Spruch
L502 2237933-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , staatenlos, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.10.2020, FZ. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.07.2022 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 07.11.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am selben Tag erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
3. Nach einem Dublin-Konsultationsverfahren mit Griechenland wurde sein Verfahren zugelassen.
4. Am 04.06.2020 wurde er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Er brachte dabei seinen Reisepass im Original und weitere Beweismittel in Vorlage. Ihm wurde auch das Länderinformationsblatt des BFA zur Herkunftsregion zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme dazu eingeräumt, worauf er verzichtete.
5. Am 09.06.2020 ersuchte das BFA die Landespolizeidirektion Niederösterreich, kriminalpolizeiliche Untersuchungsstelle, um Überprüfung des vorgelegten Identitätsnachweises auf seine Echtheit.
6. Das BFA veranlasste am 09.06.2020 eine amtswegige Übersetzung der vorgelegten Beweismittel in die deutsche Sprache, die am 10.06.2020 beim BFA einlangte.
7. Am 30.07.2020 langte das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung seines Reisepasses beim BFA ein.
8. Mit Bescheid des BFA vom 27.10.2020 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Palästinensischen Gebiete – Gaza gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die palästinensischen Gebiete nach Gaza gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.).
9. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 17.11.2020 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.
10. Gegen den ihm am 20.11.2020 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner damaligen Vertretung vom 11.12.2020 fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang erhoben.
11. Die Beschwerdevorlage langte am 21.12.2020 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das Beschwerdeverfahren der zuständigen Gerichtsabteilung L502 zugewiesen.
12. Am 26.01.2021 langte beim BVwG die Vollmachtsbekanntgabe seiner nunmehrigen Vertretung ein.
13. Das BVwG führte am 07.07.2022 eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit des BF und im Beisein seiner Vertretung durch. Seine Vertretung legte im Zuge dessen weitere Beweismittel vor. Dabei wurden ihm auch aktuelle Länderberichte zu Gaza zur Kenntnis gebracht.
14. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus dem AJ-Web, dem Betreuungsinformationssystem, dem Strafregister sowie dem Zentralen Melderegister (ZMR).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist staatenloser Angehöriger der palästinensischen Volksgruppe, Araber und sunnitischer Moslem und stammt aus dem israelischen Autonomiegebiet des sog. Gaza-Streifens (im Weiteren: Gaza). Er wurde in der Stadt XXXX geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise im familieneigenen Haus bei seinen Eltern und Brüdern. Er ist ledig und kinderlos.
Er hat in Gaza insgesamt elf Jahre die Schule besucht, hat jedoch aufgrund seines vorzeitigen Schulabbruches keinen Schulabschluss erlangt. Nach dem Schulbesuch war er von 2010 bis 2013 zunächst in einem Uhrengeschäft erwerbstätig. Von 2013 bis 2016 verdiente er seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter auf Baustellen. Zuletzt nahm er von 2016 bis 2018 als „Tuk-Tuk-Fahrer“ Transportaufträge entgegen und bestritt aus diesem Verdienst seinen Lebensunterhalt.
In Gaza leben nach wie vor seine Eltern und seine drei Brüder. Seine Eltern sind nicht erwerbstätig. Sein Vater leidet an Blasenkrebs und seine Mutter an Blutarmut. Sein Vater wird aufgrund seiner Krebserkrankung in Gaza medizinisch behandelt. Auch einer seiner Brüder leidet unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Sein Vater und sein Bruder beziehen aufgrund ihrer eingeschränkten Erwerbsfähigkeit von der Fatah Sozialhilfe. Mit dieser finanziellen Unterstützung können sie ihr Leben ausreichend finanzieren. Sein gesundheitlich beeinträchtigter Bruder erzielt darüber hinaus auch Einkünfte als „Tuk-Tuk-Fahrer“. Seine jüngsten Brüder gehen noch zur Schule. In Gaza leben auch noch weitere Verwandte des BF. Er steht mit seinen Familienangehörigen in Kontakt.
Er ist nicht als Flüchtling beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert.
Er hat Gaza am 30.09.2018 über den Grenzübergang Rafah legal, unter Verwendung seines am 05.07.2018 von der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Reisepasses, nach Ägypten verlassen. Dort hielt er sich für mehrere Tage auf, ehe er am 19.10.2018 seine Weiterreise legal mit einem türkischen Visum über den Luftweg in die Türkei fortsetzte. Von dort reiste er unrechtmäßig nach Griechenland in das Gebiet der europäischen Union ein. Nach einem etwa einjährigen Aufenthalt in Griechenland reiste er über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich ein, wo er am 07.11.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.
1.2. Er bestreitet seinen hiesigen Lebensunterhalt seit der Antragstellung durch den Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und ist bislang keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich nachgegangen.
Er spricht Arabisch als Muttersprache. Er verfügt über keine maßgeblichen Deutschkenntnisse und hat keine Sprachkurse besucht oder Sprachprüfungen abgelegt.
Er führt seit Mai 2022 eine Beziehung mit einer in Österreich lebenden Polin. Ein gemeinsamer Haushalt besteht nicht. Er hat in Österreich keine Verwandten.
Er ist gesund und leidet an keinen gravierenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist voll erwerbsfähig.
Er ist bis dato in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Er hat Gaza nicht aufgrund individueller Verfolgung durch einen ehemaligen Geschäftspartner oder durch Mitglieder der Hamas verlassen und ist auch bei einer Rückkehr nach Gaza nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.
1.4. Er ist bei einer Rückkehr nach Gaza auch aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor. Er kann sich nach seiner Rückkehr neben seiner eigenen Erwerbsfähigkeit neuerlich auf die Unterstützung seiner Herkunftsfamilie stützen, was die Bewerkstelligung seines Lebensunterhalts angeht, zumal seine Eltern über ein Eigentumshaus verfügen.
1.5. Zur Lage in der Herkunftsregion des BF wird festgestellt:
1.5.1. Politische Lage
Die Palästinensischen Gebiete bestehen aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem (AA 3.2.2022a). Palästina hat den Status eines Völkerrechtssubjekts, wird aber von Österreich nicht als Staat im Sinne des Völkerrechts anerkannt (BMEIA 18.5.2022). 138 der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (UN) stimmten am 29.11.2012 für eine Aufwertung des völkerrechtlichen Status der Palästinenser zu einem „Beobachterstaat“. Konkret bedeutet der Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedstaat, den etwa auch der Vatikan innehat, mehr Mitspracherechte bei den Vereinten Nationen. Künftig können die Palästinenser im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung – sofern sie betroffen sind – an Diskussionen teilnehmen und Resolutionen einbringen. Ein weiterer wichtiger Zugewinn ist der Zugang zu Unterorganisationen der UN wie dem Internationalen Strafgerichtshof. Dadurch hätten die Palästinenser das Recht, etwaige Militäroperationen der Israelis in den Palästinensergebieten oder die Siedlungspolitik der israelischen Regierung vor Gericht zu bringen (BPB 30.11.2012). Im Dezember 2014 stimmte das europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit (498 Stimmen dafür, 88 dagegen) für die „Quasi“-Anerkennung Palästinas als Staat. Dieses Votum ist rechtlich nicht bindend, aber stellt ein Signal an die internationale Gemeinschaft dar. Schweden ist einen Schritt weiter gegangen und hat Palästina offiziell als Staat anerkannt (BBC 17.12.2014).
Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO – Palestinian Liberation Organisation) wurde 1964 gegründet, 1974 als einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes von der UNO anerkannt und erhielt den Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen (VP o.D.; vgl. Britannica o.D.). 1993 kam es zum Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO (BPB 17.7.2011). Im Jahr 1993 folgte die Anerkennung der PLO als einzige Vertreterin der Palästinenser durch Israel (Haaretz 9.9.1993). Die PLO ist die Dachorganisation für die verschiedenen palästinensischen Parteien und Bewegungen, darunter die Fatah, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Arabische Befreiungsfront, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), die Palästinensische Befreiungsfront (PLF) und die Palästinensische Volkspartei (PPP). Hamas und Islamischer Jihad sind nicht in der PLO vertreten (VP o.D.; vgl. SZ 12.1.2018).
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA – Palestinian Authority) wurde 1994 nach Abschluss der Osloer Verträge zwischen Israel und der PLO gegründet. Am 13.4.2019 wurde die neue PA unter Premierminister Mohammad Shtayyeh vereidigt. Grundpfeiler des politischen Systems sind der Präsident, die Regierung unter Vorsitz eines Premierministers sowie das Parlament, der sogenannte Legislativrat (Palestinian National Council – PLC) mit 132 Sitzen. Das Wahlrecht sieht Verhältniswahl (Landesebene) und Direktwahl (Bezirksebene) vor. Letzte Wahlen in der Westbank und Gaza fanden im Januar 2006 statt; die vierjährige Legislaturperiode ist seit 2010 abgelaufen. Der Legislativrat tagt seit der Machtübernahme der Hamas in Gaza im Juni 2007 nicht mehr. Am 22.12.2018 hat Präsident Abbas den PLC für aufgelöst erklärt (AA 3.2.2022b; vgl. FH 28.2.2022). Parlamentswahlen hätten in den folgenden sechs Monaten stattfinden sollen, was nicht passierte. Die Hamas lehnte die Entscheidung über die Auflösung des PLC ab. Im Januar 2021 kündigte Abbas nicht nur an, dass im Juli Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, sondern rief auch PLC-Wahlen für Mai aus. Allerdings sagte er beide Wahlen im April ab, und es wurde kein neuer Termin festgelegt (FH 28.2.2022). Der Präsident der Palästinensischen Behörde wird vom Volk direkt gewählt. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im Januar 2005 statt. Die Amtszeit von Präsident Abbas ist formal seit 2009 abgelaufen (AA 3.2.2022b; vgl. FH 28.2.2022). Präsident Abbas ist auch Vorsitzender der PLO und Generalkommandant der Fatah-Bewegung (USDOS 12.4.2022). Der Premierminister ist laut Verfassung gegenüber dem Präsidenten und dem Legislativrat für sein Handeln und das Handeln des Kabinetts verantwortlich (GIZ 11.2020a).
Nach dem Erdrutschsieg der Hamas [Anm.: bei den Wahlen im Jahr 2006] begannen die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von Hamas und Fatah, in deren Verlauf Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Ihren Höhepunkt fanden sie im Juni 2007 im Gazastreifen als die Hamas mit Gewalt die Kontrolle über alle Sicherheitseinrichtungen und Regierungsgebäude der PA übernahm (GIZ 11.2020a). Zahlreiche Mitglieder und Anhänger der Fatah von Palästinenserpräsident Abbas flohen aus Gaza (Spiegel Online 13.6.2007; FAZ 3.8.2008). Von diesem Zeitpunkt an war Palästina zweigeteilt, in einen von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und ein von der Fatah kontrolliertes Westjordanland. In beiden Gebieten wurden Aktivisten der jeweils anderen Seite inhaftiert und misshandelt, deren Einrichtungen geschlossen, ihre Medien verboten und ihre Demonstrationen aufgelöst (GIZ 11.2020a). In den letzten Jahren sind mehrere Versöhnungsversuche zwischen Fatah und Hamas gescheitert (CGRS 6.3.2020).
Die ständige Verschiebung der Wahlen im Gaza-Streifen verhindert jede Möglichkeit für eine Änderung des politischen Status quo. Die Umsetzung des Versöhnungsabkommens von 2017, das schließlich zu Wahlen geführt hätte, scheiterte zum Teil an der Frage der Kontrolle über die innere Sicherheit des Gazastreifens, weil die Hamas ihren unabhängigen bewaffneten Flügel und eine dominante Sicherheitsposition im Territorium behalten wollte (FH 3.3.2021; vgl. CGRS 6.3.2020). Die regional geförderten Gespräche zur Überbrückung der Kluft zwischen Hamas und Fatah scheiterten zuletzt, nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde im April 2021 angekündigt hatte, dass die für Mai geplanten palästinensischen Parlamentswahlen und die für Juli geplanten Präsidentschaftswahlen auf unbestimmte Zeit verschoben würden (FH 28.2.2022). Entscheidungen über die Durchführung von Wahlen sind stark politisiert. Die Hamas weigerte sich, an den Kommunalwahlen der PA 2017 teilzunehmen, die aufgrund von Streitigkeiten zwischen Hamas und Fatah über die Kandidatenlisten vom Vorjahr verschoben worden waren. Im Dezember 2021 wurden im Westjordanland erneut Kommunalwahlen abgehalten, eine zweite Runde ist für Anfang 2022 angesetzt. Die Hamas lehnte jedoch die Durchführung der Wahlen im Gazastreifen ab. Die Fähigkeit palästinensischer Regierungsvertreter, im Gazastreifen Politik zu machen und umzusetzen, ist durch israelische und ägyptische Grenzkontrollen, israelische Militäraktionen und die anhaltende Spaltung mit der PA im Westjordanland stark eingeschränkt (FH 28.2.2022).
Seit dem Bruch zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas regiert die Hamas allein im Gazastreifen und wird höchstens von noch radikaleren Kräften herausgefordert (DS 17.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Obwohl die Gesetze der PA in Gaza formal gültig sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EU 30.3.2022), gelten die von der PA im Westjordanland seit 2007 erlassenen Gesetze de facto nicht mehr für die Bürger des von der Hamas kontrollierten Gazastreifens, und die in Gaza erlassenen Gesetze gelten nicht im Westjordanland (ICHR 4.2022).
Kleinere Parteien – darunter [Anm.: die beiden Terrorgruppen] Islamischer Jihad und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) sowie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und eine von Präsident Abbas nicht unterstützte Fraktion der Fatah – werden in unterschiedlichem Maße von der Hamas toleriert. Einige dieser Gruppen verfügen über eigene Medien und veranstalten Kundgebungen und Versammlungen. Diejenigen, die mit Präsident Abbas und seinen Unterstützern in der Fatah verbunden sind, sind jedoch der Verfolgung ausgesetzt (FH 28.2.2022).
Zivilgesellschaftliche Organisationen in Gaza geben an, dass die Hamas und andere islamistische Gruppen keinen öffentlichen Dissens, keine Opposition, keinen bürgerlichen Aktivismus oder die Förderung von Werten, die der politischen und religiösen Ideologie der Hamas widersprechen, tolerieren (USDOS 12.4.2022).
Am 6. Mai 2017 wurde Ismail Haniyye zum neuen Vorsitzenden des Politbüros der Hamas gewählt. Er löste damit Khaled Mashaal ab, der das Amt seit 1996 innehatte (GIZ 11.2020a). Im August 2021 wurde Haniyye durch eine Wahl innerhalb der Hamas-Führung in dieser Funktion für weitere vier Jahre bestätigt, ebenso wie Yahya (al-)Sinwar als Vorsitzender der Hamas in Gaza und damit als de facto-Regierungschef des Gebiets im März 2021 bestätigt wurde (FH 28.2.2022).
2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht (DS 17.5.2018). Israel hat weiterhin die Kontrolle über Wasser, Elektrizität, Infrastruktur, Grenzübergänge, medizinische Behandlung, Exporte/Importe und viele andere Bereiche des täglichen Lebens. Die Palästinenser haben keine Souveränität über ihre Ressourcen (MEE 13.10.2019). Die Blockade des Gazastreifens seit 2007 durch Israel, die durch die ägyptischen Beschränkungen an der Grenze zum Gazastreifen noch verschärft wird, schränkt den Zugang der rund zwei Millionen dort lebenden Palästinenser zu Bildung, wirtschaftlichen Möglichkeiten, medizinischer Versorgung, sauberem Wasser und Elektrizität ein. Achtzig Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen sind von humanitärer Hilfe abhängig (HRW 13.1.2022; vgl. BBC 1.7.2021). Die Bevölkerung in Gaza beläuft sich auf rund 2,1 Millionen, von denen etwa 1,4 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge sind (UNRWA o.D.).
Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (BBC 1.7.2021, EU 4.2.2022, USDOS 16.12.2021).
[…]
1.5.2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist wesentlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt (AA 24.5.2022). Auch den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im besetzten Palästinensischen Gebiet auswirken (EDA 8.4.2022).
1994 begann Israel einen Grenzzaun zu bauen, der im Jahr 2000, während der Intifada, attackiert und danach durch eine Sicherheitsbarriere ersetzt wurde. Dabei richtete Israel auch eine Pufferzone auf dem Gebiet des Streifens ein (was ihn noch schmäler macht), in die laut israelischen Einsatzregeln scharf hineingeschossen werden kann. Die Breite der Zone, bis zu 300 Meter, wird variabel festgelegt – dort fanden in der Vergangenheit Aufmärsche statt. 2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht. Die letzten Jahre sind geprägt von einem Wechselspiel von Raketenangriffen auf Israel aus dem Gazastreifen, dem Bau von Schmuggel- und Angriffstunnels – und der immer wieder gelockerten und angezogenen Blockade durch Israel (DS 17.5.2018) sowie israelischen Militäroffensiven (AA 24.5.2022).
Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (BBC 1.7.2021, EU 4.2.2022, USDOS 16.12.2021). Seit der Übernahme der Kontrolle über den Gazastreifen im Jahr 2007 hat die Hamas die Verantwortung für zahlreiche Raketenangriffe auf Israel übernommen und organisierte Proteste an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel, die zu gewaltsamen Zusammenstößen, Opfern und militärischen Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Streitkräfte führten. Der Palästinensische Islamische Jihad (PIJ) hat seit den 1980er Jahren ebenfalls zahlreiche Angriffe auf Israel verübt, darunter eine Reihe von Mörser- und Raketenangriffen im Jahr 2020, die ebenfalls zu Gegenschlägen der IDF führten (CIA 24.5.2022). Gemäß einer Einschätzung des israelischen Militärs vom April 2022 würde der Islamische Jihad derzeit keine Angriffe von Gaza aus nach Israel ohne Zustimmung der Hamas durchführen (Haaretz 18.4.2022a).
Im Frühjahr 2021 kam es in Ost-Jerusalem zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Palästinensern und Israelis. Anlass war die geplante Zwangsräumung palästinensischer Häuser zugunsten von Siedlern sowie die Stationierung von Polizeieinheiten auf dem Tempelberg. Die Auseinandersetzungen breiteten sich auf die jüdisch-arabisch gemischten Städte in Israel, die besetzte Westbank und den Gaza-Streifen aus und eskalierten zu einem elftägigen Krieg zwischen der Hamas und Israel. Es war der vierte Krieg in vierzehn Jahren [Anm.: nach 2008-2009, 2012 und 2014 (ICG 10.8.2021)] (BPB 2.11.2021). Die im Gaza-Streifen regierende islamistische Hamas, die sich als Verteidigerin Jerusalems und der Al-Aqsa-Moschee stilisierte, beschoss israelisches Territorium mit Raketen und Mörsern. Die israelische Armee antwortete mit Bombenangriffen auf das Waffenarsenal, das Tunnelsystem sowie die militärische und politische Führung der Hamas. Mindesten 248 Palästinenser und 12 Israelis verloren in der jüngsten Eskalation ihr Leben (BPB 2.11.2021). Laut UN starben mindestens 129 palästinensische Zivilisten bei den israelischen Angriffen (OCHA 25.6.2021), wie auch 12 israelische Zivilisten und mindestens sieben Palästinenser im Gazastreifen durch Raketenangriffe der Hamas (HRW 13.1.2022). Mindestens 2.200 Palästinenser wurden verletzt, von denen manche möglicherweise Langzeitschäden erlitten haben (USDOS 12.4.2022).
Bei der „Guardian of the Walls“ genannten Operation der israelischen Streitkräfte im Mai 2021 wurden insgesamt fast 500 Gebäude im Gazastreifen zerstört oder schwer beschädigt, darunter mehrere Hochhäuser, in denen 33 Medienunternehmen ihre Büros hatten, unter ihnen lokale und internationale Pressebüros wie Al Jazeera und Associated Press. Ebenso wurden Bildungs- und medizinische Einrichtungen getroffen, und das Stromnetzwerk beschädigt. Der daraus resultierende Stromausfall wirkte sich auch auf die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung im Gazastreifen aus (ICG 10.8.2021). Auch wurde eine Wasserentsalzungsanlage bei einem israelischen Angriff getroffen, wodurch die Wasserversorgung für mehr als 250.000 Bewohner des Gazastreifens für rund 12 Tage eingestellt werden musste (AI 2022a). Die WHO warnte unter anderem vor einer verstärkten Ausbreitung von COVID-19, weil sich die vertriebenen Bewohner zum Schutz in Schulen drängten (ICG 10.8.2021).
Human Rights Watch dokumentierte nach eigenen Angaben schwerwiegende Verstöße gegen das Kriegsrecht und offensichtliche Kriegsverbrechen während der Feindseligkeiten (HRW 13.1.2022; vgl. AI 2022a). Bei den israelischen Angriffen wurden zahlreiche Zivilisten getötet und unter anderem vier Hochhäuser zerstört, ohne dass sich diese in der Nähe offensichtlicher militärischer Ziele befunden hätten, wie auch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen willkürliche Raketenangriffe auf israelische Städte durchführten (HRW 13.1.2022). Militante Gruppierungen feuerten aus zivilen Gebieten im Gazastreifen Raketen auf zivile Gebiete in Israel ab. Die israelische Regierung gab an, dass die Hamas und andere Gruppierungen in Gaza zivile Infrastruktur als Schutzschild verwenden würden (USDOS 12.4.2022). Am 21. Mai 2021 trat eine von Ägypten vermittelte Waffenruhe in Kraft (BPB 2.11.2021).
Seit den Kampfhandlungen zwischen Israel und militanten Gruppierungen im Gazastreifen im Mai 2021 konnte noch kein dauerhafter Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien erreicht werden. Es kam zuletzt mehrfach zu Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, der zum Teil mit Luftschlägen der israelischen Streitkräfte beantwortet wurde (AA 24.5.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, Haaretz 18.4.2022b, Al-Jazeera 22.4.2022). Auch Demonstrationen und Zusammenstöße an der Sperranlage sind weiterhin möglich (AA 24.5.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, Al-Jazeera 22.4.2022). Beispielsweise im April 2022 folgten tausende Bewohner im Norden des Gazastreifens Protestaufrufen der Hamas, nachdem die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem zu Beginn des heiligen Monats Ramadan im Zentrum tagelanger Gewalt und erhöhter Spannungen gestanden war (Al-Jazeera 22.4.2022). Ende August/Anfang September 2021 warfen Palästinenser im Grenzbereich zwischen dem Gazastreifen und Israel Sprengkörper und die israelischen Streitkräfte setzten scharfe Munition ein, es kam zu Todesopfern und Verletzten (BAMF 6.9.2021, BAMF 23.8.2021). Das unmittelbar an den Gazastreifen angrenzende Gebiet kann von Feuerballons betroffen sein, die Brände auslösen (AA 24.5.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Seit dem 22.5.2021 und bis zum 8.5.2022 [Anm.: letzte verfügbare Daten] zählte das Office for the Coordniation of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen insgesamt elf Todesopfer im Gazastreifen, darunter vier ZivilistInnen und drei Tote, deren Status umstritten ist, sowie 156 Verletzte [Anm.: insgesamt – hierbei keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten] (OCHA o.D.a).
Die Hamas verhaftete in der ersten Jahreshälfte 2019 Hunderte Salafisten. Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) sind im Gazastreifen momentan nicht stark organisiert, aber die Gefahr, dass sie hier Fuß fassen könnten, ist sehr groß (Zeit Online 8.7.2019). Die Hamas hat in den letzten Jahren IS-Elemente bekämpft, die versuchten, im Gazastreifen eine Präsenz aufzubauen, begrüßte jedoch im März 2022 öffentlich IS-inspirierte Angriffe in Israel (France 24 31.3.2022).
[…]
1.5.3. Rechtsschutz/Justizwesen
Rechtssicherheit wird in Palästina dadurch erschwert, dass immer noch Elemente des osmanischen, britischen, jordanischen, ägyptischen, israelischen (israelische Militärverordnungen) und palästinensischen Rechts (seit 1994) nebeneinander existieren. Darüber hinaus wird in Palästina Gewohnheitsrecht und religiöses Recht (insbesondere im Familienrecht) angewandt. Daneben werden die Beschlüsse des Obersten Palästinensischen Gerichtshofes nicht immer umgesetzt (GIZ 11.2020a). Obwohl die Gesetze der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Gaza formal gültig sind, hat die PA nur wenig Autorität, und die Hamas verfügt über die de facto-Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. Spiegel Online 9.11.2021). Die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas wirken sich auch auf das Justizwesen aus. Nach der Spaltung untersagte die palästinensische Behörde ehemaligen Mitarbeitern der Justizbehörden (und auch der Sicherheitskräfte) im Gazastreifen für die Verwaltung der Hamas zu arbeiten. Sie wurden stattdessen von der palästinensischen Behörde bezahlt, ohne zu arbeiten. Die Hamas stellte Ersatz-Staatsanwälte und Richter ein, die häufig keine entsprechende Ausbildung und Qualifikation für die Aufgaben hatten (GIZ 11.2020a).
Die Gesetze der PA sehen das Recht auf eine unabhängige Justiz sowie einen fairen und öffentlichen Prozess vor. Verfahren sind öffentlich, außer in Sonderfällen, etwa wenn es zum Schutz bestimmter Interessen nötig ist, das Verfahren nicht-öffentlich abzuhalten. Es gilt die Unschuldsvermutung und der Angeklagte hat das Recht, zeitnah über die gegen ihn vorliegende Anklage informiert zu werden. Gemäß Amnesty International werden diese Rechte manchmal nicht gewahrt. Rechtsbeistand ist vorgesehen, auf Kosten des Staates, wenn nötig. Die Angeklagten haben das Recht auf Berufung. Während die PA in der Westbank diese prozeduralen Rechte weitgehend gewährleistet, implementiert sie die Hamas-Behörde im Gazastreifen nur inkonsistent (USDOS 12.4.2022). Dem Gerichtssystem der Hamas gelingt es üblicherweise nicht, einen fairen Prozess zu gewährleisten und in manchen Fällen werden Zivilisten von speziellen Militärgerichten verurteilt (FH 28.2.2022; vgl. USDOS 12.4.2022).
Die Hamas unterhält ein ad hoc-Justizsystem, das getrennt von den Strukturen der PA funktioniert. Das System ist politischer Einflussnahme ausgesetzt, Richtern mangelt es an angemessener Ausbildung und Erfahrung (FH 28.2.2022). Von der Hamas ernannte Staatsanwälte und Richter arbeiteten de facto vor Gerichten, was die PA als illegal ansah. Die Bewohner des Gazastreifens können zivilrechtliche Klagen einreichen, auch wenn es um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen geht; dies ist jedoch nicht üblich (USDOS 12.4.2022). Es gibt Berichte über willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Hamas sowie über politisch motivierte Festnahmen. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage gewesen wären, die Hamas als de facto-Autorität im Gazastreifen zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 12.4.2022). Die Hamas setzte auch weiterhin Beschränkungen für die Bevölkerung des Gazastreifens auf der Grundlage ihrer Auslegung des Islam und der Scharia durch, einschließlich eines von den Gerichten der PA getrennten Justizsystems (USDOS 12.5.2021).
Nach Angaben der israelischen NGO B'Tselem, die darauf hinweist, dass der Transport von Gefangenen außerhalb des besetzten Gebiets gegen internationales Recht verstößt, befanden sich Ende September 2020 etwa 254 palästinensische Sicherheitshäftlinge und Gefangene aus dem Gazastreifen in israelischen Gefängnissen. Die israelischen Militärgerichte, welche die Fälle dieser Gefangenen behandeln, verfügen nicht über die vollständigen Verfahrensgarantien ziviler Gerichte (FH 28.2.2022).
Bewohner des Gazastreifens können von der israelischen Regierung keine Wiedergutmachung oder Entschädigung für Sach- oder Personenschäden verlangen, weil der Gazastreifen nach israelischem Recht als „feindliches Gebiet“ eingestuft ist (USDOS 12.4.2022).
Stammesgerichte spielen in Gaza eine wichtige Rolle für die Stabilität in der Gesellschaft. Die Menschen in Gaza bringen ihre Fälle oftmals lieber vor Stammesgerichte, weil diese meist sehr schnell ein Urteil fällen. Die Stammesgerichte stehen nicht im Widerspruch zur offiziellen Gerichtsbarkeit, sie operieren mit Unterstützung der Letzteren. Problematisch ist, das die Stammesrichter (tribal arbitrators) nicht im selben Maße unparteiisch sind wie offizielle Richter (Al-Monitor 28.3.2018; vgl. USDOS 12.4.2022).
Das Personenstandsrecht ist grundsätzlich abhängig von Religions- und Konfessionszugehörigkeit (WCLAC/DCAF 5.2012; vgl. USDOS 12.4.2022). Islamische oder christliche religiöse Gerichte behandeln Angelegenheiten des Personenstandsrechts, einschließlich Erbschaft, Heirat, Scheidung und Kindesunterhalt. Für Muslime sind Sharia-Gerichte und für Christen geistliche Gerichte der anerkannten Konfessionen zuständig (USDOS 12.5.2021).
[…]
1.5.4. Sicherheitsbehörden
Im Gazastreifen hat die Hamas in allen Gesellschaftsbereichen de facto die Kontrolle. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage sind, die Hamas zur Verantwortung bzw. Rechenschaft zu ziehen. Für die innere Sicherheit in Gaza zuständig sind Zivilpolizei, Wach- und Schutztruppen, eine interne Geheimdienst- und Ermittlungseinheit sowie der Zivilschutz. Für die nationale Sicherheit zuständig sind die nationalen Sicherheitskräfte, die Militärjustiz, die Militärpolizei, der medizinische Dienst und die Gefängnisbehörde. In einigen Fällen nutzen die „zivilen“ Hamas-Behörden de facto den militärischen Flügel der Hamas-Bewegung, um gegen interne Meinungsverschiedenheiten vorzugehen (USDOS 12.4.2022).
Die Hamas verfügt nicht über konventionelles Militär im Gazastreifen, sondern unterhält verschiedene Einheiten von Sicherheitskräften, zusätzlich zu ihrem bewaffneten Flügel, den Izz al-Din al-Qassam-Brigaden. Dieser militärische Flügel untersteht dem politischen Büro der Hamas. Es gibt mehrere andere militante Gruppierungen, die im Gazastreifen operieren, vor allem die Al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Jihad, die normalerweise, aber nicht immer, der Autorität der Hamas unterstehen (CIA 24.5.2022). Die Izz al-Din al-Qassam Brigade kann, gemäß Informationen aus dem Jahr 2014, als etwa 7.000 Mann starke „stehende Armee“ gesehen werden, mit einem Mobilisierungspotential von etwa 25.000 Mann (GS 1.5.2017). Einer Schätzung der CIA zufolge betrug ihre Stärke im Jahr 2021 20.000-25.000 Kämpfer (CIA 24.5.2022). Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (BBC 1.7.2021; EU 4.2.2022; USDOS 16.12.2021), genauso wie Izz al-Din al-Qassam und der Islamische Jihad von der EU als terroristische Gruppierungen eingestuft werden (EU 4.2.2022).
Die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas wirken sich auch auf die Sicherheitskräfte aus. Nach der Spaltung im Jahr 2007 untersagte die palästinensische Behörde ehemaligen Mitarbeitern der Sicherheitskräfte, im Gazastreifen für die Verwaltung der Hamas zu arbeiten. Sie wurden stattdessen von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bezahlt, ohne zu arbeiten. Die Arbeit der palästinensischen Sicherheitsdienste und der Polizei wird jedoch auch durch die israelische Armee behindert, z.B. zerstörte sie während des Gaza-Krieges im Dezember 2008 alle Gefängnisse und Haftzentren in Gaza durch Bombenangriffe (GIZ 11.2020a).
[…]
1.5.5. Folter und unmenschliche Behandlung
Palästina hat im März 2014 die UN-Konvention gegen Folter (UNCAT) unterzeichnet (EU 30.3.2022) und das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verbietet Folter sowie die Ausübung von Gewalt gegen Gefangene. Folter und Misshandlungen kommen jedoch weiterhin in Gaza wie im Westjordanland vor (USDOS 12.4.2022; vgl. EU 30.3.2022) bzw. sind sie weit verbreitet (AI 2022b; vgl. HRW 29.5.2019).
Mit den Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah ab 2007 wurden in beiden Gebieten Aktivisten der jeweils anderen Seite inhaftiert und misshandelt (GIZ 11.2020a). Die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner. Bei der unabhängigen palästinensischen Menschenrechtskommission (ICHR) gingen zwischen Januar und September 2020 75 Beschwerden über willkürliche Verhaftungen und 72 über Folter und Misshandlungen gegen die Hamas-Behörden ein (HRW 13.1.2022).In den letzten vier Jahren wurden insgesamt 782 Beschwerden von Bürgern eingereicht, die angeben, von Vollzugsbeamten im Gazastreifen gefoltert und misshandelt worden zu sein. Unter anderem gingen bei der ICHR auch Beschwerden von Frauen und Kindern ein (ICHR 4.2022).
[…]
1.5.6. Korruption
Gesetzliche Regelungen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sehen Strafen für behördliche Korruption vor (USDOS 12.4.2022). Die von der Hamas kontrollierte Regierung verfügt über keine wirksamen oder unabhängigen Mechanismen zur Gewährleistung von Transparenz in Sachen Finanzierung, der Beschaffung oder ihrer Tätigkeit. Der Hamas wird Korruption bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen und der Verteilung von Hilfsleistungen vorgeworfen (FH 28.2.2022). Im Gazastreifen werfen örtliche Beobachter und NGOs der Hamas Fälle von Mittäterschaft bei korrupten Vorgängen vor, einschließlich Vergünstigungen bei Einkaufskonditionen für Immobilien und der Generierung von Einnahmen in Zusammenhang mit Gebührenforderungen gegenüber Importeuren in den Gazastreifen. Internationale Organisationen wiesen auch auf die Korruption bei der Einstellungspraxis der Hamas hin, das ein System des Klientelismus schuf, welches das Wirtschaftswachstum behindert (USDOS 12.4.2022).
Laut Korruptionsbericht 2021 der palästinensischen Vereinigung AMAN – Coalition for Accountability and Integrity blieben Machtmissbrauch, „Wasta“ oder Vetternwirtschaft und Klientelismus 2021 die häufigste Form der Korruption in Palästina [Anm.: Wasta = gute Beziehungen]. Auch wurde von wirtschaftlicher Korruption wie Geldwäsche, Steuervermeidung und der Anpreisung von verdorbenen/abgelaufenen Lebensmitteln berichtet. AMAN registrierte Verbesserungen bei der Transparenz von öffentlichen Beschaffungen durch die palästinensischen Behörden. Im Gazastreifen ist die Veröffentlichung von Verträgen auf der Website des Finanzministeriums nach wie vor unvollständig (AMAN 2022).
[…]
1.5.7. Wehrdienst und Rekrutierungen
Die Hamas hat kein konventionelles Militär im Gazastreifen, sondern unterhält verschiedene Einheiten von Sicherheitskräften zusätzlich zu ihrem bewaffneten Flügel, der Izz al-Din al-Qassam Brigade. Dieser militärische Flügel untersteht dem politischen Büro der Hamas (CIA 24.5.2022). Es gibt mehrere andere militante Gruppierungen, die im Gaza-Streifen operieren, vor allem die Al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Jihad, die normalerweise, aber nicht immer, der Autorität der Hamas unterstehen (CIA 24.5.2022). Die Izz al-Din al-Qassam Brigaden können, gemäß Informationen aus dem Jahr 2014 als etwa 7.000 Mann starke „stehende Armee“ gesehen werden, mit einem Mobilisierungspotential von etwa 25.000 Mann (GS 1.5.2017). Laut CIA wurde ihre Mannstärke im Jahr 2021 auf 20.000-25.000 Kämpfer geschätzt (CIA 24.5.2022).
Im Jahr 2021 wurde berichtet, dass die Hamas Sommercamps unter dem Motto „Jihad“ abhielt, allerdings gibt es laut dem US-amerikanischen Außenministerium für das Jahr keine Berichte, dass die Hamas Kindersoldaten rekrutierte oder einsetzte (USDOS 12.4.2022). Die Vereinten Nationen verifizierten hingegen im Jahr 2020 die Rekrutierung und den Einsatz von zwei Kindersoldaten durch die al-Qassam-Brigaden (UNSC 6.5.2021).
Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (BBC 1.7.2021; EU 4.2.2022; USDOS 16.12.2021), ebenso wie ihre Izz al-Din al-Qassam Brigaden und der Islamische Jihad von der EU als terroristische Gruppierungen eingestuft werden (EU 4.2.2022).
[…]
1.5.8. Allgemeine Menschenrechtslage
Die Hamas übt im Gazastreifen die de facto-Kontrolle aus und legt der Bevölkerung Restriktionen gemäß ihrer Interpretation des Islam und der Scharia auf (USDOS 12.5.2021). Es wird berichtet von ungesetzlichen oder willkürlichen Tötungen, Folter und willkürlicher Inhaftierung durch Beamte der Hamas, willkürlichen oder unrechtmäßigen Eingriffen in die Privatsphäre, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit, Gewaltandrohungen, Verhaftungen und Verfolgungen von Journalisten, Zensur, Sperren von Websites, wesentlichen Eingriffen in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit, Einschränkungen der politischen Partizipation, Korruption, Gewalt und Gewaltandrohungen gegen LGBTI-Personen, etc. (USDOS 12.4.2022).
Die Religionsfreiheit ist im Gazastreifen eingeschränkt. Das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) erklärt den Islam zur offiziellen Religion Palästinas und besagt, dass „Respekt und Heiligkeit aller anderen himmlischen Religionen (Judentum, Christentum) gewahrt werden sollen“. Blasphemie ist ein kriminelles Vergehen. Die Hamas-Behörden setzen konservative sunnitische islamische Praktiken durch und versuchen, politische Kontrolle über Moscheen auszuüben. Sie erzwingen jedoch keine Gebete in Schulen und zwingen Frauen nicht dazu, einen Hidschab zu tragen, wie es in den ersten Jahren der Kontrolle durch die Hamas üblich war (FH 28.2.2022).
Die Sicherheitskräfte und Kämpfer der Hamas nehmen regelmäßig willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen vor. Das von der Hamas beaufsichtigte Gerichtssystem gewährleistet in der Regel keine ordnungsgemäßen Verfahren, und in einigen Fällen werden Zivilisten von speziellen Militärgerichten vor Gericht gestellt (FH 28.2.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Es ist unklar, wie viele Palästinenser sich in Untersuchungshaft befinden, jedoch sind Berichte über Inhaftierungen ohne Anklage oder Prozess weit verbreitet (USDOS 12.4.2022).
Die Hamas-Behörden führten willkürliche Verhaftungen aufgrund von politischer Zugehörigkeit durch (USDOS 12.4.2022) und verhafteten Gegner und Kritiker wegen ihrer friedlichen Äußerungen. Einige von ihnen wurden in Gewahrsam gefoltert (HRW 13.1.2022). Es gab zahlreiche Berichte darüber, dass die Hamas palästinensische Journalisten zu Unrecht festnahm und Palästinenser verhaftete, die im Internet Kritik an der Hamas im Gazastreifen äußerten. Ungerechtfertigte Inhaftierungen durch die Hamas sind weit verbreitet, insbesondere von Aktivisten der Zivilgesellschaft, Fatah-Mitgliedern, Journalisten und Personen, die beschuldigt wurden, die Hamas zu kritisieren. Auch Personen, die verdächtigt werden, Verbindungen zu Israel zu haben, wurden von der Hamas zu Unrecht inhaftiert (USDOS 12.4.2022).
Die Einschüchterung durch militante Hamas-Kämpfer und andere bewaffnete Gruppen hat Auswirkungen auf die persönliche Meinungsäußerung und private Diskussionen in Gaza. Die Behörden der Hamas überwachen soziale Medien auf kritische Inhalte. Ein HRW-Bericht aus dem Jahr 2018 dokumentierte eine Reihe von Vorfällen, bei denen die Hamas Personen aufgrund ihrer Aktivitäten in den sozialen Medien oder ihrer Teilnahme an politischen Veranstaltungen eingeschüchtert, inhaftiert oder misshandelt hat, vor allem diejenigen, welche als Unterstützer der Fatah oder als Gegner der Hamas-Regierung wahrgenommen wurden. So wurden beispielsweise Personen inhaftiert und zu Social-Media-Beiträgen befragt, die sich kritisch über die Hamas- Führung und deren Umgang mit der Stromknappheit äußerten (FH 28.2.2022). Zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten, dass die Hamas im Gazastreifen Fernsehsendungen und schriftliches Material wie Zeitungen und Bücher zensiert (USDOS 12.4.2022).
Es gibt ein breites Spektrum an palästinensischen NGOs und zivilgesellschaftlichen Gruppen, und die Hamas unterhält ein großes Netzwerk für soziale Dienste. Allerdings hat die Hamas die Aktivitäten von Organisationen, die sich nicht ihren Vorschriften unterwerfen, eingeschränkt, und viele zivilgesellschaftliche Vereinigungen wurden seit der Spaltung der PA im Jahr 2007 aus politischen Gründen geschlossen. Die Hilfs- und Wiederaufbaubemühungen von NGOs nach dem Konflikt mit Israel im Jahr 2014 wurden zum Teil durch Meinungsverschiedenheiten über den Zugang der internationalen Gemeinschaft und der Palästinensischen Autonomiebehörde zum Gazastreifen sowie die Kontrolle über die Grenzübergänge behindert. Die israelische Regierung schränkt auch den Zugang von Menschenrechtlern und NGO-Mitarbeitern zum Gazastreifen ein (FH 28.2.2022).
Die Aktivitäten der Fatah-nahen Palestinian General Federation of Trade Unions, der größten Gewerkschaftsorganisation in den palästinensischen Gebieten, wurden in Gaza eingeschränkt. Die Hamas greift manchmal in Gewerkschaftswahlen oder in die Aktivitäten von Berufsverbänden ein, die mit der Fatah verbunden sind. Die Hamas hat ihre eigenen, parallelen Berufsverbände gegründet, um mit bestehenden Organisationen zu konkurrieren. Aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage, der extrem hohen Arbeitslosigkeit und des dysfunktionalen Gerichtssystems, das die Durchsetzung des Arbeitsschutzes behindert, haben die Arbeitnehmer bei Arbeitskonflikten kaum eine Handhabe (FH 28.2.2022).
Die Haftbedingungen in Gefängnissen im Gazastreifen sind Berichten zufolge schlecht und die Gefängniszellen überbelegt. NGO-Berichten zufolge mangelt es in allen Gefängnissen an angemessenen Einrichtungen und spezieller medizinischer Versorgung für Häftlinge und Gefangene mit Behinderungen. Laut Human Rights Watch führten Mechanismen, mit denen Mitarbeiter und Verwaltungsangestellte zur Rechenschaft gezogen werden sollten, selten, wenn überhaupt, zu Konsequenzen für schwerwiegende Missbräuche. Im Gazastreifen wird dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) Zugang zu Häftlingen gewährt, um Behandlung und Haftbedingungen zu bewerten. Menschenrechtsorganisationen führen Gefängnisbesuche durch. Zu hochrangigen Häftlingen wird der Zugang allerdings verwehrt (USDOS 12.4.2022).
Die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem weist darauf hin, dass die Verbringung von Gefangenen aus dem besetzten Gebiet gegen internationales Recht verstößt. Laut ihren Angaben befanden sich Ende September 2020 rund 254 palästinensische Sicherheitshäftlinge und Gefangene aus dem Gazastreifen in israelischen Gefängnissen. Die israelischen Militärgerichte, welche die Fälle dieser Gefangenen behandeln, verfügen nicht über die vollständigen Verfahrensgarantien ziviler Gerichte (FH 28.2.2022; vgl. AI 2022b). Unter anderem waren palästinensische Gefangene langer Isolationshaft und unzureichender medizinischer Behandlung ausgesetzt (AI 2022).
Menschenrechtsorganisationen beklagen auch zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch Israel in Palästina. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden vom 19.01.2009 bis zum 31.12.2019 im Westjordanland und im Gazastreifen 3.512 Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte getötet, darunter 794 Minderjährige. Bei der israelischen Militäroperation "Protective Edge" im Gazastreifen im Juli/August 2014 kamen nach UN-Angaben mindestens 1.473 Zivilisten ums Leben (GIZ 11.2020a). 2021 war in dieser Hinsicht das tödlichste Jahr seit 2014: israelische Sicherheitskräfte töteten in diesem Jahr laut B’Tselem im Gazastreifen 236 Palästinenser (B’Tselem 4.1.2022). Laut dem Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen wurden zwischen 1.1.2020 und 8.5.2022 [Anm.: dzt. verfügbarer Letztstand] im Gazastreifen im Kontext mit dem Konflikt und der Besetzung 271 Palästinenser getötet, davon 138 Zivilisten, 55 Personen, deren Zugehörigkeit umstritten war, sowie 78 Kombattanten. 2.433 weitere Palästinenser [Anm.: keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten] wurden verletzt (OCHA o.D.a).
Während der Kämpfe im Mai 2021 wurden laut dem Ministerium für Arbeit und Wohnraum in Gaza rund 2.200 Wohneinheiten durch israelische Angriffe schwer beschädigt. Unter anderem bombardierte Israel vier Hochhäuser in Gaza, wodurch die Bewohner ihre Wohnungen und Unternehmer ihre Geschäfte verloren. Israel informierte zwar die Eigentümer der Türme über seine Absichten, gab den Bewohnern und Geschäftsleuten laut der NGO B’Tselem jedoch nicht genügend Zeit, um ihr Hab und Gut aus den Gebäuden zu entfernen. In den Gebäuden untergebrachte Medienorganisationen verloren teure Ausrüstung und über Jahre gesammeltes Material (B’Tselem 15.12.2021).
Israels de facto-Blockade des Gazastreifens, regelmäßige militärische Übergriffe und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit haben die Zivilbevölkerung in große Bedrängnis gebracht, ebenso wie die strenge Kontrolle der Südgrenze durch Ägypten (FH 28.2.2022). Während der Feindseligkeiten im Mai 2021 und bis August des Jahres untersagten die israelischen Behörden die Einfuhr von Baumaterialien und anderen lebenswichtigen Gütern und schränkten den Zugang zu den Hoheitsgewässern des Gazastreifens für palästinensische Fischer ein – Maßnahmen, welche sich gegen die allgemeine Zivilbevölkerung des Gazastreifens richteten, und laut Human Rights Watch (HRW) „einer rechtswidrigen kollektiven Bestrafung“ gleichkommen (HRW 13.1.2022).
Die Palästinenser im Gazastreifen protestierten im August 2021 mehrfach am Zaun zwischen dem Gazastreifen und Israel, um politische und humanitäre Forderungen zu stellen, darunter den Wiederaufbau im Gazastreifen und die Wiedereröffnung der Grenzübergänge [Anm.: Israel hindert Personen auch mit scharfer Munition daran, diese Pufferzonen in der Nähe der Grenze zu betreten (FH 28.2.2022)]. Hunderte nahmen am 21. und 25. August an den Protesten teil, darunter bewaffnete Kämpfer wie auch unbewaffnete Demonstranten. Medienberichten zufolge tötete das israelische Militär während der Proteste drei Personen: einen Kämpfer der Al-Quds-Brigade (AQB), einen 12-jährigen Buben und einen weiteren Mann. Auch ein israelischer Grenzschutzbeamter wurde bei den Protesten getötet (USDOS 12.4.2022).
[…]
1.5.9. Todesstrafe
Im Jahr 2018 unterzeichnete der „Staat Palästina“ die International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR), welche den Einsatz der Todesstrafe stark einschränkt (FH 28.2.2022). Die Hamas-geführten Behörden verhängten Todesurteile ohne ordnungsgemäße Verfahren oder adäquate Berufungsmöglichkeiten (FH 28.2.2022; vgl. USDOS 12.3.2022). Laut Gesetz muss der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde jedes Todesurteil ratifizieren. In den vergangenen Jahren führte die Hamas jedoch die Hinrichtungen ohne die Zustimmung des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde durch (USDOS 12.4.2022; vgl. Spiegel 9.11.2021, FH 28.2.2022).
Die Hamas-Behörden haben 25 Hinrichtungen durchgeführt, seit sie im Juni 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen haben. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem haben die Gerichte in Gaza seit Juni 2007 141 Menschen zum Tode verurteilt (B’Tselem 20.3.2022; vgl. HRW 13.1.2022). Im Jahr 2021 verurteilte die Hamas 21 Personen zum Tod, allerdings wurden laut der Menschenrechtsorganisation Democracy and Media Center (SHAMS) keine Hinrichtungen durchgeführt. Von den zum Tode Verurteilten sollen acht Personen mit Israel kollaboriert haben, und ein Angeklagter wurde wegen Drogendelikten verurteilt. Nach Angaben der SHAMS gibt es weder im Westjordanland noch im Gazastreifen ein Gesetz, einen Erlass oder eine Rechtsvorschrift, die Drogendelikte mit der Todesstrafe ahndet.
Das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (Palestinian Center for Human Rights, PCHR) hatte zuvor festgestellt, dass die Anzahl der verhängten Todesurteile im Gazastreifen seit 2007 erheblich zugenommen hat (USDOS 12.4.2022).
Trotz der Unterzeichnung des Zweiten Protokolls des ICCPR ist die Todesstrafe u.a. im Strafgesetzbuch aus der britischen Mandatszeit (Gesetz Nr. 74 (1936)) in Kraft, was derzeit 15 Fälle im Gazastreifen betrifft. Auf Basis des Militärstrafgesetzes liegen weitere 44 Fälle im Westjordanland und dem Gazastreifen vor. Deshalb müssten diese Gesetze geändert werden. Die palästinensische Menschenrechtsorganisation al-Haq fordert daher eine Klarstellung der ergriffenen Maßnahmen zur Abschaffung der Todesstrafe in Übereinstimmung mit dem Zweiten Optionalen Protokoll des ICCPR (Al-Haq 2.5.2022).
Die israelischen Militärgerichte – die sich auch mit Fällen befassen, in denen Palästinenser im besetzten Westjordanland involviert sind – können die Todesstrafe verhängen (Reuters 3.1.2018), obwohl diese nie ausgeführt wurde (Stroum 31.3.2022). Anfang 2018 gab das israelische Parlament jedoch eine vorläufige Zustimmung zu einem Gesetz, das es einem Gericht erleichtern würde, ein Todesurteil gegen Angreifer zu verhängen, die wegen Mordes in als Terrorismus eingestuften Anschlägen verurteilt wurden (Reuters 3.1.2018).
[…]
1.5.10. Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Das Rechtssystem im Gazastreifen gewährleistet nur wenig Schutz vor Belästigung und Diskriminierung von Frauen (FH 28.2.2022). Das Personenstandsrecht ist grundsätzlich abhängig von Religions- und Konfessionszugehörigkeit (WCLAC/DCAF 5.2012; vgl. USDOS 12.4.2022). Palästinensische Gesetze, teilweise aus der Scharia stammend, und soziale Normen benachteiligen Frauen in den Bereichen Heirat und Scheidung (FH 28.2.2022). Frauen können für den Fall von Scheidung oder Sorgerechtsstreitigkeiten zusätzliche Konditionen in den Ehevertrag einfügen lassen, werden aber generell sozial unter Druck gesetzt, dies nicht zu tun. Frauen werden auch im Erbrecht diskriminiert (USDOS 12.4.2022).
Die Hamas setzt in Gaza eine konservative Auslegung des Islam durch, welche Frauen diskriminiert. Die Behörden untersagen generell die öffentliche Vermischung der Geschlechter. Im Gazastreifen gilt vorehelicher Sex als Straftat, die mit Freiheitsstrafe geahndet wird. Berichte über geschlechtsspezifische Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz in Gaza sind weit verbreitet (USDOS 12.4.2022). Im Februar 2021 erließen die Hamas-Behörden neue Beschränkungen, die es männlichen Vormunden erlauben, die örtlichen Behörden zu ersuchen, unverheiratete Frauen an der Ausreise aus dem Gazastreifen zu hindern, wenn eine solche Reise „absoluten Schaden“ verursachen würde (HRW 13.1.2022).
Frauen genießen eine formelle politische Gleichstellung nach den Gesetzen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und einige Frauen haben 2006 Sitze im Legislativrat (PLC) gewonnen. Frauen sind jedoch größtenteils von Führungspositionen in der Hamas ausgeschlossen und in der Praxis nicht an öffentlichen politischen Veranstaltungen beteiligt. An Versammlungen der Zivilgesellschaft zu politischen Themen nehmen Frauen aktiv teil (FH 28.2.2022).
Vergewaltigung ist nach dem Gesetz der PA illegal, aber die gesetzliche Definition bezieht sich nicht auf Vergewaltigung in der Ehe. Die Strafe bei Verurteilung wegen Vergewaltigung beträgt fünf bis 15 Jahre Haft. Die Palästinensische Autonomiebehörde hob 2018 ein Gesetz auf, das einen Vergewaltiger von der strafrechtlichen Verantwortung befreite, wenn er sein Opfer heiratete. Weder die Palästinensische Autonomiebehörde noch die Hamas setzten die Gesetze zur Vergewaltigung im Westjordanland und im Gazastreifen wirksam durch (USDOS 12.4.2022). Häusliche Gewalt ist laut Gesetz der PA nicht explizit verboten. Gesetze wurden in Fällen von häuslicher Gewalt weder von der PA noch von der Hamas effektiv durchgesetzt (USDOS 12.4.2022; vgl. al-Monitor 25.6.2021).
Laut einer Stellungnahme der Menschenrechtsorganisation United Nations Watch an die Generalversammlung der Vereinten Nationen ist häusliche Gewalt gegen Frauen im Gazastreifen weit verbreitet (UNGA 8.6.2021). Vergewaltigung und häusliche Gewalt werden selten gemeldet und bleiben traditionell straffrei, weil die Behörden Berichten zufolge zögern, solche Fälle zu verfolgen. Im Jahr 2019 begann die Palästinensische Autonomiebehörde mit der Ausarbeitung eines Gesetzes, das ein Mindestalter für die Eheschließung festlegt, härtere Strafen für Personen vorsieht, die häusliche Gewalt ausüben, und den Schutz für Überlebende häuslicher Gewalt verbessert. Im September 2020 forderte die Hamas die Palästinensische Autonomiebehörde auf, das Gesetz zu widerrufen, bis ein neues Parlament eingesetzt ist. Berichten zufolge kommt es weiterhin zu so genannten „Ehrenmorden“, obwohl die Informationslage zu Gaza begrenzt ist (FH 28.2.2022). Die Zahl der getöteten Frauen im Westjordanland und im Gazastreifen ist in den letzten Jahren gestiegen und hat sich mit der weltweiten Verbreitung von COVID-19 sogar noch verschärft, was auf die Zunahme häuslicher Gewalt während der verhängten Lockdowns und dem Einschließen von Frauen mit ihren Tätern zurückzuführen ist. Die palästinensische Nichtregierungsorganisation Women’s Centre for Legal Aid and Counselling (WCLAC) dokumentierte 37 Fälle von Femiziden im Jahr 2020, verglichen mit 21 Fällen im Jahr 2019. In den Jahren 2016-2018 dokumentierte das WCLAC 76 Fälle von Femizid im Westjordanland und im Gazastreifen (Al-Muntada et al. 5.2022).
Die Hamas-Behörden setzen Beschränkungen für Kleidung und persönliche Verhaltensweisen durch, die sie für unmoralisch halten. Deren Durchsetzung wurde in den letzten Jahren jedoch lascher (FH 28.2.2022). In den wichtigsten städtischen Gebieten des Gazastreifens zwingt die Hamas Frauen nicht, den Hijab zu tragen, wie es in den ersten Jahren unter ihrer Kontrolle der Fall war. In der von der Hamas geführten Islamischen Universität sind die Studierenden nach Geschlechtern getrennt, und Frauen sind verpflichtet, ihr Haar zu bedecken. Die Hamas interveniert in den von ihr kontrollierten Schulen, um ihre Ansichten über islamische Identität und Moral durchzusetzen. Sie greift nicht in großem Umfang in private Universitäten ein, aber die von der Hamas geführte Polizei hat Studentendemonstrationen gewaltsam unterdrückt. Es wird angenommen, dass einige Akademiker im Gazastreifen Selbstzensur üben (FH 28.2.2022). Sich in Hosen und ohne Kopfbedeckung zu zeigen, kann jedoch dazu führen, dass Frauen – nicht nur von Männern – angepöbelt und beschimpft werden. Vielfach ist es für Frauen auch nicht möglich, das Haus ohne männliche Begleitung zu verlassen (SZ 17.8.2018).
Im Jahr 2019 wurde in den sozialen Medien der Hashtag #MeTooGaza eingeführt, der palästinensische Frauen dazu ermutigt, ihre eigenen Erfahrungen mit Missbrauch und Belästigung zu teilen (FH 28.2.2022).
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Kinder
Im Gazastreifen gibt es öffentliche, private und vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betriebene Schulen (Xinhua 16.8.2021). Öffentliche Schulen und von der UNRWA betreute Schulen unterrichteten nach demselben Lehrplan wie im Westjordanland (USDOS 12.4.2022). Im Jahr 2020 führte die COVID-19-Pandemie zu Schulschließungen und es gab Schwierigkeiten beim Zugang zum Online-Unterricht. UNICEF berichtet, dass 575.000 Kinder im Gazastreifen keinen Zugang zu Computern, zuverlässiger Stromversorgung und Internet hatten. Im Gaza-Streifen arbeiten die meisten Schulen nach einem geteilten Stundenplan und bieten nur 4 Stunden Unterricht pro Tag an. Überfüllte Klassenzimmer, Gewalt in den Schulen und Schäden an den Schulen, die für wetterbedingte Unterbrechungen des Unterrichts anfällig sind, tragen dazu bei, dass einige Kinder die Schule abbrechen (USDOL 29.9.2021). Bei den Kampfhandlungen im Mai 2021 (HRW 13.1.2022), wie auch schon zuvor, wurden unter anderem auch Bildungseinrichtungen beschädigt (UNSC 6.5.2021). Palästinenser in Gaza berichteten, dass die Einmischung der Hamas in die öffentlichen Schulen auf Primar-, Sekundar- und Universitätsebene aufgrund der COVID-19-bedingten Schulschließungen und der Konzentration auf den Online-Unterricht erheblich zurückgegangen sei (USDOS 12.4.2022).
Berichten zufolge bot die Hamas in ihren Schulen im Rahmen von Sommerlagern für Jugendliche Kurse zur militärischen Ausbildung an, für die sich schulpflichtige Kinder um Aufnahme bewerben konnten. Allerdings gab es im Jahr 2021 keine Berichte, dass die Hamas Kindersoldaten rekrutierte oder einsetzte (USDOS 12.4.2022). 2020 verifizierten die Vereinten Nationen dagegen die Rekrutierung und den Einsatz von zwei Kindersoldaten durch die al-Qassam-Brigaden (UNSC 6.5.2021).
Die Palästinensische Autonomiebehörde hat Gesetze und Verordnungen zu Kinderarbeit erlassen. Der Rechtsrahmen im Westjordanland und im Gazastreifen weist jedoch Lücken auf, die einen angemessenen Schutz der Kinder vor den schlimmsten Formen der Kinderarbeit, einschließlich des Kinderhandels, verhindern (USDOL 29.9.2021). Die Hamas hat die Gesetze zur Kinderarbeit im Gazastreifen nicht wirksam durchgesetzt; dennoch ist der Prozentsatz der Kinderarbeit im Gazastreifen niedriger als im Westjordanland, was mit der hohen Arbeitslosigkeit in allen Teilen der Gesellschaft und der damit einhergehenden Konkurrenz um Arbeitsplätze in Verbindung gebracht wird. Berichten zufolge ermutigte die Hamas Kinder, Kies und Metallschrott von Bombenabwurfstellen zu sammeln, um sie an Recycling-Händler zu verkaufen. Die Hamas rekrutierte Jugendliche für den Tunnelbau. Kinder arbeiteten informell in Werkstätten, oftmals als Hilfskräfte von Mechanikern und halfen beim Reifenwechsel. Aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Not im Gazastreifen war das Betteln auf der Straße, vor allem durch Kinder, von denen die Jüngsten drei Jahre alt waren, im gesamten Gazastreifen üblich, und die Hamas versuchte nicht mehr, diese Praxis zu unterbinden (USDOS 12.4.2022).
Das im Westjordanland und im Gazastreifen geltende Strafgesetzbuch erlaubt die körperliche Züchtigung von Kindern durch die Eltern, was nach wie vor eine weit verbreitete Praxis ist (HRW 13.1.2022). Andererseits verbietet das Gesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Gewalt gegen Kinder; die Behörden der PA und der Hamas im Gazastreifen bestraften jedoch nur selten Personen, denen Gewalt in der Familie vorgeworfen wurde. Berichte über häusliche Gewalt nahmen unter den Coronavirus-Notstandsverordnungen zu (USDOS 12.4.2022).
Kinderehen scheinen im Westjordanland und im Gazastreifen nicht weit verbreitet zu sein, wie NGOs berichten (USDOS 12.4.2022). Mädchen sind im Gazastreifen jedoch anfällig für Kinderheirat und frühe Schwangerschaft. Sie sind nicht nur durch das nationale Recht – das die Heirat von Mädchen im Alter von 16 Jahren erlaubt – schlecht geschützt, sondern stehen auch unter erheblichem Druck seitens ihrer Familien, früh zu heiraten, um die „Ehre“ zu wahren, und auch aufgrund von wirtschaftlicher Not. Aus einem Bericht der palästinensischen Statistikbehörde (PCBS) von 2020 geht hervor, dass 17% der Frauen im Gazastreifen im Alter von 20 bis 24 Jahren zum ersten Mal geheiratet haben, bevor sie 18 Jahre alt waren (al-Bayoumi et al. 10.2021).
Im Gazastreifen droht Verdächtigen, die der Vergewaltigung eines Opfers, das jünger als 14 Jahre ist, überführt werden, unter der Herrschaft der Hamas die Todesstrafe. Berichten zufolge führten gesellschaftliche Normen im Gazastreifen dazu, dass der Hamas die sexuelle Ausbeutung von Kindern oftmals nicht gemeldet wurde. Im Gazastreifen gibt es kein gesetzliches Schutzalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, weil eine Heirat vor dem Geschlechtsverkehr gesetzlich vorgeschrieben ist (USDOS 12.4.2022).
Im Gazastreifen kommt es vor allem durch Offensiven des israelischen Militärs und umherfliegende Schrapnelle bei israelischen Luftangriffen, wie auch bei Einsätzen israelischer Sicherheitskräfte bei Protesten entlang des Grenzzauns zu Todesopfern und Verletzten unter palästinensischen Kindern (DCIP o.D.; vgl. UNSC 6.5.2021). Von bewaffneten Gruppierungen aus dem Gazastreifen auf israelisches Territorium abgeschossene Raketen verursachen auch Opfer im Gazastreifen (AI 2022b; vgl. UNSC 6.5.2021): Nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation al-Mezan forderten im Mai 2021 aus Gaza abgefeuerte Raketen im Gazastreifen mindestens 20 Tote, darunter ein Sechs- und ein Vierzehnjähriger, wie auch 80 Verletzte (AI 2022b). Insgesamt wurden während der Kämpfe im Mai 2021 im Gazastreifen neben 194 erwachsenen Palästinensern 66 Kinder getötet (HRW 13.1.2022). Durch den bewaffneten Konflikt wurde eine große Zahl palästinensischer Kinder im Westjordanland und im Gazastreifen vertrieben (USDOS 12.4.2022).
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Homosexuelle
Die palästinensische Gesellschaft ist in vielfacher Hinsicht konservativ und traditionell eingestellt und steht Homosexualität grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die negativen Reaktionen gehen von sozialer Ausgrenzung bis hin zu körperlicher Gewalt. Palästinensische politische Organisationen vermeiden das Thema LGBTI-Rechte. Dennoch gibt es Organisationen, die versuchen, die Situation für LGBTI in Palästina zu verbessern, u.a. durch rechtliche Beratung und psychologische Unterstützung (GIZ 11.2020c). Im Gazastreifen ist immer noch die Verordnung 74 des Strafgesetzbuches aus britischer Mandatszeit von 1936 in Kraft. Abschnitt 152(2) des Gesetzes sieht für sexuelle Akte zwischen Männern eine Haftstrafe von bis zu 10 Jahren vor (GIZ 11.2020c; FH 28.2.2022). Das in Gaza geltende Rechtssystem bietet gefährdeten Gruppen wie LGBT+-Personen, nur wenig Schutz vor Belästigung und Diskriminierung (FH 28.2.2022). Gleichgeschlechtliche Ehen und eingetragene Partnerschaften sind rechtlich nicht anerkannt und offen werden solche Beziehungen nicht gelebt (GIZ 11.2020c). Homosexualität ist im Westjordanland und im Gazastreifen weiterhin ein soziales und religiöses Tabuthema (AA 24.5.2022).
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1.5.11. Bewegungsfreiheit
Innerhalb des Gazastreifens: In dem Bemühen, die Verbreitung von COVID-19 zu bekämpfen, setzte die Hamas gelegentlich Beschränkungen der Bewegungsfreiheit im Gazastreifen durch (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 28.2.2022). Der Druck, sich der Auslegung der islamischen Normen durch die Hamas anzupassen, schränkte im Allgemeinen die Bewegungsfreiheit von Frauen ein, die oft in Gruppen reisen mussten, wenn sie bestimmte öffentliche Bereiche wie den Strand besuchten. Vereinzelt wurde berichtet, dass Sicherheitsbeamte von Männern den Nachweis verlangten, dass es sich bei einer Frau, die sie an einem öffentlichen Ort begleitete, um ihre Ehefrau handelte (USDOS 12.4.2022).
Ein- und Ausreise aus dem Gazastreifen: Die Bewegungsfreiheit der Bewohner des Gazastreifens ist stark eingeschränkt, die Bedingungen haben sich in den letzten Jahren weiter erschwert. Sowohl Israel als auch Ägypten überwachen die Grenzgebiete streng, und die Hamas verhängt ihre eigenen Beschränkungen (FH 28.2.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Kurzfristige und unangekündigte Totalsperrungen des Gazastreifens sind jederzeit möglich (BMEIA 24.5.2022). Im Februar 2021 erließen die Hamas-Behörden neue Beschränkungen, die es männlichen Vormunden erlauben, die örtlichen Behörden zu ersuchen, unverheiratete Frauen an der Ausreise aus dem Gazastreifen zu hindern, wenn eine solche Reise „absoluten Schaden“ verursachen würde (HRW 13.1.2022; vgl. USDOS 12.4.2022).
Die Hamas setzte im Gazastreifen gelegentlich Bewegungsbeschränkungen für Palästinenser durch, die versuchten, den Gazastreifen über die Grenzübergänge Erez nach Israel und Rafah nach Ägypten zu verlassen. Sie verlangte Ausreisegenehmigungen von Palästinensern, die den Gazastreifen über den israelischen Grenzübergang Erez verlassen wollten. Sie hinderte einige Palästinenser an der Ausreise aus dem Gazastreifen, wobei sie sich auf den Zweck ihrer Reise berief oder die Zahlung von Steuern und Geldbußen erzwingen wollte (USDOS 12.4.2022).
Palästinenser, die nach Gaza zurückkehren, werden regelmäßig von der Hamas über ihre Aktivitäten in Israel, im Westjordanland und im Ausland verhört (USDOS 12.4.2022). Palästina verfügt über keinerlei Souveränitätsrechte, was die Einreise und den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern betrifft. Allein zuständig für die Erteilung von Visa ist der Staat Israel (GIZ 11.2020d). Aber die Hamas schränkte dennoch die Einreise von Ausländern in den Gazastreifen ein, es sei denn, eine anerkannte örtliche Einrichtung beantragte die Einreise vor der Ankunft. Die Hamas hat mehreren internationalen Journalisten die Einreise verweigert, weil es keine lokalen Agenturen oder Personen gab, die in ihrem Namen Genehmigungen beantragten (USDOS 12.4.2022).
Israelische Beamte verhängten aufgrund von Sicherheits- und Wirtschaftsbedenken Beschränkungen für den Material-, Waren- und Personenverkehr in und aus dem Gazastreifen, wobei auch NGOs wie Amnesty International und Human Rights Watch, sowie die Vereinten Nationen, berichteten, dass ihre Mitarbeiter von den Einschränkungen betroffen waren und keine Genehmigungen erhielten. Die israelische Regierung erklärte, dass alle Anträge auf Ausreise aus dem Gazastreifen von Fall zu Fall unter Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten geprüft werden, die sich aus der de facto-Kontrolle der Hamas über den Gazastreifen ergeben (USDOS 12.4.2022).
Israel hält eine starke Sicherheitspräsenz an den Land- und Seegrenzen des Gazastreifens aufrecht und hindert Personen auch mit scharfer Munition daran, die Pufferzonen in der Nähe dieser Grenzen zu betreten (FH 28.2.2022). Im September 2021 hat Israel eine Lockerung der Auflagen für das palästinensische Küstengebiet angekündigt. So wurde die Fischereizone vor dem palästinensischen Gazastreifen auf 15 Seemeilen (knapp 28 Kilometer) ausgeweitet, der Warenübergang Kerem Schalom in das blockierte Gebiet wieder vollständig geöffnet, und Israel will die Zahl der Einreisegenehmigungen für Geschäftsleute aus dem Gazastreifen von 5.000 auf 7.000 erhöhen (Spiegel 1.9.2021).
Korruption und Bestechung an den Grenzübergängen sind weit verbreitet (FH 28.2.2022).
Reise von/nach Israel und die Westbank:
Israel hat weitreichende Beschränkungen des Personen- und Warenverkehrs in und aus dem Gazastreifen verhängt, wobei Israels Abriegelungspolitik laut Human Rights Watch von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht auf einer individuellen Bewertung des Sicherheitsrisikos einer Person basiert (HRW 13.1.2022). Israel verweigert den Einwohnern des Gazastreifens oft aus Sicherheitsgründen die Erlaubnis, das Gebiet zu verlassen, und erlaubt nur bestimmten Patienten aus medizinischen Gründen sowie anderen Personen die Ausreise. Universitätsstudenten haben Schwierigkeiten, die notwendigen Genehmigungen zu erhalten, um das Gebiet zu verlassen und im Ausland zu studieren (FH 28.2.2022). Ansuchen auf eine Umsiedlung in die Westbank werden normalerweise abgelehnt (Hamoked/B’Tselem 1.2014). Der Gaza-Streifen ist seit Juni 2007 für den allgemeinen Personenverkehr von und nach Israel fast vollständig abgeriegelt. Der einzige Personenübergang zwischen Israel und dem Gaza-Streifen, Erez, ist zurzeit insbesondere für humanitäre Fälle und internationale Organisationen geöffnet (AA 24.5.2022). Die Einreise nach Israel aus dem Gazastreifen via Erez-Checkpoint ist nur möglich, wenn die Ausreise aus Israel nach Gaza ebenso dort erfolgte. Personen, die nach Gaza über Rafah (Ägypten) einreisen, müssen wieder über Rafah ausreisen (BMEIA 24.5.2022).
Im Jahr 2021 verließen insgesamt 90.421 Menschen den Gazastreifen via Erez Richtung Israel, rund 87.000 reisten über diesen Weg nach Gaza ein. In den ersten vier Monaten des Jahres 2022 reisten rund 114.000 Menschen via Erez aus Gaza aus und rund 113.000 reisten ein. Die Zahl der Grenzübertritte lag zwischen Jänner und April 2022 deutlich höher als in den meisten anderen Monaten seit 2008 (OCHA o.D.b). Mit Stand April 2022 hat Israel rund 12.000 Ausreiseerlaubnisse zu Arbeitszwecken für Bewohner des Gazastreifens nach Israel ausgestellt. Als Ende April 2022 Raketen aus dem Gazastreifen nach Israel abgefeuert wurden, hat Israel den Grenzübergang Erez zwei Tage lang für Arbeiter und Händler gesperrt (Gisha 26.4.2022), im Mai 2022 folgte eine weitere Grenzschließung (Gisha 11.5.2022).
Tausende von Familien im Gazastreifen haben Verwandte, die im Westjordanland oder innerhalb der Green Line [Anm.: im Staat Israel] leben. Jedoch gibt es laut der israelischen NGO Gisha (Legal Center for Freedom of Movement) Hindernisse und Beschränkungen für die Erteilung von Genehmigungen zum Besuch von Verwandten im Gazastreifen oder außerhalb. Anträge können nur gestellt werden, um einen Verwandten ersten Grades (ein Elternteil, Geschwister, Kind oder Ehepartner) bei Heirat, kritischer Krankheit oder Todesfall zu besuchen (Gisha 18.11.2021). Nach Angaben von Gisha verweigerten die israelischen Behörden einige Ausreiseanträge von Einwohnern des Gazastreifens mit der Begründung, die Antragsteller seien „Verwandte ersten Grades von Hamas-Aktivisten“ (USDOS 12.4.2022).
Die israelischen Behörden lehnten palästinensische Anträge auf Reisegenehmigungen für den Erez-Übergang unter Anführung von Sicherheitsbedenken häufig ab oder reagierten nicht auf sie, auch nicht für Patienten auf der Suche nach medizinischer Versorgung, die im Gazastreifen nicht verfügbar war (USDOS 12.4.2022). Von den mehr als 15.000 Anträgen auf Erteilung einer Patientengenehmigung aus dem Gazastreifen im Jahr 2021 wurden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation 37 % verzögert oder abgelehnt. Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete z.B im April 2022 von dem Fall einer Patientin im Kleinkindalter, die verstarb, während sich die Genehmigung zur Ausreise für eine lebenserhaltende Operation verzögerte (Haaretz 14.4.2022). Ein Teenager aus Gaza brach im März 2022 sterbend im PA-Gesundheitsministerium in Ramallah zusammen, weil er zu spät die Genehmigung für eine Behandlung in der Westbank erhalten, und die PA die Kosten für die Behandlung trotz vorheriger Garantie nicht übernommen hatte (BBC 27.3.2022).
Gemäß NGOs besitzen 40.000 bis 50.000 Personen im Gazastreifen keine Identifikationskarten, die von Israel anerkannt werden. Einige dieser Personen sind im Gazastreifen geboren, aber Israel hat sie nie als Einwohner Gazas anerkannt, andere wiederum waren im Krieg von 1967 aus Gaza geflohen oder hatten Gaza nach 1967 aus verschiedenen Gründen verlassen, und sind später zurückgekehrt. Eine kleine Gruppe ist in Gaza geboren und nie von dort weggegangen und besitzt ausschließlich Identifikationskarten, die von der Hamas ausgestellt wurden. Gemäß den Osloer Abkommen verwaltet die PA das palästinensische Bevölkerungsregister, obwohl Statusänderungen im Register der Zustimmung der israelischen Regierung bedürfen. Die israelische Regierung hat seit dem Jahr 2000 keine Änderungen des Registers mehr vorgenommen (USDOS 12.4.2022).
Das Office for the Coordniation of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen berichtete, dass einigen seiner Mitarbeiter die Ausreisegenehmigung aus dem Gazastreifen verweigert wurde, weil OCHA mit der Hamas als de facto-Regierung im Gazastreifen zusammenarbeitete, um die Ein- und Ausreise sowie den Transport von UN-Mitarbeitern zu erleichtern. In anderen Fällen berichtete OCHA, dass seine Mitarbeiter Ausreisegenehmigungen erhielten, die israelischen Behörden ihnen jedoch nach stundenlangem Warten an den Grenzübergängen die Ausreise verweigerten (USDOS 12.4.2022).
Reisen von/nach Ägypten:
Der Grenzübergang Rafah stellt die hauptsächliche Ausreisemöglichkeit für den Großteil der zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens dar, weil israelische Ausreisegenehmigungen für die beiden anderen, von Israel kontrollierten Grenzübergänge [Anm.: Erez für den Personenverkehr und Kerem Shalom für den Warenverkehr] schwer zu erhalten sind. Im Zuge der COVID-19- Pandemie war der Grenzübergang zeitweise geschlossen (Al-Jazeera 10.2.2021). Der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten wurde 2021 regelmäßiger geöffnet als 2020, aber die Bedingungen blieben weitgehend unvorhersehbar und restriktiv (FH 28.2.2022). Die von Israel 2007 verschärfte Blockade des Gazastreifens wird inzwischen auch von Ägypten mitgetragen, wobei Ägypten dies, wie auch Israel, mit Sicherheitsinteressen begründet. Beispielsweise im August 2021 war der Grenzübergang nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern für einige Tage geschlossen (Spiegel 26.8.2021). Politische Entwicklungen in Ägypten haben direkte Auswirkungen auf den Gazastreifen, indem die ägyptischen Behörden die Grenze ohne Vorwarnung auf unbestimmte Zeit abriegeln (EDA 8.4.2022).
Der Grenzübergang kann nach Angaben der ägyptischen Behörden regulär nur von Palästinensern mit gültigen Ausweispapieren der PA benutzt werden. Für die Ausreise aus dem Gazastreifen bedarf es der Zustimmung der ägyptischen und palästinensischen Grenzbehörden (AA 24.5.2022).
Hier kann es auch bei erst kürzlich erfolgter Einreise in den Gazastreifen zu Wartezeiten von mehreren Wochen bei der Ausreise kommen (AA 24.5.2022; vgl. Gisha 1.9.2021). Personen, die via Rafah aus Gaza ausreisen wollen, müssen gemäß ägyptischen Vorgaben unter die folgenden Kategorien fallen, außerdem ist eine Vorabregistrierung erforderlich: Einwohner des Gazastreifens mit ausländischem Wohnsitz oder Reisepass, Patienten mit Überweisung zur medizinischen Behandlung in Ägypten und Personen mit Studien-, Arbeits- oder Familienbesuchsvisa für Drittländer. Viele derjenigen, die durch Ägypten reisen möchten, erfüllen diese Kriterien nicht (Gisha 1.9.2021). Die Vereinten Nationen und mehrere internationale NGOs berichteten, dass es für die Palästinenser im Gazastreifen äußerst schwierig war, von der Hamas-Regierung und der ägyptischen Regierung die Erlaubnis zu erhalten, durch Rafah zu reisen, und dass häufig Schmiergelder an die örtlichen Behörden gezahlt werden mussten (USDOS 12.4.2022).
Im Jahr 2021 reisten insgesamt rund 100.000 Personen via Rafah aus dem Gazastreifen aus und rund 81.000 reisten ein. In den ersten vier Monaten des Jahres 2022 reisten rund 39.000 Personen aus Gaza aus und rund 41.000 reisten ein. Dies sind mehr monatliche Grenzübertritte als in allen anderen Monaten seit 2013 (OCHA o.D.b).
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1.5.12. IDPs und Flüchtlinge
Im Gazastreifen leben rund 2,1 Millionen Menschen, davon etwa 1,4 Millionen palästinensische Flüchtlinge (UNRWA 5.2021), die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betreut werden (GIZ 11.2020c). Acht offizielle palästinensische Flüchtlingslager der UNRWA erstrecken sich über den Gaza-Streifen und weisen eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt auf (UNRWA 5.2021).
Auf dem Höhepunkt der Kämpfe im Mai 2021 suchten rund 113.000 Binnenvertriebene in Gaza Schutz in Schulen der UNRWA oder bei Gastfamilien (USDOS 12.4.2022). Rund 8.250 von ihnen waren auch im Oktober 2021 noch binnenvertrieben, vor allem, weil ihre Häuser zerstört oder schwer beschädigt waren (HRW 13.1.2022; USDOS 12.4.2022). Während der Kämpfe zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im Jahr 2014 haben laut OCHA mit Stand April 2019 über 12.000 Palästinensern ihr Heim verloren (HRW 14.1.2020).
UNRWA beschäftigt über 13.000 Mitarbeiter in über 300 Einrichtungen im gesamten Gazastreifen und bietet registrierten palästinensischen Flüchtlingen Bildung, Gesundheits- und psychiatrische Versorgung, Hilfs- und Sozialdienste, Mikrokredite und Nothilfe. Die Zahl der Palästina-Flüchtlinge, die von Nahrungsmittelhilfe der UNRWA abhängig sind, ist von weniger als 80.000 Menschen im Jahr 2000 auf fast eine Million gestiegen (UNRWA 5.2021). Die sozioökonomischen Bedingungen in Gaza haben die Flüchtlinge schwer getroffen. UNRWA berichtete, dass die Ernährungssicherheit weiterhin gefährdet sei. Im März [2020] setzte UNRWA die Verteilung von Nahrungsmitteln in seinen offiziellen Verteilungszentren vorübergehend aus, um eine Ausbreitung von COVID-19 zu vermeiden, begann aber bald darauf mit der Haus-zu-Haus-Lieferung als Alternative (USDOS 12.4.2022). Unter anderem wird UNRWA 2022 in Gaza Lebensmittelhilfe und kurzfristige Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten (UNRWA 2022).
Mehr als 80 Prozent der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens ist auf humanitäre Hilfe angewiesen (HRW 13.1.2022). UNRWA und andere humanitäre Organisationen versorgten Binnenvertriebene im Gazastreifen und im Westjordanland, allerdings mit einigen Einschränkungen aufgrund der israelischen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit. Humanitäre Akteure, darunter UNRWA, das Internationale Rote Kreuz und NGOs, berichteten, dass sie während des Konflikts im Mai 2021 im Gazastreifen Schwierigkeiten hatten, Hilfe zu leisten. Gründe dafür waren unter anderem die Intensität der Bombardierung des Gazastreifens durch das israelische Militär, Schwierigkeiten bei der Koordinierung mit der israelischen Regierung, Beschränkungen des Waren- und Personenverkehrs durch die israelischen Behörden und – in einem bemerkenswerten Fall, in dem Israelis humanitäre Hilfslieferungen über den Kerem-Shalom-Übergang zuließen – ein Mörserangriff der Hamas (USDOS 12.4.2022).
Im Herbst 2018 hat US-Präsident Trump die Hilfen für UNRWA eingestellt. Die USA hatten bis dahin 30 Prozent zum UNRWA-Budget beigesteuert, so viel wie kein anderes Land. Es mussten Einsparungen vorgenommen werden (Zeit 8.7.2019; vgl. DW 18.2.2022). Unter Trumps Nachfolger, US-Präsident Biden, wurden die Zahlungen an UNRWA 2021 wieder aufgenommen, jedoch gab UNRWA Anfang 2022 bekannt, dass es immer noch unterfinanziert sei (DW 18.2.2022). Es gibt Andeutungen seitens des UNRWA-Chefs bezüglich einer möglichen Auslagerung von UNRWA-Aufgaben an andere UN-Organisationen angesichts der weiterhin prekären Finanzierungslage der Organisation (EURACTIV 9.5.2022).
Im Gazastreifen kooperierten die de facto-Behörden der Hamas im Allgemeinen mit UNRWA und erlaubten dieser, ungehindert zu arbeiten. Nach dem Konflikt im Mai 2021 und einem umstrittenen Interview des UNRWA-Direktors für den Gazastreifen kündigte die Hamas an, nicht länger für seine Sicherheit und die seines Stellvertreters garantieren zu wollen, wodurch die beiden ranghöchsten UNRWA-Vertreter aus dem Amt gedrängt wurden (USDOS 12.4.2022).
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1.5.13. Grundversorgung und Wirtschaft
In den Jahren der vollständigen israelischen Besatzung ist die palästinensische Wirtschaft ein reiner Zulieferbetrieb für Israel, eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung gibt es nicht. Auch nach der Schaffung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) blieb die wirtschaftliche Entwicklung von Israel abhängig. Bis heute sind alle Exporte und Importe von der Zustimmung und Genehmigung der israelischen Behörden abhängig (GIZ 11.2020e). Die Blockade des Gazastreifens seit 2007 durch Israel, die durch die ägyptischen Beschränkungen an der Grenze zum Gazastreifen noch verschärft wird, schränkt den Zugang der fast zwei Millionen dort lebenden Palästinenser zu Bildung, wirtschaftlichen Möglichkeiten, medizinischer Versorgung, sauberem Wasser und Elektrizität ein (HRW 13.1.2022; vgl. FH 28.2.2022).
Israelische Behörden schränken den Verkehr von Material, Waren und Personen in den und aus dem Gazastreifen ein (USDOS 12.4.2022), sowohl auf dem Land- als auch auf dem Seeweg. Für den Waren- und Personenverkehr nach bzw. aus Gaza gibt es drei Grenzübergänge: Rafah, Erez und Kerem Shalom (UNRWA o.D.). Kerem Shalom ist der einzige vom Handel genutzte Grenzübergang für den Warenverkehr zwischen dem Gazastreifen und Israel und damit de facto auch für das Westjordanland, obwohl er nie für diese Funktion ausgelegt war. Im Februar 2018 öffnete Ägypten den Grenzübergang Salah a-Din. Der Übergang wird von privaten Unternehmen auf beiden Seiten unter der Aufsicht des ägyptischen Militärs bzw. der Hamas-Behörden im Gazastreifen verwaltet. Er wird nur für den Warentransfer in eine Richtung, nach Gaza, und nur in begrenztem Umfang genutzt (Gisha 3.2020). Die „Coronavirus-Sperre“, die Israel über mehr als ein Jahr am Grenzübergang Erez verhängt hat, hat zusätzlich zu den seit Jahren bestehenden Beschränkungen des Personen- und Warenverkehrs den Verkehr von Händlern, Geschäftsleuten und Arbeitern unterbunden (Gisha 13.4.2021). Der Gazastreifen ist mit großen Einschränkungen im Warenverkehr konfrontiert. Ebenso limitiert Israel die Fischereizone. Vor dem Hintergrund der israelischen Versuche, den Konflikt einzudämmen, wurde 2021 erstmals nach vielen Jahren die Zahl der Arbeitserlaubnisse für Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel erhöht (ADA 4.2022).
Seit Verhängung der Blockade durch Israel 2007 sank die Zahl der Unternehmen in Gaza von rund 3.500 auf geschätzte 250. Mehr als 600 Fabriken wurden geschlossen. Aufgrund von drei großen militärischen Angriffen [Anm.: Stand 2020] übersteigt die Produktionskapazität der verbleibenden Einrichtungen nicht mehr als 16 Prozent der früheren Kapazität. Es wird geschätzt, dass der Privatsektor in Gaza in diesem Zeitraum Verluste in Höhe von etwa 11 Milliarden Dollar erlitten hat (EMHRM 1.2020). Die Blockade des Gazastreifens hat die wirtschaftlichen Möglichkeiten in dem Gebiet stark eingeschränkt. Israels zeitweilige Beschränkungen für die Einfuhr von Baumaterialien haben das Wachstum und die Erholung von den Konflikten behindert, und israelische Patrouillen schränken die Landwirtschaft in der Nähe des Grenzzauns sowie die Fischerei in den Küstengewässern ein. Die Hamas hat Preiskontrollen eingeführt, was die Wirtschaftstätigkeit weiter dämpfen könnte (FH 28.2.2022).
Die palästinensische Wirtschaft stagnierte und die sozioökonomische Lage war bereits vor dem Ausbruch von COVID-19 schwierig. Dies wird auf die israelischen Beschränkungen (in Bezug auf Handel, Freizügigkeit und Zugang), die wiederkehrenden Feindseligkeiten, die interne Spaltung und den Rückgang der Hilfslieferungen zurückgeführt. Zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen besteht ein erhebliches regionales Gefälle bei der Wirtschaftstätigkeit und dem Pro-Kopf-Einkommen. Die Armut ist in Gaza deutlich höher: 46 Prozent der Bevölkerung lebten 2016/17 (aktuellste offizielle Erhebung) unter der Armutsgrenze, verglichen mit nur 9 Prozent im Westjordanland (WB 14.4.2022). Im November 2021 schätzte die Weltbank die Armutsrate in Gaza auf 59 % (TRT 9.11.2021). Die wirtschaftlichen Folgen der russischen Invasion in der Ukraine und die damit verbundenen Sanktionen könnten den Wirtschaftsausblick durch zunehmenden Inflationsdruck beeinträchtigen, ebenso wie die anhaltende Pandemie (WB 14.4.2022). Die Preise für Lebensmittel sind in Gaza in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 gestiegen. Der Status der Ernährungssicherheit hat sich im Gazastreifen nach Angaben des World Food Programme (WFP) zuletzt verschlechtert: Der Anteil der Haushalte mit schwerer Ernährungsunsicherheit lag im März 2022 bei 40,7 %. Damit stieg der Gesamtanteil der Haushalte mit schwerer oder mittelschwerer Ernährungsunsicherheit im Gazastreifen auf 64,4 % (WFP 29.4.2022).
Die Hälfte der Bevölkerung von Gaza ist unter 18 Jahren alt (Gisha 1.9.2021). Im dritten Quartal 2021 waren 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung des Gazastreifens arbeitslos, wobei die Arbeitslosenquote bei den Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren bei 70,4 Prozent lag (FH 28.2.2022; vgl. ILO 2022). Frauen waren häufiger arbeitslos als Männer (ILO 2022; vgl. Gisha 13.4.2021). Das Pro-Kopf-Einkommen liegt aktuell unter dem Wert von 1996. Vor allem im Gazastreifen geht die Wirtschaftsleistung weiterhin zurück (ADA 4.2022). Der durchschnittliche Monatslohn im Gazastreifen beträgt laut der palästinensischen Statistikbehörde 682 Neue Israelische Schekel (NIS) (~207 USD), im Westjordanland dagegen 1.062 NIS (~323 USD). Von den Beschäftigten im Gazastreifen arbeiten 39,2 % im öffentlichen Sektor, entweder für die Palästinensische Autonomiebehörde oder für die lokale Regierung des Gazastreifens. Viele dieser Beschäftigten sind auf Teilzeitbasis angestellt und verdienen im Durchschnitt 96 NIS (~29 USD) pro Tag. Die übrigen Arbeitsplätze befinden sich im privaten Sektor, wo die Beschäftigten im Durchschnitt nur 36,3 NIS (~11 USD) pro Tag verdienen. 79 % der Beschäftigten im privaten Sektor verdienen weniger als 1.450 NIS (~440 USD) pro Monat, was dem Mindestlohn in Gaza entspricht (Gisha 13.4.2021).
80 % der Bevölkerung im Gazastreifen sind von humanitärer Hilfe abhängig (HRW 13.1.2022; vgl. FH 28.2.2022). Zwei Drittel der Bevölkerung Gazas sind palästinensische Flüchtlinge, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betreut werden (GIZ 11.2020e). Die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge, die auf die Nahrungsmittelhilfe von UNRWA angewiesen sind, ist von weniger als 80.000 im Jahr 2000 auf heute fast eine Million gestiegen (UNRWA 5.2021). Der Hamas wird Korruption bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen und der Verteilung von Hilfsleistungen vorgeworfen (FH 28.2.2022).
Die Versorgungslage im Gazastreifen ist schwierig (AA 24.5.2022).Der Zugang zu sauberem Wasser und Elektrizität ist nach wie vor krisenanfällig und wirkt sich auf fast jeden Aspekt des Lebens in Gaza aus. Sauberes Wasser ist für 95 Prozent der Bevölkerung nicht verfügbar (UNRWA 5.2021). Durch die israelische Abriegelung des Gazastreifens ist es schwierig, Geräte und Material für die Wiederinstandsetzung der Wasserinfrastruktur in den Küstenstreifen zu bekommen (Gisha 22.3.2022; vgl. Haaretz 14.7.2021). Aufgrund der Schäden, die während der Eskalation im Gazastreifen im Mai 2021 entstanden sind, ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen für einen großen Teil der Bevölkerung nach wie vor ein täglicher Kampf (UNICEF 8.2.2022). Der reguläre Betrieb aller Anlagen – der Brunnen, Entsalzungs- wie auch Kläranlagen – war gestört, weil die konfliktbedingten Schäden vom Mai 2021 nicht behoben werden konnten und es an Ersatzteilen, Materialien für die regelmäßige Wartung der Rohre, Pumpen und Strom mangelte. Bei den Auseinandersetzungen im Mai 2021 wurde ein Drittel der Wasserrohre beschädigt, was zu offenen Abwasseransammlungen und dem Eindringen von Abwässern ins Grundwasser führte. Laut dem Wasserwerk des Gemeindeverbands von Gaza sank der häusliche Wasserverbrauch pro Person – zum Trinken, Baden und Reinigen – aufgrund der Schäden an der Infrastruktur von etwa 80 Litern pro Tag vor dem Konflikt auf 50-60 Liter pro Tag (die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Mindestmenge liegt bei 100 Litern pro Tag). Auch die Qualität des Wassers hat sich verschlechtert, da der Chloridgehalt erheblich gestiegen ist (Haaretz 14.7.2021). Für Dezember 2021 meldete UNOCHA, dass 81 Liter Leitungswasser pro Kopf zur Verfügung standen (UNOCHA o.D.d). Im September 2021 hatte Israel angekündigt, dass die Wasserversorgung des Gazastreifens um fünf Millionen Kubikmeter erhöht würde (Spiegel 21.9.2021; vgl. UNSC 15.12.2021).
Die öffentliche Stromversorgung ist auf wenige Stunden am Tag beschränkt (AA 24.5.2022), jedoch hat sich die Verfügbarkeit von Elektrizität vergleichsweise verbessert – von 4 bis 5 Stunden auf durchschnittlich bis zu 14 Stunden pro Tag im April 2021 (UNRWA 5.2021; vgl. OCHA o.D.c). Während und nach der militärischen Eskalation im Mai 2021 kam es aufgrund von Schäden an der Strominfrastruktur und Brennstoffmangel zu längeren Stromausfällen. Nach dem Ende der Feindseligkeiten wurde die Stromversorgung wiederhergestellt, und im Januar und Februar 2022 war Strom durchschnittlich 11 bzw. 12 Stunden pro Tag verfügbar (UNHCR 3.2022). Nach Angaben der Stromnetzgesellschaft von Gaza wurde damit 2022 weniger als die Hälfte des Strombedarfs in Gaza gedeckt (198 Megawatt wurden im Durchschnitt täglich durch die Stromversorgung aus Israel sowie Stromerzeugung in Gaza gedeckt, während der nicht gedeckte Bedarf auf rund 250 Megawatt geschätzt wurde) (OCHA o.D.c). Der anhaltende Strommangel beeinträchtigt die Verfügbarkeit wesentlicher Dienstleistungen, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Wasser und sanitäre Einrichtungen, stark und wirkt sich auch negativ auf die Wirtschaft, vor allem im Herstellungssektor und in der Landwirtschaft, aus (UNRWA 5.2021). Ebenso hat der Treibstoffmangel auch Auswirkungen auf öffentliche Dienstleistungen, wie z.B. Kläranlagen (AA 24.5.2022; vgl. Haaretz 14.7.2021).
Bei den Kämpfen im Mai 2021 wurden nach Angaben der örtlichen Behörden durch die tagelangen schweren Bombardierungen 50.000 Häuser im Gazastreifen beschädigt. Mehr als 2.000 wurden entweder vollständig zerstört oder so stark beschädigt, dass sie unbewohnbar waren (TNH 2.5.2022). UNRWA kündigte Hilfen für schätzungsweise 10.000 bedürftige Familien an, deren Häuser beschädigt wurden (UNRWA 29.9.2021). Nach Angaben einer Gruppe, die Hilfsorganisationen koordiniert, welche im Gazastreifen mit dem Bau von Unterkünften befasst sind, wurden bis Mai 2022 mehr als 44.000 der beschädigten Häuser repariert. Der Wiederaufbau von völlig zerstörten Häusern verläuft jedoch langsamer, unter anderem aufgrund von Restriktionen bei der Einfuhr von Baumaterial nach Gaza. Ein weiteres Problem ist die Finanzierung. UNRWA hat Finanzierungszusagen erhalten, welche mit Stand Mai 2022 noch nicht bei der Organisation eingelangt sind (TNH 2.5.2022; vgl. Reuters 13.1.2022). UNRWA ist seit Jahren mit einem Finanzierungsengpass konfrontiert – das Budget liegt regelmäßig Dutzende von Millionen Dollar unter ihrem Bedarf (TI 2.5.2022).
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1.5.14. Medizinische Versorgung
Das palästinensische Gesundheitsministerium stellt keine zentrale Option für den Gazastreifen und das Westjordanland dar, weil die Hamas-Regierung ihr eigenes alternatives palästinensisches Gesundheitsministerium in Gaza hat. Viele Gesundheitsdienste in Palästina werden von gemeinnützigen Organisationen und anderen Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten, bereitgestellt (PCRF 29.3.2022). Es gibt vier Hauptanbieter: UNRWA, NGOs im Gesundheitsbereich, das/die palästinensische(n) Gesundheitsministerium/-ministerien und der private Sektor. Darüber hinaus ist eine spezialisierte tertiäre Gesundheitsversorgung nur durch Überweisungen nach Israel oder in benachbarte arabische Länder möglich (JOGH 2.4.2022).
Das palästinensische Gesundheitssystem vermag nur schwer allen Bürgern die notwendige Versorgung zukommen zu lassen: Es gibt zwar ein palästinensisches Gesundheitsministerium, aber der begrenzte Zugang zu den Gebieten schränkt die Möglichkeiten ein, medizinische Einrichtungen zu bauen, medizinisches Personal auszubilden und die notwendige Versorgung für alle palästinensischen Bürger zu gewährleisten (PCRF 29.3.2022; vgl. Guardian 22.3.2020). Seit Jahren warnen Hilfsorganisationen, dass das Gesundheitssystem Gazas am Rande des Zusammenbruchs steht. Es fehlt an medizinischem Personal und Ausrüstung (TAZ 24.3.2020; vgl. MAP 7.2.2022), der Sektor ist von Versorgungsengpässen betroffen (JOGH 2.4.2022). Nach der Machtübernahme der Hamas vor 15 Jahren und aufgrund der seitdem bestehenden Blockade des Gazastreifens durch Israel und Ägypten sind Ärzte geflohen (NPR 21.4.2022). Die Infrastruktur ist stark beschädigt, die medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet (EDA 8.4.2022), bzw. das Versorgungsniveau deutlich eingeschränkt (AA 24.5.2022). Zusätzlich wird das Gesundheitswesen als politisches Instrument eingesetzt. Die im Westjordanland ansässige PA hat die Hamas-Regierung im Gazastreifen unter Druck gesetzt, indem sie finanzielle Leistungen gekürzt, und die Lieferung von Medikamenten zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen eingeschränkt hat. Der Sektor ist auch von Versorgungsengpässen betroffen, die auf die anhaltende israelische und ägyptische Blockade der Grenzen des Gazastreifens zurückzuführen sind (JOGH 2.4.2022). Das Gesundheitsweisen in Gaza leidet außerdem immer wieder an Stromausfällen. Bei den Kämpfen im Mai 2021 wurden medizinische Einrichtungen beschädigt (HRW 13.1.2022) und medizinisches Personal getötet. Unter anderem wurde auch das Zentrallabor für COVID-19 im Gazastreifen bei einem israelischen Angriff getroffen, was negative Auswirkungen auf das Test- und Impfprogramm im Gazastreifen hatte (AI 2022a).
Nach Angaben der WHO waren im Juni 2021 42 % der „unentbehrlichen“ Arzneimittel mit weniger als einem Monatsvorrat in Gaza vorrätig (HRW 13.1.2022), 33 % der lebenswichtigen medizinischen Güter waren vorhanden (VOA 29.5.2021).
Die COVID-19-Pandemie hat die Sterblichkeit und Morbidität unter den Palästinensern erhöht und das bereits überlastete Gesundheitssystem zusätzlich belastet (UNICEF 8.2.2022). Angesichts der ohnehin schon schwierigen Lebensbedingungen stellt die COVID-19-Pandemie eine besondere Herausforderung dar. Derzeit [Anm.: April 2022] sind ca. 35 % der Bewohner in Gaza geimpft. Dies wurde primär durch die COVAX-Initiative sowie internationale Spenden und die Anschaffungen der PA bewerkstelligt (ADA 4.2022).
Israel erteilt Palästinensern aus dem Gazastreifen Genehmigungen für „lebensrettende Behandlungen“, sofern sie ein unübersichtliches und unsicheres bürokratisches Verfahren überwinden. Die Anträge werden über die Palästinensische Autonomiebehörde eingereicht. Eine Sicherheitsfreigabe durch die israelischen Behörden ist notwendig (Haaretz 14.4.2022; vgl. Gisha 26.5.2022). Israelischen Beamten zufolge werden humanitäre und außergewöhnliche Fälle zugelassen. Laut Menschenrechtsgruppen sind die Kriterien für eine Genehmigung jedoch intransparent (NPR 21.4.2022). Israel genehmigt zwar die meisten Ansuchen, aber nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden von den mehr als 15.000 Anträgen auf Erteilung einer Patientengenehmigung aus dem Gazastreifen im Jahr 2021 37 % verzögert oder abgelehnt (Haaretz 14.4.2022). Im September und Oktober 2021 betrug die Anerkennungsrate 54 % bzw. 61 %, ein Tiefststand in den letzten drei Jahren (UNSC 15.12.2021). Die WHO schätzt, dass Tausende von Menschen beispielsweise Operationen oder Chemotherapien verschieben müssen, und oftmals werden ihre Erkrankungen noch schwerer, während sie warten (NPR 21.4.2022). Im April 2022 wurde von einem Kleinkind berichtet, das verstarb, bevor sein Antrag auf Ausreise zur Behandlung in Jerusalem erteilt wurde (Haaretz 14.4.2022). Ein Teenager aus Gaza brach im März 2022 sterbend im PA-Gesundheitsministerium in Ramallah zusammen, weil er zu spät die Genehmigung für eine Behandlung in der Westbank erhalten, und die PA die Kosten für die Behandlung trotz vorheriger Garantie nicht übernommen hatte (BBC 27.3.2022).
Etwa einer von fünf Patienten geht in ein ägyptisches Krankenhaus, jedoch ist dies weiter entfernt und die palästinensischen Gesundheitsbehörden ziehen es vor, die Patienten in ihrem eigenen System zu behalten, was bedeutet, dass sie über Israel reisen müssen (NPR 21.4.2022).
Es gibt ein psychiatrisches Krankenhaus in Gaza sowie mit Stand August 2021 vier qualifizierte Psychiater für die rund zwei Millionen Bewohner von Gaza (al-Fanar 5.8.2021). Junge Menschen im Gazastreifen leiden in hohem Maß an psychischen Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und anderen stressbedingten Erkrankungen (MSF 1.6.2021; vgl. MEE 24.10.2021). Die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche stieg im Jahr 2020 an, aber aufgrund der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in der palästinensischen Gesellschaft sind sie in Statisken vermutlich unterrepräsentiert (MSF 1.6.2021).
Bewohner des Gazastreifens, die mit Behinderungen leben, sind mit erheblichen Hindernissen konfrontiert. Ein HRW-Bericht aus dem Jahr 2020 stellte eine weit verbreitete Stigmatisierung dieser Bevölkerungsgruppe fest und konstatierte, dass israelische Einfuhrbeschränkungen ihren Zugang zu medizinischer und anderer Ausrüstung behindern (FH 28.2.2022).
[…]
(Quelle: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Palästinensische Gebiete – Gaza, Gesamtaktualisierung am 31.05.2022)
Es herrscht aktuell in Gaza kein landesweiter bewaffneter Konflikt zwischen den genannten Konfliktparteien, der für die Bewohner insgesamt einen Aufenthalt unzumutbar machen würde.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie der vom BF vorgelegten Beweismittel, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Einsichtnahme in vom BVwG beigeschafften länderkundlichen Informationen sowie die Einholung von Auskünften des Melderegisters, des Strafregisters, des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister, des AJ-Web und des Grundversorgungsdatensystems den BF betreffend.
2.2. Seine Identität konnte auf der Grundlage seines vorgelegten Reisepasses im Original, welcher von der Landespolizeidirektion Niederösterreich als unbedenklich eingestuft wurde (AS 125 ff), festgestellt werden.
Die Feststellungen zu seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Staatenlosigkeit, seiner Religionszugehörigkeit, seiner regionalen Herkunft, seinen familiären Verhältnissen, seinem Bildungsniveau, seiner Erwerbstätigkeit in Gaza, den Lebensumständen seiner Herkunftsfamilie in Gaza sowie seinem Gesundheitszustand stützen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben.
Dass er nicht bei UNRWA registriert ist, geht aus seinen Angaben im Verfahren hervor.
Die Feststellungen zum Reiseverlauf zwischen Gaza und Österreich stützen sich auf seine Angaben, welche mit den im Reisepass befindlichen Ein- und Ausreisevermerken der jeweiligen Grenzbehörden sowie dem türkischen Visumsvermerk (AS 125ff) in Einklang zu bringen waren. Aus dem im Behördenakt einliegenden Lichtbild seines Reisepasses ging ebenso hervor, dass dieser am 05.07.2018 von der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah ausgestellt worden war.
Die Feststellungen zum Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber, zu seinem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergaben sich in schlüssiger und unstrittiger Weise in der Zusammenschau seiner eigenen Angaben und den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.
Die Feststellungen zu seinen Deutschkenntnissen gründen auf dem persönlichen Eindruck des erkennenden Gerichtes in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Dort führte er auch aus, dass er bis dato keine Deutschkurse in Österreich besucht habe.
Dass er seit kurzem eine Beziehung mit einer in Österreich lebenden Polin führt und im Bundesgebiet keine sonstigen familiären Anknüpfungspunkte hat, ergab sich in unstrittiger Weise aus seinen persönlichen Angaben im Rahmen der Beschwerdeverhandlung.
2.3. Zur Feststellung, dass er Gaza nicht aufgrund individueller Verfolgung durch einen ehemaligen Geschäftspartner oder durch Mitglieder der Hamas verlassen hat und im Falle einer Rückkehr nach Gaza auch nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt ist, gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:
2.3.1. In seiner Erstbefragung gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er Gaza wegen der Sicherheitslage, der Arbeitssituation, der Probleme und dem Krieg mit der Hamas verlassen habe. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor der Hamas.
In seiner Einvernahme vor dem BFA am 04.06.2020 gab er an, dass er Gaza verlassen habe, da er von Mitgliedern der Hamas verfolgt und bedroht worden sei. Er sei von einem ehemaligen Geschäftspartner namens XXXX , welcher ein Angehöriger der Hamas sei und zugleich auch einen höheren Rang in der Al-Kassam-Miliz bekleide, aufgefordert worden, an einem Trainingskurs teilzunehmen um sich später der Miliz anzuschließen. Er habe sich dieser Aufforderung widersetzt und sei daraufhin von XXXX und weiteren anwesenden Angehörigen der Hamas geschlagen worden. Im Zuge dieser Auseinandersetzung habe er XXXX beschimpft und ihn mit zufällig zuvor auf dessen Mobiltelefon entdeckten dubiosen Geldüberweisungen und Nacktbildern von verheirateten Frauen konfrontiert. Daraufhin sei er weiter misshandelt und mit dem Umbringen bedroht worden, sofern er jemandem von seinen Entdeckungen erzählen sollte. Er sei später bei seiner Arbeit von zwei Männern aufgesucht, bedroht und erneut aufgefordert worden am Training teilzunehmen. Schließlich habe man ihn auch in seinem Elternhaus gesucht, er sei jedoch nicht zu Hause gewesen. Seinen Eltern sei eine polizeiliche Ladung für ihn überreicht worden. Er habe sich sodann zur Flucht entschlossen.
In der Beschwerde wurden im Wesentlichen die Angaben des BF in der behördlichen Einvernahme wiederholt und ergänzend zur Beweiswürdigung der belangten Behörde im Zusammenhang mit seiner legalen Ausreisemöglichkeit über den Grenzposten Rafah nach Ägypten ausgeführt, es sei zwar richtig, dass man dafür eine Ausreisegenehmigung der Hamas benötige und das Vorliegen einer solchen von den ägyptischen Grenzbeamten bei der Einreise kontrolliert werde. Da er keinesfalls mit den Behörden in Gaza in Kontakt treten habe wollen, habe er über eine Art „Versicherungsbüro“ Schmiergeld bezahlt um von den ägyptischen Grenzbeamten nicht aufgehalten zu werden. Über diese Vorgehensweise existiere ein Chatverlauf auf seinem Mobiltelefon. Bei seiner Ausreise aus Gaza habe es bei den palästinensischen Grenzbeamten aufgrund der fehlenden Ausreisegenehmigung keine Probleme gegeben, da der Grenzübergang zu diesem Zeitpunkt federführend von der Fatah kontrolliert worden sei. Auch die Ausstellung seines Reisepasses sei über ein „Reisebüro“ erfolgt. Er habe selbst keinen Kontakt mit den Behörden in Gaza gehabt. Sein Reisepass sei im von der Fatah kontrollierten Westjordanland ausgestellt worden, sodass dieser Umstand nicht geeignet sei seine Verfolgung durch Angehörige der Hamas als unglaubwürdig zu qualifizieren. Bei einer Rückkehr würde er aufgrund seines Wissens über die Umtriebe des XXXX , welcher ein Angehöriger der Hamas sei, von diesem bzw. der Hamas verfolgt werden. Schließlich werde ihm auch wegen seiner Weigerung, bei einem Trainingskurs der Hamas teilzunehmen, eine oppositionelle Haltung gegenüber der Hamas unterstellt und drohe ihm auch deswegen Verfolgung.
2.3.2. Die belangte Behörde führte in ihren beweiswürdigenden Überlegungen zutreffend aus, dass eine behauptete Verfolgungsgefahr ausgehend von der Hamas angesichts seiner legalen Ausreisemöglichkeit über den Grenzübergang Rafah als nicht glaubhaft erscheint. Nach seinen Angaben sei ihm am 21.06.2018 eine polizeiliche Ladung übermittelt und am 25.06.2018 ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden. Hätte die Hamas, welche seit 2007 in Gaza an der Macht ist und dort die Kontrolle über alle Sicherheitseinrichtungen ausübt, tatsächlich Interesse an seiner Verhaftung gehabt, wäre ihm bei lebensnaher Betrachtung des Sachverhaltes eine legale Ausreise aus Gaza am 30.08.2018 nicht möglich gewesen.
In der Beschwerdeschrift wurde auch nicht bestritten, dass für eine Ausreise aus Gaza eine Genehmigung der Hamas erforderlich ist. Seine Ausreise nach Ägypten wurde durch einen entsprechenden Ausreisestempel der palästinensischen Grenzbeamten in seinem Reisepass dokumentiert. Es war daher – entgegen den Behauptungen des BF – davon auszugehen, dass dieser sehr wohl über eine Ausreisegenehmigung der Hamas verfügt hat, widrigenfalls ihm bereits der Grenzübergang auf palästinensischer Seite verweigert worden wäre. In der Beschwerdeschrift wurde zwar angeführt, dass zum Zeitpunkt seiner damaligen Ausreise der Grenzübergang „federführend“ von der Fatah kontrolliert worden sei und daher trotz der vermeintlich fehlenden Genehmigung keine Schwierigkeiten aufgetreten seien. Damit war jedoch einerseits der in der Beschwerde zitierte Bericht des BAMF nicht in Einklang zu bringen. Aus diesem ging hervor, dass Grenzkontrollen von der Fatah-dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde in Zusammenarbeit mit der Hamas durchgeführt wurden. Dass die Hamas überhaupt nicht bei Grenzkontrollen involviert gewesen wäre, war dem Bericht nicht zu entnehmen. Andererseits erhellte nicht, warum ihm eine Ausreise seitens der Palästinensischen Autonomiebehörde ohne entsprechende Genehmigung gewährt worden wäre, musste es dieser schließlich ebenso obliegen das Vorliegen der Voraussetzungen für eine rechtmäßige Ausreise zu kontrollieren. Dass in diese Richtung Schmiergelder geflossen seien, wurde nicht behauptet.
Schließlich war auch die Darstellung des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Zusammenhang mit seiner Ausreise nicht überzeugend. Dort behauptete er, dass er vorab einen Geldbetrag an eine Mittelsperson in einem Reisebüro in Gaza-Stadt bezahlt habe, damit ihm ägyptische Grenzbeamte nicht die Einreise nach Ägypten verweigern. Diese Vorgehensweise sei auch dem in der Verhandlung vorgelegten Chatverlauf mit der Mittelsperson zu entnehmen. Zugleich behauptete er, dass zum damaligen Zeitpunkt der Grenzübergang von der „palästinensischen Regierung“ (gemeint: von der Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde) – und somit nicht von der Hamas – kontrolliert worden sei. Weiter führte er aus, dass die Schmiergeldzahlung an die ägyptischen Grenzbeamten auch deshalb erforderlich gewesen sei, da diese mit der Hamas zusammenarbeiten würden. Dieses Vorbringen war jedoch in sich nicht schlüssig, zumal der Grenzposten seinen eigenen Angaben zufolge gerade eben nicht von der Hamas kontrolliert worden sei und daher die Schmiergeldzahlung an die ägyptischen Grenzbeamten im Hinblick auf seine befürchtete Verfolgung durch die Hamas jeglicher Sinnhaftigkeit entbehrte. Angesichts dieser Ungereimtheiten entstanden auch für das erkennende Gericht erhebliche Zweifel an der Richtigkeit einer behaupteten Verfolgung ausgehend von der Hamas.
Der BF legte im Zuge der Beschwerdeverhandlung Ausdrucke von Chatprotokollen mit einer Mittelsperson in arabischer Sprache vor. Abgesehen davon, dass diesen im Lichte ihrer willkürlichen Herstellbar- bzw. Verfälschbarkeit kein wesentlicher Beweiswert zukam, führte er dazu selbst aus, dass aus diesen schriftlichen Unterhaltungen keine Hinweise auf seine vermeintlich bestehenden Probleme mit der Hamas hervorgehen. Lediglich die Bezahlung von 1.500 USD an die Mittelsperson im Reisebüro, welche eine ungestörte Einreise nach Ägypten gewährleisten solle, sollte damit unter Beweis gestellt werden. Aus den vorgelegten Chatverläufen war sohin für den Fluchtgrund des BF nichts zu gewinnen und bedurfte es daher auch keiner Übersetzung in die deutsche Sprache.
Im Hinblick auf die vorgelegten weiteren Beweismittel (Vorladung zum Polizeizentrum Jabalia vom 21.06.2018; Haftbefehl der Staatsanwaltschaft vom 25.06.2018; Bestätigung über eine Auslieferungserklärung vom 14.02.2019) ist auszuführen, dass auch diesbezüglich mehrere Ungereimtheiten erkennbar waren:
So war zunächst auffällig, dass der Haftbefehl der Staatsanwaltschaft vom 25.06.2018 über eine erfolgte Festnahme des BF berichtete, wiewohl der BF selbst angab, nie festgenommen worden zu sein. Um etwaige Übersetzungsfehler ausschließen zu können, wurde im Zuge der Beschwerdeverhandlung der dort anwesende Dolmetscher um Überprüfung der bereits im erstinstanzlichen Verfahren veranlassten Übersetzung dieses Schreibens (AS 113 ff) ersucht. Auch dabei stellte sich heraus, dass das Schreiben an den Direktor der Polizei von Jabalia gerichtet war um diesen über eine erfolgte Festnahme des BF in Kenntnis zu setzen („Wir schicken Ihnen: […]“; bzw. „Der an Sie übersendete: […]“; „Der Angehaltene: […]“ bzw. „Festgenommen im Zusammenhang mit: […]“). Dass dieses an den Direktor der örtlichen Polizeistation gerichtete Schreiben im Elternhaus des BF von den Polizisten bewusst zurückgelassen worden sei, erscheint wenig plausibel. Sein Erklärungsversuch in der mündlichen Verhandlung, wonach er sich mit diesem Haftbefehl freiwillig bei der Polizeistation einfinden hätte sollen, trug zu einer plausiblen Erklärung der Vorgehensweise der Polizisten nicht bei (OZ 6, 12).
Auch der Inhalt der vorgelegten „Bestätigung über eine Auslieferungserklärung“ vom 14.02.2019 vermochte das Gericht vom behaupteten Fluchtgrund nicht zu überzeugen. Der Übersetzung dieses Schreibens war zu entnehmen, dass der BF „der Justiz entflohen und ins Ausland geflüchtet“ sei (AS 113 ff). Vor dem Hintergrund der Angaben des BF, wonach er nie festgenommen worden sei und im Zusammenhang mit seiner Ausreise jeglichen Kontakt mit den Behörden in Gaza vermieden habe, war nicht nachvollziehbar, woher die Behörde von seiner Flucht ins Ausland Kenntnis erlangt haben soll.
Widersprüche traten auch im Zusammenhang mit der erstmaligen Kenntniserlangung von Ladung und Haftbefehl auf. In der behördlichen Einvernahme gab er an, dass seine Eltern Fotos von diesen Dokumenten angefertigt hätten, nachdem sie diese erhalten hätten. Seine Eltern hätten ihm diese Fotos via WhatsApp gesendet (Einvernahme 04.06.2020, 4). In der Beschwerdeverhandlung führte er hingegen aus, dass er von dem genauen Inhalt der Dokumente erst Kenntnis erlangt habe, nachdem er diese im Original in der Hand gehalten habe. Sein Bruder habe ihm die Dokumente persönlich übergeben und erst als er die Papiere gesehen habe, habe er gewusst worum es genau gehe. Zuvor habe er lediglich den Inhalt der Schreiben „im Groben“ gekannt, da ihn sein Vater telefonisch darüber in Kenntnis gesetzt habe (OZ 6, 13). Dass ihm Lichtbilder von diesen Schriftstücken via WhatsApp übermittelt worden seien, wurde von ihm in der Beschwerdeverhandlung nicht erwähnt.
Auch seine Schilderungen des genauen Ablaufs der Geschehnisse im Zusammenhang mit der Zustellung der polizeilichen Ladung und seinen Aufenthaltsorten zu diesem Zeitpunkt wichen erkennbar voneinander ab. In der Beschwerdeverhandlung führte er aus, dass er zum Zeitpunkt der Zustellung der Ladung in der Arbeit gewesen sei (OZ 6, 11) und erst, nachdem er darüber von seinem Vater informiert worden sei, sei er zu seiner Tante gefahren und habe sich dort versteckt (OZ 6, 13). Vor der Behörde führte er hingegen aus, dass er bereits vor der Zustellung der Ladung bei seiner Tante gewohnt habe. Nachdem sein Vater über einen Arbeitskollegen des BF von Problemen seines Sohnes erfahren habe, habe er ihn aufgefordert das Elternhaus zu verlassen, da er selbst keine Schwierigkeiten mit der Hamas bekommen wollte. Der BF sei daraufhin zu einem Verwandten gegangen und habe ihm von den Vorfällen berichtet. Dieser habe ihm empfohlen sich zu verstecken. Er sei daraufhin zu seiner Tante unter dem Vorwand eines bloßen Besuches gegangen. Am nächsten Tag habe er auch ihr von den Vorfällen berichtet. Nach einer Woche sei ihm dann die polizeiliche Ladung zu Hause zugestellt worden (Einvernahme 04.06.2020, 13).
Darüber hinaus variierte der BF sein Vorbringen von der Aussage, er habe sich nach Erhalt der Ladung bei seiner Tante versteckt, bis hin zu der Behauptung, er sei nach dem Telefongespräch mit seinem Vater zu seinem Onkel mütterlicherseits gegangen (OZ 6, 12 und 13).
Seine Ausführungen waren von derart vielen Widersprüchen geprägt, dass auch insoweit erhebliche Zweifel am Tatsachengehalt seiner Darstellung aufkamen.
Überdies zeigte bereits die belangte Behörde zutreffend auf, dass angesichts seines dreimonatigen unbehelligten Aufenthaltes in Gaza und der problemlosen Organisation seines Reisepasses sowie seiner Ausreise kein tatsächliches Interesse an ihm seitens der Hamas bestanden habe. Im Lichte der Länderberichte, wonach die Hamas die Kontrolle in Gaza ausübt, erscheint es als wenig plausibel, dass sich der BF trotz Nichtbefolgung der polizeilichen Ladung und eines gegen ihn ausgestellten Haftbefehls mehrere Monate in Gaza unbehelligt aufhalten konnte. Zwar habe er sich seinen Angaben nach versteckt gehalten, jedoch ist davon auszugehen, dass es für die Hamas möglich gewesen wäre auf ihn zuzugreifen, vor allem wenn man bedenkt, dass er ein Versteck bei einem Familienmitglied in einer nächst gelegenen Stadt von Jabaila (Bait Lahiya) auswählte. Dass die Hamas nicht weitere naheliegende Erhebungen zu seinem genauen Aufenthaltsort anstellte, erscheint als lebensfremd. Bei einer tatsächlich bestehenden Verfolgungsgefahr ausgehend von der Hamas wäre bei lebensnaher Betrachtung vielmehr zu erwarten gewesen, dass sich diese bei seinen Familienangehörigen über seinen genauen Aufenthalt erkundigt.
Der BF konnte auch eine von seinem ehemaligen Geschäftspartner XXXX ausgehende Verfolgungsgefahr aufgrund seines Wissens über dessen geheime Umtriebe nicht glaubhaft machen. Bereits die Schilderung, wie er in den Besitz des Mobiltelefons und der Aktentasche seines Geschäftspartners gekommen sei, gestaltete sich auffallend widersprüchlich. In der behördlichen Einvernahme führte er aus, dass er mit seinem Geschäftspartner etwas getrunken und sich während dieses Treffens ein Unfall ereignet habe. Ein Mädchen sei von einem Fahrzeug angefahren worden. Sein Geschäftspartner sei zur Unfallstelle geeilt und habe dem Mädchen geholfen. Er habe sie ins Krankenhaus gebracht und den BF ersucht, in der Zwischenzeit auf dessen Tasche aufzupassen (Einvernahme 04.06.2020, 11). In der Beschwerdeverhandlung vermeinte er völlig anders, dass sie beide in einem Auto gewesen seien und einen Verkehrsunfall gehabt hätten, woraufhin sein Geschäftspartner ins Krankenhaus gekommen sei (OZ 6, 14).
Überdies sprach gegen die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens, dass er mehreren Personen über seine Entdeckungen auf dem Mobiltelefon seines Geschäftspartners berichtet habe, ohne über die ihm angedrohte Ermordung nachzudenken („Es waren vielleicht 2 oder 3 oder 1000. Wenn ich mit Menschen beisammen war, habe ich einfach davon erzählt.“, OZ 6, 18). Bedenkt man die angebliche hohe Position seines Geschäftspartners innerhalb der Miliz und seine vermeintlich bereits erlittenen körperlichen Misshandlungen als Folge seiner Weigerung an der Teilnahme an einem Trainingskurs, erscheint diese leichtsinnige Vorgehensweise des BF als lebensfremd.
Nicht nachvollziehbar war darüber hinaus, dass sein Geschäftspartner nicht das Elternhaus des BF aufgesucht habe, obwohl dieser sogar in derselben Straße leben soll. Der BF vermeinte dazu lediglich, dass dieser es nie gewagt habe seine Eltern zu besuchen oder zu befragen, ohne dies näher zu begründen (OZ 6, 19). Auch diese Darstellung erwies sich als unschlüssig.
2.3.4. Insgesamt betrachtet fehlte sohin dem Vorbringen des BF zu den von ihm geäußerten Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen eine substantiierte Tatsachengrundlage. Eine individuelle Verfolgung vor der Ausreise oder die Gefahr einer solchen bei einer Rückkehr konnte er damit nicht glaubhaft darlegen.
2.4. Die Annahme, dass der BF bei einer Rückkehr auch insoweit keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre, als er etwa in wirtschaftlicher Hinsicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde, stützt sich darauf, dass es sich bei ihm um einen arbeitsfähigen Mann mit mehrjähriger Schulbildung und Berufserfahrung handelt. Abgesehen davon leben seine Eltern nach wie vor in Gaza und verfügen diese dort über eine eigene Unterkunft. Bereits vor seiner Flucht lebte er bei ihnen und war daher davon auszugehen, dass er neuerlich bei seinen Eltern – zumindest kurzfristig – wohnen wird können. Dass er in seiner Heimat bei einer Rückkehr eine neue Lebensgrundlage findet, war im Lichte dessen als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen.
2.5. Die vom BVwG getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in Gaza stützen sich auf die länderkundlichen Informationen der Staatendokumentation des BFA. Die Länderfeststellungen stellen sich in den für die gg. Entscheidung wesentlichen Aspekten als ausreichend und tragfähig dar.
Insofern seine Vertretung in der Beschwerdeverhandlung die aktuelle Position von UNHCR zur Rückkehr von Palästinensern nach Gaza vorlegte (UNHCR, Position on Returns to Gaza, März 2022), war darauf hinzuweisen, dass die von UNHCR vertretene Position auch in dem aktualisierten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Eingang fand. Eine „Empfehlung“ von UNHCR, von zwangsweisen Rückführungen nach Gaza abzusehen, mag zwar mit Blick auf die Position dieser Interessensvertretung verständlich sein, Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Abschiebung bilden allerdings die oben genannten rechtlichen Maßstäbe entlang der hg. Judikatur.
3. Rechtliche Beurteilung:
Mit Art. 129 B-VG idF BGBl. I 51/2012 wurde ein als Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu bezeichnendes Verwaltungsgericht des Bundes eingerichtet.
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.
Gemäß Art. 132 Abs. 1 Z. 1 B-VG kann gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.
Gemäß Art. 135 Abs. 1 B-VG iVm § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG) idF BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 59 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, 1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Mit Datum 1.1.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 56/2018.
Mit dem BFA-Einrichtungsgesetz (BFA-G) idF BGBl. I Nr. 68/2013, in Kraft getreten mit 1.1.2014, wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) als Rechtsnachfolger des vormaligen Bundesasylamtes eingerichtet. Gemäß § 3 Abs. 1 BFA-VG obliegt dem BFA u.a. die Vollziehung des BFA-VG und des AsylG 2005 idgF.
Gemäß § 7 Abs. 1 Z. 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheides des Bundesamtes.
Zu A)
1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG hat die Behörde einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht. Darüber hinaus darf keiner der in § 6 Abs. 1 AsylG genannten Ausschlussgründe vorliegen, andernfalls der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden kann.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
Im Hinblick auf die Neufassung des § 3 AsylG 2005 im Vergleich zu § 7 AsylG 1997 wird festgehalten, dass die bisherige höchstgerichtliche Judikatur zu den Kriterien für die Asylgewährung in Anbetracht der identen Festlegung, dass als Maßstab die Feststellung einer Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK gilt, nunmehr grundsätzlich auch auf § 3 Abs. 1 AsylG 2005 anzuwenden ist.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0241; VwGH 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 19.04.2001, Zl. 99/20/0273; VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).
1.2. Das erkennende Gericht kam auf der Grundlage seiner Beweiswürdigung und der darauf gestützten Feststellungen zum Ergebnis, dass der BF die von ihm behauptete Bedrohung durch einen ehemaligen Geschäftspartner und durch Angehörige der Hamas nicht glaubhaft machen konnte.
1.3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher als unbegründet abzuweisen.
2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
2.2. Zu den Kriterien für die allfällige Zuerkennung von subsidiärem Schutz hat sich der Verwaltungsgerichtshof zuletzt in seinem Erkenntnis vom 26.06.2019, Ra 2019/20/0050 bis 0053-10, unter Bezugnahme auf seine vorgehende Judikatur in grundsätzlicher Weise geäußert.
Hatte er zuvor in seinem Erkenntnis vom 6. November 2018, Ra 2018/01/0106, näher dargelegt, dass der Gesetzgeber mit der Bestimmung des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Weiteren kurz: StatusRL) betreffend den Status des subsidiär Schutzberechtigten im Sinn der Auslegung der Bestimmung des Art. 15 lit. b iVm Art. 3 StatusRL entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) und somit fehlerhaft umgesetzt hat (siehe Rn. 45 der Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses), und in diesem Erkenntnis auch darauf verwiesen, dass zur Erfüllung dieser Verpflichtung es der Grundsatz der unionskonformen Auslegung von den mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichten verlangt, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht, so stellte er dem gegenüber, dass die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen findet und nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf (Rn. 47 ff. der Entscheidungsgründe).
Im zitierten Erkenntnis Ra 2018/01/0106 hat der VwGH sodann die Frage, ob § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer dem Unionsrecht (im Sinn der zu Art. 15 StatusRL ergangenen Rechtsprechung des EuGH) Genüge tuenden Auslegung zugänglich ist, ausdrücklich dahingestellt gelassen (Rn. 60 der Entscheidungsgründe). Auch im Beschluss vom 21. November 2018, Ra 2018/01/0461, wurde lediglich darauf hingewiesen, dass es der StatusRL widerspreche, einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten unabhängig von einer Verursachung durch Akteure oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat zuzuerkennen.
Den genannten Entscheidungen war somit - ungeachtet des jeweils vorhandenen Hinweises auf die Unionsrechtswidrigkeit des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 - nicht zu entnehmen, dass der Verwaltungsgerichtshof damit seine bisherige zum Umfang des Anwendungsbereiches des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ergangene Rechtsprechung als nicht mehr beachtlich angesehen hätte.
Zwischenzeitig hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit der Frage, ob in Bezug auf den Status des subsidiären Schutzes eine unionsrechtskonforme Lösung gefunden werden kann (und allenfalls das Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung in Erwägung zu ziehen sein wird), in seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, beschäftigt. Er ist dort zum Ergebnis gelangt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der StatusRL in Übereinstimmung gebracht würde, die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer - unionsrechtlich nicht geforderten - Auslegung contra legem führen würde. Damit würde der StatusRL zu Unrecht eine ihr im gegebenen Zusammenhang nicht zukommende unmittelbare Wirkung zugeschrieben.
Infolge dessen ist an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten.
2.3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zum Ganzen VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Weiters hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN).
2.4. Aus dem oben festgestellten Sachverhalt ergab sich nicht, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen:
Stichhaltige Hinweise darauf, dass der BF im Fall der Rückkehr in seine Herkunftsregion Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, kamen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervor.
Wie oben im Rahmen der Beweiswürdigung bereits dargelegt wurde, liegt im gg. Fall auch eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), nicht vor. Es kamen auch keine gravierenden Erkrankungen des BF hervor.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der BF somit nicht in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), BGBl. Nr. 210/1958 idgF, oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. Nr. 138/1985 idgF, und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. III Nr. 22/2005 idgF, verletzt werden.
Auch konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Vom erkennenden Gericht wird nicht übersehen, dass den Einschätzungen von UNHCR maßgebliches Gewicht zukommt (vgl. VfGH 14.06.2022, E 761/2022 mwN). Vor dem Hintergrund der Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Gaza spricht sich UNHCR weiterhin gegen eine zwangsweise Rückkehr von Palästinensern nach Gaza aus (UNHCR, Position on Returns to Gaza, März 2022, Rz 69). Die allgemeine Sicherheitslage in Gaza war im Lichte der getroffenen Länderfeststellungen jedoch nicht dergestalt einzuschätzen, dass schon mit der bloßen Anwesenheit für jeden Zurückkehrenden das reale Risiko verbunden wäre, Opfer eines Terroranschlags oder sonstiger gewaltsamer Auseinandersetzungen zu werden. Dies auch in Anbetracht einer in jüngerer Vergangenheit geschehenen neuerlichen Eskalation des Konflikts zwischen palästinensischen Gruppierungen und israelischen Militärkräften, die auch Menschenleben auf palästinensischer und auf israelischer Seite forderte, die allerdings zwischenzeitig wieder verebbte. Insbesondere wurde im jüngsten Konflikt eine bislang anhaltende Waffenruhe der Konfliktparteien erreicht.
Auch angesichts einer teils schwierigen allgemeinen Versorgungslage stellt sich die Lage in Gaza nicht dergestalt dar, dass jeder dort Lebende mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre. Hier war zu berücksichtigen, dass sich die Herkunftsfamilie des BF dort nach wie vor unbehelligt aufhält. Seiner Darstellung folgend verfügt seine Familie über eine hinreichende Lebensgrundlage. Seine Familie verfügt über ein familieneigenes Haus. Sein Vater und sein Bruder beziehen Sozialhilfe und können damit den Lebensunterhalt der Familie bestreiten. Darüber hinaus ist es seinem Bruder auch möglich als „Tuk-Tuk-Fahrer“ zusätzliche Einkünfte zu erzielen.
2.5. Vor diesem Hintergrund erwies sich letztlich die Annahme des Bundesamtes, es lägen im gg. Fall keine stichhaltigen Gründe für die Annahme des realen Risikos einer Gefährdung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG vor, als mit dem Gesetz in Einklang stehend, und geht auch das BVwG in der Folge von der Zulässigkeit der Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat aus.
2.6. Insoweit war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
3.1. § 10 AsylG lautet:
(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.
§ 57 AsylG 2005 lautet:
(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.
(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.
(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.
§ 58 AsylG 2005 lautet:
(1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,
4. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder
5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
(2) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.
(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Abs. 3) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Abs. 11 gilt.
(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.
(5a) Solange aufgrund von Maßnahmen, die zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 getroffen werden, die Bewegungsfreiheit oder der zwischenmenschliche Kontakt eingeschränkt ist, sind Anträge auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 abweichend von Abs. 5 nicht persönlich, sondern postalisch oder auf elektronischem Wege beim Bundesamt einzubringen. Bei Stattgebung des Antrags kann der Aufenthaltstitel abweichend von Abs. 12 auch zu eigenen Handen zugestellt werden.
(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Abs. 11 gilt.
(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,
2. bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder
3. gemäß § 5 des Amtssitzgesetzes – ASG, BGBl. I Nr. 54/2021, über einen Lichtbildausweis verfügt oder gemäß § 24 FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist
soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.
(10) Anträge gemäß § 55 sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art. 8 EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß §§ 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist
1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder
2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.
Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.
(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.
(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn
1. ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß § 56 eingeleitet wurde und
2. die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Z 1, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben.
(14) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, durch Verordnung festzulegen, welche Urkunden und Nachweise allgemein und für den jeweiligen Aufenthaltstitel dem Antrag jedenfalls anzuschließen sind. Diese Verordnung kann auch Form und Art einer Antragstellung, einschließlich bestimmter, ausschließlich zu verwendender Antragsformulare, enthalten.
§ 52 FPG lautet:
(1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels, Einreisetitels oder der erlaubten visumfreien Einreise entgegengestanden wäre,
1a. nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß § 31 Abs. 1 wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist,
2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel “Daueraufenthalt – EU” verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Liegt ein Fall des § 55a vor, so wird die Rückkehrentscheidung mit dem Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise durchsetzbar. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaats, in den der Drittstaatsangehörigen abgeschoben werden soll, aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.
§ 9 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 Abs. 1a FPG nicht erlassen werden, wenn
1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, oder
2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.
Art. 8 EMRK lautet:
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
§ 55 FPG lautet:
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
3.2. Der gegenständliche Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz wurde vom BFA zu Recht gemäß §§ 3 und 8 AsylG abgewiesen, die dagegen vom BF erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom heutigen Tag als unbegründet abgewiesen. Die Einreise des BF in das Gebiet der europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Bisher stützte sich dessen Aufenthalt im Bundesgebiet alleine auf die Bestimmungen des AsylG für die Dauer seines nunmehr abgeschlossenen Verfahrens. Ein sonstiger Aufenthaltstitel des drittstaatsangehörigen Fremden ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt des BF im Bundesgebiet mehr vor und fällt er damit nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.
Es lagen keine Umstände vor, dass dem BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargetan.
Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 war diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
3.3. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00).
Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua).
Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:
die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046),
das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),
die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124),
die Bindungen zum Heimatstaat,
die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie
auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00).
In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).
Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u.a., Zl. 26940/10).
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen beeinträchtigt das Recht auf Privatsphäre eines Asylantragstellers dann in einem Maße, der sie als Eingriff erscheinen lässt, wenn über jemanden eine Ausweisung verhängt werden soll, der lange in einem Land lebt, eine Berufsausbildung absolviert, arbeitet und soziale Bindungen eingeht, ein Privatleben begründet, welches das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich solcher beruflicher und geschäftlicher Art zu begründen (Wiederin in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg., 2002, Rz 52 zu Art 8 EMRK).
Nach der Rechtssprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
3.4. Der BF hat keine Verwandten in Österreich. Er führt zwar eine Beziehung mit einer in Österreich lebenden Polin, allerdings besteht weder ein gemeinsamer Haushalt noch fanden sich Anhaltspunkte für ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis, weshalb aus der Beziehung keine familiäre Nahebeziehung iS der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK resultiert und im gg. Fall lediglich das bisher entstandene Privatleben des BF zu beachten war.
Im Hinblick auf sein in Österreich bestehendes Privatleben war zu beachten, dass er sich seit seiner unrechtmäßigen Einreise im November 2019, sohin seit etwa drei Jahren im Bundesgebiet aufhält. Ihm kam seither nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht nach dem AsylG zu. Das Gewicht seines bisherigen Aufenthalts in Österreich war auch dadurch abgeschwächt, dass er seinen Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchte, er konnte alleine durch die Stellung seines Antrages jedoch nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung des Aufenthalts ausgehen.
Wenngleich der mehrjährige Verfahrensgang nicht auf das Verschulden des BF zurückzuführen war, war alleine angesichts des erst knapp dreijährigen Aufenthalts für sich genommen noch nicht von einer maßgeblichen Integration bzw. Verfestigung seiner Interessen auszugehen.
Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende außergewöhnliche Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Sicht waren nicht feststellbar. Er besuchte bislang weder Sprachkurse noch ging er einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Demgegenüber bezieht er für den Lebensunterhalt seit seiner Einreise bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung.
Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, 98/18/0420).
Er verbrachte demgegenüber den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens in Gaza wurde dort sozialisiert und spricht Arabisch als Mehrheitssprache seiner Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Er hat in Gaza elf Jahre die Schule besucht und verfügt auch über Berufserfahrungen im Herkunftsland, weshalb seine Selbsterhaltungsfähigkeit in Gaza angenommen werden kann. Ebenso war festzustellen, dass er dort über Bezugspersonen in Form seiner Eltern und drei Brüder verfügt, auf deren Unterstützung er im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Bereits vor seiner Ausreise konnte er im familieneigenen Haus wohnen. Es deutet nichts darauf hin, dass es ihm im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Zur Beziehung mit seiner hiesigen Freundin galt es zu bedenken, dass es nicht der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Systematik entspricht, dass private bzw. familiäre Anknüpfungspunkte - nach rechtswidriger Einreise und angesichts eines ebensolchen Aufenthalts - im Rahmen eines Automatismus zur Erteilung eines Aufenthaltstitels führen. Dies kann nur ausnahmsweise in Einzelfällen bei Vorliegen eines besonders qualifizierten Sachverhalts der Fall sein (vgl. etwa Erk. d. VfGH U 485/2012-15 vom 12.06.2013).
Diesbezüglich war darauf abzustellen, dass die Beziehung erst seit wenigen Monaten besteht. Es bestand zu keinem Zeitpunkt ein gemeinsamer Wohnsitz und auch sonstige Aspekte einer besonderen Abhängigkeit in persönlicher oder finanzieller Hinsicht sind nicht hervorgekommen. Darüber hinaus waren seine Interessen an der Fortsetzung dieser Beziehung auch dadurch in ihrem Gewicht geschmälert, dass er sich zum Zeitpunkt der Begründung dieser Beziehung darüber im Klaren sein musste, dass er über keine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung verfügte und sohin nicht mit der Fortsetzung dieser Beziehung in Österreich rechnen konnte. Im Übrigen ist es ihm und seiner Freundin möglich, nach seiner Ausreise den Kontakt mittels moderner Kommunikationsmittel (wenn auch in reduzierter Form) aufrechtzuerhalten, und bleibt es ihm unbenommen, in Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen mit einem gültigen Aufenthaltstitel neuerlich in das Bundesgebiet einzureisen.
Der sohin nur sehr schwachen Rechtsposition des BF im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüber.
Letztlich ist auch auf die Judikatur des VwGH zu verweisen, wonach die allfällige Trennung von Familienangehörigen ebenso wie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung im Heimatland im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen sind (vgl. VwGH 09.07.2009, 2008/22/0932; 22.02.2011, 2010/18/0417) und selbst Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der alleinigen Rückkehr auftreten können, hinzunehmen sind (vgl. VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2015/21/0180).
3.5. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG war daher davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des BF im Bundesgebiet dessen persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet jedenfalls überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht bewirkt wird. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden, die im gegenständlichen Fall den Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, rechtfertigen würden.
4. Schließlich sind im Hinblick auf § 52 Abs. 9 iVm. § 50 FPG keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass eine Abschiebung des BF nach Gaza unzulässig wäre (vgl. oben die Erwägungen und Feststellungen zur Frage der Gewährung subsidiären Schutzes).
5. Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung in den Herkunftsstaat vorlagen, war auch die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., IV. und V. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
6. Die festgelegte Frist von 2 Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht § 55 Abs. 2 erster Satz FPG.
Sofern man die aktuellen Ereignisse um die sogen. Corona Virus-Pandemie als möglichen Anlaß für eine andersgelagerte Bemessung dieser Frist in Betracht ziehen würde, steht dem die hg. Rechtsprechung entgegen, der zu Folge es sich bei besonderen Umständen im Sinne dieser Bestimmungen lediglich um solche handelt, die bei der Regelung der persönlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Organisation der freiwilligen Ausreise zu berücksichtigen sind, was aber auf genannte allgemeine Ereignisse nicht umgelegt werden kann (vgl. VwGH 20.02.2014, 2013/21/0114).
Vor diesem Hintergrund waren auch von Amts wegen keine besonderen Umstände iSd § 55 Abs. 2 und 3 FPG feststellbar, derentwegen eine längere Ausreisefrist geboten wäre.
7. Der Vollständigkeit halber war zu erwähnen, dass dem BF am 07.11.2019 mittels Verfahrensanordnung des Bundesamtes aufgetragen wurde, in einem näher bezeichneten Quartier durchgängig Unterkunft zu nehmen. Am 12.11.2019 wurde ihm mittels Verfahrensanordnung des BFA die Aufhebung der Anordnung der Unterkunftnahme mitgeteilt.
"Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht ist nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des (bescheidmäßigen) Spruchs der vor dem Verwaltungsgericht belangten Verwaltungsbehörde gebildet hat (siehe VwGH 9.9.2015, Ro 2015/03/0032; 8.9.2015, Ra 2015/18/0134; jeweils mwN). Der äußerste Rahmen für die Prüfbefugnis des Verwaltungsgerichtes ist die "Sache" des bekämpften Bescheides (siehe VwGH 31.5.2017, Ra 2016/22/0107, Rn. 14, mwN). Entscheidet das Verwaltungsgericht in einer Angelegenheit, die überhaupt noch nicht oder in der von der Rechtsmittelentscheidung in Aussicht genommenen rechtlichen Art nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen ist, im Ergebnis erstmals in Form eines Erkenntnisses, so fällt eine solche Entscheidung nicht in die funktionelle Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes und die Entscheidung ist im diesbezüglichen Umfang mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet (siehe VwGH 27.1.2016, Ra 2014/10/0038, mwN; VwGH 31.01.2019, Ra 2018/22/0086).
Das BFA verabsäumte mit dem gegenständlich angefochtenen verfahrensabschließenden Bescheid über die Verfahrensanordnung abzusprechen (§ 15b Abs. 1 letzter Satz AsylG). Sohin war die Prüfung der Zulässigkeit der Anordnung der Unterkunftnahme nicht Gegenstand des hg. Verfahrens.
8. Es war sohin spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.