Spruch
W231 2244876-1/9E
W231 2244877-1/9E
W231 2244875-1/8E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von (1) XXXX , geb. XXXX , (2) XXXX , geb. XXXX und (3) XXXX , geb. XXXX , alle StA Afghanistan, alle vertreten durch die BBU, gegen Spruchpunkt I der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.06.2021, Zl. (1) XXXX (2) XXXX , (3) XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Verfahren werden gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14.09.2022, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, vorgelegten Fragen ausgesetzt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die BF stellten am 21.07.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Im Zuge der Erstbefragung gab BF1 an, er stamme aus Afghanistan, Provinz Parwan, seine Eltern seien verstorben, ein Bruder lebe in Afghanistan, ein anderer in Deutschland. Seine Schwester lebe in Österreich und sei mittlerweile österreichische Staatsbürgerin und sein Sohn sei seit ca. 3 Jahren bei seiner Schwester in Wien. Er habe ursprünglich nicht nach Österreich reisen wollen, aber jetzt schon, da sein Sohn in Österreich lebe. Er sei vor ca. fünf Jahren in den Iran gegangen und über Griechenland nach Österreich gekommen. Sein Fluchtgrund sei, dass sein Bruder in Afghanistan Offizier gewesen und von den Taliban getötet worden sei. Danach sei BF1 zur Polizei gegangen und habe sich in seine jetzige Frau (BF2) verliebt. Das Problem sei gewesen, dass sie mit einem Talib verlobt gewesen sei. Außerdem sei er Mitglied der „Jamiat Partei“ und auch deswegen von den Taliban verfolgt und bedroht. Sein Vater habe deswegen Angst gehabt und einen Herzinfarkt erlitten, an dem er auch verstorben sei. Vor ca. drei Jahren seien sie von Griechenland Richtung Mitteleuropa aufgebrochen, auf der Reise seien sie von ihrem Sohn getrennt worden und der Sohn sei alleine nach Österreich gereist, während er und seien Frau in Griechenland geblieben seien. In Griechenland sei 2017 auch die gemeinsame Tochter (BF3) auf die Welt gekommen. BF1 wolle bei seinem Sohn in Österreich leben. Konkret befragt zu seiner Rückkehrbefürchtung gab BF1 an, dass er Mitglied der Jamiat Partei und Polizist gewesen sei, deswegen könne er keinesfalls nach Afghanistan zurückgehen. Er würde von der Dorfbevölkerung getötet werden. Von den afghanischen Behörden habe er aber nichts zu befürchten.
BF2 gab im Zuge der Erstbefragung an, ihre Eltern seien bereits verstorben, alle ihre Geschwister lebten in Afghanistan. Sie sei Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und Sunnitin. Sie habe 12 Jahre die Grundschule besucht und zwei Jahre an der Hochschule Pädagogik studiert. Sie habe eine Ausbildung als Pädagogin. Ihr zuletzt ausgeübter Beruf sei Lehrerin und Schneiderin. Ihr Wohnsitz sei in der afghanischen Provinz Parwan. Zum Fluchtgrund befragt sagte BF2 aus, sie sei bereits seit der Kindheit einem Mann versprochen worden, der ein Anhänger der Taliban gewesen sei. Sie habe ihn aber nie heiraten wollen. Sie habe dann BF1 geheiratet und deswegen seien viele Probleme entstanden. Sie sei von dem Mann, dem BF2 ursprünglich versprochen worden sei, bedroht worden. Andere Fluchtgründe habe sie nicht. BF3 habe keine eigenen Fluchtgründe.
I.2. Im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde am 05.03.2021 gab BF1 weiter an, sein Bruder F., ca. 46 Jahre, sei Polizist in der Provinz Panjir. Er sei Offizier und er habe alle paar Monate Kontakt zu ihm. Sein anderer Bruder sei vor ca. 20 Jahren ermordet worden. Er habe auch noch weitere Angehörige in Afghanistan, zu denen aber kein Kontakt bestehe. Er sei Tadjike und Sunnit. Seine Muttersprache sei Dari, er spreche auch etwas Paschtu und Usbekisch. Er habe 12 Jahre die Schule besucht und einen Schulabschluss. Nach der Schule habe er als Schneider gearbeitet und nach dem Tod seines Bruders sei er Polizist geworden und habe bis einen Monat vor der Ausreise als Polizist gearbeitet. 2015 hätten sie Afghanistan illegal in den Iran verlassen und 2020 sei er legal von Griechenland zwecks Zusammenführung mit seiner Familie nach Österreich gereist.
Konkret befragt zu seinem Grund für die Flucht sagte BF1 aus, er habe keine Probleme wegen seines Berufs gehabt, sondern wegen seiner Frau. Er sei bedroht worden und eigentlich sei jeder bedroht worden, der in der Regierung sei. In dem Jahr, in dem er ausgereist sei, seien fünf Personen umgebracht worden, die auch in der Regierung tätig gewesen seien. Sie seien bedroht worden, es seien Drohbriefe geschickt worden. Einmal am Abend seien sie nach Hause gekommen und hätten gesehen, dass sie überwacht worden seien. Es habe Geräusche gegeben, jemand hätte über eine Leiter ins Haus einsteigen wollen, es habe einen Angriff gegeben. BF1 habe eine Granate geworfen. Seine Ehefrau sei schwanger gewesen und habe eine Fehlgeburt erlitten. Sie hätten dort nicht mehr wohnen können und seien in die Stadt, ins Zentrum, gezogen. Dort hätten sie sich aber auch nicht frei bewegen können. Sie seien dann am Abend zum Schwager gegangen, dort hätten sie aber auch nicht bleiben können, weil jemand ihre Nummer gefunden hätte. Sie seien dann mit Hilfe eines Schleppers ausgereist. Der BF habe sich zwar an staatliche Stellen um Hilfe gewandt, aber dort habe man ihm auch nicht helfen können. Im Jahr 1393 seien sie ausgereist, von 1392 bis 1394 habe es Bedrohungen gegeben. Der BF wurde nach dieser Schilderung aufgefordert, konkrete Angaben zu einer konkreten Verfolgung zu machen. Daraufhin gab der BF an, seine Frau sei im Kindesalter einem Mann versprochen worden, der Paschtune gewesen sei. Das habe er erst nach der Hochzeit erfahren. Sie hätten zu ihm gesagt, er müsse seine Frau verlassen, weil sie jemanden versprochen sei. Der Mann habe sie bedroht. Der BF habe sein Handy ausgeschaltet und die SIM Karte zerstört. Sein Schwiegervater habe auch Probleme durch diese Feinde bekommen, er habe umziehen müssen, sie wohnten aber nach wie vor in der Stadt und seien dort in Sicherheit. Der Feind habe die Familie der BF2 angerufen und bedroht, sie solle eine Burka tragen. BF1 habe seiner Frau Schutz besorgt, der BF2 zur Arbeit habe bringen sollen. Dann seien „diese Probleme“ gewesen, BF2 sei bedroht worden. BF1 sei nie persönlich bedroht worden. Die Frage, ob BF1 Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei gewesen sei, verneinte der BF1 uneingeschränkt. Auch von staatlicher Seite werde er nicht verfolgt. Nochmals befragt zu seinen Rückkehrbefürchtungen gab BF1 an: „Ich hatte dort einen Beruf. Ich hatte dort Feinde. Wenn ich zurückkehre, würde ich am Flughafen festgenommen werden. Mein Leben ist in Gefahr.“
BF2 sagte im Zuge der Einvernahme vor der Behörde am 05.03.2021 aus, sie habe zusammen mit ihrem Ehemann zunächst in einem Dorf in der Provinz Parwan gelebt und sie seien dann zu ihrer Schwester in das Zentrum gezogen, bevor sie ausgereist seien. Ihre Eltern seien beide vor ca. 15 Jahren an Krankheiten verstorben. Sie habe noch zwei Brüder und vier Schwestern in Parwan. Das Verhältnis zur Familie sei gut und sie hätten Kontakt. BF2 habe 12 Jahre die Schule besucht und 2 Jahre im Bereich „Literatur Dari“ studiert. Sie habe drei Jahre als Lehrerin und dann als Schneiderin gearbeitet und 20 Lehrlinge ausgebildet. Nach der Eheschließung habe der Ehemann für sie gesorgt.
Konkret befragt zum Fluchtgrund gab BF2 an, dass sie im Kindesalter an einen Mann, einen Paschtunen, versprochen worden sei. Sein Vater sei ein Freund ihres Vaters gewesen. Als sie älter geworden sei, sei der Mann gekommen und habe ihr gesagt, dass sie ihm versprochen sei. Er habe sie von Pakistan aus angerufen, wo er studiert habe. Er habe sie gefragt, was sie weitermachen wolle. Sie habe geantwortet, Ärztin oder Lehrerin. Der Mann habe das nicht gewollt und wollte nicht erlauben, dass sie in die Schule oder zum Bazar gehe. Nach der Hochzeit mit BF1, der davon nichts gewusst habe, seien sie von dem Mann telefonisch bedroht worden. Ihre Familie habe umziehen müssen, sie sei im Dorf mit BF1 geblieben. Es seien Drohbriefe an die Türe geklebt worden. BF1 sei auch wegen ihr bedroht worden. Der Feind habe BF2 angerufen und ihr gedroht. Eines Abends habe es Geräusche am Dach gegeben, jemand hätte mit einer Leiter einsteigen wollen. BF1 habe eine Granate geworfen, es habe eine Explosion gegeben. BF2 habe deswegen eine Fehlgeburt erlitten. Angaben in zeitlicher Hinsicht zu diesem Vorfall könne BF2 nicht machen. Sie seien dann zu ihrer Schwester in die Stadt gezogen und hätten sich dann zur Ausreise entschlossen. Die Frage, ob sie sich hilfesuchend an staatliche Stellen gewandt hätten, verneinte BF2. Das hätte der Feind irgendwann herausgefunden. Konkret befragt zu ihren Rückkehrbefürchtungen gab BF2 an: „Ich möchte nicht zurück. Eine afghanische Familie wurde vor kurzem abgeschoben, als sie den Flughafen verließen, kamen sie bei einem Anschlag ums Leben.“.
I.3. Nach Durchführung des dargestellten Ermittlungsverfahrens wurden die Anträge von BF1-BF3 auf internationalen Schutz mit Bescheiden des BFA vom 23.06.2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), den Anträgen bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005) stattgegeben (Spruchpunkt II.) und den BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Gründe für die Zuerkennung von Asyl lägen nicht vor, das Fluchtvorbringen wurde aufgrund unschlüssiger, widersprüchlicher und unkonkreter Angaben dazu als unglaubwürdig gewertet. Es sei den BF aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan allerdings der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
I.4. Gegen Spruchpunkt I erhoben die BF fristgerecht die zulässigen Beschwerden. Sie brachten zusammengefasst vor, BF1 habe als Polizist gearbeitet, ein Bruder sei vor vielen Jahren von den Taliban getötet worden, ein weiterer Bruder arbeite ebenfalls als Polizist für die afghanische Regierung. BF2 sei in der Kindheit an einen Mann versprochen worden, den sie aufgrund seiner konservativen Ansichten nicht heiraten habe wollen. Sie sei in Afghanistan sowohl als Lehrerin als auch als Schneiderin tätig gewesen und habe bereits westliche Grundwerte verinnerlicht. Nach einer konkreten Bedrohung durch die Taliban im Jahr 2015 hätten sie Afghanistan verlassen müssen. Die BF seien im Herkunftsstaat asylrelevant bedroht.
I.5. Am 26.09.2022 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt. Die BF nahmen persönlich teil und waren vertreten.
I.6. Am 27.09.2022 langte eine Stellungnahme der BF zu den Länderberichten (LIB Afghanistan, 10.08.2022) ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Zu den BF:
Die BF sind afghanische Staatsbürger, gehören der Volksgruppe Tadschiken und der sunnitischen Richtung des Islam an. Sie sprechen muttersprachlich Dari, BF1 spricht auch ein wenig Paschtu und Usbekisch.
BF1 und BF2 sind miteinander verheiratet und die leiblichen Eltern von BF3, die in Griechenland geboren wurde. Ein gemeinsamer Sohn von BF1 und BF2 ist schon vor BF1 und BF2 nach Österreich eingereist und lebte bei der Schwester von BF1 und deren Familie, die ebenfalls schon länger in Österreich aufhältig sind.
BF1 und BF2 stammen aus Afghanistan, Provinz Paktia, und haben ihr Herkunftsland 2015 in den Iran verlassen. Sie sind dann über Griechenland, wo sie ca. 3 Jahre aufhältig waren, nach Österreich eingereist, um mit ihrem Sohn in Österreich zu leben.
Die BF haben Angehörige in Afghanistan, Paktia, und haben Kontakt zu ihnen.
BF1 hat in Afghanistan 12 Jahre die Schule besucht und als Schneider gearbeitet. Dass BF1 auch eine Ausbildung zum Polizisten absolviert und als Polizist gearbeitet hat, kann nicht festgestellt werden.
BF2 hat in Afghanistan 12 Jahre die Schule besucht, neben der Schule eine Art Alphabetisierungskurs für Frauen abgehalten, als Schneiderin gearbeitet bzw. Lehrlinge ausgebildet und 2 Jahre Lehramt an der Universität in Parwan studiert.
BF3 ist im Jahr 2017 in Griechenland zur Welt gekommen.
II.1.2. Zum Leben der BF in Österreich:
Aktenkundig ist ein mit 15.03.2021 datierter Befund, wonach bei BF2 eine „reaktiv depressive Episode, Belastungsreaktion und PTSD“ diagnostiziert wurden. Aktuell ist BF2 wieder gesund (VHS, 4).
BF1 nimmt aktuell Medikamente gegen Depressionen bzw. Belastungsreaktion ein (VHS, 4). BF3 ist vollkommen gesund (VHS, 4).
BF2 hat sowohl einen Deutsch-Alphabetisierungskurs als auch einen Deutschkurs auf Niveau A1 besucht. Sonstige Fort- oder Ausbildungsmaßnahmen hat BF1 nicht absolviert. Sie hat im Ausmaß von gesamt 29 Stunden (am Nachmittag) bei der Diakonie (in einem Baby-Sozialzentrum) in der Reinigung der Räume und Lagerverwaltung gearbeitet. Derzeit besucht BF2 am Vormittag einen Deutschkurs und holt um 13.00 Uhr ihre Tochter vom Kindergarten ab. Auch wenn BF2 angibt, sie möchte gerne arbeiten, ist es ihr nach ihren Angaben derzeit nicht möglich, weiter bei der Diakonie zu arbeiten. Auch dass ihr Ehemann die Tochter abholt bzw. die Kinder am Nachmittag versorgt, damit BF2 weiter arbeiten kann, ist laut BF2 aufgrund vieler Termine nicht möglich. BF2 hat in der Verhandlung abstrakt die Vorstellung geäußert, in Österreich als Kindergartenpädagogin arbeiten zu wollen, hat aber noch keine konkreten Schritte unternommen, eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeit in diesem Bereich aufzunehmen oder sich konkret bei den zuständigen Stellen (AMS) näher über einschlägige Erwerbs- oder Ausbildungsmöglichkeiten zu erkundigen. Ein besonderes Engagement der BF2 an einer Erwerbstätigkeit kann nicht festgestellt werden. Ihre Tage verbringt BF2 vorwiegend mit der Betreuung der Kinder, Hausarbeit und dem Besuch eines Deutschkurses. Zu der Schule, die ihr Sohn besucht, konnte BF2 nur vage Angaben machen, bzw. den Namen des Klassenvorstandes nicht sicher nennen. Bei schulischen Angelegenheiten wird sie von ihrem Sohn oder anderen afghanischen Eltern unterstützt. Ihre Aussagen zu Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung in Österreich, und wie sie diese Rechte ausübt, blieben stereotyp. Zu aktuellen tagespolitischen Themen konnte BF2 keine Angaben machen. Empfehlungsschreiben von Privatpersonen oder seitens der Schule bzw. des Kindergartens, die die Kinder besuchen, für die BF bzw. deren Verbleib in Österreich wurden nicht vorgelegt.
BF3 besucht seit 01.11.2021 einen Kindergarten.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Die BF haben am 23.06.2021 den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Österreich erhalten.
II.1.3. Zu den Fluchtgründen:
Dass die BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wären, kann nicht festgestellt werden.
Das Fluchtvorbringen, die BF waren in Afghanistan aufgrund des Berufes von BF1, und/oder vom ehemaligen Verlobten der BF2, verfolgt, wird mangels Glaubwürdigkeit nicht festgestellt.
Es konnte auch nicht glaubhaft vermittelt werden, dass BF2 während ihres relativ kurzen Aufenthalts in Österreich eine sie in Afghanistan asylrelevant exponierende westliche Lebensweise angenommen hätte.
II.1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage in Afghanistan stützen sich (auszugsweise) auf die Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan, Version 8, 10.08.2022:
Politische Lage (letzte Änderung: 09.08.2022)
Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 40 Millionen Menschen. Der Staat befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; inwieweit die Talibanregierung landesweit über umfassende Kontroll- und Durchgriffsmöglichkeiten verfügt, kann gegenwärtig nicht bewertet werden (LIB, Regionen Afghanistans).
Friedensverhandlungen und Eroberung durch die Taliban
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (LIB, Politische Lage).
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (LIB, Politische Lage).
Mit April bzw Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. Innerhalb von zehn Tagen eroberten die Taliban 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte sowie mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Als letzte Provinz steht seit September 2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB, Sicherheitslage; Politische Lage).
Regierung durch die Taliban
Die Taliban lehnen Demokratie sowie Wahlen generell ab. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch – zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (LIB, Politische Lage).
Ende Oktober 2021 scheinen zumindest in Kabul die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung. Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine „inklusive“ Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund als eine Art Premierminister geführt. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der so genannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (LIB, Politische Lage).
Die Taliban haben die Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen auch 2022 fortgesetzt und ehemaliges Regierungspersonal durch Taliban-Mitglieder ersetzt, wobei sie häufig versuchten, verschiedenen Gruppen entgegenzukommen und durch diese Ernennungen interne Spannungen zu lösen. Durch die Abschaffung der Abteilung für politische Parteien an und wurde die Registrierung von politischen Parteien ausgeschlossen. Anfang Mai 2022 wurden die Unabhängige Menschenrechtskommission, die Kommission für die Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Sekretariate von Ober- und Unterhaus des Parlaments aufgelöst. Trotz Forderungen aus dem In- und Ausland nach größerer ethnischer, politischer und geografischer Vielfalt sowie der Einbeziehung von Frauen in die Verwaltungsstrukturen der Taliban blieben das Kabinett und sämtliche Provinzgouverneure mehrheitlich paschtunisch, alle männlich und den Taliban verbunden. Viele der Kabinettsmitglieder haben einen religiösen Hintergrund und begrenzte Verwaltungserfahrung und stehen auf der Sanktionsliste gemäß der Sicherheitsratsresolution 1988 (2011) (LIB, Politische Lage).
Weder wurde ein Frauenministerium eingerichtet, noch wurden Frauen zu Ministerinnen ernannt. Hingegen wurde ein Ministerium für „die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ eingeführt. Dieses dürfte die Afghan*innen vom Namen her an das Ministerium „für Laster und Tugend“ erinnern, welches während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB, Politische Lage).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen und die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu aufgefordert, wieder in den Dienst zurückzukehren, was manche auch befolgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen. Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigung einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar, das Regierungshandeln uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (LIB, Politische Lage).
Ende April 2022 gab der Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada eine Erklärung ab, in der er das Engagement der Taliban-Behörden für „alle Scharia-Rechte von Männern und Frauen“ darlegte und insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, die Sicherheit, die Bemühungen um einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Rückkehr von Afghanen aus dem Ausland und die Bemühungen um die nationale Einheit hervorhob. Am 11.5.2022 leitete der stellvertretende Ministerpräsident Kabir die erste Sitzung der Kommission für Rückkehr und Kommunikation mit ehemaligen afghanischen Beamten und politischen Persönlichkeiten, die daraufhin ihr Mandat annahm und die Absicht ankündigte, eine Loya Jirga einzuberufen (LIB, Politische Lage).
Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt. Während die Geber die Entwicklung beobachten, werden diese Finanzierungsquellen voraussichtlich für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB, Politische Lage).
Im Juni 2022 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass sich die Taliban mit einer wachsenden Zahl von Problemen bei der Staatsführung und Sicherheitsproblemen konfrontiert sehen, unter anderem mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bewegung selbst, dem Auftauchen weiterer bewaffneter Oppositionsgruppen, erneuten An griffen des Islamischen Staats und Grenzspannungen mit mehreren Nachbarländern (LIB, Politische Lage).
Sicherheitslage
Im Allgemeinen ist die aktuelle Lage weiterhin von einer nicht absehbaren Dynamik und plötzlichen und abrupten Veränderungen gekennzeichnet, womit manche Informationen sehr rasch veralten können (LIB, Länderspezifische Anmerkungen). Insbesondere seit der Machtübernahme der Taliban herrscht ein genereller Mangel an ausführlichen Berichten und Quellen zu regionalen sicherheitsrelevanten und anderen Vorfällen; unter Umständen wird über bestimmte Ereignisse nicht oder nicht ausführlich berichtet bzw scheinen die jeweiligen Quellen bei Recherchen [der Staatendokumentation] nicht auf (LIB, Regionen Afghanistans).
Aktuelle Sicherheitslage
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen – mit weniger zivilen Opfern und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres. Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15 bis 20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (LIB, Sicherheitslage).
Die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle ging nach dem 15.8.2021 deutlich zurück, von 600 auf weniger als 100 Zwischenfälle pro Woche. Aus den verfügbaren Daten für den Zeitraum bis Ende 2021 geht hervor, dass bewaffnete Zusammenstöße gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 98% von 7.430 auf 148 Vorfälle zurückgingen, Luftangriffe um 99% von 501 auf 3, Detonationen von improvisierten Sprengsätzen um 91% von 1.118 auf 101 und gezielte Tötungen um 51% von 424 auf 207. Andere Arten von Sicherheitsvorfällen wie Kriminalität haben jedoch zugenommen, während sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage rapide verschlechtert hat. Auf die östlichen, zentralen, südlichen und westlichen Regionen entfielen 75% aller registrierten Vorfälle, wobei Nangarhar, Kabul, Kunar und Kandahar die am stärksten konfliktbetroffenen Provinzen sind (LIB, Sicherheitslage).
Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder, die ua der National Resistance Front (NRF) zugeschrieben wurden, der einige Persönlichkeiten der ehemaligen Regierung und der Opposition angehören. Diese formierte sich im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021, und wird von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vize-Präsidenten Afghanistans und Chef des afghanischen Geheimdienstes National Directorate of Security, sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Ende August kam es zu schweren Kämpfen, und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, was die NRF bestritt. Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan und Samangan berichte. Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (LIB, Sicherheitslage).
Seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul. Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghan*innen schiitischer Glaubensrichtung. Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Angehörige und Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.9.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilist*innen zu Schaden kommen (LIB, Sicherheitslage).
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (LIB, Sicherheitslage).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Die Befragten in diesen Städten (!) wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchen Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw 70,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Maßnahmen der Risikominderung seitens der Befragten sowie die Bewegungseinschränkungen für Mädchen und Frauen wurden in dieser Studie allerdings nicht erfasst (LIB, Sicherheitslage).
Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB, Sicherheitslage).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB, Sicherheitslage).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können. Schon früher haben die Taliban biometrische Daten genutzt, um Menschen ins Visier zu nehmen. In den Jahren 2016 und 2017 berichteten Journalisten, dass Taliban-Kämpfer biometrische Scanner einsetzten, um Buspassagiere, die sie für Mitglieder der Sicherheitskräfte hielten, zu identifizieren und summarisch hinzurichten; alle von Human Rights Watch (HRW) befragten Afghanen erwähnten diese Vorfälle (LIB, Sicherheitslage).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte (Anm.: sog. HIIDE-Geräte). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden. Berichten zufolge verwenden die Taliban auch Listen ehemaliger Beamter und ziviler Aktivisten, um deren Kinder ausfindig zu machen (LIB, Sicherheitslage).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“. Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerber*innen enthielten. Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren – eine Entscheidung, die kritisiert wurde (LIB, Sicherheitslage).
Einem Bericht des Human Rights Watch nach, führen Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, einschließlich nächtlicher Razzien, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban häufig Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen wurden hingerichtet oder in Gewahrsam genommen, ohne dass ihre Inhaftierung bestätigt oder ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wurde (LIB, Sicherheitslage).
Zentrale Akteure
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement. Mitte August 2021 formierte sich die National Resistance Front. Die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf die Konfliktdynamik und politische Landschaft Afghanistans sind noch nicht abschließend ersichtlich (LIB, Zentrale Akteure).
Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt – von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB, Zentrale Akteure).
Im ersten Halbjahr 2021 waren – damals noch als „regierungsfeindliche Elemente“ bezeichnete – Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als „regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen“ bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (LIB, Zentrale Akteure).
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Nach der Machtübernahme in Afghanistan im August 2021 kehrte die Taliban-Führung aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (LIB, Taliban).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB, Taliban).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den Provinzen Nangarhar und Kunar mit einer Kerngruppe präsent sein. Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden gemäß einem Sprecher des Pentagons „Tausende“ bzw „Hunderte“ ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte. Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt. Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten (LIB, Islamischer Staat).
Im ersten Halbjahr 2021 verzeichnete UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern von rund 45 % durch Anschläge des ISKP gegenüber demselben Untersuchungszeitraum im Vorjahr. Insgesamt schrieb UNAMA neun Prozent aller erfassten zivilen Opfer dem ISKP zu. 80 % der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben wurden, entstanden bei Angriffen, die bewusst auf Zivilist*innen abzielten. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die schiitische Minderheit fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beansprucht werden. Nach Erkenntnissen der AIHRC ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr dagegen um 20 % gesunken. Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in fünf Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (LIB, Islamischer Staat).
Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Die Taliban stehen dem IS und seinen Vorstellungen eines globalen Dschihads ablehnend gegenüber und haben ISKP in den vergangenen Jahren bekämpft. Der ISKP verurteilt die Taliban als ’Abtrünnige’, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem er Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richtet. Angriffe des ISKP auf die schiitische Minderheit setzen sich 2022 fort. So gab es beispielsweise Angriffe in Mazar-e Sharif und Kunduz am 21.4.2022, in Mazar-e Sharif und in Kabul am 25.5.2022 und in Mazar-e Sharif am 28.4.2022 (LIB, Islamischer Staat).
Der ISKP hat in den Monaten seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 seine Angriffe gegen die Taliban verstärkt und eine Handvoll öffentlichkeitswirksamer Selbstmordattentate auf Ziele wie Moscheen und Krankenhäuser verübt und kleinere, aber zahlreichere Anschläge mit Sprengsätzen und Handfeuerwaffen gegen die militärischen Kräfte der Taliban durchgeführt. Als Reaktion darauf haben die Taliban mehr als 1.000 Kämpfer in die Provinz Nangarhar, dem Zentrum der ISKP-Operationen, geschickt, um die Gruppe zu bekämpfen. Aktuell liegt nach Ansicht des Long War Journal der Vorteil klar bei den Taliban, da der ISKP über keine Verbündete im In- oder Ausland verfügt und die Taliban im Zuge der Machtübernahme ein großes Waffenarsenal requirieren konnten sowie über territoriale Kontrolle in alle Provinzen verfügen. Seit der Regierungsübernahme der Taliban versucht der ISKP seine Anziehungskraft in Zentralasien auszuweiten. Der afghanische Zweig der Gruppe hat in letzter Zeit die Produktion, Übersetzung und Verbreitung von Propaganda, für usbekisch-, tadschikisch- und kirgisischsprachige Zielgruppen in der Region richtet, intensiviert. Dieser Vorstoß ist Teil einer Informationskampagne, mit der die neue Taliban-Regierung in Kabul als ethno-nationalistische Organisation der Paschtunen und nicht als glaubwürdige islamische Bewegung delegitimiert werden soll. Dementsprechend sieht der ISKP eine Gelegenheit, Spannungsfelder zwischen den Taliban und verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich möglicherweise ausgegrenzt fühlen, auszunutzen und gleichzeitig Anschläge in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan zu verüben (LIB, Islamischer Staat).
Rechtsschutz/Justizwesen
Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia- Beim Übergang der Taliban von einem Aufstand zu einer Regierung fehlten dem afghanischen Justizsystem eine offizielle Verfassung und offizielle Gesetze. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen. Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden. Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (LIB, Rechtsschutz/Justizwesen).
Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurden. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen. Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor (LIB, Rechtsschutz/Justizwesen).
Nach der Absetzung der gewählten Regierung im August 2021 übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes und ernannten Richter an Zivil- und Militärgerichten. Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Der geltende Rechtsrahmen ist nach wie vor unklar, obwohl eine Überprüfung der Vereinbarkeit der bestehenden Rechtsvorschriften mit dem mit dem islamischen Recht läuft. Am 16.12.2022 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2022 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet. Richter*innen, die unter der ehemaligen Regierung gedient haben, sind arbeitslos; eine beträchtliche Anzahl ist untergetaucht. Während in den Provinzen zahlreiche Richterstellen neu besetzt wurden, wurden ehemalige Angehörige der Justiz nicht in das Justizsystem der Taliban-Behörden integriert. Frauen sind nach wie vor von der Arbeit im Justizsektor ausgeschlossen (LIB, Rechtsschutz/Justizwesen).
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung – einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist – und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft. Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (LIB, Rechtsschutz/Justizwesen).
Sicherheitsbehörden
Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Frauen in Uniform, die früher im Sicherheitssektor gedient haben, wurden vom Dienst ausgeschlossen. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun. Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (LIB, Sicherheitsbehörden).
Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (LIB, Sicherheitsbehörden).
Die Taliban-Behörden erklärten, zu den Prioritäten im Sicherheitssektor gehören die Bekämpfung des Islamischen Staates (ISKP), des bewaffneten Widerstandes in und um die Provinz Panjshir und die Bekämpfung von Kriminalität sowie die Sicherung der Grenzen und die Drogenbekämpfung. Am 11.11.2021 hat das Taliban-Regime eine Säuberungskommission eingerichtet, um „unerwünschte Personen“ aus den Reihen der Taliban zu entfernen, die kriminelles Verhalten an den Tag legen oder die nicht die Werte der Taliban vertreten. Berichten zufolge wurden bisher etwa 700 Personen entlassen (LIB, Sicherheitsbehörden).
Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse. Obwohl die Taliban eine „Generalamnestie“ für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben. Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet, und weitere Berichte wonach ehemalige Polizisten oder Dolmetscher getötet wurden. Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar, and Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem „Verschwindenlassen“ ausgesetzt (LIB, Sicherheitsbehörden).
Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren, forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (LIB, Sicherheitsbehörden).
Allgemeine Menschenrechtslage
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen. Die gewählte Regierung Afghanistans, die durch einen von den Taliban geführten Aufstand sowie durch Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren unterminiert wurde, bot vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 2021 dennoch ein breites Spektrum an individuellen Rechten. Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban den politischen Raum des Landes geschlossen; Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet, während Frauen und Minderheitengruppen durch das neue Regime in ihren Rechten beschnitten wurden. Unter der Taliban-Herrschaft werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt, und jede Form von Dissens wird mit Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen und unrechtmäßiger Inhaftierung bestraft (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021, wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen. Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet. Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien. Es existieren Berichte über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen oÄ durchführen. Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban etwa Ende Juli 2021 getötet, ein Volkssänger von den Taliban erschossen und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen. Im Juni 2022 wurde berichtet, dass einige der Männer, die in der britischen Botschaft in Afghanistan arbeiteten und im Land geblieben waren, geschlagen und gefoltert wurden. UNAMA, AIHRC und andere Beobachter berichteten, dass es sowohl unter der früheren Regierung als auch unter den Taliban im ganzen Land zu willkürlichen und lang andauernden Inhaftierungen kam, einschließlich von Personen, die ohne richterliche Genehmigung festgehalten wurden. Die ehemaligen Regierungsbehörden informierten die Inhaftierten häufig nicht über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).
Religionsfreiheit
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (LIB, Religionsfreiheit). Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Daneben gibt es auch Ismailiten (LIB, Schiiten).
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslim*innen durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt. In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten. Nach Dafürhalten der der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind trotz anfänglicher Erklärungen der Taliban, dass sie einige Elemente ihrer Ideologie reformiert hätten, Afghan*innen, die der strengen Auslegung des sunnitischen Islams durch die Taliban nicht folgen, sowie Anhänger*innen anderer Glaubensrichtungen oder Überzeugungen in großer Gefahr. Berichten zufolge verfolgen die Taliban weiterhin religiöse Minderheiten und bestrafen die Bewohner*innen der von ihnen kontrollierten Gebiete gemäß ihrer extremen Auslegung des islamischen Rechts. USCIRF liegen glaubwürdige Berichte vor, wonach religiöse Minderheiten, darunter auch Nichtgläubige und Muslime mit anderen Überzeugungen als die Taliban, schikaniert und ihre Gebetsstätten geschändet wurden. Zuletzt haben auch Salafisten, die wie die Taliban Sunniten sind, jedoch der wahhabitischen Schule angehören, die Taliban beschuldigt, ihre Gotteshäuser zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften bzw zu töten (LIB, Religionsfreiheit).
In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind bzw gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (LIB, Religionsfreiheit).
Direkte Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Glaubensangehörigen waren vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan selten. UNAMA dokumentierte mindestens 20 Angriffe auf schiitische Hazara in der ersten Jahreshälfte 2021- Auch nach der Machtübernahme der Taliban ging der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) gezielt gegen die schiitische Minderheit vor, mit Angriffen in Kabul, Jalalabad, Herat, Kandarhar und Kunduz (LIB, Schiiten).
Im Juli 2021 berichtete Amnesty International über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein. Amnesty nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (LIB, Schiiten).
Im Oktober kam es zu Anschlägen auf schiitische Moscheen in Kandarhar und Kunduz mit vielen Todesopfern. Nach diesen Angriffen versprachen die Taliban die Sicherheitsmaßnahmen vor schiitischen Moscheen zu erhöhen (LIB, Schiiten).
Human Rights Watch berichtet, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. HRW verwies auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh. In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober Hunderte von Hazara-Familien vertrieben, und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan wurden im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner*innen vertrieben (LIB, Schiiten).
Ethnische Gruppen
Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42% Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, 9 bis 20% Hazara, ca. 9% Usbeken, 2% Turkmenen und 2% Belutschen (LIB, Ethnische Gruppen).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).
Die am 07.09.2021 gebildete Übergangsregierung der Taliban umfasste nur drei Vertreter der usbekischen bzw der tadschikischen Minderheiten, durch weitere Ernennungen kamen mittlerweile wenige weitere, darunter ein Vertreter der Hazara, hinzu. Am 20.12.2021 waren alle 34 Provinzgouverneure männlich und überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren. Darüber hinaus unterliegen – soweit bislang erkennbar – ethnische Minderheiten, aber keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren (LIB, Ethnische Gruppen).
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans.
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (LIB, Tadschiken).
Frauen (letzte Änderung: 09.08.2022)
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres ersten Regimes [Anm.: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Auch in der zweiten Herrschaft der Taliban wurden die Grundrechte und -freiheiten afghanischer Frauen und Mädchen trotz der Zusagen der Taliban, die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia zu schützen, stark beschnitten. Nach Angaben einer Gruppe von UN-Menschenrechtsexperten hat die Taliban-Führung in Afghanistan in großem Umfang und systematisch geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung institutionalisiert (LIB, Frauen).
Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit (letzte Änderung: 09.08.2022):
Nach der Machtübernahme der Taliban äußerten viele Experten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen. Die Taliban haben keine landesweite Politik für Frauen und Arbeit festgelegt, und die Möglichkeiten der Frauen, zu arbeiten, sind in den verschiedenen Regionen des Landes sehr unterschiedlich. Dennoch haben sich in den Richtlinien der Taliban zu diesem Thema einige Muster herauskristallisiert. Die meisten weiblichen Regierungsangestellten wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben, mit Ausnahme derjenigen, die in bestimmten Sektoren, wie Gesundheit und Bildung, tätig sind. Viele der Frauen, die weiterhin arbeiten, empfinden dies als schwierig und belastend, weil die Taliban Einschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung, ihr Verhalten und ihre Möglichkeiten erließen. Eine afghanische Richterin beschreibt, wie sie von Männern gejagt wurde, die sie einst inhaftiert hatte und die nun von den Taliban-Kämpfern freigelassen wurden und es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten. Anfang November 2021 wurden bis zu vier Frauen in Mazar-e Sharif getötet, darunter eine Frauenrechtsaktivistin. Berichten zufolge hätten die Frauen einen Anruf erhalten, den sie für eine Einladung zu einem Evakuierungsflug hielten. Sie wurden später tot aufgefunden. Es gibt weitere Berichte, dass afghanische Frauen aus ihren Häusern geholt und verhaftet wurden, nachdem sie an Protesten teilgenommen hatten. Wochen später wurden verhaftete Frauen wieder freigelassen (LIB, Frauen, Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit).
Frauen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban in der Regierung waren, sind größtenteils aus dem Land geflohen. Allerdings gab es bereits mehrere Fälle von Repressalien gegen ihre Mitarbeiter, Kollegen und Familienmitglieder, die in Afghanistan geblieben sind. Ein Erlass der Regierung vom 17.9.2021, dessen Authentizität bisher nicht bestätigt werden konnte, soll die öffentliche Verwaltung anweisen, männlichen Kandidaten prioritär Zugang zu bestimmten Laufbahnen im öffentlichen Dienst zu gewähren. Frauen werden aufgefordert, ihre Kündigung einzureichen. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung von Frauen sind auch Ende des Jahres 2021 gravierend. Die Beschäftigung von Frauen ging im dritten Quartal 2021 um schätzungsweise 16 % zurück und es wird geschätzt, dass bei einer unveränderten Politik, die Verluste bei der Beschäftigung von Frauen bis Mitte 2022 voraussichtlich auf 21 % ansteigen werden. Die meisten von Frauen geführten Unternehmen haben ihre Tätigkeit aufgrund der anhaltenden Liquiditätskrise und aus Angst vor Verstößen gegen die Erlasse der Taliban gegen Frauen auf dem Markt eingestellt (LIB, Frauen, Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit).
Seit September 2021 kam es in mehreren Städten, darunter Kabul und Herat, immer wieder zu Protesten von Frauen gegen die Taliban. Es gibt Berichte, wonach solche Proteste durch die Taliban teils gewaltsam aufgelöst wurden, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten sowie Tränengas und Pfefferspray bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzten. Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Anti-Taliban-Proteste verschärft und haben alle nicht offiziell genehmigten Demonstrationen verboten, und zwar sowohl die Versammlung selbst, als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor "schweren rechtlichen Konsequenzen", sollte man sich nicht daran halten. Am 11.9.2021 kam es zu einem Pro-Taliban-Protest durch einige Hundert komplett verschleierte Frauen. Die Taliban erklärten, die Demonstration an der Shaheed Rabbani Education University sei von Dozentinnen und Studentinnen der Universität organisiert worden. Zwischen Oktober und Dezember 2021 ebbten die Proteste weitgehend ab. Frauengruppen griffen zunehmend darauf zurück, friedliche Versammlungen hinter verschlossenen Türen abzuhalten und ihre Botschaften über soziale Medien zu verbreiten. Mehrere Dutzend Menschen protestierten Ende März in Kabul gegen den Beschluss der Taliban, Mädchen vom Besuch weiterführender Schulen auszuschließen (LIB, Frauen, Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit).
Im November 2021 wiesen die Taliban Fernsehsender in Afghanistan an, keine Seifenopern oder andere Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, in denen Frauen auftreten. Des Weiteren wurde erklärt, dass Journalistinnen einen Hijab tragen müssen (LIB, Frauen, Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit).
Bildung für Frauen und Mädchen (letzte Änderung: 09.08.2022):
Einige öffentliche Universitäten in Afghanistan wurden im Februar 2022 wiedereröffnet, nachdem sie seit der Machtübernahme der Taliban geschlossen waren, und auch einige Studentinnen nahmen den Unterricht auf. Andere Universitäten, beispielsweise in Zabul, Uruzgan und in Panjshir, blieben geschlossen. Die Beschränkungen, die die Taliban für den Universitätsbesuch von Frauen auferlegt haben, sind zahlreich und variieren je nach Region und Universität. Berichten zufolge ist der Unterricht für männliche und weibliche Studenten getrennt und findet in verschiedenen Schichten statt. Frauen müssen sich an die islamische Kleiderordnung halten, d. h. eine Burka und eine schwarze Abaya im arabischen Stil tragen. Mehrere Studentinnen erschienen jedoch nicht anders gekleidet, als vor der Machtübernahme durch die Taliban, mit einem einfachen Schal, der ihren Kopf bedeckte. Studenten der Universität Kabul sagten, die Trennung von männlichen und weiblichen Klassen habe sich auf die Lehrmethoden ausgewirkt. Ein weiteres Problem, mit dem die Studentinnen zu kämpfen haben, ist der Mangel an Lehrkräften, um zu zwei verschiedenen Zeiten unterrichten zu können, sowie finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der allgemeinen Wirtschaftskrise und der Tatsache, dass viele Frauen nicht mehr arbeiten dürfen. Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben werden, "bis die Schuluniformen im Einklang mit den afghanischen Bräuchen, der Kultur und der Scharia gestaltet sind". Die Mädchen mussten die Schulen daraufhin wieder verlassen. Mehrere Dutzend Personen haben Ende März 2022 in Kabul gegen die Entscheidung der Taliban protestiert, Mädchen den Besuch weiterführender Schulen zu verwehren (LIB, Frauen, Bildung).
In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet. Aber offenen Schulen in Balkh und anderswo wurde mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten. Die Taliban schlossen eine Schule in Balkh für mehrere Tage, nachdem einige Schülerinnen ihr Gesicht unbedeckt gelassen hatten. Ein Beamter der Schule teilte eine Sprachnachricht eines Taliban-Beamten, in der er den Schulleiter aufforderte, eine Lehrerin wegen ihrer "unanständigen" Kleidung zu entlassen. Eine Schule hat jetzt einen Lehrer, der "Laster verhindern und Tugend fördern" soll (LIB, Frauen, Bildung).
In der Provinz Takhar wurden am 17.6.2022 ca. 30 Studentinnen von den Taliban inhaftiert, weil sie in einer Unterrichtspause ohne männliche Begleitung ihr Wohnheim verlassen und in einen Park gegangen waren. Wenige Tage später drangen Taliban in das Wohnheim dieser Studentinnen ein, um Studentinnen nach eigenen Aussagen zu disziplinieren. Vor ein paar Wochen hatten die Taliban eine Veranstaltung in der Universität ausgerichtet, die den Frauen das Tragen einer Verschleierung nahelegen sollte. Dabei hatten sich einige Studentinnen dessen verwehrt und wurden danach von den Taliban verhaftet (LIB, Frauen, Bildung).
Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit (letzte Änderung: 09.08.2022):
In den Wochen nach der Machtübernahme durch die Taliban verkündeten die Taliban-Behörden einen stetigen Strom von Maßnahmen und Verordnungen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen einschränken, darunter den Zugang zu Beschäftigung und Bildung, das Recht auf friedliche Versammlung und die Bewegungsfreiheit. Der Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen ist bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig, es zeichnen sich aber deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Berichte über unterschiedlich ausgeprägte Repressionen und Einschränkungen für Frauen betreffen Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern.. Bei der Ernennung der Übergangsregierung wurde das unter der Vorgängerregierung vorhandene Frauenministerium nicht berücksichtigt. Am 17.9.2021 wurde der ehemalige Sitz des Frauenministeriums in den Sitz des neuen "Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters" umgewandelt. Diese Institution hatte bereits im ersten Talibanregime Verstöße gegen die Einhaltung religiöser Vorschriften verfolgt (LIB, Frauen, Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit).
Ende Oktober 2021 berichtete Human Rights Watch (HRW), dass die Taliban strengere Tugendregeln aufstellen, als zunächst öffentlich angekündigt. In vielen Provinzen gelten per Gesetz die Regeln eines "Tugendhandbuches", welches z. B. vorgibt, welche Frauen als Anstandsdamen für andere Frauen gelten dürfen und Partys mit Musik sowie Ehebruch und gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet. Zusätzlich gibt es Berichte, wonach in den meisten Provinzen Entwicklungshelferinnen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert würden (LIB, Frauen, Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit).
Im November wiesen die Taliban Fernsehsender in Afghanistan an, keine Seifenopern oder andere Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, in denen Frauen auftreten. Des Weiteren wurde erklärt, dass Journalistinnen einen Hijab tragen müssen (LIB, Frauen, Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit).
Die Religionspolizei der Taliban veröffentlichte in der afghanischen Hauptstadt Kabul im Januar 2022 Plakate, auf denen Frauen aufgefordert werden, sich zu verschleiern (LIB, Frauen, Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit).
Anfang Mai 2022 erließ das Taliban-Ministerium für die Verhütung von Lastern und die Förderung der Tugend einen Erlass, der Frauen zum Tragen eines Gesichtsschleiers verpflichtet. Taliban-Beamte bezeichneten den Erlass als "Ratschlag", legten aber eine Reihe von Schritten fest, die bei Nichtbefolgung vorgesehen sind. Beim ersten Verstoß würde die Frau zu Hause aufgesucht und mit ihrem Ehemann, Bruder oder Vater gesprochen werden. Beim zweiten Verstoß würde der männliche Vormund in das Ministerium bestellt werden. Beim dritten Verstoß wird der männliche Vormund vor Gericht gestellt und kann für drei Tage inhaftiert werden Wenn Frauen, die für die Regierung arbeiten, unverschleiert auf die Straße gehen, würden sie entlassen werden, und auch Taliban-Kämpfer verlieren ihren Job, wenn ihre weiblichen Verwandten sich nicht an die neuen Einschränkungen halten (LIB, Frauen, Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit).
Am 16.6.2022 wurde berichtet, dass die Taliban in der Provinz Herat Frauen verbieten, ihre Ehemänner vor Gericht zu verklagen, wenn sie z.B. Opfer häuslicher Gewalt geworden sind (LIB, Frauen, Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit).
Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt (letzte Änderung: 09.08.2022):
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 hatte Afghanistan eine der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen, neun von zehn Frauen erlebten mindestens eine Form von Gewalt in der Partnerschaft in ihrem Leben. Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, brach das Netz zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt - einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung - zusammen. Schutzräume wurden geschlossen, und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder Mitarbeiter. Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken. Andere Überlebende waren gezwungen, bei Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen unhaltbaren Situationen zu leben (LIB, Frauen, Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt).
Am 19.9.2021 drangen bewaffnete Taliban gewaltsam in ein Frauenhaus in Kabul ein, verhörten das Personal und die Bewohnerinnen mehrere Stunden lang und zwangen die Leiterin des Frauenhauses, einen Brief zu unterschreiben, in dem sie versprach, die Bewohnerinnen nicht ohne Erlaubnis der Taliban gehen zu lassen. Die Taliban teilten dem Betreiber des Frauenhauses mit, dass sie die verheirateten Bewohnerinnen des Frauenhauses zu ihren Peinigern zurückbringen und die ledigen Bewohnerinnen mit Taliban-Soldaten verheiraten würden. Darüber hinaus berichteten Quellen im September 2021, dass die Taliban "Überprüfungen" von Frauenhäusern und Frauenrechtsorganisationen, einschließlich solcher, die Schutzdienste anbieten, durchführten. Diese Überprüfungen wurden mit Einschüchterung durch das Schwenken von Waffen und Androhung von Gewalt durchgesetzt. Ausrüstungsgegenstände, darunter Computer, Akten und andere Unterlagen, wurden beschlagnahmt, und die Mitarbeiter berichteten, dass sie aggressiv zu ihren Aktivitäten und möglichen Verbindungen zu den Vereinigten Staaten befragt wurden. Wesentliche Dienstleistungsanbieter reduzierten ihre Dienste oder stellten sie ganz ein, da sie befürchteten, misshandelte Frauen, die ohnehin schon gefährdet sind, einem größeren Risiko von Gewalt und Schaden auszusetzen (LIB, Frauen, Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt).
Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister der Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären. Währenddessen sind weiterhin Tausende Mädchen vom Besuch der siebenten bis zwölften Schulstufe ausgeschlossen und der Großteil der Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. UN-Menschenrechtsexperten wiesen auf das erhöhte Risiko der Ausbeutung von Frauen und Mädchen hin, einschließlich des Handels zum Zwecke der Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung und der Zwangsarbeit (LIB, Frauen, Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt).
Kinder (letzte Änderung: 04.05.2022):
Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47 % der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und davon 46 % (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren. Das Durchschnittsalter in Afghanistan liegt bei 18,4 Jahren (WoM 6.10.2020). Die Volljährigkeit begann vor der Machtübernahme durch die Taliban mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit - 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) - ist weit verbreitet. Ein afghanischer Vater überträgt die Staatsbürgerschaft auf sein Kind. Die Geburt im Land oder durch eine Mutter mit Staatsbürgerschaft allein verleiht nicht die Staatsbürgerschaft. Eine Adoption wird rechtlich nicht anerkannt (LIB, Kinder).
Anfang Dezember verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Zwangsverheiratungen sind eine sozial akzeptierte Bewältigungsstrategie in wirtschaftlichen Notlagen und finden in Folge der desaströsen Wirtschaftslage weiter Verbreitung, wobei Mädchen in die Zwangsheirat verkauft werden, um das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern. Es existieren Berichte über die Zwangsverheiratung von Mädchen mit Talibankämpfern nach der Machtübernahme und nach Angaben der Vereinten Nationen sind Mädchen zunehmend von Zwangsheirat bedroht (LIB, Kinder).
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Heim und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (LIB, Kinder).
Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem von Seiten der Taliban. In den vergangenen fünf Jahren haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, auch für sexuelle Zwecke. Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden (LIB, Kinder).
In der ersten Hälfte des Jahres 2021 machten Kinder 32 % aller zivilen Opfer aus, darunter die höchste Zahl von Mädchen, die jemals von UNAMA erfasst wurde. Unter den zivilen Opfern des Angriffs auf den Flughafen von Kabul am 26.8.2021 waren Berichten zufolge auch Kinder (LIB, Kinder).
Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und Kinderarbeit. Es ist noch unklar, inwieweit die Taliban die dahin gehende bisher vorhandene Gesetzgebung und Strafverfolgung übernehmen. Berichten zufolge hat die Polizei Kinder geschlagen und sexuell missbraucht. Kinder, die wegen Missbrauchs die Polizei um Hilfe baten, berichteten auch, dass sie von Strafverfolgungsbeamten weiter schikaniert und misshandelt wurden, insbesondere in bacha bazi-Fällen, was die Opfer davon abhielt, ihre Ansprüche anzuzeigen (LIB, Kinder).
Eine Prognose der IPC vom Oktober 2021 ging davon aus, dass bis Ende des Jahres 2021 bis zu 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren an akuter Unterernährung leiden würden. Auch das WFP (World Food Programm) und die FAO (Food and Agriculture Organization) warnten, dass eine Million Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohten, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhielten. Von 1.2022 bis 3.2022 sind bereits etwa 13.000 Neugeborene an Unterernährung und hungerbedingten Krankheiten gestorben (LIB, Kinder).
Schulbildung in Afghanistan (letzte Änderung: 09.08.2022):
Am 18.9.2021 hat auf Weisung der Regierung der Schulunterricht für Jungen ab der siebten Klasse wieder begonnen. Zur Wiederaufnahme des Unterrichts für Mädchen äußerten sich die Taliban bisher gar nicht bis hinhaltend - hierfür müssten erst die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. In einigen Provinzen sind Mädchenschulen dennoch weiterhin oder wieder geöffnet. Der Zuspruch ist aufgrund von Sicherheitsbedenken oftmals niedrig. Zuvor hatten die Taliban zugesichert, dass auch Mädchen und Frauen unter Einhaltung strikter Geschlechtertrennung Bildungsmöglichkeiten erhalten würden. Faktisch findet - aus einer Reihe von Gründen (ausbleibende Lohnzahlungen, Unsicherheit und Flucht der Lehrer etc.) auch der Schulunterricht für Jungen häufig nicht statt. Die schwierige wirtschaftliche Lage hat viele Familien dazu gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und sie zur Arbeit zu schicken. Millionen von Afghanen wurden während und nach der Übernahme des Landes durch die Taliban vertrieben, und viele vertriebene Kinder gehen nicht zur Schule (LIB, Schulbildung).
Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen (über dem sechsten Schulgrad) zum ersten Mal seit sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben werden, "bis die Schuluniformen im Einklang mit den afghanischen Bräuchen, der Kultur und der Scharia gestaltet sind". Die Mädchen mussten die Schulen daraufhin wieder verlassen. In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet. Aber offenen Schulen in Balkh und anderswo wurde mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten. Die Taliban schlossen eine Schule in Balkh für mehrere Tage, nachdem einige Schülerinnen ihr Gesicht unbedeckt gelassen hatten. Ein Beamter der Schule teilte eine Sprachnachricht eines Taliban-Beamten, in der er den Schulleiter aufforderte, eine Lehrerin wegen ihrer "unanständigen" Kleidung zu entlassen. Eine Schule hat jetzt einen Lehrer, der "Laster verhindern und Tugend fördern" soll (LIB, Schulbildung).
IDPs und Flüchtlinge
736.889 Menschen sind seit Anfang 2021 [Anm.: bis 13.3.2022] in Afghanistan intern vertrieben worden, 72.487 bislang im Jahr 2022. Im gesamten Jahr 2021 waren es 682,031 Menschen. Im Jahr 2020 hatte UNOCHA 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und von Naturkatastrophen bestätigt. Bis Oktober 2021 stieg die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen auf mehr als 3,5 Millionen Menschen. Die genaue Zahl der Binnenvertriebenen lässt sich jedoch nicht bestimmen (LIB, IDPs und Flüchtlinge).
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrende aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft. IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen. Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrenden war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (LIB, IDPs und Flüchtlinge).
Die vier Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrende bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging (LIB, IDPs und Flüchtlinge).
Neben der allgemeinen Unsicherheit gibt es zahlreiche weitere Faktoren, die Afghan*innen zwingt, ihre Häuser zu verlassen: Die Wirtschafts- und Liquiditätskrise seit der Machtübernahme durch die Taliban, geringere landwirtschaftliche Erträge aufgrund der Dürre, die unzuverlässige Stromversorgung und die sich verschlechternde Infrastruktur sowie die anhaltenden COVID-19-Pandemie haben die humanitäre Krise verschärft. Darüber hinaus erlebte Afghanistan 2021 die zweite schwere Dürre innerhalb von vier Jahren, die die Nahrungsmittelproduktion stark beeinträchtigte (LIB, IDPs und Flüchtlinge).
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen ins benachbarte Pakistan oder in den Iran geflohen. Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet (LIB, IDPs und Flüchtlinge).
Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes gibt es erste Anzeichen für eine Rückkehr Binnenvertriebener in ihre Heimatprovinzen. Die Taliban haben internationale Organisationen der humanitären Hilfe um Unterstützung bei der Rückführung Binnenvertriebener gebeten, die selbst in der Regel nicht über ausreichende Mittel zur Rückkehr verfügen. Aufgrund des Winters ginge viele Binnenflüchtlinge nach Kabul. Das Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten der Übergangsregierung der Taliban hat zusammen mit einer Reihe von Hilfsorganisationen mit der Umsiedlung von Tausenden von Binnenvertriebenen im Oktober begonnen, die zumeist aus Behelfsunterkünften in Kabul in ihre Heimatprovinzen umgesiedelt wurden (LIB, IDPs und Flüchtlinge).
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Die getroffenen Feststellungen zu den Personen der BF stützen sich auf folgende Beweiswürdigung:
Die Identität der BF ergibt sich aus den im verwaltungsbehördlichen, wie auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren getätigten Angaben dazu sowie den vorgelegten Unterlagen.
Die Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF beruhen ebenso auf ihren diesbezüglich glaubwürdigen Angaben im Verfahren.
II.2.2. Die Feststellungen zum Privatleben und der Integration der BF ergeben sich insbesondere aus den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben in den Einvernahmen, der mündlichen Beschwerdeverhandlung und den vorgelegten Dokumenten.
Dass BF2 und BF3 gesund sind, und BF1 Medikamente gegen Depressionen einnimmt, ergibt sich aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung und den vorgelegten Unterlagen.
Zum Gesundheitszustand von BF2 ist weiter zu sagen, dass sie im Zuge der Erstbefragung keine Beschwerden oder Krankheiten angab (AS 4). Auch im Zuge der Einvernahme bestätigte die BF2 in der Lage zu sein, die Einvernahme durchzuführen (AS 56) und verneinte, in ärztlicher Behandlung zu sein (AS 57). Aktenkundig ist ein mit 15.03.2021 datierter Befund, wonach bei der BF2 eine „reaktiv depressive Episode, Belastungsreaktion und PTSD“ diagnostiziert wurden. In der mündlichen Verhandlung gab BF2 allerdings an, „vollkommen gesund“ zu sein; es wurden auch keine aktuellen Befunde von BF2 vorgelegt, die anhaltende psychische Probleme vermuten lassen würden. Der in der Beschwerde gestellte Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Beweis für eine Traumatisierung von BF2 geht daher schon aus diesem Grund ins Leere.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit folgt aus den aktuellen Auszügen aus dem Strafregister.
II.2.3. Die belangte Behörde ist zu Recht davon ausgegangen, dass es den BF nicht gelungen ist, eine konkrete, gegen ihre Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen; dies aus folgenden Erwägungen:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Mit der Glaubhaftmachung ist auch die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).
II.2.4.1. Was das Vorbringen der BF zu den fluchtauslösenden Ereignissen anlangt ist vorweg festzuhalten, dass sie im Laufe des Verfahrens mehrere Bedrohungsszenarien vage vorbringen. Bei der Schilderung der fluchtauslösenden Geschichte sind im Laufe des Verfahrens allerdings zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten aufgetreten, sodass sie insgesamt als nicht glaubwürdig erachtet wird:
II.2.4.1. Zunächst fällt auf, dass BF1 bei der Erstbefragung relativ prominent eine Mitgliedschaft in der Partei „Jamiat“ ins Treffen führt, und deswegen könne er nicht nach Afghanistan zurückkehren (AS 6). In eklatantem Widerspruch dazu verneinte BF1 im Zuge der Einvernahme am 05.03.2021 allerdings uneingeschränkt die Frage, ob er jemals Mitglied einer politischen Partei oder Gruppierung im Heimatland gewesen sei (AS 45). Er sei auch niemals von staatlicher Seite wegen seiner politischen Gesinnung (oder seiner Religion) verfolgt worden (AS 45). Einen Beleg für eine angebliche Mitgliedschaft in der genannten Partei legte BF1 ebenso wenig vor. Auch in der Beschwerde oder in der mündlichen Verhandlung wurde dieses Vorbringen nicht weiter erwähnt oder gar substantiiert, sodass eine Verfolgung des BF1 oder seiner Angehörigen in Afghanistan wegen einer Mitgliedschaft in einer bestimmten Partei nicht anzunehmen ist.
II.2.4.2. Weiter brachte BF1 eine Verfolgung in Afghanistan deswegen vor, weil er Polizist gewesen sei. Aber auch dieses Vorbringen erweist sich als unglaubwürdig:
Zunächst geht die erkennende Richterin schon nicht davon aus, dass BF1 in Afghanistan überhaupt als Polizist gearbeitet hat. Im Zuge der EB gab BF1 an, er habe eine 3-monatige Polizeiausbildung und sein letzter ausgeübter Beruf sei „Polizeibeamter ohne Rang“ gewesen (AS2). Bei der EV führte er näher aus, er habe nach dem Schulabschluss als Schneider gearbeitet und er sei nach dem Tod des Bruders Polizist geworden; diesen Beruf habe er bis ca. 1 Monat vor der Ausreise ausgeübt. Aus den Angaben des BF1 zum Tod des Bruders („vor 20 Jahren“) folgt, dass der Bruder von BF1 ca. im Jahr 2000 verstorben sein müsste. Völlig anders bzw. überhaupt nicht nachvollziehbar stellen sich die Angaben des BF1 zu seiner angeblichen Tätigkeit bei der Polizei in der mündlichen Verhandlung dar, sodass kein klares Bild einer Tätigkeit des BF1 als Polizist entstehen konnte: „R: Aus welchen Gründen ist es Ihnen nicht möglich, nach AF zurückzukehren? Bitte nennen Sie mir zuerst kurz alle Gründe, dann haben Sie Gelegenheit, alles ausführlich darzulegen. BF1: Weil mein Bruder durch die Taliban getötet worden ist und mein anderer Bruder auch bei der Polizei war und ich 2008 ungekündigt meinen Job verlassen musste. R: Wie kommen Sie auf 2008, welcher Job war das? BF1: 08.02.2014. R: Können Sie mir 08.02.2014 in Ihrer Zeitrechnung sagen? BF1: 2008 habe ich mit der Arbeit bei der Polizei begonnen. R: Sagen Sie mir das bitte in Ihrer Zeitrechnung. BF1 (nach Einsicht in die Unterlagen): Ich will keinen Fehler machen, deshalb muss ich nachschauen. 1392 habe ich die Ausbildung gemacht. Das ist die Bestätigung. R: Welche Ausbildung haben Sie gemacht? BF1: Das ist eine Ausbildung zum Polizisten. Während ich zur Schule gegangen bin, habe ich auch als Schneider gearbeitet. R: Haben Sie schon als Polizist gearbeitet, als Sie Ihre Ehefrau geheiratet haben? BF1: Ja. R: Haben Sie erst nach der Ausbildung begonnen als Polizist zu arbeiten oder haben Sie schon vor her als Polizist gearbeitet? BF1: Es ist so, dass immer nach einem Jahr man einen Kurs bekommt, den man machen muss. Ich habe alle Bestätigungen da. R: In welchem Jahr in Ihrer Zeitrechnung haben Sie begonnen, als Polizist zu arbeiten? BF1 (nach Einsicht in die Unterlagen): 1392. R: Wie viele Jahre vor Ihrer Eheschließung haben Sie schon als Polizist gearbeitet? BF1: Ich war damals mit meinem Bruder. Ich war der Fahrer. R: Ich wiederhole die Frage. Ab wann haben Sie als Polizist gearbeitet? BF1: Sie haben mich vielleicht nicht verstanden. Mein Vater war auch Polizist. Ich bin seit der Kindheit involviert und als ich volljährig war, habe ich die Ausbildung begonnen. Es ist normal in einer Familie, wenn der Vater Polizist ist, wird das auch der Sohn.“ (VHS, 21).
Darüber hinaus konnte besonders in der mündlichen Verhandlung kein Bild von einer polizeilichen Tätigkeit des BF1 entstehen, auch, weil die Angaben des BF1 und seiner Ehefrau dazu völlig unterschiedlich waren: Während aus den Angaben des BF1 folgt, dass er nur 6 Tage im Monat zu Hause war, und die restliche Zeit (jeweils vom 31. bis zum 25. des Monats) bei Einsätzen in verschiedenen Provinzen (Paktia, Parwan, Kapisa, Kabul) unterwegs gewesen sei, wobei er zu seinen Einsätzen immer von einem Polizeiwagen abgeholt worden sei (VHS, 24), liest sich aus dem Vorbringen von BF2, dass BF1 (jedenfalls nach der Eheschließung) in einem bestimmten Ort in der Provinz Parwan auf einer Polizeistation mit ca. 15 Mitarbeitern gearbeitet habe, wo er immer mit dem Motorrad (ca. eine Stunde) hingefahren sei, manchmal habe er auch ein Privatauto benutzt. Dass ihr Mann überhaupt die meiste Zeit des Monats auf Einsätzen in verschiedenen Provinzen unterwegs gewesen sei, und sie in dieser Zeit bei ihrer Schwester bzw. an der Uni gelebt habe, ergibt sich aus den Angaben der BF2 im Zuge der Einvernahme keinesfalls (VHS, 17ff).
Auch zur Art der (Polizei)Tätigkeit sind die Angaben von BF1 und BF2 unterschiedlich, was nicht nachvollziehbar ist. Während BF2 dazu angab, ihr Ehemann habe „hauptsächlich für Sicherheit gesorgt“, er sei gerufen worden, wenn es einen Autounfall, Diebstahl oder Probleme mit Drogen gegeben habe, er habe aber auch gegen die Taliban gekämpft (VHS, 19), sagte BF1 aus, er habe ausschließlich gegen die Taliban gekämpft (VHS, 25). Auch wenn BF1 seiner Ehefrau nicht umfassend von seiner Tätigkeit berichtet haben will, so ist doch lebensfremd, dass BF2 keine annähernd konkrete Vorstellung von der (Polizei)Tätigkeit ihres Ehemannes hat.
Weiters ist es wenig überzeugend, dass BF1, der eine insgesamt ca. 18-monatige Polizeiausbildung (wobei auch zur Dauer der Ausbildung die Angaben des BF1 nicht einheitlich sind, so gab BF1 im Zuge der Erstbefragung noch an, er habe nur eine 3-monatige Ausbildung) und Ausbildung zum Offizier durchlaufen haben will, keine näheren Angaben zu den verwendeten Waffen oder zu seinen Vorgesetzten bzw. Ausbildnern und auch nicht zu Aufbau, Struktur und Organisation der Polizei in Afghanistan geben kann (VHS, 27ff).
Überdies fällt besonders auf, dass BF1 zwar im Zuge der EB angibt, Polizist gewesen zu sein, deswegen aber Verfolgung durch „die Dorfbevölkerung“ zu befürchten, was nicht nachvollziehbar ist („Da ich Mitglied der Partei Jamiat bin und auch noch Polizist war, kann ich keinesfalls nach Afghanistan zurück. Ich würde von der Dorfbevölkerung getötet werden. Von den afghanischen Behörden habe ich aber nichts zu befürchten.“, AS 6). Dazu in krassem Widerspruch verneinte BF1 im Zuge der EV (aufgefordert, seine fluchtauslösenden Gründe zu schildern) Probleme im Zusammenhang mit seinem Beruf: „Mein Problem war nicht wegen meines Berufes, Es war wegen meiner Ehefrau.“ Bzw. gab dann lediglich vage an, jeder, „der in der Regierung sei“ habe Probleme (AS 43). Erneut aufgefordert, konkretes und nachvollziehbares Vorbringen zu erstatten, nahm BF1 erneut alleine Bezug auf die Probleme, die sie in Afghanistan mit dem ehemaligen Verlobten von BF2 gehabt hätten (AS 44).
Auch in der mündlichen Verhandlung konnte BF1 kein nachvollziehbares Bild einer persönlichen Bedrohung aufgrund seiner angeblichen Tätigkeit als Polizist aufzeigen. Sein Vorbringen dazu blieb vage und unkonkret und ganz besonders ausweichend: „R: Was können Sie mir im Detail über einzelne Bedrohungsszenarien gegen Sie persönlich aufgrund Ihrer Tätigkeit als Polizist sagen? BF1: Wenn ich jetzt nach Afghanistan zurückkehre, werden Sie am Flughafen meinen Fingerabdruck nehmen. Dann werden sie sofort im System alles über mich herausfinden. R wiederholt die Frage. BF1: Die Taliban führen gerade Hausdurchsuchungen durch. Mein Bruder hält sich derzeit versteckt auf. Ich weiß nicht einmal, wo in Afghanistan er derzeit ist. Die Taliban haben von ihm sein Gewehr verlangt, weil er ein Polizist ist. Er hat es ihnen gegeben. Dann sind sie wieder zu ihm gekommen und haben gesagt: „Sie haben 80 Leute unter sich gehabt. Sie müssen uns 80 Gewehre geben.“ Aber er hatte keine 80 Gewehre gehabt. R: Das beantwortet immer noch nicht meine Frage. Gab es überhaupt irgendwelche konkrete Bedrohungen gegen Sie persönlich, bevor Sie Afghanistan verlassen haben? BF1: Ja. Ich wurde ständig bedroht. Alle, die in der Regierung sind, werden terrorisiert, dass sie ihren Job aufhören sollen. Ich habe immer Zetteln bekommen.“ (VHS, 27).
Wenn der BF1 in diesem Zusammenhang angeblich erhaltene Drohbriefe anspricht, ist auch das Vorbringen in diesem Zusammenhang widersprüchlich und daher unglaubwürdig: BF1 meinte dazu, er hätte alle „zwei oder drei Monate“ solche Briefe erhalten, (VHS, 28), und das über einen Zeitraum von fünf Jahren (VHS, 27), während BF2 dazu angab, sie hätten „manchmal einmal im Monat, manchmal zweimal, manchmal nur einen Zettel nur alle zwei bis drei Monate“ erhalten (VHS, 16), und das über einen Zeitraum von ca. eineinhalb bis zwei Jahren (VHS, 15). BF1 verneinte auch ausdrücklich, dass diese Drohbriefe an ihn persönlich adressiert gewesen seien: „R: War dieser Zettel nun an Sie persönlich adressiert und mit der persönlichen Aufforderung verbunden, Ihre Tätigkeit als Polizist aufzugeben? BF1: Sie schreiben keine Namen hin, das wird allgemein gerichtet. Es steht, jeder, der für die Regierung arbeitet, muss auf sich und seine Familie aufpassen.“ (VHS, 27).
Aufgrund der aufgezeigten Ungereimtheiten und Widersprühe kann eine Verfolgung des BF1 und seiner Angehörigen aufgrund einer Tätigkeit als Polizist nicht festgestellt werden. Ebenso wenig konnte BF1 eine Verfolgung deswegen substantiieren, weil seine Angehörigen ebenfalls Polizisten (gewesen) sein sollen.
II.2.4.3. Als weiteren Fluchtgrund machen BF1 und BF2 geltend, dass sie von einem Mann, dem BF2 seit Kindheit versprochen gewesen sei, und den sie nicht heiraten habe wollen, bedroht worden seien. Aber auch dieses Vorbringen erweist sich als unglaubwürdig:
Ganz eklatant unplausibel und widersprüchlich sind die Angaben der BF dazu, ob BF1, der nunmehrige Ehemann von BF2, bei der Hochzeit davon Kenntnis hatte, ob seine Braut eigentlich schon einem anderen Mann versprochen ist; wobei notorisch ist, dass in Afghanistan auch ein zwischen den Eltern (für die Kinder) gegebenes Eheversprechen eine ernste Angelegenheit ist, die von den Kindern in der Regel nicht problemlos ignoriert bzw. einseitig abgelehnt werden kann. BF2 sagte dazu in der Einvernahme aus, dass sie, als sie noch klein gewesen sei, einem Paschtunen versprochen worden sei, dessen Vater ein Freund von ihrem Vater gewesen sei. Ihr Ehemann habe davon nichts gewusst und nach der Eheschließung seien BF1 und BF2 von diesem anderen Mann (telefonisch) bedroht worden. Auch BF1 gab in seiner Einvernahme an, dass er erst nach der Hochzeit davon erfahren habe, dass seine Frau eigentlich schon einem anderen Mann versprochen war (AS 44). Zunächst ist nun für afghanische Verhältnisse unplausibel, dass niemand aus der Familie oder aus dem Dorf BF1 vor der Hochzeit informiert hat, dass seine Braut, BF2, eigentlich bereits einem anderen Mann versprochen ist, und insbesondere, dass der Vater von BF2 bzw. ihre Brüder BF2 problemlos einen anderen Mann heiraten lassen, wenn sie einem bestimmten Mann versprochen ist. BF1 und BF2 haben übereinstimmend angegeben, dass sie traditionell im kleinen Kreis, aber keinesfalls heimlich und gegen den Willen der Angehörigen, geheiratet haben (vgl. VHS, 6, VHS, 14: „R: Also war die Hochzeit mit Ihrem jetzigen Mann für Ihre beiden Familien kein Problem? BF2: Nein.“).
Eklatant widersprüchlich zu ihren bisherigen Angaben hat BF2 dann in der mündlichen Verhandlung schließlich ausgesagt, dass sie ihren jetzigen Mann von der Verlobung schon vor der Hochzeit informiert habe („BF2: Mein Vater hat mich an ihn versprochen. Es war in unserem Dorf bekannt, dass ich ihm versprochen war und ich habe es auch meinem jetzigen Mann vor der Hochzeit erzählt.“, VHS 13). BF1 präsentierte in der mündlichen Verhandlung eine weitere Variante: Nachdem er zunächst aussagte, er habe vor der Hochzeit nicht gewusst, dass sie einem anderen Mann versprochen gewesen sei (VHS, 21: „R: Haben Sie vor der Heirat gewusst, dass Ihre Frau einem anderen Mann versprochen war bzw. ist? BF1: Nein, damals wusste ich es nicht. Später hat sie mir es erzählt.“), änderte er sein Vorbringen später dahin, dass BF2 ihm nur gesagt habe, dass sie als Kind versprochen worden sei, dass es aber „nichts Ernstes“ und der Mann „verschollen“ sei (VHS, 22). Insgesamt konnte die Richterin aus den aufgezeigten Gründen kein stimmiges Bild von einer Verlobung der BF2 vor der Hochzeit mit BF1 erlangen.
Überdies hat BF1 angegeben, aus einer bildungsorientierten Familie zu stammen, die auch die Bildung von Frauen unterstützte, so sei eine Schwester Lehrerin (VHS, 12) und auch BF2 hat Bildung bereits in Afghanistan erworben. Dann passt es aber nicht in dieses Bild, dass der Vater der BF2 wünscht und dies auch verspricht, dass seine Tochter in eine sehr konservative paschtunische Familie einheiratet. Darin ist ein weiteres Indiz dafür zu erblicken, dass BF2 zu ihren Fluchtgründen nicht die Wahrheit sagt.
Weiter blieben die Angaben von BF1 und BF2 zu dem angeblichen Verlobten von BF2 vage, sodass auch diesbezüglich nicht der Eindruck entstehen konnte, dass die geschilderte Verlobung von BF2 im Kindesalter mit einem Paschtunen tatsächlich stattgefunden hat; so habe die BF2 diesen Mann nie gesehen, sondern nur mit ihm telefoniert, er habe zwei Vornamen gehabt, und in Jalalabad gelebt, wo er eine Madrassa besucht habe. Auch zu den Inhalten der angeblich geführten Telefonate blieben die Angaben oberflächlich (VHS, 10). Die Telefonate hätte stattgefunden, als die BF2 etwa 15 oder 16 Jahre alt gewesen sei. Die BF2 habe dann den Kontakt abgebrochen und das Handy weggeworfen (VHS, 11). Dass BF2 die Kontaktaufnahme durch einen Verlobten, der weiter an der Verlobung festhält, unterbinden kann, ist lebensfremd.
Außerdem variieren die Angaben von BF1 und BF2 dazu, ob dieser Mann ein Mitglied der Taliban gewesen sei, bzw. blieben die Angaben dazu überhaupt spekulativ. So gab BF2 in ihrer Erstbefragung an, dass dieser Mann, dem sie seit ihrer Kindheit versprochen gewesen sei, ein „Anhänger der Taliban“ sei. BF1 ging in seiner Aussage anlässlich der Erstbefragung allerdings davon aus, dass er selbst ein Taliban gewesen sei. In der Einvernahme sprachen beide dann davon, dass er Paschtune gewesen sei, und es war nicht mehr die Rede davon, dass er (auch) ein Anhänger der Taliban gewesen sei.
Die BF schilderten letztlich auch einen Vorfall, als in der Nacht Leute über das Dach mit Hilfe einer Leiter ins Haus der BF eindringen wollten, und BF1 habe sie mit einer Granate vertrieben. Es blieb unklar, ob die BF diesen Vorfall in Zusammenhang mit dem ehemaligen Verlobten von BF2 bringen (so BF1 in der mündlichen Verhandlung, VHS, 22), oder mit seiner angeblichen Tätigkeit als Polizist (so offenbar BF2 in der mündlichen Verhandlung). Für beide Annahmen können die BF keine plausiblen Nachweise erbringen, sodass ein Motiv für den angeblichen Angriff auf das Haus rein spekulativ bleibt („R: Haben Sie eine Vermutung oder Ahnung, wer diese Menschen waren? BF2. Es waren Paschtusprachige. Die Paschtusprachigen haben immer Probleme mit den Polizisten.“).
Nach den Schilderungen der BF verließen sie nach dem versuchen Eindringen der fremden Leute ins Haus ihr Zuhause und zogen zu Angehörigen der BF2 in das Zentrum der Stadt. Dass es auch dort zu irgendwelchen Verfolgungshandlungen gegen die BF gekommen ist, behaupten auch die BF nicht, was ebenfalls nicht dafürspricht, dass ein ehemaliger Verlobter von BF2 (oder seine Angehörigen) ernsthaft Rache an den BF nehmen wollen.
Aus den aufgezeigten Gründen kann auch nicht festgestellt werden, dass die BF von einem ehemaligen Verlobten der BF2 im Herkunftsland bedroht waren bzw. bei einer Rückkehr sein würden.
II.2.4.4. Dass nicht festgestellt werden kann, dass die weiblichen BF aufgrund eines in Österreich gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt werden würde, gründet auf folgenden Erwägungen:
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines von den dort herrschenden politischen und/oder religiösen Normen abweichenden Lebensstils („westlich“ orientierten Lebensstils) bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen). Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste. Um davon ausgehen zu können, dass der Asylwerberin bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung wegen ihres von den dort herrschenden politischen und/oder religiösen Normen abweichenden Lebensstils droht, bedarf es selbstverständlich einer Abkehr der Asylwerberin von eben diesen herrschenden politischen und/oder religiösen Normen. Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301, mit Hinweisen auf die Vorjudikatur).
Die Feststellung zu BF2 als nicht am westlichen Frauen-und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau ergab sich aus den Angaben beim BFA und in der mündlichen Verhandlung und aus dem persönlichen Eindruck, der in der Verhandlung gewonnen werden konnte.
Nach eingehender Befragung zu ihrem aktuellen Lebensstil in Österreich im Verfahren und besonders in der mündlichen Verhandlung ist im Entscheidungszeitpunkt keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung im Sinne der zitierten Judikatur zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines „westlichen Verhaltens“ oder eine „westliche Lebensführung“ als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann:
Vorweg ist zu sagen, dass BF2 erst seit Mitte 2020 in Österreich aufhältig ist. BF2 hat sowohl einen Deutsch-Alphabetisierungskurs als auch einen Deutschkurs auf Niveau A1 besucht. Sonstige Fort- oder Ausbildungsmaßnahmen hat BF1 nicht absolviert. Sie hat im Ausmaß von gesamt 29 Stunden (am Nachmittag) bei der Diakonie (in einem Baby-Sozialzentrum) in der Reinigung der Räume und Lagerverwaltung gearbeitet. Derzeit besucht BF2 am Vormittag einen Deutschkurs und holt um 13.00 Uhr ihre Tochter vom Kindergarten ab. Auch wenn BF2 angibt, sie möchte gerne arbeiten, ist es ihr nach ihren Angaben derzeit nicht möglich, weiter bei der Diakonie zu arbeiten. Auch dass ihr Ehemann die Tochter abholt bzw. die Kinder am Nachmittag versorgt, damit BF2 weiter arbeiten kann, ist laut BF2 aufgrund „vieler Termine“ nicht möglich. BF2 hat in der Verhandlung abstrakt die Vorstellung geäußert, in Österreich als Kindergartenpädagogin arbeiten zu wollen, hat aber noch keine konkreten Schritte unternommen, eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeit in diesem Bereich aufzunehmen oder sich konkret bei den zuständigen Stellen (AMS) näher über einschlägige Erwerbs- oder Ausbildungsmöglichkeiten zu erkundigen. Ein besonderes Engagement der BF2 an einer Erwerbstätigkeit in Österreich kann nicht festgestellt werden; auch, dass die BF2 an ihre bereits in Afghanistan absolvierte Ausbildung anschließen und in diesen Bereichen tätig sein möchte, ging aus ihren Angaben nicht hervor. BF2 hat auch nach der Verhandlung bis dato keine Nachweise für ein Engagement in diese Richtung vorgelegt, obwohl sie seit 2021 den Status einer subsidiär Schutzberechtigten genießt.
Ihre Tage verbringt BF2 vorwiegend mit der Betreuung der Kinder, Hausarbeit und dem Besuch eines Deutschkurses. Zu der Schule, die ihr Sohn besucht, konnte BF2 nur vage Angaben machen, bzw. den Namen des Klassenvorstandes nicht sicher nennen. Bei schulischen Angelegenheiten wird sie von ihrem Sohn oder anderen afghanischen Eltern unterstützt. Ihre Aussagen zu Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung in Österreich, und wie sie diese Rechte ausübt, blieben stereotyp. Zu aktuellen tagespolitischen Themen konnte BF2 keine Angaben machen. Empfehlungsschreiben von Privatpersonen oder seitens der Schule bzw. des Kindergartens, die die Kinder besuchen, für die BF bzw. deren Verbleib in Österreich wurden nicht vorgelegt.
Nach Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von den weiblichen BF und in einer Gesamtschau ihrer Angaben im Verfahren und vor allem in der mündlichen Verhandlung kommt die erkennende Richterin zu dem Schluss, dass bei BF2 eine grundlegende und verfestigte Änderung der Lebensführung im Sinne eines „westlich“ orientierten Lebensstils aktuell nicht vorliegt.
BF3 ist noch nicht sechs Jahre alt und geht erst seit 01.11.2021 in den Kindergarten. Es ist darauf zu verweisen, dass sich aufgrund der Entwicklungsphase der BF3 keine Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, manifestieren kann. Es kann daher für die BF auch zu keiner Lebensführung kommen, die zu einem solch wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, dass von ihr nicht erwartet werden könnte, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Ein anstehender Schulbesuch von BF3 ist möglich, zumal der Besuch der Grundschule, die für BF3 in Frage kommt, auch aktuell möglich ist.
II.2.4.5. Zur allgemeinen Situation von Kindern in Afghanistan ist auszuführen, dass aus den Länderinformationen hervorgeht, dass diese unter gewissen Umständen in Bereichen wie Versorgung, Gewalt, Zugang zu Schulbildung und Kinderarbeit nachteiliger Behandlung ausgesetzt sein können. Solche Handlungen wiederum können unter Umständen im Hinblick auf das Alter des Kindes, dessen fehlende Reife oder Verletzlichkeit eine kinderspezifische Form der „Verfolgung“ darstellen. Die erwähnte Benachteiligung beruht primär auf dem Fehlen einer familiären bzw. sozialen Unterstützung und wird durch gesellschaftliche Restriktionen begünstigt.
Die BF haben sich glaubwürdig fürsorglich und um das Wohl ihrer Kinder bemüht gezeigt und würde sie gemeinsam vor körperlichem und seelischem Leid schützen. Auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen (VfGH 11.10.2017, E 1803/2017 ua. mwN) ist weder aufgrund des Vorbringens der Eltern noch sonst eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung der mj. BF hervorgekommen.
II.2.5. Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Afghanistan. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Dass sich seit der Veröffentlichung der hier wiedergegebenen Länderberichte allgemein und für den gegenständlichen Fall relevant eine entscheidende Lageveränderung ergeben hätte, kann unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums in diesem Fall verneint werden, somit würde sich verfahrensgegenständlich auch keine andere Beurteilung ergeben, zumal im konkreten Fall den BF ohnehin bereits von der Behörde subsidiärer Schutz gewährt wurde.
Die Länderinformationen wurden den BF zur Kenntnis gebracht und in der mündlichen Verhandlung erörtert. Diesen Berichten sind die BF nicht substantiiert entgegengetreten, auch nicht in der Stellungnahme vom 27.09.2022.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Da in den anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen keine gegenteiligen Bestimmungen enthalten sind, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Zu A) Aussetzung des Beschwerdeverfahrens
Gemäß § 38 AVG ist die Behörde – sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen – berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.
Gemäß § 17 VwGVG ist § 38 AVG auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anwendbar.
Auf der Grundlage des § 38 AVG können Verfahren bis zur (in einem anderen Verfahren beantragten) Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union ausgesetzt werden; eine dem EuGH zur Klärung vorgelegte Frage des Unionsrecht kann nämlich eine Vorfrage iSd § 38 AVG darstellen, die zufolge des im Bereich des Unionsrechts bestehenden Auslegungsmonopols des EuGH von diesem zu entscheiden ist (vgl. VwGH 14.04.2021, Ra 2020/19/0379, VwGH 11.11.2020, Ro 2020/17/0010 und VwGH 19.12.2000, 99/12/0286).
Mit Beschlüssen vom 14.09.2022, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,
sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
Im Beschwerdefall handelt es sich um ein Verfahren um die Zuerkennung von internationalem Schutz. Den BF wurde seitens des BFA der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht begehren die BF die Zuerkennung des Status der Asylberechtigen.
Wie in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, ist den ursprünglich von den BF geltend gemachten Fluchtgründen (Tätigkeit von BF1 als Polizist, Bedrohung durch einen ehemaligen Verlobten von BF2) kein Glauben zu schenken. BF2 hat bis dato auch keine grundlegende und verfestigte Änderung der Lebensführung im Sinne eines „westlich“ orientierten Lebensstils verinnerlicht.
Es handelt sich bei BF2 und BF3 allerdings um eine afghanische Staatsangehörige, somit um Personen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Staatsangehörigkeit und der zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden Situation in ihrem Herkunftsstaat den vom Verwaltungsgerichtshof oben zitierten Maßnahmen ausgesetzt sein könnten.
Es stellt sich daher im gegenständlichen Beschwerdeverfahren als Hauptfrage konkret die Frage, ob die Kumulierung dieser Maßnahmen, die in Afghanistan von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur (Taliban) gesetzt, gefördert oder geduldet werden, im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen sind, dass die BF2 davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist.
Auch die zweite an den Gerichtshof der Europäischen Union gestellte Frage, nämlich ob es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend ist, dass BF2 und BF3 als Frauen in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen sind, oder für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich ist, ist gegenständlich maßgeblich.
Bei den BF können, wie dargelegt, sonst keine Fluchtgründe festgestellt werden. Daher käme im konkreten Fall nur dann die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten in Betracht, würde der Gerichtshof der Europäischen Union die erste an ihn gestellte Frage bejahen. Weiters ist auch die Beantwortung der zweiten an den Gerichtshof der Europäischen Union gestellten Frage, inwiefern alleine das Geschlecht maßgeblich ist oder die Prüfung der individuellen Situation erforderlich ist, für die Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten im gegenständlichen Beschwerdeverfahren maßgeblich.
Aus den dargestellten Gründen kommt daher der Beantwortung der zitierten Vorlagefragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union im Beschwerdeverfahren wesentliche Bedeutung zu. Somit liegen die Voraussetzungen für die Aussetzung des Beschwerdeverfahrens bis zum Vorliegen der Vorabentscheidung vor.
BF1 ist der bereits in Afghanistan traditionell angetraute Ehemann von BF2 und leibliche Vater von BF3. Zwischen BF1, BF2 und BF3 liegt ein Familienverfahren gem. § 34 AsylG 2005 vor und ist daher auch das Verfahren von BF1 auszusetzen.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.