vgl. UNGA 02.09.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 01.07.2021; vgl. AJ 02.07.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimroz - am 06.08.2021 (AAN 15.08.2021). Innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGA 02.09.2021).Am 15.08.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland, und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.08.2021; vgl. REU 16.08.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.08.2021; vgl. AAN 15.08.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren war nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.08.2021), auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.08.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern (UNGA 28.01.2022, vgl. UNAMA 7.2022) und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres 2021 (USDOS 12.04.2022a). So sind nach Angaben der UN konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGA 28.1.2022). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (UNGA 28.01.2022; vgl. UNAMA 7.2022). Für den Zeitraum zwischen 15.08.2021 und 15.06.2022 dokumentierte UNAMA 2.106 zivile Opfer, die überwiegend durch Angriffe mit IEDs, die dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) zugeschrieben werden, und durch nicht explodierte Sprengkörper (UXO) verursacht wurden. Des weiteren wurden 257 außergerichtliche Tötungen und 313 willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen festgestellt, die zu einem großen Teil ehemalige Angehörige der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) und der ehemaligen Regierung betreffen, aber auch Personen, die beschuldigt werden, dem ISKP oder der National Resistance Front (NRF) anzugehören (UNAMA 7.2022). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.09.2021; vgl. DIS 12.2021).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.08.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.01.2022)

01.01.2022 - 21.05.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.06.2022)

22.05.2022 - 16.08.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.09.2022)

17.08.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 07.12.2022)

Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder (UNGA 28.01.2022) und verstärkte Aktivitäten der bewaffneten Opposition. UNAMA registrierte 22 bewaffnete Gruppen, die behaupten, in elf Provinzen zu operieren (UNGA 07.12.2022). So kam es auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 zu Kämpfen zwischen NRF und den Taliban. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vgl. AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.08.2022; vgl. AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vgl. KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.08.2022), Kapisa (AaNe 24.08.2022; vgl. 8am 21.11.2022a) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Die Aktivitäten des ISKP haben sich seit der Machtübernahme der Taliban verstärkt (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022), und auch wenn diese im Lauf des Jahres 2022 wieder abnahmen, so blieben die Opferzahlen weiterhin erheblich (UNGA 07.12.2022). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara sowie auf Hindus, Sikhs, Sufis aber auch die Taliban (UNGA 14.09.2022; vgl. HRW 12.01.2023).

Zu mehreren größeren Anschlägen gegen religiöse Ziele bekannte sich niemand, darunter ein Selbstmordattentat in der Gazargah-Moschee in Herat City am 02.09.2022, bei dem 20 Menschen getötet wurden, darunter ein pro-Taliban-Kleriker, und 22 weitere verletzt wurden; die Detonation eines improvisierten Sprengsatzes in Kabul am 23.09.2022, bei der vier Zivilisten getötet und 52 verwundet wurden; und ein Selbstmordattentat am 05.10.2022 in der Moschee des Innenministeriums, bei dem neun Menschen getötet und 30 verletzt wurden (UNGA 07.12.2022).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3% der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind, und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7% bzw. 70,7% der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt, diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023). [...]

4.1. Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung: 21.03.2023

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.07.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021a; vgl. DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vgl. NYT 29.08.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vgl. BBC 20.08.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). [...]

5. Regionen Afghanistans

Letzte Änderung: 27.02.2023

[...] Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 29.12.2022) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 38,3 Millionen Menschen (CIA 29.12.2022). Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (ICG 12.08.2022; vgl. AA 20.07.2022) und grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 29.12.2022).

[...]

6. Zentrale Akteure

6.1. Taliban

Letzte Änderung: 21.03.2023

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).

Nach der US-geführten Invasion, mit der das ursprüngliche Regime 2001 gestürzt wurde, gruppierten sich die Taliban jenseits der Grenze in Pakistan neu und begannen weniger als zehn Jahre nach ihrem Sturz mit der Rückeroberung von Gebieten (CFR 17.08.2022). Nachdem die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen im August 2021 aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban mit einer raschen Offensive die Macht in Afghanistan (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a). Am 15.08.2021 floh der bisherige afghanische Präsident Ashraf Ghani aus Afghanistan, und die Taliban nahmen Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (BBC 15.08.2022; vgl. AI 29.03.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. CFR 17.08.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022a; vgl. Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 unterstand die militärische Befehlskette der Kommission für militärische Angelegenheiten der Taliban. Diese Einrichtung wurde von Mullah Yaqoob, der 2020 zum Leiter der militärischen Operationen der Taliban ernannt wurde, sowie Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des Haqqani-Netzwerks, dominiert (EUAA 8.2022a, RFE/RL 06.08.2021). Die Kommission für militärische Angelegenheiten funktionierte ähnlich wie ein Ministerium, mit „Vertretern auf Zonen-, Provinz- und Distriktebene“ (VOA 05.09.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

In der Befehlskette von der untersten Ebene aufwärts untersteht jeder Taliban-Befehlshaber auf Distriktebene einem Provinzkommando. Drei oder mehr Provinzkommandos bilden Berichten zufolge einen von sieben regionalen „Kreisen“. Diese „Kreise“ werden von zwei stellvertretenden Leitern der Kommission für militärische Angelegenheiten beaufsichtigt, von denen einer für die „westliche Zone“ der militärischen Führung der Taliban (die 21 Provinzen umfasst) und der andere für die „östliche Zone“ (13 Provinzen) zuständig war (RFE/RL 06.08.2021; vgl. EUAA 8.2022a). Nach Einschätzung des United States Institute of Peace (USIP) wurde diese Aufteilung der Zuständigkeiten für militärische Angelegenheiten zwischen Yaqoob und Haqqani offenbar durch ihre jeweilige Ernennung zum Innen- und Verteidigungsminister der Taliban im September 2021 gefestigt (USIP 09.09.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022a; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022a; vgl. REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks, eine Beziehung zum Führer von Al-Qaida, Usama bin Laden (UNSC o. D.c; vgl. FR24 21.08.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o. D.c; vgl. ASP 01.09.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o. D. c). Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o. D.c, vgl. VOA 04.08.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vgl. UNSC o. D. c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (FR24 21.08.2021).

Es befehligt eine Truppe von 3.000 bis 10.000 traditionellen bewaffneten Kämpfern in den Provinzen Khost, Paktika und Paktia (VOA 30.08.2022). Berichten zufolge kontrolliert die Gruppe inzwischen auch mindestens eine Eliteeinheit und überwacht die Sicherheit in Kabul und in weiten Teilen Afghanistans (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu Al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.05.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.08.2022; vgl. DT 07.05.2022) und den Tehreek-e Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.05.2022). [...]

6.2. Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / Opposition

Letzte Änderung: 21.03.2023

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 20.07.2022; vgl. FH 24.02.2022a). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland. Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt. Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 20.07.2022).

Der Informationsfluss in Afghanistan ist insbesondere im Hinblick auf oppositionelle Bewegungen stark eingeschränkt, und die Taliban zensieren die Berichterstattung. Dies macht die Einschätzung eines definitiven Bildes der Situation oft sehr schwierig (BAMF 10.2022; vgl. RFE/RL 13.05.2022a).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen, wobei sich deren Führung oft im Ausland aufhält (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen würden, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. SIGA 07.04.2022, VOA 28.04.2022b). Auch gibt es zwischen den Gruppierungen Rivalitäten darüber, welche Gruppierung „am fähigsten ist, den Anti-Taliban-Widerstand anzuführen“ (SIGA 07.04.2022).Aktuell gehen Experten nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (FR24 15.08.2022; vgl. BAMF 10.2022, SIGA 07.04.2022, AA 20.07.2022). Auch wenn die Unterstützung der Taliban innerhalb der Bevölkerung Afghanistans eher gering ist, so wird Stabilität bewaffneten Auseinandersetzungen vorgezogen, womit auch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen als mäßig einzuschätzen ist (FR24 15.08.2022; vgl. BAMF 10.2022). [...]

6.2.1. National Resistance Front (NRF)

Letzte Änderung: 01.03.2023

Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 20.07.2022; vgl. LWJ 06.09.2021, ANI 06.09.2021), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021). Die NRF erklärt, dass sie demokratische Wahlen anstreben und das afghanische Volk selbst über die Zukunft des Landes entscheiden soll (REU 30.11.2022; vgl. Afintl 30.06.2022).

Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.04.2022; vgl. RFE/RL 13.05.2022b) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.01.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.05.2022; vgl. AJ 17.10.2022).Auch wenn Berichten zufolge die NRF die bekannteste bzw. die am weitesten entwickelte Anti-Taliban-Widerstandsgruppe ist (VOA 28.04.2022b; vgl. ISW 13.01.2023), herrscht weiterhin Unklarheit darüber, welche Gruppen mit ihr verbündet sind (Migrationsverket 29.04.2022). Im April 2022 wurde geschätzt, dass die Gruppierung über einige Tausend Kämpfer verfügt (VOA 28.04.2022b), wobei die NRF im August verkündete, über 4.000 Kämpfer unter ihrem Kommando stehen (8am 31.08.2022; vgl. BAMF 10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind (VOA 28.04.2022b; vgl. REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.05.2022; vgl. BAMF 10.2022). So soll sich beispielsweise die Spezialeinheit „Afghan National Army Special Operations Command“ (ANASOC) der NRF angeschlossen haben (BAMF 10.2022). Eine afghanische NGO und ein Analyst aus Kabul weisen jedoch darauf hin, dass die große öffentliche Aufmerksamkeit, welche die NRF in den Medien und auf anderen Kanälen erfährt, nicht die begrenzte Anzahl von Anhängern widerspiegelt, die die Gruppe in Afghanistan hat (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a).

Auch wenn der NRF international gut vernetzt ist, vor allem in den USA (BAMF 10.2022; vgl. VOA 01.11.2021), beschwert sich Massoud über fehlende internationale Unterstützung (BAMF 10.2022; vgl. BBC 12.07.2022, AC 11.08.2022). In einer nicht zu bestätigenden Erklärung Ende März 2022 erklärte die NRF, dass sie in mehr als zwölf Provinzen aktiv sei, auch im Süden und Osten des Landes (SIGA 07.04.2022; vgl. NYSUN 16.01.2023, ObRF 17.06.2022), unter anderem in den Provinzen Panjsher, Baghlan, Takhar, Nangarhar, Kapisa, (ObRF 17.06.2022) Parwan und Badakhshan (SE 20.12.2022). Im Juni gab ein Sprecher der NRF an, dass sie hauptsächlich Waffen verwenden, die aus Tadschikistan und Usbekistan über die Grenze geliefert werden würden, jedoch litt die Gruppierung Berichten zufolge unter einen Mangel an Munition (Afintl 31.12.2022; vgl. EUAA 8.2022a).

Medien berichten von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielen und dem NRF zugeschrieben werden (NYT 04.03.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022b; vgl. 8am 25.05.2022, 8am 17.01.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.05.2022; vgl. 8am 05.05.2022). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.09.2022; vgl. Telegraph 12.05.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.09.2022; vgl. AMU 14.09.2022, AN 18.10.2022).

Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gehen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vgl. AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022),Takhar (8am 14.08.2022; vgl. AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vgl. KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.08.2022), Kapisa (AaNe 24.08.2022; vgl. 8am 21.11.2022a) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Im Oktober konnte die NRF laut Medienberichten erstmals einen Distrikt in der Provinz Badakhshan erobern (Afintl 11.10.2022a; vgl. AaNe 10.10.2022), wobei anderen Berichten zufolge die Taliban die Kontrolle über den Distrikt kurz danach wieder übernehmen konnten (AMU 04.10.2022), bzw. nach Angaben der Taliban sie diesen nie verloren (Afintl 04.10.2022). [...]

6.2.2. Weitere Widerstandsbewegungen

Letzte Änderung: 01.03.2023

Afghanistan Islamic National and Liberation Movement

Das „Afghanistan Islamic National and Liberation Movement“ gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 14.09.2022). Mitte März gab die Gruppierung an, dass sie über „Tausende Kämpfer“ in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 07.04.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 28.04.2022b). Eine Explosion, die sich am 27.03.2022 in Helmand ereignete, wird der Gruppierung zugeschrieben (SIGA 07.04.2022).

Afghanistan Freedom Front (AFF)

Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.03.2022 (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 28.04.2022b). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.04.2022b). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF „Tausende Kämpfer“ und ist „in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv“, wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sei für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 07.04.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich an der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vgl. 8am 20.08.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.03.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 07.04.2022).

Weitere Gruppierungen

Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 07.02.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.01.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 28.04.2022b). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.04.2022b). Andere Gruppen schienen in der Zwischenzeit aktiv zu sein und zu operieren, obwohl von ihnen reklamierte Angriffe und Fähigkeiten zuweilen infrage gestellt wurden (SIGA 07.04.2022). [...]

6.3 Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung: 02.03.2023

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015, MEE 27.08.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei „Khorasan“ die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 03.01.2023; vgl. MEE 27.08.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.08.2021; vgl. AAN 01.08.2017).

Seit 2020 ist Sanaullah Ghafari (auch Al-Muhajir) Anführer des ISKP. Er stammt aus dem Raum Kabul und gilt als Experte für die urbane Kriegsführung (CTC Sentinel 1.2022; vgl. FR24 10.02.2022). Zu den weiteren Führungspersönlichkeiten gehören Berichten zufolge Mawlawi Rajab Salahuddin (alias Mawlawi Hanas) als stellvertretender Anführer, Qari Saleh (Leiter des Geheimdienstes) und Qari Fateh (Leiter der militärischen Operationen). Über die weitere Führungsriege des ISKP ist weniger bekannt. Während Ghafari als effektiver Anführer gilt, der die Gruppe fest im Griff hat, wurde vermutet, dass die verschiedenen ISKP-Einheiten angesichts der geografischen Entfernung und der unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeit der ISKP-Mitglieder wie in der Vergangenheit Schwierigkeiten haben könnten, sich untereinander abzustimmen (UNSC 26.05.2022).

Die Aktivitäten des Islamischen Staats Provinz Khorasan (ISKP) konzentrieren sich traditionell auf Kabul und die östlichen Provinzen des Landes (UNGA 28.01.2022; vgl. EUAA 8.2022a), insbesondere Kunar und Nangarhar, wo die Gruppe weiterhin stark vertreten ist (ACLED/APW 4.2022a; vgl. EUAA 8.2022a). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des Islamischen Staates in Ostafghanistan (AAN 16.12.2020) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (UNSC 27.05.2020). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons „Tausende“ (MEE 27.08.2021) bzw. „Hunderte“ ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit (GD 31.08.2021).

Im Mai 2022 schätzten die Vereinten Nationen die Stärke des ISKP auf 1.500 bis 4.000 Kämpfer ein (UNSC 26.05.2022). Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Zahl der Mitglieder der Bewegung gestiegen, was auch durch die im Zuge der Machtübernahme freigelassenen ISKP-Mitglieder begünstigt wurde (EUAA 8.2022a). Auch gibt es Berichte, wonach usbekische und tadschikische Taliban im Norden übergelaufen wären (UNSC 26.05.2022), und, dass der ISKP eine kleine Anzahl von Kämpfern unter ehemaligen ANDSF-Mitgliedern rekrutiert hat, die über nützliche Kampftechniken und nachrichtendienstliche Fähigkeiten verfügen (CTC Sentinel 1.2022).

Während die Aktivitäten des ISKP in der Zeit der Friedensverhandlungen von US-Vertretern mit den Taliban darauf abzielten, „Chaos und Verwirrung“ unter den verschiedenen politischen Akteuren zu stiften, wurde berichtet, dass der ISKP nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 „sein Hauptaugenmerk auf die Untergrabung der Legitimität der Taliban richtete“ (EUAA 8.2022a). Seitdem haben die Aktivitäten des ISKP zugenommen (ACLED/APW 4.2022a), und seine Anhänger überfallen Berichten zufolge Taliban-Sicherheitskonvois sowie Kontrollpunkte und führen Angriffe auf Zivilisten durch (EUAA 8.2022a). Auch wurde beobachtet, dass die Taliban gegen den ISKP nicht mit derselben Härte vorgingen wie gegen die NRF (National Resistance Front) (RUSI 04.01.2022; vgl. EUAA 8.2022a), wobei ein guter Grund dafür darin liegen dürfte, dass die Hauptstützpunkte des ISKP in besonders abgelegenen Gebieten liegen - in den oberen Tälern von Kunar und in Nuristan. Die Durchführung einer „vernichtenden Operation“ würde die Taliban dort vor größere Herausforderungen stellen als in Panjsher (RUSI 04.01.2022). Dennoch versuchen die Taliban Berichten zufolge, den Druck auf den ISKP aufrechtzuerhalten (VOA 20.03.2022). So versuchen sie, durch die Errichtung von Kontrollpunkten und die Durchführung von Hausdurchsuchungen (SIGAR 30.04.2022) im Hauptwirkungsbereich des ISKP (Nangarhar) bzw. in städtischen Zentren, die von den Angriffen des ISKP betroffen waren (vor allem Kabul und Jalalabad), gegen die Gruppe vorzugehen (RUSI 04.01.2022).

Auch in anderen Teilen des Landes wurden ISKP-Aktivitäten registriert (UNGA 14.09.2022; vgl. UNGA 07.12.2022). Einer Quelle zufolge liegt ein Grund für die größere geografische Reichweite der ISKP darin, dass es für den ISKP angesichts der schwachen Taliban-Präsenz entlang des Straßennetzes des Landes nun einfacher sei, auf den Straßen zu reisen, ohne kontrolliert zu werden (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a). Darüber hinaus war die Gruppe nicht mehr mit Anti-Terror-Operationen unter der Führung externer Kräfte konfrontiert und konnte die begrenzten Ressourcen und die schwache Kontrolle der Taliban in einigen Teilen Afghanistans ausnutzen (CTC Sentinel 1.2022; vgl. EUAA 8.2022a).

Einem Analysten zufolge hat der ISKP klare Ambitionen, sich weiter in Gebiete im Norden des Landes auszudehnen, um die dort vorherrschenden ethnischen Spannungen auszunutzen (EUAA 8.2022a; vgl. Migrationsverket 29.04.2022, Landinfo 09.03.2022). Derselbe Analyst erklärte im März 2022 außerdem, dass es keine Anzeichen dafür gäbe, dass der ISKP in der Lage sei, die Taliban kurzfristig herauszufordern (EUAA 8.2022a; vgl. Landinfo 09.03.2022).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.08.2021 - 31.12.2021:152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in fünf Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.01.2022)

01.01.2022 - 21.05.2022: 82 Angriffe in elf Provinzen (192 Angriffe in sechs Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.06.2022)

22.05.2022 - 16.08.2022: 48 Angriffe in elf Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)

17.08.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 07.12.2022)

Auch wenn die Angriffe des ISKP im Laufe des Jahres 2022 abnahmen, so blieben die Opferzahlen weiterhin erheblich (UNGA 07.12.2022). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara sowie auf Hindus, Sikhs, Sufis und die Taliban (UNGA 14.09.2022; vgl. HRW 12.01.2023). Während des Jahres kam es auch zu einer Vielzahl von Angriffen auf unterschiedliche Ziele, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, in die der ISKP jedoch möglicherweise involviert war (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022).

Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban

Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 03.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. REU 04.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 08.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. TN 09.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 02.11.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. 8am 03.11.2021).

Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat am 01.04.2022 (UNGA 15.06.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vgl. DW 21.04.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz am 22.04.2022 durch (UNGA 15.06.2022; vgl. PAN 23.04.2022). Außerdem gab es am 28.04.2022 Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vgl. AJ 28.04.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul am 30.04.2022 (UNGA 15.06.2022; vgl. FR24 01.05.2022).

Am 22.05.2022 kam zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour Kabul und am 25.05.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.09.2022; vgl. AJ 25.05.2022). Am 18.06.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.09.2022; vgl. TN 18.06.2022) und am 04.07.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.09.2022; vgl. Afintl 05.07.2022).

Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 08.08.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 05.08.2022; vgl. REU 05.08.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP „Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale“ geplant hatten (VOA 05.08.2022). Am 11.08.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.08.2022; vgl. VOA 11.08.2022). Am 18.08.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.08.2022; vgl. BBC 18.08.2022).

Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 05.09.2022 für sich (UNGA 07.12.2022; vgl. KP 06.09.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 07.12.2022; vgl. Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 07.12.2022; vgl. 8am 27.10.2022).

Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vgl. VOA 22.10.2022).

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 01.01.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 01.01.2023; vgl. RFE/RL 01.01.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 05.01.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 05.01.2023; vgl. AJ 05.01.2023). [...]

6.4 Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen

Letzte Änderung: 02.03.2023

Al-Qaida

Laut einem Bericht der Vereinten Nationen vom Mai 2022 bleiben die Verbindungen zwischen Al- Qaida und den Taliban eng (UNSC 26.05.2022). Am 01.08.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von Al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 02.08.2022; vgl. VOA 02.08.2022). Die Taliban-Führung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anm.: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 04.08.2022; vgl. GD 05.08.2022). Es wird berichtet, dass Al-Qaida Verbindungen zum Haqqani-Netzwerk unterhält (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022). Experten sind der Ansicht, dass die Verbindungen der Taliban zu Al-Qaida offenbar hauptsächlich auf individuellen Verbindungen beruhen, was jedoch nicht bedeutet, dass es keine Verbindungen auf der Ebene der Taliban-Führung gibt (ODI/Rahmatullah, A./Jackson, A 9.2022).

Nach Angaben der Vereinten Nationen agiert Al-Qaida vor allem in ihren historischen Verbreitungsgebieten im Süden und Osten Afghanistans, wobei sich Berichten zufolge einige Mitglieder in weiter westliche Gebiete (Farah und Herat) verlegt haben. Al-Qaida verfügte über „einige Dutzend“ Kämpfer, die ihrer Kernorganisation angehörten, und ihre operativen Fähigkeiten bschränkten sich auf die Beratung und Unterstützung der Taliban (UNSC 26.05.2022).

Berichten zufolge hält sich „Al-Qaeda inthe Indian Subcontinent“ (AQIS), eine der Kernorganisation von Al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.05.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 26.05.2022; vgl. CRS 19.04.2022), die in Helmand, Kandahar, Ghazni, Nimroz, Paktika und Zabul stationiert sein sollen und Personen aus mehreren süd- und südostasiatischen Ländern umfasst (UNSC 26.05.2022; vgl. VOA 20.03.2022). Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (VOA 20.03.2022).

Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)

Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.04.2022). Die Vereinten Nationen schätzen im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 26.05.2022), während ein unabhängiger afghanischer Analyst schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022a). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus und ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban.

Darüber hinaus signalisierte Al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.04.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten „frei bewegen“ konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022a). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.05.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distrikten Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.01.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP- und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.06.2022).

Eastern Turkistan Islamic Movement

Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als „Turkistan Islamic Party“ (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.04.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv, und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von einigen Dutzend bis zu 1.000 Mitgliedern (UNSC 26.05.2022). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.05.2022; vgl. RFE/RL 05.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 05.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.05.2022).

Jamaat Ansarullah

Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit Al-Qaida verbunden ist. Im Jahr 2021 kämpfte sie an der Seite der Taliban in der Provinz Badakhshan. Als sich die Beziehungen zwischen Tadschikistan und der Taliban-Regierung im Herbst 2021 verschlechterten, wurden Ansarullah-Kämpfer an der Seite von Taliban-Spezialkräften entlang der tadschikischen Grenze in den Provinzen Badakhshan, Takhar und Kunduz eingesetzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen soll die Gruppe aus 300 Kämpfern bestehen, die zumeist tadschikische Staatsangehörige sind. Die Jamaat Ansarullah ist in den Provinzen Badakhshan und Kunduz präsent. Ihr Anführer ist Sajod, der Sohn des ehemaligen Anführers der Gruppe, Damullo Amriddin (UNSC 26.05.2022). [...]

7. Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.03.2023

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.02.2022a).

Nachdem sie die gewählte Regierung im August 2021 abgesetzt hatten, übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (FH 24.02.2022a) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.01.2022). Viele Richter wurden aus ihren Ämtern entlassen, und Angehörige des Islamischen Emirats Afghanistan (IEA) mit unterschiedlichem Hintergrund praktizieren nun Rechtsstaatlichkeit (IOM 12.01.2023; vgl. FH 24.02.2022a). Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Am 16.12.2021 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2021 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet (UNGA 28.01.2022).

Im Jahr 2022 setzt sich die Umstellung des Justizwesens und des Rechtsrahmens der ehemaligen Republik weiter fort, wobei Bedenken hinsichtlich der vorherrschenden Unklarheit über die anwendbaren Gesetze bestehen. Am 21.08.2022 wies der Taliban-Generalstaatsanwalt die Staatsanwälte an, laufende Ermittlungen an Taliban-Gerichte zu übertragen; der stellvertretende Oberste Richter für die Verwaltung des Obersten Gerichtshofs gab an, dass die Richter auch Ermittlungsaufgaben nach dem Scharia-Recht übernehmen würden. Diese Maßnahme führt zu einer höheren Arbeitsbelastung der Gerichte, zu Verzögerungen bei Gerichtsverfahren und zu einer Verlängerung der ohnehin schon langen Untersuchungshaftzeiten. Angesichts der damit einhergehenden Zunahme der Gefangenenpopulation und eines Ersuchens des Büros für Gefängnisverwaltung im Juni 2022 wies Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada Ende September 2022 den Obersten Gerichtshof an, Richtergruppen für jede Provinz zu ernennen, um die Prüfung der Fälle von Untersuchungshäftlingen zu beschleunigen (UNGA 07.12.2022).

Die Zulassung von Strafverteidigern ist noch nicht abgeschlossen, und Frauen sind nach wie vor von diesem Verfahren ausgeschlossen. Das Taliban-Justizministerium teilte mit, dass bis zum 10.11.2022 1.275 von 1.332 geprüften Anwälten die Anforderungen erfüllt hätten und 947 eine neue Zulassung erhalten hätten, während vor August 2021 schätzungsweise 6.000 Strafverteidiger, darunter 1.500 Frauen, praktiziert hatten. Nach Angaben der Taliban-Justizbehörden haben die Gerichte über 13.000 Fälle verhandelt, und bei den Justizministerien im ganzen Land sind 97.700 Zivilklagen eingegangen, von denen seit August 2021 nur 2.339 von Gerichten bearbeitet wurden (UNGA 07.12.2022).

Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung sollen nach Angaben der Taliban-Führung weiterhin gelten, unterliegen aber einem Islamvorbehalt (d. h., sie werden auf die Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht überprüft); sie werden in der Praxis nicht oder nur in Teilen angewendet. So wird u. a. in von Taliban veröffentlichten Dekreten darauf Bezug genommen. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften wurden mit den Taliban nahestehenden Rechtsgelehrten besetzt, die weder die Voraussetzungen noch das Ziel haben, die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung anzuwenden. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Taliban-Regierung in Kabul auf die Verwaltungen und Sicherheitskräfte der Provinz- und Distriktebene. Umfang und Qualität des repressiven Verhaltens der Taliban gegen die Bevölkerung hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 20.07.2022). Sowohl das afghanische Zivilgesetzbuch wie auch das schiitische Personenstandsrecht sind nominell weiterhin in Kraft, auch wenn es Änderungen gibt. Während beispielsweise Fälle des schiitischen Personenstandsrechts früher von den Gerichten der Regierung behandelt wurden, verweisen die Taliban diese Fälle an die schiitischen Religionsämter, die unabhängig und nicht von der Regierung geleitet werden (IOM 12.01.2023).

Nach Angaben eines in Afghanistan praktizierenden Rechtsanwaltes stellt sich die Lage der Gesetze in Afghanistan als schwierig und uneinheitlich dar. Auch wenn die Taliban stets behaupteten, dass die afghanischen Gesetze unislamisch wären, so haben sie nicht im Detail erklärt, welche Bestimmungen welcher Gesetze gegen die Grundsätze der Scharia verstoßen würden. Sie haben weder erklärt, dass alle früheren Gesetze nicht mehr gelten, noch, dass diese weiterhin in Kraft sind und gelten. Auch in der Praxis gibt es unterschiedliche Standards in den verschiedenen Instanzen. Einige Gerichte wenden die früheren Gesetze, einschließlich des Zivilgesetzbuches an, andere wiederum nicht (RA KBL 04.10.2022).

Aus verschiedenen Provinzen gibt es anhaltende, im Einzelfall nur schwer verifizierbare Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen, die auch Körperstrafen wie Steinigung und Auspeitschung einschließen. Vereinzelt kommt es auch zur Zurschaustellung von Kriminellen sowie Personen, die den moralischen Vorstellungen der Taliban zuwiderhandeln (keine Teilnahme am Gebet, Vorwurf des Ehebruchs). Auf nationaler Ebene wurde im April 2022 erstmals eine Körperstrafe (Peitschenhiebe) wegen Drogen- und Alkohol-Konsums durch den Obersten Gerichtshof verhängt. Das von den Taliban neu-gegründete Ministerium für die Förderung von Tugend und Verhinderung von Laster (sog. Tugendministerium) spielt mit quasi-polizeilichen Befugnissen eine besondere Rolle bei der Einschränkung von zahlreichen Persönlichkeitsrechten im Alltag (AA 20.07.2022).Am 07.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 07.12.2022). [...]

8. Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 21.03.2023

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen. Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch „of“] Intelligence, GDI) (AA 20.07.2022; vgl. CPJ 01.03.2022), ein Nachrichtendienst, der früher als „National Directorate of Security“ (NDS) bekannt war (CPJ 01.03.2022), wurde dem Innenministerium der Taliban unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen (AA 20.07.2022).

Die Institutionalisierung des Sicherheitsapparats nahm im Jahr 2022 zu. Ende August berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 07.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.08.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vgl. Afintl 23.08.2022).

Im Oktober 2022 wurden mehrere Sicherheitskommissionen eingesetzt, darunter eine Reformkommission des Taliban-Innenministeriums mit neun Unterausschüssen, die Mitarbeiter mit kriminellem Hintergrund ausschließen sollen, sowie eine Kommission für die Einstufung von Militärangehörigen, die den „Dschihad“- und Bildungshintergrund von Armeeangehörigen bewerten soll (UNGA 07.12.2022). Bereits im März gab eine von den Taliban eingerichtete „Säuberungskommission“ bekannt, dass insgesamt ca. 4.000 Taliban-Kämpfer aufgrund krimineller Aktivitäten, Verbindungen zum Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) oder anderer Vergehen entlassen wurden (AA 20.07.2022). Darüber hinaus wurden mindestens 52 Ernennungen in den Taliban-Sicherheitsministerien bekannt gegeben, bei denen es sich größtenteils um Umbesetzungen handelte, darunter vier stellvertretende Minister, ein neuer Luftwaffenkommandeur, sieben Korpskommandeure und 13 Provinzpolizeichefs; 27 Ernennungen im Verteidigungsbereich, die am 26.10.2022 bekannt gegeben wurden, folgten auf den Besuch des Taliban-Verteidigungsministers Yaqoob in Kandahar (UNGA 07.12.2022).

Mitglieder der ehemaligen Streitkräfte

Die Taliban haben offiziell eine „Generalamnestie“ für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt (AA 20.07.2022; USDOS 12.04.2022a). Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, EmirHaibatullah Akhundzada, haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen (AA 20.07.2022). Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen bislang nicht nachgewiesen werden konnten (AA 20.07.2022), berichten Menschenrechtsorganisationen allerdings über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 20.07.2022; vgl. HRW 12.01.2023). Diese Fälle lassen sich zumindest teilweise eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet wurden, ist nicht zu verifizieren. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt (AA 20.07.2022). Die Vereinten Nationen haben bis Mitte Februar 2022 130 Fälle geprüft und die Vorwürfe gegenüber den Taliban für begründet befunden, in denen Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte und Regierung ermordet wurden. Bei rund 100 dieser Fälle handelt es sich um extralegale Hinrichtungen, die Taliban-Kräften zugeordnet werden konnten (AA 20.07.2022; vgl. UNHCR 30.03.2022, HRW 30.03.2022). Laut einer im April erschienenen Medienrecherche der New York Times konnten seit August 2021 ca. 500 Fälle verifiziert werden, in denen Angehörige der ehemaligen Regierung verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden bzw. weiterhin verschwunden sind (NYT 27.05.2022). UNAMA und Human Rights Watch (HRW) halten diese Untersuchung für glaubwürdig (AA 20.07.2022). [...]

9. Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 09.03.2023

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 20.07.2022, vgl. HRW 12.01.2023). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von Personen, denen vorgeworfen wird, den ehemaligen Sicherheitskräften bzw. der ehemaligen Regierung, der Nationalen Widerstandsfront (NRF) oder dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) anzugehören. Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (UNAMA 7.2022) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten wird berichtet (AA 20.07.2022 vgl. HRW 12.01.2023). Vier junge Männer (darunter drei Minderjährige), die im Zusammenhang mit der Ermordung von acht Mitgliedern einer Polio-Impfkampagne festgenommen wurden, sollen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gefoltert worden sein (AA 20.07.2022). [...]

10. Korruption

Letzte Änderung: 21.03.2023

Mit einer Bewertung von 16 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0= highly corrupt und 100 = very clean) belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2021 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 174. Platz, was eine Verschlechterung um neun Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI o. D. a., TI o. D. b. ).

Die ehemalige Regierung setzte Maßnahmen gegen Korruption nicht effektiv um, während Beamte häufig ungestraft korrupte Praktiken ausübten. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist - Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem (USDOS 12.04.2022a). Die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft schwächten in weiterer Folge die staatlichen Strukturen. Das gilt für die Sicherheitskräfte ebenso wie für das Parlament und die Gerichte (NZZ 11.08.2021). Im Laufe des Jahres 2021 gab es Berichte über „land grabbing“ durch private und öffentliche Akteure, einschließlich der Taliban (USDOS 12.04.2022a).

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen in Kabul und auf Provinzebene, die korrupte oder kriminelle Beamte aufspüren und eine harte Haltung gegen Bestechung zeigen sollen. Die Taliban richteten über das Verteidigungsministerium eine Kommission ein, die Mitglieder ausfindig machen sollte, die sich über die Richtlinien der Bewegung hinwegsetzten. Ein Sprecher des Ministeriums erklärte, dass 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Aus Berichten mehrerer lokaler Geschäftsleute ging hervor, dass der grenzüberschreitende Handel unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden war, da die „Geschenke“, die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden. Örtliche Taliban-Führer in Balkh leiteten Ermittlungen wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit Invaliditätsleistungen ein, und in Nangarhar richteten sie Sondereinheiten ein, um illegale Landbesetzungen und Abholzungen zu verhindern (USDOS 12.04.2022a).

Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, weil sie nicht befugt waren, mit den Medien zu sprechen, sagten, die Taliban hätten die Korruption in den letzten sechs Monaten reduziert. Das hat zu höheren Einnahmen in einigen Sektoren geführt, auch wenn die Geschäfte rückläufig sind. So seien beispielsweise die Zolleinnahmen gestiegen, obwohl die neue Taliban-Regierung weniger Geschäfte mache (AP 15.02.2022). Es wird jedoch weiterhin von Korruption und Bestechung berichtet, beispielsweise an den Grenzübergängen nach Pakistan und Iran, wo Schlepper durch Bestechung von Grenzbeamten Personen außer Landes schmuggeln (RFE/RL 03.06.2022b; vgl. RFE/RL 27.05.2022).

Im Juli 2022 kündigten die Taliban an, dass sie ehemalige afghanische Beamte nicht für die massive Korruption zur Rechenschaft ziehen werden, die in Zusammenhang mit Entwicklungshilfeprojekten stehen. Ehemalige Beamte, die der Korruption verdächtigt werden, müssen sich nur dann vor Gericht verantworten, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten Privateigentum oder öffentliches Vermögen an sich gerissen haben (VOA 06.07.2022). [...]

12. Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung: 09.03.2023

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen (AA 20.07.2022; vgl. CPJ 01.03.2022). Ende August 2022 berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 07.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.08.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vgl. Afintl 23.08.2022).

Berichten zufolge kam es im Sommer 2022 in der Provinz Badakhshan zu Zwangsrekrutierungen seitens der Taliban (8am 01.06.2022; vgl. ACLED 09.06.2022). Die Vereinten Nationen gehen mit Sommer 2022 davon aus, dass auch Kinder weiterhin rekrutiert werden (OHCHR 09.09.2022) wobei nach dem Taliban-Layeha (Verhaltenskodex) „Jugendliche (deren Bärte aufgrund ihres Alters nicht sichtbar sind) nicht von Mudschahedin in Wohn- oder Militärzentren gehalten werden“ dürfen (EUAA 8.2022b; vgl. AAN 04.07.2011). Am 27.03.2022 erließ der Oberste Führer der Taliban Berichten zufolge einen Erlass, der Taliban-Militärs anweist, keine Minderjährigen zu rekrutieren (Bakhtar 27.03.2022). [...]

18. Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 21.03.2023

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 15% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 29.12.2022; vgl. USDOS 02.06.2022, AA 20.07.2022). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha‘i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 29.12.2022; vgl. USDOS 02.06.2022). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AA 20.07.2022; vgl. USCIRF 8.2022, USDOS 02.06.2022). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte (USDOS 02.06.2022).

Es existieren keine verlässlichen Schätzungen zur Größe der hauptsächlich in Kabul und Kandahar ansäßigen Baha’i-Gemeinschaft in Afghanistan. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha’i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha’i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt (USDOS 02.06.2022).

Baha’i gelten (vielen) Muslimen als Ungläubige, nicht (immer) jedoch als Konvertiten und wurden keines dieser beiden Vergehen angeklagt. Baha’i wie auch Christen leben weiterhin in ständiger Angst vor Enttarnung und zögern, ihre religiöse Identität zu offenbaren (USDOS 02.06.2022).

Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 20.07.2022). Nach Angaben der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind Angehörige religiöser Gruppen auch weiterhin stark von Verfolgung durch die Taliban bedroht (USCIRF 8.2022). Ende 2021 haben auch Salafisten, die wie die Taliban Sunniten sind, jedoch der wahhabitischen Schule angehören (RFE/RL 22.10.2021), die Taliban beschuldigt, ihre Gotteshäuser zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften bzw. zu töten (FH 24.02.2022a; vgl. RFE/RL 22.10.2021). Trotz ständiger Versprechungen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, war die Taliban-De-facto-Regierung nicht in der Lage, religiöse Minderheiten vor Angriffen des Islamischen Staates Provinz Khorasan (ISKP) zu schützen und ihnen Sicherheit zu bieten. Während einige religiöse Minderheiten vom Aussterben bedroht sind, müssen andere aus Angst vor Repressalien ihren Glauben im Verborgenen ausüben. Obwohl sich die Taliban öffentlich zu Wandel und Inklusion bekennen, regieren sie Afghanistan weiterhin auf ähnliche Weise wie von 1996 bis 2001 (USCIRF 8.2022).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.01.2022b) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.01.2022; vgl. RFE/RL 19.01.2022b). Laut Meldungen vom 21.11.2022 haben die Taliban angekündigt, sich dem Thema für die Freitagspredigten in den Moscheen verstärkt zu widmen. Kein Vorbeter hat in Zukunft das Recht, eine Rede nach eigenem Ermessen zu halten, der Inhalt der Predigten soll mit der Ideologie der Taliban in Einklang stehen (8am 21.11.2022b). [...]

19. Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 21.03.2023

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vgl. CIA 29.12.2022). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 29.12.2022), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 20.07.2022).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.04.2022a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 20.07.2022).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind (AA 20.07.2022). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGA 28.01.2022). Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 20.07.2022). [...]

21. Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 21.03.2023.

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen „Ausweichmöglichkeiten“ im Land zu unterbinden (AA 20.07.2022).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 12.04.2022a). Die Taliban schränken die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes kaum direkt ein. Allerdings können Kontrollpunkte, die dazu dienen, mutmaßliche Gegner zu verhaften und die Taliban-Vorschriften durchzusetzen, die Bewegungsfreiheit erschweren (FH 24.02.2022a). So wird berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.05.2022; vgl. NPR 09.06.2022). Die Bewegungsfreiheit von Frauen ist eingeschränkt, da das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern vorschreibt, wie weit sie ohne Begleitung reisen dürfen. Frauen, deren Kleidung nicht den Richtlinien des Ministeriums entspricht, kann der Zutritt zu Fahrzeugen untersagt werden (FH 24.02.2022a). Seit dem 26.12.2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 12.04.2022a). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.01.2022b; vgl. DW 26.12.2021). [...]

22. IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung 21.03.2023.

Die Zahl der Binnenvertriebenen stieg im Jahr 2021 aufgrund der Kampfhandlungen zwischen afghanischen Sicherheitskräften Taliban auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen. Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes kehrten im September und Oktober 2021 vor allem kürzlich Binnenvertriebene in ihre Heimatprovinzen zurück (AA 20.07.2022). Zwischen 2021 und 2022 sind über 1,2 Millionen Binnenvertriebene an ihre Herkunftsorte zurückgekehrt - über 1 Million Binnenvertriebene im Jahr 2021 und 211.807 im Jahr 2022 (UNHCR 22.12.2022). Binnenvertriebene wie auch Rückkehrende aus dem Ausland befinden sich laut UNHCR in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder -verkauf) (AA 20.07.2022). Mit Stand Juni 2022 gibt es in Afghanistan weiterhin 3,4 Millionen Binnenvertriebe (UNHCR 22.12.2022).

Konflikte waren lange Zeit der Hauptauslöser für Vertreibungen in Afghanistan. Dies änderte sich mit der Machtübernahme der Taliban, da die Konfliktvorfälle und die damit verbundenen Vertreibungen landesweit stark zurückgingen (IDMC 15.08.2022). Unsicherheit ist jedoch nicht der einzige Faktor, der die Menschen zwingt, ihre Häuser zu verlassen (UNHCR 15.10.2021). Die Wirtschafts- und Liquiditätskrise seit der Machtübernahme durch die Taliban, die geringeren landwirtschaftlichen Erträge aufgrund der Dürre, die unzuverlässige Stromversorgung und die sich verschlechternde Infrastruktur sowie die anhaltende COVID-19-Pandemie haben die humanitäre Krise verschärft (USDOS 12.04.2022a). [...]

26. Rückkehr

Letzte Änderung: 15.03.2023

[Anmerkung: Zur Situation rückkehrender Geflüchteter aus Österreich liegen nur vereinzelt Erkenntnisse vor, da Rückführungen aus Österreich und anderen EU-Mitgliedstaaten gegenwärtig ausgesetzt sind]

Im Jahr 2022 kehrten laut UNHCR mit Stand Dezember 6.148 Flüchtlinge freiwillig nach Afghanistan zurück, wobei 94% aus Pakistan kamen. Der Rest kehrte aus Iran, Russland, Tadschikistan oder Aserbaidschan zurück. Als Hauptgründe für ihre Rückkehr werden die hohen Lebenshaltungskosten und der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern sowie der Wunsch, wieder mit ihrer Familie zusammenzukommen, und die empfundene bessere Sicherheitslage in Afghanistan genannt (UNHCR 04.12.2022).

Nach Angaben von UNHCR befinden sich Rückkehrende aus dem Ausland in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit, -verkauf). Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghaninnen und Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Außerhalb offizieller Kommunikation verbreiten Taliban-Vertreter bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitglieder bzw. Angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräterinnen und Verräter am Islam und an Afghanistan seien. Auch in den Sozialen Medien werden diese immer wieder als Verräter bzw. „verwestlicht“ bezeichnet, die aufgrund ihrer Ablehnung für „islamische Werte“ ins Ausland gegangen seien. Nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen sind aus Europa Rückkehrende sowie Personen, die mit dem (westlichen) Ausland assoziiert werden, unmittelbar bedroht (AA 20.07.2022).

Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern. Die Taliban haben internationale Organisationen der humanitären Hilfe um Unterstützung bei der Versorgung und Umsiedlung Binnenvertriebener gebeten, die selbst in der Regel nicht über ausreichend Mittel zur Rückkehr verfügen (AA 20.07.2022).

Eine Studie von IOM, bei der Afghanen interviewt wurden, die zwischen Jänner 2018 und Juli 2021 aus der Türkei oder der EU nach Afghanistan zurückkehrten, berichtet, dass die Rückkehrer weiterhin mit erheblichen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind. Der größte Anteil der Befragten (45%) gab an, arbeitslos zu sein, während 40% sagten, sie arbeiteten für einen Tageslohn, und fast 90% der Befragten gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im ersten Halbjahr 2022 verschlechtert habe (IOM 05.09.2022).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden (IOM 12.01.2023). Das Reintegrations- und Entwicklungshilfeprojekt (RADA), das 2017 ins Leben gerufen wurde, hat das Ziel, „eine geordnete, sichere, regelmäßige und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Umsetzung geplanter und gut verwalteter Maßnahmen“. Es unterstützt Gemeinden mit einer hohen Anzahl an Rückkehrern durch Projekte wie den Bau von Bewässerungskanälen. Die Beratungstätigkeit des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) durch IOM wurde mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Auch ist die Bereitstellung von sofortiger Aufnahmeunterstützung am Flughafen Kabul derzeit ausgesetzt (IOM 12.01.2023).

Am 30.08.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem Interview an, dass viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist wären und die Taliban seien nicht glücklich darüber, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylwerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgeführt würden (KrZ 30.08.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen haben (EASO 01.01.2022). Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 20.07.2022).

Die Taliban haben am 16.03.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum Delawar ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 20.07.2022).

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die „Eliten“ die das Land verließen. Sie würden nicht als „Afghanen“, sondern als korrupte „Marionetten“ der „Besatzung“ angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein „guter Muslim“ nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht „gut genug als Muslime“ seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich, dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als „die richtige Art von Mensch“ bzw. nicht als „gute Muslime“ wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die seit Langem bestehende Tradition der paschtunischen Männer, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht „der richtige Weg“ sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, ebenso wie Personen mit westlichen Kontakten (EASO 01.01.2022). [...]

27. Dokumente

Letzte Änderung: 15.03.2023

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.07.2020).

Aktuell (mit Stand Jänner 2023) kann keine Tazkira in Papierform beantragt werden, jedoch ist es in allen Provinzen Afghanistans möglich, eine eTazkira (elektronischer Personalausweis) zu erhalten. Allerdings wird dieser Prozess manchmal wegen technischer Probleme in verschiedenen Provinzen für eine Weile unterbrochen und dann wieder aufgenommen (RA KBL 26.01.2023). Die Ausstellung von Reisepässen wurde hingegen vor einigen Monaten aufgrund technischer Probleme ausgesetzt, wie die Passbehörde mitteilte (RA KBL 26.01.2023; vgl. KP 08.10.2022). Im Dezember riefen Bürger Kabuls die Taliban dazu auf, die Erstellung von Reisepässen wieder aufzunehmen, da es beispielsweise Kranken ohne Reisepässe nicht möglich war, ins Ausland zu reisen und sich behandeln zu lassen (TN 11.12.2022; vgl. PAN 09.01.2023). Vor Kurzem wurde jedoch die Ausstellung von Reisepässen in Herat, Panjsher, Nangarhar, Logar und Takhar für Personen, die die Gebühr bereits bezahlt haben und im Besitz einer Bankquittung sind, wiederaufgenommen. In Ausnahmefällen ist es möglich, dass Studenten, die ein Stipendium erhalten, und Patienten mit schweren Krankheiten (nach einer ärztlichen Untersuchung) einen Reisepass erhalten, auch wenn dies nicht der großen Nachfrage entspricht und in einem organisierten Verfahren erfolgt (RA KBL 26.01.2023). Um eine eTazkira zu erhalten, muss der Antragsteller das Online-Antragsformular ausfüllen. Benötigt wird dafür eine Tazkira in Papierform (falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist eine Geburtsurkunde für Antragsteller unter 18 Jahren erforderlich. Für Personen über 18 Jahren ist die Tazkira (entweder elektronisch oder in Papierform) eines der Hauptverwandten des Antragstellers (Vater, Bruder, Schwester, Onkel, Cousin, Großvater) erforderlich. In diesem Fall müssen zwei andere Personen als die Hauptverwandten des Antragstellers die Identität des Antragstellers bescheinigen). Zusätzlich ist ein Lichtbild des Antragsstellers notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller zu einem bestimmten Termin im eTazkira-Ausstellungszentrum erscheinen, um die biometrischen Daten erfassen zu lassen und die Gebühr zu entrichten (RA KBL 26.01.2023).

Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine eTazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (eTazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde) sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt bei 10.000 AFN (RA KBL 26.01.2023).

Die Beantragung sowohl von eTazkira als auch von Reisepässen ist derzeit in allen Provinzen über Online-Portale möglich. Einzelpersonen können eine eTazkira bei der Beantragung erhalten, aber die Ausstellung von Reisepässen ist im Moment ausgesetzt, außer in den oben genannten Ausnahmefällen. Wenn Einzelpersonen einen Reisepass beantragen, wird der Antrag im System registriert und zu einem bestimmten Zeitpunkt bearbeitet, wenn die Ausstellung des Reisepasses wiederaufgenommen wird. Generell sind die Bearbeitung von Passanträgen und die Ausstellung von Pässen jedoch sehr begrenzt (RA KBL 26.01.2023).

Die Reisepässe sehen immer noch genauso aus wie früher. Beamte haben jedoch erklärt, dass neue eTazkira mit einigen Änderungen im Layout ausgestellt werden. Auf der Titelseite von eTazkiras steht nicht mehr „Innenministerium“, sondern „Nationale Behörde für Statistik und Information“ in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Rückseite von eTazkiras das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, das vorher nicht vorhanden war (RA KBL 26.01.2023). [...]“

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen hinsichtlich des Namens des BF, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit sowie seiner Muttersprache werden anhand seiner dahingehend übereinstimmenden Angaben im Zuge des gegenständlichen Verfahrens getroffen.

Die Feststellungen hinsichtlich des Heimatortes des BF gründen sich auf seine diesbezüglichen Angaben während seiner Einvernahmen. Dass seine Familie nach wie vor in Afghanistan aufhältig ist, lässt sich seinen eigenen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung entnehmen.

Die Feststellung hinsichtlich der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF erfolgt anhand des im Gerichtsakt einliegenden Strafregisterauszugs.

2.2. Zu den Fluchtgründen

Die Feststellung, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen individuellen, gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt ist, ergibt sich anhand der folgenden Ausführungen:

So ist vorweg schon zu betonen, dass der BF zwar von sich aus beim Bundesverwaltungsgericht darlegte, dass, anders als beim BFA protokolliert, eine Person am 16.07.2021 zu ihm gekommen sei und ihn aufgefordert habe, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, und am 17. Juli 2021 diese eine Person mit einer weiteren Person zu ihm gekommen sei und diese ihn aufgefordert hätten, zum Talibankommandanten mitzugehen, er am selben Abend von seiner Mutter zu seiner Schwester geschickt worden sei, er dort dann zwei Tage verbracht habe und am 19.07. die Ausreise begonnen habe, wogegen er beim BFA noch angegeben hatte, dass am 17.07.2021 ein ihm bekannter Jugendlicher zu ihm gekommen sei und ihn aufgefordert hätte, zu den Taliban zu gehen, zwei Tage später sei dieser Junge mit einer anderen Person zu ihm gekommen und seien sie dann gemeinsam zum Kommandanten gegangen, in der Folge sei der BF dann zurück zu seinen Eltern und am 19.07.2021 zu seiner Schwester weitergereist. Diese Angaben wurden dem BF beim BFA rückübersetzt, wo er ausdrücklich angab, dass alles richtig und vollständig übersetzt und protokolliert worden sei. Es ist dabei zwar zu beachten, dass der BF wie ausgeführt von sich aus bereits angegeben hatte, dass er beim BFA andere Daten angegeben habe, diese aber er nun richtigstellen wolle, sodass hier nicht ohne Weiteres von widersprüchlichen Angaben ausgegangen werden kann. Dennoch bleiben erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF schon aufgrund dieser unterschiedlichen Angaben bestehen, konnte der BF doch beim Bundesverwaltungsgericht nicht plausibel erklären, warum im Protokoll des BFA unrichtige Protokollierungen hinsichtlich der Datierungen der Geschehnisse vorgenommen worden seien, wenn der BF hier in nicht nachvollziehbarer Weise angibt, dass das Missverständnis deswegen passiert sei, als sie ihn gefragt hätten, wann die Zwei gekommen seien und das sei am 17. gewesen, den 16. hätten sie notiert, weil die eine Person einen Tag zuvor gekommen sei, bei der Rückübersetzung sei ihm das auch nicht aufgefallen, erst einen Tag später, doch wurde seitens des BFA gar kein 16. notiert, sondern hat der BF im Rahmen seiner freien Erzählung den 17. Juli genannt, als die eine Person gekommen sei und in weitere Folge angegeben, dass zwei Tage später diese Person mit einer weiteren Person gekommen sei. Über Vorhalt beim Bundesverwaltungsgericht, dass er beim BFA nicht nur Daten genannt habe, sondern auch gesagt habe, dass diese zwei Personen zwei Tage später gekommen seien, beim Bundesverwaltungsgericht er aber angab, dass es einen Tag später gewesen sei, führte der BF aus, dass er nur gesagt habe, dass diese zwei Personen am 17. gekommen seien und einer zuvor schon gekommen sei, aber er habe kein Datum genannt, was nicht zu erklären vermag, warum beim BFA zwei Tage zwischen den zwei Besuchen gewesen seien, beim Bundesverwaltungsgericht bloß ein Tag, sondern deutet dies vielmehr darauf hin, dass die diesbezüglichen Angaben des BF nicht der Wahrheit entsprechen. Schließlich kann auch nicht nachvollzogen werden, warum in seiner Beschwerde auch noch davon die Rede ist, dass am 17.07.2021 ein bekannter Jugendlicher zu ihm gekommen sei und von ihm verlangt hätte, dass er zu den Taliban gehen und ihnen beim Heiligen Krieg helfen solle, dieser Junge sei zwei Tage später mit einer anderen Person erneut zu ihm gekommen und sie hätten ihm gesagt, dass sie zum Talibankommandanten gehen sollten, er also das Vorbringen, das er beim BFA erstattet hatte, darin wiederholte, obwohl er beim Bundesverwaltungsgericht zu Protokoll gab, dass ihm schon einen Tag nach der Einvernahme beim BFA aufgefallen sei, dass es hinsichtlich der Daten beim BFA zu Missverständnissen gekommen sei.

Zudem ist das Vorbringen des BF auch insofern widersprüchlich, als er beim BFA noch angegeben hat, dass diese Personen unbewaffnet gewesen seien, er sprach in diesem Zusammenhang auch nicht von Bedrohungen, wogegen der BF beim Bundesverwaltungsgericht zu Protokoll gab, dass er mitgegangen sei, weil sie gedroht hätten, wenn er nicht mitgeht, dann würden sie ihn erschießen, er habe keine andere Wahl gehabt, als mit zu gehen, er sei davon ausgegangen, dass sie Waffen gehabt hätten, ob sie welche gehabt haben, wisse er nicht, gesehen habe er keine. All diese Angaben sind aber nicht miteinander in Einklang zu bringen, sprach er doch beim BFA dezidiert davon, dass diese Personen unbewaffnet gewesen seien, wogegen er beim Bundesverwaltungsgericht annahm, dass diese Waffen gehabt hätten.

Nannte der BF beim BFA noch keinerlei Namen hinsichtlich der Jugendlichen im Dorf, die seitens der Taliban bereits rekrutiert wurden, so gab er beim Bundesverwaltungsgericht befragt an, dass der Kommandant damals gesagt habe, dass die meisten Jugendlichen auch aus dem Dorf seien und sie weiter rekrutieren würden, über Vorhalt, warum ihm das der Kommandant habe sagen müssen, ob er die Jugendlichen aus dem Dorf nicht selbst gekannt habe, führte er dann aus, dass er zu den Jugendlichen im Dorf ganz normal Kontakt gehabt habe und er nicht gewusst habe, dass sie bei den Taliban seien, sie hätten sich versteckt vor der Regierung, damit sie nicht verhaftet würden, wogegen er in der Folge aber beim Bundesverwaltungsgericht über Nachfrage ausführte, dass der Kommandant die Namen genannt habe, die seitens der Taliban in seinem Dorf rekrutiert worden seien. Über Vorhalt, warum der Kommandant Namen von Jugendlichen nenne, die bei den Taliban seien, ob er keine Angst gehabt habe, dass der BF diese verraten würde, da er ja selbst Verwandte bei der Polizei gehabt habe, behauptete der BF dann, dass er keine Angst gehabt habe, da das Dorf in den Händen der Taliban zu dieser Zeit gewesen sei, doch hatte der BF zuvor beim Bundesverwaltungsgericht noch behauptet, dass sich diese rekrutierten Jugendlichen versteckt hätten, damit sie nicht verhaftet würden.

Weiters kann auch nicht erkannt werden, warum die Taliban erst zur Familie des BF gekommen seien, als dieser sich bereits in der Türkei befunden habe, und nicht umgehend bei der Familie erschienen seien, zumal der BF angegeben hatte, dass er nach dem Besuch beim Kommandanten am nächsten Tag zu diesen hätte kommen und sich ihnen anschließen müssen, nach den Angaben des BF die Heimatregion von den Taliban beherrscht wurde und nach seinen Angaben die Jugendlichen, die zu ihm gekommen seien, auch, jedenfalls nach den Angaben beim Bundesverwaltungsgericht, an zwei Tagen hintereinander gekommen seien. Warum dann aber länger zugewartet worden sei, um zur Familie zu gehen, nachdem der BF trotz seiner Zusage nicht bei den Taliban erschienen sei, ist vor diesem Hintergrund aber nicht nachzuvollziehen.

Insgesamt betrachtet sind derart viele Ungereimtheiten hervorgekommen, dass jedenfalls nicht angenommen werden kann, dass das Vorbringen des BF zu einer konkreten Bedrohungssituation den Tatsachen entspreche.

Schließlich ist es aber auch nicht ausreichend plausibel, dass der BF selbst wenn man davon ausginge, dass vor seiner Ausreise Rekrutierungsversuche stattgefunden haben, nunmehr seitens der Taliban belangt würde, weil er damals nicht der Aufforderung, in den Heiligen Krieg zu ziehen, nachgekommen sei, sind die Taliban doch selbst nach den Angaben des BF nur einmal bei der Familie des BF erschienen, herrscht mittlerweile kein offener Krieg in Afghanistan, und ergibt sich selbst aus den Länderberichten, die vom BF in seiner Beschwerde zur Zwangsrekrutierung vorgebracht wurde, dass die Taliban schon seinerzeit keine Mangel an freiwilligen Rekruten gehabt hätten und nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch gemacht hätten, und Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, nicht immer gewalttätig gewesen seien. Angesichts dieser Umstände, kann es nicht als ausreichend wahrscheinlich angesehen werden, dass der BF gegenwärtig einer relevanten Bedrohungssituation in seiner Heimat ausgesetzt wäre.

Weiters geht das Bundesverwaltungsgericht nicht davon aus, dass der BF lediglich aufgrund seines Aufenthaltes in Europa im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevanten Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein könnte, zumal er sich selbst als Muslim bezeichnet und nicht ersichtlich ist, inwiefern er sich von der in Afghanistan vorherrschenden traditionell-konservativen Lebensweise entfernt hat. Schließlich ist weder den Länderinformationen des COI-CMS Afghanistan noch der aktuellen medialen Berichterstattung eine aktuelle Gruppenverfolgung von Rückkehren aus Europa in Afghanistan zu entnehmen.

Zusammengefasst konnte der BF keine drohende asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen.

2.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf den zitierten Länderbericht. Da dieser auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche über Afghanistan bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchteil A) Abweisung der Beschwerde

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen.

Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Nach VwGH 24.03.2011, 2008/23/1443, ist für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird. Es reicht aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist, oder dass die Strafe für ein im Zusammenhang mit einem ethnischen oder politischen Konflikt stehendes Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient (vgl. etwa das Erkenntnis vom 6. Mai 2004, Zl. 2002/20/0156, mit Verweis auf die Erkenntnisse vom 17. September 2003, Zl. 2001/20/0303, und vom 19. Oktober 2000, Zl. 98/20/0417).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151), kann die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung, jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe.

Wie bereits in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, konnte der BF keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen, weswegen die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht in Betracht kommt.

In Ermangelung von den Beschwerdeführern individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob sie im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer „Gruppenverfolgung“ ausgesetzt wären. Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014).

Im Hinblick auf den ca. eineinhalbjährigen Aufenthalt des BF in Europa ist festzuhalten, dass aus den zugrunde gelegten Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen nicht ableitbar ist, dass selbst ein mehrjähriger Aufenthalt in Europa alleine und eine sich daraus abgeleitete bzw. unterstellte westliche Geisteshaltung bei Männern bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt dafür nicht. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dahin ergeben, dass dem BF, aufgrund seines Merkmals als Rückkehrer, individuell eine Verfolgung drohen würde.

Hinsichtlich einer Gruppenverfolgung von Rückkehrern ist auszuführen, dass im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Rückkehrern in Afghanistan sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben haben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die mehrere Jahre in Europa verbracht, für gegeben zu erachten.

Im Übrigen stellt eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0789; VwGH 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529 u.a.). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gewinnung – zusammenhängt (siehe auch BVwG 15.12.2014, W225 1434681-1/31E). Derartiges hat der BF jedoch nicht glaubhaft behauptet.

Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.

Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde in der rechtlichen Beurteilung wiedergegeben.

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