JudikaturBVwG

W167 2190608-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
12. September 2022

Spruch

W167 2190608-1/42E (BF1) W167 2190605-1/39E (BF2

Schriftliche Ausfertigung des am XXXX verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Daria MACA-DAASE als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , XXXX , und XXXX XXXX , beide StA. Afghanistan, beide vertreten durch XXXX gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides werden als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum XXXX erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. BF1 und BF2 reisten gemeinsam mit einem Verwandten illegal in Österreich ein und stellten am XXXX in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit den angefochtenen Bescheiden wurden die Anträge von BF1 und BF2 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten bzw. subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I bzw. II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde BF nicht erteilt (Spruchpunkt III). Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den BF erlassen (Spruchpunkt IV), festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V), und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI).

3. Die vertretenen BF1 und BF2 erhoben gegen diese Bescheide Beschwerde.

4. Die Entscheidung wurde in der Verhandlung mündlich verkündet.

5. Fristgerecht stellten BF1 und BF2 einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung der Entscheidung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Allgemeine Feststellungen:

BF1 und BF2 führen die im Spruch genannten Namen und die dort angegebenen Geburtsdaten. Sie sind volljährige Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan. Sie gehören der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam an. Sie haben ihr gesamtes Leben bis zur Ausreise Richtung Europa in Afghanistan verbracht. BF2 hat in Afghanistan als Bauer auf fremden Grundstücken gearbeitet. BF1 und BF2 haben in Afghanistan traditionell geheiratet, sie sind kinderlos. Dari ist ihre Muttersprache. BF1 und BF2 stammen aus der Provinz Baghlan. Sie sind volljährig und arbeitsfähig. BF2 ist gesund. BF1 hat keine aktuellen medizinischen Unterlagen vorgelegt, welche auf eine schwerwiegende Erkrankung schließen lassen, allerdings liegt im Akt eine Stellungnahme XXXX , wonach BF1 an einer komplexen PTBS leidet.

BF1 und BF2 haben Unterstützungsschreiben und auch Unterlagen über Fortbildungsmaßnahmen vorgelegt, welche ihren Integrationswillen belegen. Sie haben auch schon beide ehrenamtlich gearbeitet, BF1 auch auf Dienstleistungsscheck. BF1 hat von einer Unterstützerin eine allgemein gehaltene Einstellungszusage vorgelegt.

BF1 und BF2 sind in Österreich zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zum Fluchtvorbringen

BF1 und BF2 gehören einer ethnischen oder religiösen Minderheit in AFG an, wurden diesbezüglich persönlich aber nicht verfolgt.

BF1 und BF2 sind nicht ins Visier der Taliban geraten.

BF1 und BF2 werden nicht wegen einer angeblich durch den Vater der BF1 ausgelösten Feindschaft verfolgt.

BF1 und BF2 werden nicht von der Familie eines angeblich vom Cousin des BF2 getöteten Paschtunen verfolgt.

Bei der BF1 handelt es sich derzeit um keine Frau, in Österreich in einer Art und Weise lebt, welche in gravierendem Widerspruch zu den afghanischen Werten steht. Sie hat auch in ihrer Zeit in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, welche im massiven Widerspruch zu den afghanischen Werten steht. Sie nutzt zwar die sich ihr in Österreich bietenden Möglichkeiten der Bildung, hat bereits gemeinnützig und auch auf Dienstleistungsscheck gearbeitet und ist um Integration bemüht. Ein im Widerspruch zu den afghanischen Werten stehender Lebensstil ist allerdings nicht erkennbar ein Teil ihrer Identität geworden.

1.3. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Version 07 – auszugsweise:

Politische Lage

Letzte Änderung: 02.05.2022

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a).

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021).

Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Als letzte Provinz steht seit dem 5.9.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (AA 21.10.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021).

Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 7. September, 21. September und 4. Oktober - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung (AAN 7.10.2021). Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine "inklusive" Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Taliban-Regierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er-Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a, AA 21.10.2021)

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine sogenannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (AA 21.10.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75 % (ICG 24.8.2021) bis 80 % des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigung einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar, das Regierungshandeln uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 21.10.2021).

Anfang November 2021 kündigte die Taliban-Regierung an, dass u.a. in 17 Provinzen neue Gouverneure eingesetzt worden seien (TN 8.11.2021). Insgesamt sind bis zu 44 Posten neu besetzt worden (REU 7.11.2021; vgl. TN 8.11.2021).

Trotz der weitverbreiteten Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der ethnischen, politischen und geografischen Vielfalt Afghanistans sowie von Frauen, waren am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure männlich und überwiegend paschtunisch, die Vertretung anderer ethnischer Gruppen war gering. Es wurden zwar zahlreiche Umbesetzungen vorgenommen, um interne Spaltungen zu überwinden, aber alle ernannten Personen sind nach wie vor Taliban-Mitglieder, die meisten Religionsgelehrte und Kleriker. Gegenwärtig ist die politische Opposition gegen die Taliban, die sich größtenteils außerhalb Afghanistans befindet, zersplittert. Einige wenige prominente politische Akteure bleiben im Land und werden gelegentlich von den Taliban konsultiert (UNGASC 28.1.2022; vgl. USDOS 12.4.2022).

Exilpolitische Aktivitäten

Am 28.9.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an (AA 21.10.2021; vgl. ANI 29.9.2021). Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv (AA 21.10.2021).

Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen (AA 21.10.2021; vgl. France 24 17.8.2021). Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (AA 21.10.2021).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 03.05.2022

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor war schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern (UNGASC 28.1.2022) und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres (USDOS 12.4.2022). Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGASC 28.1.2022). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (UNGASC 28.1.2022; vgl. PAJ 21.8.2021, DIS 12.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 985 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einem Rückgang von 91% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 entspricht (UNGASC 28.1.2022). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.9.2021; vgl. DIS 12.2021).

Die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle ging nach dem 15.8.2021 deutlich zurück, von 600 auf weniger als 100 Zwischenfälle pro Woche. Aus den verfügbaren Daten für den Zeitraum bis Ende 2021 geht hervor, dass bewaffnete Zusammenstöße gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 98% von 7.430 auf 148 Vorfälle zurückgingen, Luftangriffe um 99% von 501 auf 3, Detonationen von improvisierten Sprengsätzen um 91% von 1.118 auf 101 und gezielte Tötungen um 51% von 424 auf 207. Andere Arten von Sicherheitsvorfällen wie Kriminalität haben jedoch zugenommen, während sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage rapide verschlechtert hat. Auf die östlichen, zentralen, südlichen und westlichen Regionen entfielen 75% aller registrierten Vorfälle, wobei Nangarhar, Kabul, Kunar und Kandahar die am stärksten konfliktbetroffenen Provinzen sind (UNGASC 28.1.2022).

Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder. Einige der Angriffe werden der National Resistance Front (NRF) zugeschrieben, der einige Persönlichkeiten der ehemaligen Regierung und der Opposition angehören (UNGASC 28.1.2022). Diese formierte sich im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 und wird von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021).

Seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul (DIS 12.2021; vgl. AA 21.10.2021, UNGASC 28.1.2022). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Am 26.8.2021 wurden durch einen Anschlag des ISKP am Flughafen Kabul 170 Personen getötet und zahlreiche weitere verletzt (AA 21.10.2021; vgl. MEE 27.8.2021, AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP, sowie zehn Zivilisten getötet wurden (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021). Am 8. und 15. Oktober 2021 kamen in Kunduz und Kandahar jeweils bei Selbstmordanschlägen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 21.10.2021). Ein weiterer Anschlag am 3.10.2021 in Kabul zielte auf eine Trauerfeier, an der hochrangige Taliban teilnahmen und tötete mindestens fünf Personen (AA 21.10.2021; vgl. AnA 4.10.2021). Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.9.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen (AA 21.10.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in 5 Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (UNGASC 28.1.2022).

Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es auch einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (FP 29.10.2021; vgl. TN 28.10.2021).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchen Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z.B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 12.1.2022).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In vielen Städten suchten die Taliban nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen, bedrohten sie und nahmen sie manchmal fest oder richteten sie hin (HRW 13.1.2022). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021). Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021). Weiters wird berichtet, dass die Taliban die Familienangehörigen der Geflüchteten bedrohen, unter anderem mit dem Tod, oder Lösegeld fordern, falls die Geflüchteten nicht zurückkehren (AI 9.2021; vgl. BBC 31.8.2021).

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung: 02.05.2022

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen, solange diese sich ihnen nicht widersetzten und die Autorität der Taliban akzeptieren (AA 21.10.2021), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vgl. DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vgl. ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, die sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vgl. MMM 20.8.2021).

Die Taliban haben bereits früher biometrische Daten genutzt, um Menschen ins Visier zu nehmen. In den Jahren 2016 und 2017 berichteten Journalisten, dass Taliban-Kämpfer biometrische Scanner einsetzten, um Buspassagiere, die sie für Mitglieder der Sicherheitskräfte hielten, zu identifizieren und summarisch hinzurichten; alle von Human Rights Watch (HRW) befragten Afghanen erwähnten diese Vorfälle (HRW 30.3.2022).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte] (TIN 18.8.2021; vgl. HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Nach Angaben von HRW kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben, wodurch Tausende von Afghanen gefährdet sind. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten (HRW 30.3.2022). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021). Informationen, die ein ehemaliger Regierungsberater mit Human Rights Watch geteilt hat, legen jedoch nahe, dass die Taliban möglicherweise keinen Zugang zu APPS haben (HRW 30.3.2022). Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021). Berichten zufolge verwenden die Taliban auch Listen ehemaliger Beamter (HRW 30.11.2021; vgl. FP 29.10.2021) und ziviler Aktivisten, um deren Kinder ausfindig zu machen (FP 29.10.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (TT 4.9.2021).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen rund um Ausländer und afghanische Ortskräfte nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021).

Einem Bericht des Human Rights Watch nach, führen Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, einschließlich nächtlicher Razzien, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban häufig Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen wurden hingerichtet oder in Gewahrsam genommen, ohne dass ihre Inhaftierung bestätigt oder ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wurde (HRW 30.11.2021).

Zentrale Akteure

Letzte Änderung: 17.01.2022

Die Geschichte Afghanistans ist seit Langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem [Zentral-] Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfern, die in den 1990er-Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. "re-hatting": wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen (AAN 1.7.2020). Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001-15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (AAN 4.6.2021; vgl. AP 25.6.2021).

Mitte August 2021 formierte sich die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021).

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan (USDOD 12.2020), sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (CRS 17.8.2021).

Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als "regierungsfeindliche Elemente" bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als "regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen" bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (UNAMA 26.7.2021).

Taliban

Letzte Änderung: 17.01.2022

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).

Struktur und Führung

Letzte Änderung: 17.01.2022

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.8.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.8.2021). Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hatte (UNSC 1.6.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 6.8.2021).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021). Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.8.2021). Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied der Rahbari-Schura (Quetta-Schura) (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a, AA 21.10.2021). Mullah Abdul Ghani Baradar, der vormalige Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha (RFE/RL 6.8.2021), wurde gemeinsam mit Mawlawi Abdul Salam Hanafi zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. Als Innenminister wurde Mawlawi Sirajuddin Haqqani ernannt, der Führer des Haqqani-Netzwerkes, der in den USA immer noch auf der "Gesucht" Liste des FBI aufscheint. Als Verteidigungsminister wurde Mawlawi Mohammad Yaqoob Mujahid ernannt und als Außenminister Mawlawi Amir Khan Muttaqi (BBC 7.9.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021; vgl. TN 3.9.2021). In Kandarhar hatte er im Oktober 2021 seinen ersten öffentlichen Auftritt (France 24 31.10.2021; vgl. VOA 31.10.2021).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 1.6.2021). Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HT 5.9.2021; BAMF 6.9.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 6.9.2021). Haibatullah Akhunzada warnte im November die Taliban, dass es in ihren Reihen Einheiten geben könnte, die "gegen den Willen der Regierung arbeiten" (AJ 4.11.2021; vgl. TG 4.11.2021).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.4.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.8.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Ehemalige staatliche Akteure und Widerstand gegen die Taliban

Letzte Änderung: 03.05.2022

National Resistance Front (NRF)

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten afghanischen Streitkräfte der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjshir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Massoud kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021; vgl. ANI 9.9.2021). Nach Angaben eines hochrangigen Mitglieds der NRF Angang Oktober 2021, kontrolliert die NRF entgegen Angaben der Taliban mehr als die Hälfte von Panjshir (France 24 5.10.2021).

Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF unter anderem in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderen militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).

Am 1.11.2021 wurde berichtet, dass die NRF ein Verbindungsbüro in Washington DC eröffnet hat, nachdem sie beim US-Justizministerium registriert wurde, um Lobbyarbeit bei verschiedenen in der Stadt tätigen Politikern zu betreiben (VOA 1.11.2021; vgl. BBC 29.10.2021). Am 4.12.2021 veröffentlichte die NRF auf ihrem offiziellen Twitteraccount eine Stellungnahme laut derer sie bereit ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um das Leid der Menschen in Afghanistan zu lindern (NRF 4.12.2021).

Am 24.1. und 25.1.2022 gab es in der Provinz Baghlan Zusammenstöße zwischen den Taliban und der NRF. Nach unbestätigten Aussagen eines Vertreters der NRF sind dabei 20 Kämpfer der Taliban und sechs Kämpfer der Widerstandsfront getötet worden (BAMF 31.1.2022; vgl. 8am 25.1.2022). Die Kämpfe sollen drei Tage angedauert haben und die Taliban hätten als Vergeltung für ihre Toten Familienmitglieder der Widerstandskämpfer als Geiseln genommen. Der außenpolitische Sprecher der NRF kündigt eine Offensive gegen die Taliban an, sobald der Winter zu Ende sei. Die NRF kämpfe in den Provinzen Baghlan, Balkh, Faryab und Badakhshan gegen die Taliban (BAMF 31.1.2022; vgl. RFE/RL 29.1.2022).

Zwischen dem 27.2. und dem 3.4.2022 kam es zu mehreren Zusammenstößen zwischen der NRF und den Taliban in Baghlan, Panjshir und Badakhshan (BAMF 4.4.2022). In Baghlan wurden elf bis 13 Taliban getötet und 18 weitere verletzt; zwei Widerstandskämpfer wurden ebenfalls getötet (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 29.3.2022). In Panjshir wurden nach dem dritten Tag der Kämpfe drei Taliban getötet und fünf weitere Kämpfer verletzt. Es liegen keine Informationen über NRF-Opfer vor (BAMF 4.4.2022). Einer anderen Quelle zufolge wurden in Panjshir acht Taliban-Mitglieder und acht NRF-Kämpfer bei Zusammenstößen getötet (ACLED 3.3.2022). In Badakhshan traf eine Landmine das Auto eines Taliban-Kommandeurs, verletzte ihn und tötete zwei seiner Leibwächter (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 3.4.2022).

Ismail Khan, Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Noor

Gemäß einem Bericht, der am 4.8.2021 veröffentlicht wurde [Anm.: also kurz vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul], haben die Machthaber in den verschiedenen Regionen Afghanistans angesichts der vorrückenden Taliban wenig Kampfeswillen gezeigt. Diejenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, taten dies hauptsächlich, um ihre eigenen lokalen Interessen zu verteidigen. In Herat beispielsweise beschloss der örtliche Machthaber Ismail Khan erst dann, eine Miliz zu mobilisieren, als die Taliban den Zollposten Islam Qala erreichten, von dem Gerüchten zufolge regelmäßig ein erheblicher Teil der Staatseinnahmen an ihn abgezweigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt fiel es ihm schwer, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Selbst seine Gefolgsleute beschreiben die neue Miliz als kaum ebenbürtig gegenüber den kampferprobten Taliban (RUSI 4.8.2021). Die Miliz des ethnischen Tadschiken Ismail Khan, der in den 1980ern eine große Mudschaheddin-Truppe befehligt hatte und nach 2001 eine führende Rolle einnahm, schmolz im August 2021 dahin - aufgrund der Bedrohung durch die Taliban oder aufgrund einer geheimen Übereinkunft mit der Gruppierung. Khan wurde Berichten zufolge am 13.8.2021 gefangen genommen und tauchte drei Tage später in der iranischen Stadt Mashhad auf (TC 6.9.2021; vgl. AST 8.9.2021). Im Jänner 2022 trafen hochrangige Delegierte der Taliban wichtige afghanische Oppositionsführer im Iran, unter anderem Ismail Kahn und Ahmad Massoud, um sie zur Beendigung des Widerstands gegen die entstehende Herrschaft der islamistischen Gruppe aufzufordern und ihnen Sicherheit zu garantieren, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren (VOA 10.1.2022; vgl. KP 10.1.2022).

Atta Mohammad Noor, der starke Mann von Mazar-i-Sharif, zögerte einem Bericht zufolge zunächst, sich den Taliban entgegenzustellen. Als diese jedoch auf den Zollposten von Hayratan vorrückten, von dem er Berichten zufolge große Mengen an Bargeld abzweigen kann, schloss er sich dem Kampf an und mobilisierte seine Milizionäre. Die tatsächliche Wirkung dieser Truppe auf dem Schlachtfeld [Anm.: Stand 4.8.2021] war bescheiden (RUSI 4.8.2021). Der ethnische Tadschike Noor, einst Kommandant der Nordallianz (TC 6.9.2021) und Anführer eines Teils des Tanzims [Anm.: militärisch-politische Organisation] Jamiat-e Islami (ANI 9.9.2021), wie auch der ethnische Usbeke Abdul Rashid Dostum, einer der Gründer der Nordallianz (TC 6.9.2021) und des Tanzims Jombesh-e Melli Islami-ye Afghanistan (KAS 1.1.2006), sind vor den anrückenden Taliban ins Ausland geflohen (TC 6.9.2021; vgl. VOA 29.8.2021). Schon vor Beginn der Kämpfe hatte Noor einer politischen Lösung gegenüber militärischem Vorgehen den Vorrang gegeben (TC 6.9.2021; vgl. AST 8.9.2021). Eine Gruppe rund um Dostum und Noor kündigte Ende August 2021 [Anm.: vor der offiziellen Verkündung der Taliban-"Übergangsregierung" am 7.9.2021] an, Gespräche mit den Taliban anzustreben (VOA 29.8.2021; vgl. FAZ 29.8.2021). Nach der Ankündigung der "Übergangsregierung" der Taliban wurde diese von Noor kritisiert, sie würde den Regeln widersprechen und sei zum Scheitern verurteilt (ANI 9.9.2021). Es bleibt ungewiss, wie viel Unterstützung Führer wie Atta Noor, der weithin der Korruption beschuldigt wird, und Dostum, der mehrfacher Folter und Brutalität beschuldigt und in einem Bericht des US-Außenministeriums als "Quintessenz eines Warlords" bezeichnet wird, in der Bevölkerung tatsächlich genießen (VOA 29.8.2021; vgl. AST 8.9.2021).

Gulbuddin Hekmatyar

Der Gründer der Hezb-e Islami (Hekmatyar) und vormalige Gegner der Taliban, Gulbuddin Hekmatyar, war gemeinsam mit seinem ehemaligen Gegner Hamid Karzai und Abdullah Abdullah Teil eines Verhandlungsteams, das [Anm.: vor der Ankündigung der Taliban-"Übergangsregierung" am 7.9.2021] unter dem Namen "Koordinationsrat" mit den Taliban über eine Regierungsbeteiligung verhandelte (TC 6.9.2021, FP 23.8.2021), welche jedoch nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Nach der Bildung der "Übergangsregierung" der Taliban lobte Hekmatyar diese als "idealste Regierung der letzten 50 Jahre, da sie keine Besitzer von Doppelstaatsbürgerschaften enthält" und frei von Sekulären sei (KP 11.9.2021).

Mohammad Mohaqeq und Abdul Ghani Alipoor

Mohammad Mohaqeq, Anführer der Partei Hezb-e Wahdat und während dem afghanischen Bürgerkrieg in den 1990ern ein wichtiger Hazara-Anführer der Nordallianz, zählt zu jenen afghanischen Warlords, die in den letzten Wochen versucht haben, ihre alten Milizen als Teil der "Volksaufstandskräfte" [public uprising forces] zu mobilisieren, die vor dem Fall von Kabul gegen die Taliban kämpften (JF 5.9.2021; vgl. RUSI 4.8.2021). Neben Mobilisierungen im Hazarajat (RUSI 4.8.2021) versuchte Mohaqeq zusammen mit Dostum und Noor, ihre Milizen in der Provinz Balkh zu mobilisieren, bevor diese am 14.8.2021 an die Taliban fiel (JF 5.9.2021; vgl. RUSI 4.8.2021). Als Kabul fiel, meldete sich Mohaqeq in den sozialen Medien zu Wort und behauptete in einem Facebook-Post, dass "die Menschen gerettet wurden" und dass die afghanische Regierung korrupt sei, außerdem sprach er sich [vor der Bildung der "Übergangsregierung" der Taliban] für eine Regierung unter Beteiligung verschiedener Gruppierungen aus (JF 5.9.2021, ETR 20.8.2021).

Ein Hazara-Kommandant, der gemäß Twittermeldungen nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im Distrikt Behsud, Provinz (Maidan) Wardak, gegen die Taliban gekämpft hat, ist Abdul Ghani Alipoor (AWM 22.8.2021; IFE 22.8.2021; vgl. ALM 15.8.2021). Alipoor gründete 2014 eine Hazara-Miliz, mit dem Namen Jabha-ye Moqawamat (Widerstandskraft), die in den vergangenen Jahren Hazara in Distrikten wie Behsud verteidigt hat. Im November 2018 war Alipoor [von der damaligen Regierung] wegen des Vorwurfs der Führung einer illegalen Miliz verhaftet worden. Im März 2021 schossen seine Kämpfer ein afghanisches Militärflugzeug ab (CACI 26.8.2021).

Haqqani-Netzwerk

Letzte Änderung: 17.01.2022

Das Haqqani-Netzwerk wurde Ende der 1980er Jahre, etwa zur Zeit des Einmarsches der damaligen Sowjetunion in Afghanistan, gegründet und verbündete sich später mit den Taliban (USDOS 16.12.2021). Die Organisation wurde im Jahr 1996 Teil der Taliban (ASP 1.9.2020) und gilt als Verbündeter von al-Qaida. Das Netzwerk wurde von Jalaluddin Haqqani gegründet, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad [1979-1989] und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Sein Sohn Serajuddin [auch Sirajuddin] Haqqani führt das Netzwerk nun an (CRS 17.8.2021; vgl. France 24 21.8.2021). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. RFE/RL 6.8.2021). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (France 24 21.8.2021). Mit September 2020 zählten die Haqqani-Kämpfer rund 10.000 Mann in Afghanistan, was etwa 20 % der Kampfkräfte der Taliban ausmachte (ASP 1.9.2020), während eine andere Quelle Ende August 2021 von einem Anteil von rund 35 % sprach (GN 31.8.2021). Das Außenministerium der Vereinigten Staaten (USDOS) wiederum schätzt im Dezember 2021, dass die Gruppe über 3.000 bis 5.000 Kämpfer verfügt (USDOS 16.12.2021). Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni 2021 ist das Haqqani-Netzwerk die schlagkräftigste Truppe der Taliban (UNSC 1.6.2021).

Das Haqqani-Netzwerk ist nach wie vor eine Drehscheibe für Kontakte und Zusammenarbeit mit regionalen ausländischen Terrorgruppen und die wichtigste Verbindungsstelle zwischen den Taliban und Al-Qaida (UNSC 1.6.2021). Auch wurden dem Netzwerk in der Vergangenheit Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst nachgesagt (CRS 17.8.2021; TSP 23.8.2021, USDOS 16.12.2021). Bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen dem Haqqani-Netzwerk und dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) bestehen unterschiedliche Auffassungen (UNSC 1.6.2021). Während der afghanische Geheimdienst im Mai 2020 von einer "gemeinsamen ISKP-Haqqani-Zelle" sprach (RFE/RL 6.5.2021), ein Afghanistan-Experte Belege vergangener Kollaborationen erwähnte (GN 31.8.2021) und einige Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats von einer taktischen Zusammenarbeit zwischen dem ISKP und dem Haqqani-Netzwerk auf der Ebene der Befehlshaber berichten, bestreiten andere die Behauptungen einer taktischen Zusammenarbeit entschieden (UNSC 1.6.2021). Ende August 2021 wurde ein Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul verübt, bei dem mindestens 170 Menschen starben und zu dem sich der ISKP bekannte (MEE 27.8.2021; vgl. GN 31.8.2021). Kämpfer aus Khost und Paktia, Kerngebieten des Haqqani-Netzwerks, waren einer Quelle zufolge für die Sicherheit in manchen Teilen der Provinzhauptstadt zuständig, das Flughafenareal wurde jedoch von anderen Einheiten gesichert (NLM 26.8.2021).

Von den US-Truppen und der [ehemaligen] afghanischen Armee als "tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan" (ASP 1.9.2020) bzw. "gefährlichster" Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 17.8.2021; vgl. France 24 21.8.2021). Das Netzwerk wurde von den USA als ausländische Terrorgruppierung eingestuft und befindet sich auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen (FR24 21.8.2021; vgl. NZZ 7.9.2021).

Trotz des Rufs des Haqqani-Netzwerks wird angenommen, dass es in einer künftigen Taliban-Regierung eine bedeutsame Rolle spielen wird (FR24 21.8.2021; vgl. TSP 23.8.2021). So wurde im August 2021 angekündigt, dass Sirajuddin Haqqani den Posten des Innenministers in der neu gebildeten "Übergangsregierung" der Taliban bekleiden wird (NZZ 7.9.2021).

Im November 2021 wurde ein hochrangiges Mitglied des Haqqani-Netzwerkes durch die Taliban-Regierung zum Gouverneur von Logar ernannt. Khan ist einer von mehreren wichtigen Anführern des Haqqani-Netzwerks, die in der neuen Taliban-Regierung in hochrangige Positionen berufen wurden. Neben Nabi Omari als Gouverneur von Khost, Sirajuddin Haqqani als Innenminister, Khalil al Rahman Haqqani als Flüchtlingsminister ist Mullah Taj Mir Jawad erster Stellvertreter des Geheimdienstes (LWJ 10.11.2021).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung: 03.05.2022

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst. Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.8.2017). Aber auch Mitglieder anderer extremistischer Gruppierungen in der Region wechselten zum ISKP (WP 26.8.2021b).

Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des Islamischen Staates in Ostafghanistan (NYT 2.12.2019) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.1.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gebietsverluste des ISKP haben seine Fähigkeiten zur Mitgliederrekrutierung und Mittelbeschaffung beeinträchtigt. Schätzungen zufolge verfügt der ISKP noch über eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern in kleinen Gebieten der Provinzen Kunar und Nangarhar. Er war gezwungen, sich zu dezentralisieren, und besteht hauptsächlich aus Zellen und kleinen Gruppen im ganzen Land, die autonom agieren, aber dieselbe Ideologie teilen (UNSC 1.6.2021). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons "Tausende" (MEE 27.8.2021) bzw. "Hunderte" ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte (GN 31.8.2021). Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt (UNSC 21.7.2021).

Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten (WP 26.8.2021a). Im ersten Halbjahr 2021 verzeichnete UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern von rund 45 % durch Anschläge des ISKP gegenüber demselben Untersuchungszeitraum im Vorjahr. Insgesamt schrieb UNAMA neun Prozent aller erfassten zivilen Opfer dem ISKP zu. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die religiöse Minderheit der Schiiten fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beansprucht werden (UNAMA 26.7.2021). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr dagegen um 20 % gesunken. Insgesamt verzeichnete AIHRC im ersten Halbjahr 2021 343 zivile Opfer bei ISKP-Anschlägen oder -Angriffen, davon 104 Todesopfer und 284 Verletzte (AIHRC 1.8.2021). Im gesamten Jahr 2020 schrieb AIHRC dagegen 403 zivile Opfer dem ISKP zu (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021), UNAMA zählte dagegen 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte). 80 % der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben wurden, entstanden bei Angriffen, die bewusst auf Zivilisten abzielten (UNAMA 2.2021a). Ende August 2021 übernahm der ISKP die Verantwortung für einen Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul, die sich im Zuge der Massenevakuierungsflüge nach der Machtübernahme der Taliban dort gebildet hatte. Mindestens 170 Personen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen (MEE 27.8.2021; vgl. BBC 28.8.2021), neben den Zivilisten auch 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die zur Sicherung des Flughafengeländes dort postiert waren (MEE 27.8.2021).

Die Taliban stehen dem IS und seinen Vorstellungen eines globalen Dschihads ablehnend gegenüber und haben ISKP in den vergangenen Jahren bekämpft (AA 21.10.2021). Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. WP 26.8.2021a). Die Rivalität des ISKP mit den Taliban wurde von einer Quelle auch als ein "Mikrokosmos des [internationalen] Wettbewerbs zwischen Al-Qaida und ihrem radikaleren Ableger, dem Islamischen Staat" beschrieben. Zwischen den Gruppen bestehen Generations- und ideologische Unterschiede (WP 26.8.2021b). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sie Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richten (SC 27.8.2021; vgl. WP 19.8.2019). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung (AA 21.10.2021).

Experten zufolge werden die Taliban [nach ihrer Machtübernahme in Kabul] wahrscheinlich versuchen, die Gruppe zu eliminieren. Einige warnten jedoch im August 2021, dass der ISKP von einem Sicherheitsvakuum profitieren könnte, während die Taliban versuchen, ihre Macht zu konsolidieren (WP 26.8.2021a; vgl. AM 27.8.2021). Ein weiterer Experte wies auch darauf hin, dass der ISKP versuchen könnte, Spannungen zwischen den verschiedenen Talibanfraktionen auszunutzen, welche beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung deutlich wurden (GN 31.8.2021; vgl. SC 27.8.2021).

Der ISKP hat in den Monaten seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 seine Angriffe gegen die Taliban verstärkt (LWJ 23.11.2021; vgl. HRW 25.10.2021, UNGASC 28.1.2022) und eine Handvoll öffentlichkeitswirksamer Selbstmordattentate auf Ziele wie Moscheen und Krankenhäuser verübt und kleinere, aber zahlreichere Anschläge mit Sprengsätzen und Handfeuerwaffen gegen die militärischen Kräfte der Taliban durchgeführt. Als Reaktion darauf haben die Taliban mehr als 1.000 Kämpfer in die Provinz Nangarhar, dem Zentrum der ISKP-Operationen, geschickt, um die Gruppe zu bekämpfen (LWJ 23.11.2021; vgl. WP 22.11.2021). Neben den Taliban-Behörden nahm die Gruppe auch Zivilisten, vor allem schiitische Minderheiten, in städtischen Gebieten ins Visier (UNGASC 28.1.2022). Aktuell liegt nach Ansicht des Long War Journal der Vorteil klar bei den Taliban, da der ISKP über keine Verbündete im In- oder Ausland verfügt und die Taliban im Zuge der Machtübernahme ein großes Waffenarsenal requirieren konnten sowie über territoriale Kontrolle in allen Provinzen verfügen. Der ISKP verfügt nur über Kleinwaffen, und sein Hauptwerkzeug für Angriffe auf die Taliban sind Sprengfallen und Selbstmordattentate (LWJ 23.11.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in 5 Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (UNGASC 28.1.2022).

Im Oktober gab es Berichte, wonach in Jalalabad Leichen entdeckt wurden, einige mit handgeschriebenen Notizen in ihren Taschen, auf denen sie beschuldigt wurden, Mitglieder des ISKP zu sein. Die Taliban werden beschuldigt, für diese Tötungen verantwortlich zu sein (BBC 29.10.2021). Mitte Dezember kam es zu zwei Bombenanschlägen in hauptsächlich schiitischen Gegenden Kabuls, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (RFE/RL 18.11.2021; vgl. REU 17.11.2021).

Die UNAMA-Vorsitzende Deborah Lyons sagte am 16.11.2021, ISKP sei mittlerweile nicht mehr nur im Osten, sondern im ganzen Land zunehmend aktiver (UNAMA 16.11.2021).

Seit der Regierungsübernahme der Taliban versucht der ISKP seine Anziehungskraft in Zentralasien auszuweiten. Der afghanische Zweig der Gruppe hat in letzter Zeit die Produktion, Übersetzung und Verbreitung von Propaganda, die sich an usbekische, tadschikische und kirgisische Sprecher in der Region richtet, intensiviert. Dieser Vorstoß ist Teil einer Informationskampagne, mit der die neue Taliban-Regierung in Kabul als ethno-nationalistische Organisation der Paschtunen und nicht als glaubwürdige islamische Bewegung delegitimiert werden soll. Dementsprechend sieht der ISKP eine Gelegenheit, Spannungsfelder zwischen den Taliban und verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich möglicherweise ausgegrenzt fühlen, auszunutzen und gleichzeitig Anschläge in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan zu verüben (EN 17.3.2022).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Letzte Änderung: 17.01.2022

Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent [Anm.: manchmal mit AQIS abgekürzt], operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan (LWJ 8.4.2021; vgl. BAMF 12.4.2021). Gemäß einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Juli 2021 ist Al-Qaida in mindestens 15 Provinzen Afghanistans aktiv, vor allem im Osten, Süden und Südosten des Landes (UNSC 21.7.2021). Ein bedeutender Teil der Führungsriege von Al-Qaida - einschließlich ihrem Anführer Aiman al-Zawahiri - hat ihre Basis in der Grenzregion von Afghanistan und Pakistan, von wo aus sie eng mit AQIS zusammenarbeitet (UNSC 1.6.2021). AQIS operiert unter dem Schutz der Taliban von Kandahar, Helmand und Nimruz aus (UNSC 21.7.2021). Die Zahl der Mitglieder von Al-Qaida, einschließlich AQIS, wird auf mehrerern Dutzend bis 500 Personen geschätzt (UNSC 1.6.2021).

Al-Qaida operierte überwiegend unter der Schirmherrschaft der Taliban und in Verbindung mit anderen regierungsfeindlichen Gruppen gegen die [bis 15.8.2021 im Amt befindliche] afghanische Regierung. Die Aktivitäten konzentrierten sich auf die Ausbildung, einschließlich mit Waffen und Sprengstoff, sowie auf Beratung, und es wird behauptet, dass sie an Taliban-internen Diskussionen über die Beziehungen der Bewegung zu anderen dschihadistischen Gruppierungen teilnahmen (UNAMA 2.2021a). Kämpfer von AQIS waren in die Strukturen der Taliban eingebettet (CRS 17.8.2021). Die Nähe zwischen den beiden Gruppen wird auch durch die Tötung mehrerer Al-Qaida-Kommandeure bei Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte in von den Taliban kontrollierten Gebieten unterstrichen (UNSC 1.6.2021; vgl. VOA 10.11.2020).

Die Taliban und Al-Qaida sind nach wie vor eng miteinander verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen, wobei das Haqqani-Netzwerk hier eine wichtige Komponente ist. Die Verbindungen zwischen den beiden Gruppen beruhen auf ideologischer Übereinstimmung, auf Beziehungen, die durch gemeinsame Kämpfe entstanden sind, und auf der persönlichen Ebene z.B. durch Eheschließungen (UNSC 1.6.2021). Im Zuge des US-Taliban-Abkommens haben die Taliban zugesichert, zu verhindern, dass Al-Qaida den Boden Afghanistans nutzt, "um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020). Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.1.2019), bestritten die Taliban dann, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit, zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.6.2020; vgl. UNSC 1.6.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gratulierte die Al-Qaida-Führung den Taliban zu ihrem "historischen Sieg" (LWJ 31.8.2021). Mit Stand 15.8.2021 ist noch unklar, welche Haltung die Taliban gegenüber Al-Qaida oder anderen islamistischen Extremisten einnehmen werden, sollten diese in Afghanistan grenzüberschreitende Gewaltaktionen durchführen. Es ist auch nicht klar, wie Al-Qaida auf die jüngsten Ereignisse reagieren wird (GN 15.8.2021).

Im August 2021 schätzte das US-Verteidigungsministerium die Präsenz von Al-Qaida in Afghanistan als nicht derart hoch ein, dass die Gruppierung eine Bedrohung für die USA darstellen würde, wie es am 11.9.2001 der Fall war (CNN 21.8.2021). Die Führung von Al-Qaida ist vielmehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt (CRS 17.8.2021). Zuvor hatte das US-amerikanische Verteidigungsministerium jedoch Präsident Biden widersprochen, der den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan damit gerechtfertigt hatte, dass Al-Qaida aus dem Land "verschwunden" sei (CNN 21.8.2021).

Im September 2021 hatte die Taliban amerikanische Befürchtungen, dass Al-Qaida oder der ISKP (Islamic State Khorasan Province) im Land präsent sind, als "unbegründete Propaganda" zurückgewiesen (VOA 21.9.2021; vgl. REU 21.9.2021).

Im Dezember 2021 erklärte der Leiter des US-Zentralkommandos, dass seit dem Abzug der US-Streitkräfte die Extremistengruppe Al-Qaida in Afghanistan "leicht gewachsen" sei. Auch herrsche Uneinigkeit zwischen den neuen Taliban-Führern des Landes, ob sie ihr Versprechen aus dem Jahr 2020, die Beziehungen zu der Gruppe abzubrechen, einhalten sollen (ArN 10.12.2021; vgl. KP 11.12.2021).

Nach Angaben eines Taliban-Sprechers wurde Qari Baryal am 7.11.2021 zum Gouverneur der Provinz Kabul ernannt (LWJ 9.11.2021; vgl. REU 7.11.2021), der nach früheren Berichten vom US-Militär als "mit Al-Qaida verbundener Taliban-Führer" bezeichnet wurde (LWJ 9.11.2021).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 03.05.2022

Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (AA 21.10.2021). Die Einrichtung und der Betrieb der Sicherheitsministerien, insbesondere des Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums, gelten als eine der Prioritäten der Taliban-Verwaltung. Sirajuddin Haqqani und Mohammad Yaqoub Omar, der Sohn des verstorbenen Taliban-Führers Mullah Omar, wurden zum Innenminister bzw. zum Verteidigungsminister ernannt. Die Taliban-Behörden erklärten, zu den Prioritäten im Sicherheitssektor gehören die Bekämpfung des Islamischen Staates (ISKP), des bewaffneten Widerstandes in und um die Provinz Panjshir und die Bekämpfung von Kriminalität sowie die Sicherung der Grenzen und die Drogenbekämpfung. Frauen in Uniform, die früher im Sicherheitssektor gedient haben, wurden vom Dienst ausgeschlossen. Am 11.11.2021 hat das Taliban-Regime eine Säuberungskommission eingerichtet, um "unerwünschte Personen" aus den Reihen der Taliban zu entfernen, die kriminelles Verhalten an den Tag legen oder die nicht die Werte der Taliban vertreten. Berichten zufolge wurden bisher etwa 700 Personen entlassen (UNGASC 28.1.2022).

Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (AA 21.10.2021).

Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (UNGASC 28.1.2022; vgl. AI 9.2021, USDOS 12.4.2022). Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 8.9.2021; vgl. BBC 5.9.2021). Es gibt weitere Berichte wonach ehemalige Polizisten (PAJ 21.10.2021) oder Dolmetscher getötet wurden (ABC News 20.10.2021).

Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren (RFE/RL 23.10.2021), forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (AP 10.11.2021; vgl. TD 10.11.2021).

Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar, and Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem "Verschwindenlassen" ausgesetzt (HRW 30.11.2021).

Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (AA 21.10.2021).

Nach Angaben von BBC Pashto erließen die Taliban am 8.11.2021 einen Erlass, der die Namen der bisherigen Armeekorps (Qol-e Ordou) wie folgt änderte (BBC 8.11.2022; vgl. KP 8.11.2022, EASO 1.2022):

Korps Kabul wird in Korps Kabul Central umbenannt

­ 209. Shaheen-Korps in Mazar wird in Al-Fatha-Korps umbenannt

­ 17. Pamir-Korps in Kunduz wird in Omary-Korps umbenannt

­ 205. Attal-Korps in Kandahar geändert in Badar-Korps

­ 201. Silab-Korps in Laghman geändert in Khalid Ibn-e Walid-Korps

­ 203. Tander-Korps in Paktia geändert in Mansouri-Korps

­ 207. Zafar-Korps in Herat geändert in Al-Farooq-Korps

­ 215. Maiwand-Korps in Helmand wurde in Azm-Korps umbenannt

NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung: 03.05.2022

Bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 kam es zu systematischen Morddrohungen, Angriffen und Tötungen von Menschenrechtsverteidigern in ganz Afghanistan (AI 9.2021; vgl. AA 15.7.2021, UNHRC 12.1.2022). Dieser Trend setzt sich auch nach der Machtübernahme weiter fort (UNGASC 28.1.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden afghanische Menschenrechtsverteidiger von den Taliban direkt bedroht, einschließlich geschlechtsspezifischer Drohungen gegen Frauen, Schlägen, Verhaftungen, gewaltsamem Verschwindenlassen und Tötungen (USDOS 12.4.2022).

Gegenwärtig bietet sich u. a. mangels Gesetzgebung oder einheitlicher Regelungen bzw. Handlungen der Talibanregierung noch kein klares Bild über die künftigen Betätigungsmöglichkeiten für Menschenrechtsorganisationen. Faktisch ist ihre Arbeit im Moment aber kaum möglich. Aus Sorge vor gewaltsamen Repressalien haben zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen Afghanistan kurz vor bzw. nach der Machtübernahme der Taliban verlassen oder halten sich versteckt (AA 21.10.2021; vgl. AI 9.2021). Als die gewählte Regierung zusammenbrach, stellten viele NGOs ihre Tätigkeit ein, schlossen ihre Büros und versuchten, ihre Mitarbeiter zu evakuieren. Seitdem sind jedoch weiterhin NGOs und Agenturen in Afghanistan tätig, insbesondere solche, die wirtschaftliche und humanitäre Hilfe leisten. Während die Taliban in der Vergangenheit Mitarbeiter von NGOs angegriffen und getötet haben, tolerieren sie seit der Machtübernahme im Großen und Ganzen die weitere Präsenz von NGOs und haben die Gruppen angewiesen, sich weiterhin beim Wirtschaftsministerium registrieren zu lassen. Allerdings gibt es keinen wirksamen Schutz für NGO-Mitarbeiter, die Schikanen und willkürlichen Verhaftungen durch Taliban ausgesetzt sind, die in der Regel versuchen, sich in die Verteilung von Hilfsgütern einzumischen (FH 28.2.2022). Es gibt Berichte über Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmung von Eigentum, Drohungen und Gewaltanwendung gegen Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen (AA 21.10.2021; vgl. AI 9.2021, USDOS 12.4.2022) bzw. deren Familien (AI 9.2021; vgl. PAJ 12.9.2021), auch wenn diese zum Teil schwer zu verifizieren sind (AA 21.10.2021) bzw. Amnesty International (AI) anführt, dass nur wenige bereit sind, die Angriffe öffentlich anzuprangern, aus Angst vor weiteren Repressalien (AI 9.2021). Nach Angaben von AI wurden mehrere NGO-Büros von den Taliban durchsucht, und ihre Konten wurden in Erwartung einer "zukünftigen Beurteilung" durch die Taliban eingefroren während NGOs auch ihre Programme zur Förderung der Rechte der Frauen eingestellt haben oder die meisten Büros aus Angst vor Repressalien geschlossen bleiben (AI 9.2021).

Die afghanische staatliche Menschenrechtskommission Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat am 18.9.2021 ein Statement veröffentlicht, wonach sie in Folge der Machtübernahme der Taliban nicht in der Lage ist, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Dazu gehören insbesondere die Aufnahme und Untersuchung von Beschwerden der Bevölkerung über Menschenrechtsverletzungen. Als Grund benennt die Kommission die Besetzung und Nutzung ihrer Einrichtungen durch die Taliban und Beschränkungen der Berufstätigkeit von Frauen (AIHRC 18.9.2021; vgl. AA 21.10.2021). Am 7.10.2021 hat der UN-Menschenrechtsrat die Ernennung eines Sonderberichterstatters zur Menschenrechtslage in Afghanistan ab März 2022 beschlossen (AA 21.10.2021). Am 24.12.2021 gaben die Taliban die Entscheidung bekannt, die unabhängige Kommission zur Überwachung der Umsetzung der Verfassung sowie die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission beizubehalten, wobei der Name der letzteren geändert werden sollte (UNGASC 28.1.2022).

Berichten zufolge werden Frauenrechtsaktivisten gezielt von den Taliban bedroht und gejagt und ihre Gruppen infiltriert (TG 4.11.2021; vgl. ABC News 20.11.2021). Anfang November 2021 wurde eine Menschenrechtsaktivistin in Mazar-e Sharif getötet (France 24 6.11.2021; vgl. TG 5.11.2021). Anfang 2022 wurde von der Entführung mehrerer Frauen berichtet, die an Frauenrechtsdemonstrationen teilgenommen hatten (BBC 13.2.2022; vgl. OHCHR 1.2.2022, HRW 24.1.2022). Mitte Februar 2022 wurden sie wieder freigelassen (BBC 13.2.2022).

Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung: 03.05.2022

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es in Afghanistan keine Wehrpflicht. Das vorgeschriebene Mindestalter für die freiwillige Meldung betrug 18 Jahre. Da die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstellte, bestand grundsätzlich kein Anlass für Zwangsrekrutierungen zu staatlichen Sicherheitskräften (AA 16.7.2021).

Das Problem der Rekrutierung von Kindern, einschließlich Zwangsrekrutierung sowie Entführungen und sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch regierungsfeindliche Gruppen, Milizen oder afghanische Sicherheitskräfte bestand bis zur Übernahme der Taliban weiter. Für 2020 ist die Rekrutierung von insgesamt 196 Jungen belegt, davon 172 durch die Taliban. Weitere 17 Vorfälle gingen auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte (AA 16.7.2021).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura [Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta/Pakistan] war für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen in der Vergangenheit Kontrolle ausübten, gab es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich hatten die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machten nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, waren jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban waren Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive waren der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlten sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glaubten nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schlossen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven waren die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien konnten die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternahmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten lief über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wurde berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert wurden oder in denen die Taliban stark präsent waren, de facto unmöglich war, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie konnte angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien waren, die Kämpfer stellten, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LI 29.6.2017).

Die Taliban wandten, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 12.4.2022; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise wurden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Die Taliban haben im Oktober 2021 den Aufbau einer eigenen Armee angekündigt. Diese soll sich sowohl aus den bisherigen Taliban-Milizen als auch aus Resten der aufgelösten vorherigen afghanischen Armee zusammensetzen (ArN 26.10.2021; vgl. AJ 22.2.2022), welche mit den modernsten Waffen ausgerüstet werden sollen, um die Interessen, Werte und Grenzen Afghanistans zu schützen. Im November 2021 gab das Verteidigungsministerium der Taliban bekannt, dass die zukünftige Armee aus acht Korps bestehen soll. Die Taliban haben noch nicht offiziell mit der Ausbildung von Angehörigen für ihre neue Armee begonnen, aber Dutzende von Taliban-Mitgliedern sind damit beschäftigt, sich in verschiedenen Provinzen Afghanistans ausbilden zu lassen (KP 8.11.2021). Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass die Taliban ehemalige Truppen in ihre Reihen aufgenommen haben, aber Ende Februar 2022 ernannten sie zwei hochrangige ehemalige Offiziere der afghanischen Nationalarmee zu leitenden Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums (AJ 22.2.2022).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 03.05.2022

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (AA 21.10.2021). Die gewählte Regierung Afghanistans, die durch einen von den Taliban geführten Aufstand sowie durch Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren unterminiert wurde, bot vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 2021 dennoch ein breites Spektrum an individuellen Rechten. Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban den politischen Raum des Landes geschlossen; Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet, während Frauen und Minderheitengruppen durch das neue Regime in ihren Rechten beschnitten wurden (FH 28.2.2022). Unter der Taliban-Herrschaft werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt, und jede Jede Form von Dissens wird mit Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen und unrechtmäßiger Inhaftierung bestraft (AI 21.3.2022).

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021; vgl. AA 21.10.2021, USDOS 12.4.2022), wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen (AA 21.10.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (HRW 30.11.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Ebenso deuteten seit August zahlreiche Berichte darauf hin, dass die Taliban gewaltsam in Wohnungen und Büros eindrangen, um nach politischen Gegnern und nach Personen zu suchen, die die NATO- und US-Missionen unterstützt hatten (USDOS 12.4.2022). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, dass sie Repressalien fürchten (BBC 20.8.2021), und es gibt Berichte über das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen, willkürliche Verhaftungen von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft durch die Taliban (AI 21.3.2022) sowie über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen und Ähnliches durchführen (AA 21.10.2021).

UNAMA, AIHRC und andere Beobachter berichteten, dass es sowohl unter der früheren Regierung als auch unter den Taliban im ganzen Land zu willkürlichen und lang andauernden Inhaftierungen kam, einschließlich von Personen, die ohne richterliche Genehmigung festgehalten wurden. Die ehemaligen Regierungsbehörden informierten die Inhaftierten häufig nicht über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen (USDOS 12.4.2022).

Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.7.2021 getötet (AI 9.2021; vgl. WP 28.7.2021), ein Volkssänger von den Taliban erschossen (AI 9.2021; vgl. RFE/RL 29.8.2021) und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (AI 9.2021; vgl. BBC 5.9.2021).

Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vgl. REU 3.9.2021).

Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung: 03.05.2022

Aufgrund der hohen Analphabetismusrate bevorzugen die meisten Bürger Fernsehen und Radio gegenüber Print- oder Online-Medien. Ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung - auch in abgelegenen Provinzen - hat Zugang zu Radio (USDOS 30.3.2021).

Afghanistan rangiert im World Press Freedom Index 2021 (RSF 2021) wie auch schon im Jahr 2020 auf Platz 122 von 180 untersuchten Staaten; dies stellt eine Verschlechterung von einem Platz im Vergleich zu 2019 und drei Plätzen im Vergleich zum Jahr 2018 dar (RSF 2020).

Das Afghanistan Journalists Center (AFJC) zählte 2020 112 gewalttätige Übergriffe auf Medienschaffende, wobei sieben Journalisten und ein Medienmitarbeiter getötet wurden (AFJC o.D.a; vgl. AI 3.5.2021, RSF 10.12.2020, BAMF 11.1.2021). 2021 wurden bis Ende August 51 Vorfälle wie physische Angriffe, Beleidigungen, Drohungen und Festnahmen von Medienschaffenden dokumentiert, wobei das AFJC wieder acht Todesopfer zählte (AFJC o.D.b). Die Taliban stritten in einer Presseerklärung vom 6.1.2021 jede (ihnen von der damaligen Regierung zugeschriebene) Beteiligung an der Tötung von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft ab (BAMF 11.1.2021; vgl. TN 6.1.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) nehmen Taliban-Kräfte jedoch gezielt Journalisten und andere Medienmitarbeiter ins Visier, darunter auch Frauen (HRW 1.4.2021) und nach Angaben des AFJC waren die Taliban, Daesh [Anm.: auch IS, ISKP] bzw. unbekannte Bewaffnete für die Tötungen von Journalisten verantwortlich (TN 6.1.2021; vgl. AFJC o.D.b).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Seit dem Fall der Republik hat fast die Hälfte der afghanischen Medien geschlossen, und Tausende von afghanischen Journalisten und Medienmitarbeitern haben entweder das Land verlassen, ihren Arbeitsplatz verloren oder sind untergetaucht (AAN 7.3.2022). Reporter ohne Grenzen und der afghanische Verband unabhängiger Journalisten berichteten, dass etwa 200 Medienunternehmen geschlossen wurden, wodurch fast 60 % der Journalisten arbeitslos wurden. Verschiedene Faktoren, darunter finanzielle Engpässe, Angst und die Abwanderung von Mitarbeitern, trugen ebenfalls zur Schließung bei (USDOS 12.4.2022; vgl. RSF 31.8.2021). Aus den Berichten von Medienbeobachtungsstellen geht hervor, dass der Schaden für den afghanischen Mediensektor in den ersten Tagen nach dem Sturz der Republik am größten war. Bis auf wenige Ausnahmen sind jene Medien, die die ersten Tage der Talibanmachtübernahme überstanden haben, immer noch aktiv, wenn auch unter schwierigen Bedingungen und die Lage von Journalistinnen bleibt prekär, da die Politik der Taliban ihnen gegenüber immer noch unklar ist (AAN 7.3.2022). Es gibt auch Berichte über eine strenge Medienzensur durch die Taliban, um die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der Nationalen Widerstandsfront und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan zu verhindern (IP 13.11.2021).

Trotz der Zusicherungen, die Meinungsfreiheit zu respektieren, haben die Taliban die Medienfreiheit stark eingeschränkt (AI 29.3.2022; vgl. HRW 13.1.2022, HRW 7.3.2022). Auch der ISKP verübte eine Reihe von tödlichen Angriffen auf Journalisten (HRW 13.1.2022). In den Wochen vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul kam es zu Angriffen auf Journalisten (AI 9.2021; vgl. REU 9.8.2021). Am 7.9.2021 verhafteten Sicherheitskräfte der Taliban Journalisten des in Kabul ansässigen Medienunternehmens Etilaat-e Roz. Die Reporter hatten über Proteste von Frauen in Kabul berichtet, die ein Ende der Verstöße der Taliban gegen die Rechte von Frauen und Mädchen forderten. Es wurde berichtet, dass die Taliban-Behörden die beiden Männer zu einer Polizeistation in Kabul brachten, sie in getrennte Zellen steckten und sie mit Kabeln schwer verprügelten. Beide Männer wurden am 8.9.2021 freigelassen und in einem Krankenhaus wegen ihrer Verletzungen am Rücken und im Gesicht medizinisch versorgt (HRW 8.9.2021). Es gibt auch Berichte, wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen (BBC 7.9.2021). Die Situation für Journalisten außerhalb Kabuls scheint viel schlechter zu sein als innerhalb der Hauptstadt, insbesondere für Frauen (HRW 7.3.2022).

Seit der Machtübernahme der Taliban stehen die Erfahrungen ausländischer Journalisten, die größtenteils ungehindert aus Afghanistan berichten können, selbst von Orten, die zuvor unzugänglich waren, in krassem Gegensatz zu den Erfahrungen afghanischer Journalisten, die weiterhin der Gefahr von Gewalt durch die Taliban ausgesetzt sind (AAN 7.3.2022). Es gibt immer mehr Berichte über Folter, willkürliche Verhaftungen und Schläge von Journalisten, die den Taliban zugeschrieben werden (AAN 7.3.2022; vgl. UNGASC 28.1.2022). Nach außen hin haben sich die Taliban verpflichtet, Journalisten zu schützen und die Pressefreiheit zu respektieren, jedoch existiert eine Reihe von Berichten über die Festnahme und Misshandlung von Journalisten (RSF 24.8.2021; vgl. AA 21.10.2021). Die neuen Behörden verhängen bereits sehr strenge Auflagen für die Nachrichtenmedien, auch wenn sie noch nicht offiziell sind und es gibt Berichte wonach die Taliban Journalisten Schikanen, Drohungen und auch Gewalt aussetzen (RSF 24.8.2021; vgl. AAN 7.3.2022).

Zahlreiche Medienschaffende haben ihre Arbeit nach der Machtübernahme der Taliban aufgegeben oder vermeiden die Berichterstattung zu bestimmten Themen wie Menschenrechtsverletzungen aufgrund von Sicherheitsbedenken, was besonders für Journalistinnen gilt (AA 21.10.2021; vgl. AAN 7.3.2022). Es gibt Berichte unter anderem vom Committee to Protect Journalists (CPJ), dass weibliche Journalisten davon abgehalten wurden, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren (CPJ 19.8.2021; vgl. AI 9.8.2021, TN 19.8.2021) und dass Journalisten bedroht, belästigt, verprügelt oder verhaftet wurden (AI 9.2021; vgl. CPJ 19.8.2021, BBC 9.9.2021). Laut einer von Reporter ohne Grenzen (RSF) durchgeführten Umfrage arbeiten [mit Ende August 2021] weniger als 100 der 700 afghanischen Journalisten (RSF 31.8.2021; vgl. AI 9.2021; AA 21.10.2021). Am 20.8.2021 brachen Taliban-Mitglieder, auf der Suche nach einem Journalisten, der für die Deutsche Welle (DW) arbeitet, in ein Haus ein. Der Journalist war jedoch bereits mit einem Evakuierungsflug nach Deutschland gebracht worden. Anschließend töteten sie ein Mitglied seiner Familie und verletzten ein weiteres (AI 9.2021; vgl. TG 20.8.2021). Im Oktober 2021 gab es Berichte wonach ein Reporter von Tolonews von Soldaten am Grenzübergang Torkham geschlagen wurde, weil er über die Situation an der Grenze berichten wollte (TN 24.10.2021).

Journalisten beklagten sich über den mangelnden Zugang zu Informationen (TN 18.10.2021; vgl. USDOS 12.4.2022) und erklärten, dass der Zugang zu Informationen trotz der Einführung mehrerer Pressesprecher in den Ministerien der Taliban-Regierung weiterhin ein Hindernis darstellt (TN 18.10.2021). Journalisten wird formell und informell vorgeschrieben, was und wie sie zu berichten haben. In einigen Fällen wurden diejenigen, die sich nicht daran hielten, vorgeladen, verhört, bedroht, gefoltert und inhaftiert. Das Ministerium für Information und Kultur ist nicht die einzige staatliche Einrichtung, die Einschränkungen vornimmt; auch Geheimdienstakteure und das Ministerium für Laster und Tugenden schränken die Pressefreiheit ein (AAN 7.3.2022).

Wie andere Sektoren auch, war der afghanische Mediensektor, einschließlich der staatlichen Rundfunkanstalt RTA, stark von ausländischer Finanzierung abhängig und konnte nie eine langfristige finanzielle Stabilität erreichen. Der Mangel an angemessenen Finanzmitteln stellte den afghanischen Mediensektor schon lange vor dem Zusammenbruch der Republik vor Herausforderungen (AAN 7.3.2022).

Internet und Mobiltelefonie

Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.3.2021). Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.6.2020). Während die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf 23 Mio. geschätzt wird, gibt es weniger als neun Millionen Internetnutzer, was unter anderem auf die hohen Kosten und mangelnde Infrastruktur zurückgeführt wird (GBL 26.11.2021; vgl. BBC 6.9.2021). Internet- und Telekommunikationsdienste sind in allen 34 Provinzen Afghanistans verfügbar, und die Dienste werden von verschiedenen Unternehmen angeboten. In einigen abgelegenen Gebieten ist die Qualität des Internets schlecht. Im Allgemeinen ist die Qualität der Internetdienste in den Städten besser als in den ländlichen Gebieten. Die Weltbank schätzt, dass derzeit nur 13,5 % der Afghanen Zugang zum Internet haben (IOM 12.4.2022; vgl. DW 30.8.2021).

Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.6.2020).

Im Laufe des Jahres 2021 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 12.4.2022).

Aus strategischen Gründen schnitten die Taliban im Zuge der Kampfhandlungen die Internetverbindungen nach Panjshir zeitweise ab (AAN 1.7.2021) und es gibt auch Berichte wonach die Taliban in Kabul das Internet an- und abschalten würden (DW 30.8.2021). Am 9.9.2021 forderten die Taliban die Telekommunikationsbetreiber auf, die Internetverbindung in mehreren Bezirken Kabuls abzuschalten, darunter auch in Gebieten wie Dasht-e-Barchi, wo in den Tagen zuvor Proteste stattgefunden hatten (AI 9.2021; vgl. IT 9.9.2021, AA 21.10.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv und nutzen diese zur Außenkommunikation (BBC 6.9.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Viele afghanische Bürger, die für internationale Streitkräfte, Organisationen und Medien gearbeitet haben, wie auch andere Personen, die sich in den sozialen Medien kritisch über die Taliban äußerten, deaktivierten nach der Machtübernahme der Taliban ihre Konten, da sie befürchteten, dass die Informationen dazu verwendet werden könnten, sie ins Visier zu nehmen (BBC 6.9.2021).

Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung: 03.05.2022

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und die Meinungs- und Pressefreiheit wurden seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeiner Zusicherungen deutlich eingeschränkt. Die Taliban lösten friedliche Proteste in ganz Afghanistan gewaltsam auf, wobei sie auch Schüsse, Elektroschockwaffen und Tränengas einsetzten und Demonstranten mit Peitschen und Kabeln schlugen und auspeitschten (AI 29.3.2022; vgl. AA 21.10.2021, FH 28.2.2022, USDOS 12.4.2022). Auch von Todesopfern bei Protesten wird berichtet (BBC 19.8.2021; vgl. AA 21.10.2021). Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Proteste gegen ihre Herrschaft verschärft und haben alle Demonstrationen, die nicht offiziell genehmigt sind, verboten (TG 8.9.2021; vgl. AA 22.10.2021, USDOS 12.4.2022). Demnach müssen Demonstrationen unter Angaben von Details zu Zweck, Zeitraum und Ort des Protests mit einem Vorlauf von 24 Stunden beim Justizministerium angemeldet und von dort genehmigt werden (AA 22.10.2021). Die Taliban warnten vor "schweren rechtlichen Konsequenzen" sollte man sich nicht daran halten (TG 8.9.2021). Dennoch kommt es landesweit immer wieder zu Protesten und Gewaltanwendung gegen Demonstranten und Journalisten, zum Beispiel Ende Oktober 2021 bei einer Demonstration in Kabul für die Öffnung von Mädchenschulen (ANI 26.10.2021) und die Verbesserung der Wirtschaftslage (AA 21.10.2021). Zwischen Oktober und Dezember 2021 ebbten die Proteste weitgehend ab, wenngleich einige fortgesetzt wurden, vor allem von Lehrern, Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen Arbeitnehmern, die gegen die Nichtzahlung ihrer Gehälter protestierten. Frauengruppen griffen zunehmend darauf zurück, friedliche Versammlungen hinter verschlossenen Türen abzuhalten und ihre Botschaften über soziale Medien zu verbreiten (UNGASC 28.1.2022).

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist bislang nicht vorhanden (AA 21.10.2021; vgl. FH 28.2.2022). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich gegenwärtig im Ausland. Prominente Figuren wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung Abdullah und der ehemalige Präsident Hamid Karzai befinden sich weiterhin in Kabul (AA 21.10.2021; vgl. FP 27.10.2021) und führen Gespräche, u. a. auch mit ausländischen Gästen. Ihr Aktionsradius ist darüber hinaus äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 21.10.2021).

In Panjshir hat sich unter der Führung von Ahmad Massoud und dem ehemaligen Vizepräsidenten Saleh die sogenannte „Nationale Widerstandsfront“ gebildet, die laut eigenen Angaben auch nach der weitgehenden Übernahme der Provinz, durch die Taliban weiter aktiv ist und Angriffe durchführt. Vereinzelt gibt es auch aus anderen Provinzen Meldungen über bewaffneten Widerstand gegen die Taliban. Die Führung der „Nationalen Widerstandsfront“ hat sich mittlerweile nach Tadschikistan zurückgezogen (AA 21.10.2021; vgl. France 24 4.10.2021).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 04.05.2022

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 23.8.2021; vgl. USDOS 12.5.2021, AA 21.10.2021). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 23.8.2021, USDOS 12.5.2021). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AP 9.9.2021). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021).

Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 21.10.2021). In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.5.2021). Nach Angaben der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind Angehörige religiöser Gruppen auch weiterhin stark von der Verfolgung durch die Taliban bedroht (WT 6.10.2021; vgl. NAT 6.10.2021). Zuletzt haben auch Salafisten, die wie die Taliban Sunniten sind, jedoch der wahhabitischen Schule angehören (RFE/RL 22.10.2021), die Taliban beschuldigt, ihre Gotteshäuser zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften bzw. zu töten (FH 28.2.2022; vgl. RFE/RL 22.10.2021).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 6.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vgl. RFE/RL 6.1.2022)

Schiiten

Letzte Änderung: 03.05.2022

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 23.8.2021; vgl. AA 16.7.2021). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 12.5.2021).

Direkte Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten waren vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan selten (AA 16.7.2021). Im Jahr 2020 verzeichnete UNAMA 19 Angriffe mit 115 zivilen Opfern (60 Tote und 55 Verletzte), die dem ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und anderen regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden und die auf Kultstätten, religiöse Führer und Gläubige abzielten, verglichen mit 20 Angriffen im Jahr 2019 mit 236 zivilen Opfern (80 Tote und 156 Verletzte) (USDOS 12.5.2021). Auch nach der Machtübernahme der Taliban ging der ISKP gezielt gegen Schiiten vor mit Angriffen in Kabul, Jalalabad, Herat, Kandarhar und Kunduz (HRW 25.10.2021; vgl. FH 28.2.2022, USDOS 12.4.2022).

Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein (AI 5.10.2021; vgl. BBC 5.11.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).

Im Oktober kam es zu Anschlägen auf schiitische Moscheen in Kandarhar (UNOCHA 21.10.2021; vgl. WP 15.10.2021) und Kunduz bei denen viele Menschen getötet wurden (BBC 9.10.2021; vgl. TG 8.10.2021). Nach diesen Angriffen versprachen die Taliban die Sicherheitsmaßnahmen vor schiitischen Moscheen zu erhöhen (AN 17.10.2021; vgl. HRW 25.10.2021).

Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. HRW verwies auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh. In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober Hunderte von Hazara-Familien vertrieben, und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan wurden im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021; vgl. USDOS 12.4.2022).

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 03.05.2022

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 23.8.2021). Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 21.10.2021).

Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.3.2021; vgl. Karrell 26.1.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.4.2022).

Die am 7.9.2021 gebildete Übergangsregierung der Taliban umfasste nur drei Vertreter der usbekischen bzw. der tadschikischen Minderheiten, durch weitere Ernennungen kamen mittlerweile wenige weitere, darunter ein Vertreter der Hazara, hinzu (AA 21.10.2021).

Darüber hinaus unterliegen - soweit bislang erkennbar - ethnische Minderheiten, aber keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren (AA 21.10.2021). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure männlich und überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGASC 28.1.2022).

Hazara

Letzte Änderung: 04.05.2022

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018).

Die Lage der Hazara, die während der ersten Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2021; vgl. FH 4.3.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 12.4.2022).

Während des gesamten Jahres 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Beispielsweise tötete am 8.10.2021 ein Selbstmordattentäter der ISIS-K mindestens 50 Angehörige der schiitischen Minderheit in einer Moschee in Kundus. Am 15.10.2021 wurden bei einem Selbstmordattentat auf eine Moschee der schiitischen Gemeinschaft in Kandahar mehr als 30 Gläubige getötet. Nach Anschlägen und Drohungen verstärkten die Sicherheitskräfte der Taliban die Schutzmaßnahmen an schiitischen Moscheen (USDOS 12.4.2022). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.5.2021; vgl. AAN 17.1.2022) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde in den hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten im Westen Kabuls eine rund einmonatige Anschlagspause verzeichnet, dann kam es jedoch wieder zu Explosionen im Kabuler Stadtviertel Dasht-e Barchi, wie auch zu Anschlägen in Kunduz und Kandahar (AAN 17.1.2022). Die Hazara sind weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des ISKP zu werden. Diese Anschläge waren bereits in der Vergangenheit häufig gegen überwiegend von Hazara genutzte Einrichtungen oder Wohnviertel gerichtet (AA 21.10.2021; vgl. AAN 17.1.2022). Der amtierende Außenminister der Taliban sagte zu, die Sicherheitsvorkehrungen für schiitische Moscheen zu verstärken (AA 21.10.2021; vgl. DIS 12.2021).

Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben diese erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Sie haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Talibanregimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht (AA 21.10.2021; vgl. WSJ 2.9.2021). Zum Nachweis haben die Taliban mit ihren Kämpfern die Ashura-Feierlichkeiten [Anm.: Gedenken des Martyriums von Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed] am 19.8.2021 abgesichert und sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen (AA 21.10.2021; vgl. AJ 19.8.2021). Nach Angaben des in London lebenden Journalisten und eines afghanischen Rechtsprofessors werden die Hazara in Afghanistan von vielen Taliban-Mitgliedern weiterhin als minderwertig angesehen, da sie schiitische Muslime sind. Die dänische Einwanderungsbehörde verweist in einem Bericht auf zwei Quellen, denen zufolge Hazara seit der Machtübernahme durch die Taliban beim Zugang zum Rechtssystem und zu Ressourcen diskriminiert werden (DIS 12.2021). Außerdem wurde die Hazara-Gemeinschaft weitgehend von der Übergangsregierung und anderen hochrangigen Positionen auf nationaler und provinzieller Ebene ausgeschlossen (DIS 12.2021; vgl. WP 1.11.2021).

Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen von den Taliban getötet worden sein (AI 5.10.2021; vgl. BBC 5.11.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).

Es gibt Berichte, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Quellen verweisen auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh (HRW 22.10.2021; vgl. DIS 12.2021, FH 28.2.2022). In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober "Hunderte von Hazara-Familien", und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021; vgl. USDOS 12.3.2022). Drei im Bericht der dänischen Einwanderungsbehörde zitierten Quellen zufolge zeigen diese Vertreibungen, dass die Taliban die Hazara zwar nicht systematisch verfolgen, sie aber auch nicht bereit sind, sie zu schützen (DIS 12.2021).

Im Dezember 2021 führten hochrangige Taliban-Vertreter eine Reihe von Gesprächen mit schiitischen Hazara-Führern. Am 26.12.2021 veranstaltete der stellvertretende Interimspremierminister Maulavi Mohammed Abdul Kabir ein Treffen von schiitischen Führern aus dem ganzen Land und der stellvertretende Interims-Außenminister Sher Mohammad Abbas Stanekzai sprach am 29.12.2021 auf einer Sitzung des schiitischen Ulema-Rates in Kabul. Bei diesen Treffen bekundeten die Taliban-Vertreter ihre Entschlossenheit, für die Sicherheit aller Bürger zu sorgen und eine konfessionelle Spaltung zu vermeiden (USDOS 12.4.2022).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 04.05.2022

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.7.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (HRW 17.8.2021).

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr" (AAN 19.3.2019).

Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19-Pandemie haben die Lage weiter verschärft (AA 16.7.2021).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es Berichte, wonach die afghanische Bevölkerung daran gehindert wurde, ins Ausland zu fliehen und dort Asyl zu suchen, weil die Taliban den Zugang zum Flughafen von Kabul verhinderten oder die Landgrenzen geschlossen wurden. Einige Männer und Frauen wurden Berichten zufolge gefoltert oder misshandelt, als sie versuchten, das Land zu verlassen (AI 9.2021). Am 1.3.2022 erklärte ein Sprecher der Taliban, Besitzer legaler Reisedokumente könnten das Land ungehindert verlassen. Nur illegale Migration solle verhindert werden. Frauen dürfen nur mit männlicher Begleitung und einem triftigen Grund ausreisen. Gleichzeitig veröffentlichte das Nachrichtenportal „8am“ ein Dokument der für die Grenzsicherheit zuständigen Behörde des Innenministeriums, das Sicherheitskräfte an den Landgrenzen und Flughäfen auffordert, die Ausreise ehemaliger Angestellter der NATO und der amerikanischen Armee zu verhindern (BAMF 7.3.2022).

Sowohl Iran wie auch Pakistan haben ihre Grenzen für Personen ohne gültige Reisedokumente geschlossen, die aus Afghanistan einreisen wollen (DIS 12.2021; vgl. SIGAR 30.1.2022), wobei nach Angaben von UNHCR Afghanen weiterhin illegal über inoffizielle Grenzübergänge in den Iran gelangen (UNHCR 10.11.2021) und Pakistan die Einreise bei einer kleinen Anzahl von medizinischen Fällen ohne Dokumente erlaubt hat (SIGAR 30.1.2022). Pakistan hat im Jahr 2020 begonnen, seine Grenze zu Afghanistan mit 2.600 km an Zäunen zu verstärken (DIS 12.2021). Der Bau des Zauns wurde mit Ende 2021 weiter fortgesetzt, trotz Versuchen seitens der Taliban, den Bau zu behindern (Dawn 7.1.2022; vgl. VOA 3.1.2022).

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban riegelte die usbekische Regierung die Grenze zu Afghanistan ab und erklärte, dass keine afghanischen Flüchtlinge ins Land gelassen würden. Der usbekische Flughafen wurde zwar als Zwischenstopp zum Auftanken für Flüchtlingsflüge nach Europa und darüber hinaus zur Verfügung gestellt, doch das Einreiseverbot für Flüchtlinge blieb bestehen, auch nachdem der Grenzübergang Termez wieder für den zugelassenen gewerblichen Verkehr geöffnet wurde (VOA 23.12.2021). Auch die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan bleibt geschlossen (DIS 12.2021) und es gibt Berichte über zwangsweise Rückführungen von Afghanen aus Tadschikistan (UNHCR 19.11.2021; vgl. DIS 12.2021). Mit Stand Jänner 2022 sind die Landgrenzen nach Tadschikistan und Usbekistan für Afghanen geschlossen (SIGAR 30.1.2022).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 12.4.2022). Die Taliban schränken die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes kaum direkt ein. Allerdings können Kontrollpunkte, die dazu dienen, mutmaßliche Gegner zu verhaften und die Taliban-Vorschriften durchzusetzen, die Bewegungsfreiheit erschweren. Die Bewegungsfreiheit von Frauen ist eingeschränkt, da das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern vorschreibt, wie weit sie ohne Begleitung reisen dürfen. Frauen, die keine Kleidung tragen, die den Richtlinien des Ministeriums entspricht, kann der Zutritt zu Fahrzeugen untersagt werden (FH 28.2.2022). Seit dem 26.12.2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, mehr als 72 Kilometer (45 Meilen) ohne einen männlichen Verwandten zu reisen. Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 6.1.2022; vgl.

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 04.05.2022

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Afghanistan ist mit mehreren Krisen konfrontiert: einer wachsenden humanitären Notlage massiver wirtschaftlicher Rückgang, die Lähmung des Banken- und Finanzsystems und die die Tatsache, dass eine inklusive Regierung noch gebildet werden muss (UNGASC 28.1.2022).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020).

Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021).

Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, "besteuern". Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anm.: 10 % Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (AAN 11.11.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021; vgl. AAN 11.11.2021). Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wieder aufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (KP 9.11.2021; vgl. ANI 9.11.2021).

Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NGOs und UN-Organisationen aufgenommen (AAN 11.11.2021). Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (BAMF 6.12.2021).

Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13. September 2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Milliarde US-Dollar an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (AA 21.10.2021).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4 % der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80 % der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66 % in Mazar-e Sharif und 45 % in Herat. Ebenso gaben 8 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24 % in Mazar-e Sharif und 42 % in Herat (ATR/STDOK 18.1.2022).

Dürre und Überschwemmungen

Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 5.5.2021; vgl. UNOCHA 11.5.2021). 405 Familien wurden in weiterer Folge landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.5.2021).

Im Jahr 2021 kam es zur zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren (AAN 11.11.2021; vgl. AAN 6.11.2021), welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Besonders schlimm sind die Bedingungen im Süden, Westen und Nordwesten des Landes (AAN 6.11.2021)

Zu Beginn des Frühjahrs 2022 gibt es Berichte über schwere Regenfälle und Sturzfluten in Nangarhar (XI 20.3.2022; vgl. ANI 20.3.2022).

Armut und Lebensmittelunsicherheit

Letzte Änderung: 04.05.2022

Afghanistan kämpft weiterhin mit den Auswirkungen einer Dürre, der Aussicht auf eine weitere schlechte Ernte in diesem Jahr, einer Banken- und Finanzkrise, die so schwerwiegend ist, dass mehr als 80 % der Bevölkerung verschuldet sind, und einem Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise (UNOCHA 15.3.2022). Es ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2021; AF 2018). Im März 2022 sind nach Angaben der Vereinten Nationen 23 Millionen Afghanen von akutem Hunger betroffen, gegenüber 14 Millionen im Juli 2021 (UNOCHA 15.3.2022; vgl. IPS 24.3.2022). 95 % der Bevölkerung haben nicht genug zu essen, wobei dieser Prozentsatz bei Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand auf fast 100 % steigt (UNOCHA 15.3.2022; vgl. IPS 24.3.2022, WFP 2.2022).

Auch das World Food Program (WFP), die Food and Agriculture Organization (FAO), die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sowie die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) warnten im Oktober 2021, dass im kommenden Winter fast 23 Millionen Afghanen unter "akuter Ernährungsunsicherheit" leiden werden. Grund dafür sind die kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Coronavirus-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Unruhen nach der Machtübernahme der Taliban im Land noch verschärft hat (WFP/FAO 25.10.2021; vgl. IPC 10.2021, RFE/RL 25.10.2021, UNAMA 16.11.2021). Der im Oktober 2021 veröffentlichte IPC-Bericht zeigt, dass die Zahl der Afghanen, die von akutem Hunger betroffen sind, seit der letzten Bewertung im April 2021 um 37 % gestiegen ist (WFP/FAO 25.10.2021). Unter den Gefährdeten sind 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. NGOs warnten, dass eine Million Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohen, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhalten (IPC 10.2021; vgl. WFP/FAO 25.10.2021). Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mit März 2022 die Krankenhäuser voll mit Kindern die an Unterernährung leiden (UNOCHA 15.3.2022).

Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen. Im dritten Quartal 2021 ließen die UN 10,5 Mio. Menschen humanitäre Hilfe zukommen. Am 18.11.2021 sind 36 Tonnen an humanitärer Hilfe der russischen Regierung in Kabul eingetroffen. Insgesamt sollten 108 Tonnen geliefert werden. Ein Zug mit über 1.000 Tonnen Hilfsgütern aus China wurde für Anfang Dezember erwartet (UNAMA 16.11.2021). Am 6.12.2021 waren bereits 500 Tonnen in der Provinz Balkh angekommen (XI 6.12.2021).

Die folgende Karte zeigt die Situation im Oktober 2021 sowie eine Prognose für die voraussichtliche Ernährungssicherheit in Afghanistan für den Zeitraum von November 2021 bis März 2022 (IPC o.D.).

Nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die Preise für Lebensmittel und Treibstoff erhöht und stiegen (mit Stand November 2021) immer noch an (RA KBL 8.11.2021) und für den nahenden Winter wurde ein weiter er Anstieg prognostiziert (BAMF 8.11.2021; vgl. TN 31.12.2021). Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) stellte in seinem Weekly Market Price Bulletin für die dritte Novemberwoche 2021 fest, dass die Preise für Lebensmittel immer noch deutlich höher lagen als in der letzten Juniwoche 2021 (WFP 15.11.2021; vgl. BAMF 29.11.2021).

Nachfolgend eine Tabelle mit Vergleichspreisen vor und nach der Machtübernahme durch die Taliban (RA KBL 8.11.2021, IOM 12.4.2022):

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.1.2022).

Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten

Letzte Änderung: 04.05.2022

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020).

Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.7.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (IOM 2020).

Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40 % gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 USD bis 550 USD (10.000 AFN bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt. Je nach Standort und Art der Einrichtung (RA KBL 8.11.2021). Einer anderen Quelle zufolge liegt die durchschnittliche Monatsmiete für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern in Kabul im April 2022 bei 120-150 USD. Die monatliche Miete für ein einfaches Haus mit drei Schlafzimmern in einem Vorort liegt bei etwa 100 USD. In Mazar-i-Sharif und Herat liegt dieser Satz bei 150 USD pro Monat für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern, und für eine Lage weitab vom Stadtzentrum beträgt er 80 USD pro Monat (IOM 12.4.2022).

In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000-10.000 AFN (ca. 40 bis 80 Euro) pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.1.2022).

Arbeitsmarkt

Letzte Änderung: 04.05.2022

Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Millionen in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (UNDP 30.11.2021).

Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in "prekären Beschäftigungsverhältnissen", mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020).

Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; vgl. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 3.12.2020).

Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden (IOM 18.3.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Million Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vgl. RA KBL 8.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vgl. IPC 10.2021). Viele Unternehmen und NGOs haben ihre Arbeit eingestellt oder ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert. Die Bargeldknappheit und die Unterbrechung der Versorgungsketten in Verbindung mit dem Verlust von Investitionen und Kunden haben den privaten Sektor stark beeinträchtigt und zwingen die Unternehmen, in Nachbarländer auszuweichen, ihre Türen zu schließen oder ihre Mitarbeiter zu entlassen, um die Kosten zu senken. Ein Tagelöhner verdient bis zu 350 AFN (3,55 EUR) pro Tag. Tagesarbeit ist jedoch meist nur für zwei Tage in der Woche zu finden. Es ist schwierig geworden, Tagesarbeit zu finden, da viele, die zuvor für Unternehmen, NGOs oder die Regierung gearbeitet haben, jetzt nach Tagesarbeit suchen, um die Einkommensverluste auszugleichen (IOM 12.4.2022).

Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10 % sinken werden (UNDP 30.11.2021). Afghanische Arbeitnehmerinnen machten vor der Krise 20 % der Beschäftigten aus. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. Außerdem wird das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen wird (UNDP 30.11.2021).

Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag (IPC 10.2021). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (BAMF 29.11.2021).

Laut der saisonalen Bewertung der Ernährungssicherheit (SFSA) für das Jahr 2021 meldeten 95 % der Bevölkerung Einkommenseinbußen, davon 76 % einen erheblichen Einkommensrückgang (83 % bei städtischen und 72 % bei ländlichen Haushalten) im Vergleich zum Vorjahr. Die Hauptgründe waren ein Rückgang der Beschäftigung (42 %) und Konflikte (41 %) (IPC 10.2021).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3 % der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3 %, Frauen: 81,3 %). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62 % der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25 % eine Teilzeitstelle hatten, 9 % als Tagelöhner arbeiteten und 2 % mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1 %) gaben an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN (100 US$) pro Monat zu haben. 8,7 % der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN (100-200 US$) pro Monat zu haben, und 2,2 % stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN (200-500 US$) pro Monat ein (ATR/STDOK 18.1.2022).

Es wird geschätzt, dass mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer im dritten Quartal 2021 ihren Arbeitsplatz verloren haben und dass der Verlust von Arbeitsplätzen bis zum zweiten Quartal 2022 auf fast 700.000 ansteigen wird. Wenn sich die Situation der Frauen weiter verschlechtert und die Abwanderung zunimmt, könnten die Beschäftigungsverluste bis zum zweiten Quartal 2022 auf mehr als 900.000 Arbeitsplätze ansteigen. Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat sich besonders stark auf einige der wichtigsten Sektoren der afghanischen Wirtschaft ausgewirkt, darunter Landwirtschaft, öffentliche Verwaltung, soziale Dienstleistungen und das Baugewerbe, wo Hunderttausende von Arbeitnehmern, ihren Arbeitsplatz verloren oder keinen Lohn erhielten (ILO 1.2022).

Bank- und Finanzwesen

Letzte Änderung: 04.05.2022

Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (DW 24.8.2021). Laut einem Sprecher der Taliban sollen die Banken bald wieder öffnen (REU 25.8.2021). Nach Aussagen des Vorsitzenden der Bankiersgewerkschaft in der Hauptstadt Kabul, hätten die Banken ihren Betrieb aufgrund technischer Probleme noch nicht wieder aufgenommen. Gerüchte, dass die Banken kein Bargeld mehr hätten dementiert er, und fügte hinzu, dass die Banken voraussichtlich in den nächsten Tagen wieder normale Dienstleistungen anbieten würden (AnA 28.8.2021).

Ab November 2021 haben die Banken wieder geöffnet. Bargeldabhebungen und Kundendienste wie Kontoeröffnungen und -schließungen sind derzeit möglich. Einzahlungsmöglichkeiten, z. B. für Stromrechnungen, sind ebenfalls möglich. Die Online-Banking-Systeme funktionieren mit Stand 4.2022 nicht (IOM 12.4.2022). Derzeit kann man 30.000 AFN (ca. 400 USD) pro Woche abheben (RA KBL 11.8.2021; vgl. BAMF 11.8.2021, IOM 12.4.2022). Allerdings kann derzeit nur die Afghanistan International Bank (AIB) in Kabul 400 USD oder 30.000 AFN (367,31 EUR) pro Kunde und Woche auszahlen. In den Provinzen zahlen einige Banken nur den Gegenwert von 100-200 USD (91,83-183,66 EUR) pro Woche aus, je nach Verfügbarkeit der Mittel (IOM 12.4.2022). Anfang November 2021 verbot die Taliban-Regierung die Verwendung von Fremdwährungen im Land. Nur der Afghani dürfe für Zahlungen verwendet werden (BBC 2.11.2021; vgl. REU 2.11.2021). Das Bezahlen der täglichen Ausgaben in USD ist nur in größeren Geschäften möglich, die meisten täglichen Einkäufe werden in der Landeswährung getätigt (IOM 12.4.2022).

Firmenkunden können Inlandsüberweisungen an andere Banken vornehmen; Abhebungen sind auf bis zu 5% ihres Guthabens oder 25.000 USD pro Monat (22.957 EUR) begrenzt, je nachdem, welcher Betrag niedriger ist. Diese Begrenzung gilt jedoch nicht für neue Bareinlagen, die vollständig abgehoben werden können. Was internationale Überweisungen betrifft, so hat die DAB (Da Afghanistan Bank) die Banken angewiesen, am 28.12.2021 die Bearbeitung ausgehender internationaler Überweisungen an Firmenkunden wieder aufzunehmen, vorbehaltlich der vorherigen Genehmigung durch die DAB und der unten aufgeführten Einschränkungen (IOM 12.4.2022).

Ausgehende internationale Überweisungen sind auf den Kauf der folgenden Artikel beschränkt (die durch entsprechende Dokumente nachgewiesen werden müssen) (IOM 12.4.2022):

­ Lebensmittel

­ Medikamente

­ Treibstoff (einschließlich Gas)

­ Hygieneartikel

­ Elektrizität

­ Rohmaterial und Ersatzteile für die Produktion

­ Transport und Kommunikation

­ Wartung des Systems

­ Andere von der DAB für notwendig erachtete Zahlungen

Überweisungen sind auf 25 % des gesamten Kontosaldos eines jeden Lieferanten begrenzt. Wenn die 25 %-Grenze erreicht ist, sind keine weiteren Abhebungen mehr zulässig. Die Obergrenze von 25 % gilt jedoch nicht für neue Bareinlagen (IOM 12.4.2022).

Mitte März 2022 haben die Taliban die Tätigkeit der Versicherungsgesellschaften in Afghanistan bis auf weiteres eingestellt. In einem offiziellen Schreiben an die Versicherungsgesellschaften kündigte die amtierende Regierung die Aussetzung aller Aktivitäten der öffentlichen und privaten Versicherungsunternehmen an. In dem Schreiben heißt es, dass die Wissenschaftsakademie Afghanistans den Geist des Versicherungswesens diskutiert, um zu entscheiden, ob es gegen islamische Praktiken verstößt oder nicht (KP 16.3.2022; vgl. ANI 18.3.2022).

Hawala-System

Derzeit nutzen viele Einwohner das "Hawala"-System (IOM 12.4.2022), eine Form des Geldtausches. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (WKO 2.2017; vgl. WB 2003, FA 7.9.2016).

Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (X) das Geld, z.B. 10.000 Euro und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (X) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).

So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2 %, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 04.05.2022

In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (AA 16.7.2021).

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser waren. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020). Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken bestand, war es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 16.7.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2021; vgl. WHO 8.2020).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wurde berichtet, dass über 60 % der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzten. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte lebten, bevorzugten die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität war als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019).

Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2021).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban war das afghanische Gesundheitssystem fragil. Es wies jahrelang große Lücken auf, wurde nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 schwer in Mitleidenschaft gezogen (IOM 12.4.2022) und ist nun nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen (MSF) (MSF 10.11.2021) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Zusammenbruch bedroht (WHO 24.1.2022).

Das Programm der Weltbank, das unter der vorherigen Regierung im Rahmen des Sehatmandi-Projekts für Afghanistan Finanzmittel für wichtige Gesundheitseinrichtungen bereitstellte und die Gehälter des medizinischen Personals bezahlte, hatte seine Aktivitäten zunächst weitestgehend eingestellt (WHO 28.8.2021; vgl. HRW 3.9.2021, IOM 12.4.2022). Mehr als 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Gesundheitsfachkräften, die im Rahmen des von der Weltbank finanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt wurden, waren davon betroffen. Mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, waren ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die reduzierte Unterstützung durch das Projekt führte zur sofortigen Einstellung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, darunter Überweisungen und ambulante Essensausgabe. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügten über ausreichende medizinische Vorräte, um die Versorgung für mehrere Monate aufrechtzuerhalten (WHO 28.8.2021). Das Sehatmandi-Projekt, das von der WHO und UNICEF gemeinsam durchgeführt und von dem von der Weltbank geleiteten Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) finanziert wird, geht jedoch vom 2.2022 bis 6.2022 in seine zweite Phase (WHO 21.3.2022).

Anfang November 2021 meldete das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), dass 15 Mio. USD für die Aufrechterhaltung des Sehatmandi-Projekts und die Bezahlung von Medikamenten für die Kranken verwendet worden seien und dass alle Gehälter für Ärzte und Personal direkt auf deren Konten überwiesen worden seien (insgesamt 8 Mio. USD für 23.500 Mitarbeiter in 31 Provinzen) (BAMF 15. 11.2021; vgl. UN 10.11.2021, NPR 21.12.2021) und bis zum 15.1.2022 haben UNICEF und die WHO den Zugang zu 100 Mio. USD gesichert, um Einrichtungen der primären und sekundären Gesundheitsversorgung in 34 Provinzen zu unterstützen (WHO 15.1.2022, vgl. IOM 12.4.2022). Allerdings gibt es noch viele Lücken zu schließen (IOM 12.4.2022).

Vor allem außerhalb der großen Städte ist die Lage der medizinischen Einrichtungen sehr schlecht. Zwar erhielten viele Mitarbeiter der Krankenhäuser im Dezember nach fünf Monaten erstmalig ihr Gehalt, jedoch waren die Medikamentenvorräte noch gefährlich knapp (BBC 15.12.2021; vgl. NPR 21.12.2021). Die meisten Patienten sind angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahe gelegenen Apotheken zu kaufen (BBC 15.12.2021). Aber auch größere Krankenhäuser, die ein höheres Versorgungsniveau bieten, wie beispielsweise 39 COVID-19 Krankenhäuser, leiden an Unterfinanzierung. Den meisten fehlt es an grundlegenden Leistungen wie Sauerstoff und den für die Behandlung von COVID-19 wichtigen intravenösen Medikamenten (NPR 21.12.2021). Das COVID-19-Krankenhaus in Kabul (Afghan-Japan-Hospital) leidet beispielsweise an einem Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, und das Verfallsdatum der verfügbaren Arzneimittel ist weit überschritten (TD 17.12.2021).

In ganz Afghanistan wurde mit viertem Quartal 2021 ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder, (BBC 15.12.2021) sowie schwerer Lungenentzündung verzeichnet (NPR 21.12.2021). Die Vereinten Nationen (BBC 15.12.2021) und NGOs warnten davor, dass eine Million Kinder in den folgenden Monaten an den Auswirkungen des Hungers zu sterben drohten (IPC 10.2021; vgl. WFP/FAO 25.10.2021).

Ab dem 8.11.2021 war geplant, in Afghanistan landesweit gegen Kinderlähmung zu impfen. Zum ersten Mal seit drei Jahren sollte die Tür-zu-Tür-Impfkampagne auch Kinder in bisher nicht zugänglichen Gebieten erreichen. Die Taliban-Führung unterstützte das Vorhaben (UNICEF 18.10.2021; vgl. BBC 18.10.2021). In einigen Gebieten werden Impfungen allerdings nicht mehr im Rahmen von Haus-zu-Haus-Kampagnen durchgeführt, da die Taliban den Aufenthalt von Männern und nicht verwandten Frauen in Häusern verbieten. In diesen Gebieten werden die Menschen gebeten, zur Impfung in die nächste Moschee zu gehen, wobei die Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden. Die erneute Bereitstellung von Mitteln bedeutet auch, dass Ausbrüche von Denguefieber, Cholera und Malaria wieder bekämpft werden können (NPR 21.12.2021).

Die WHO bestätigte am 8.11.2021, dass sie sieben Tonnen an Medizin und medizinischem Gerät nach Kabul geliefert hat. Dies beinhalte Hilfe für 5.000 unterernährte afghanische Kinder (BAMF 15.11.2021; vgl. AN 8.11.2021).

Gemäß einer im Auftrag der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie, haben 43,3 % (45 % der männlichen und 42,3 % der weiblichen) Befragten, Zugang zu Ärzten. 42,3 % haben Zugang zu Fachärzten, 37,3 % zu Zahnärzten und 31,3 % zu Krankenhäusern, während der Rest nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen hat. Insgesamt 17,7 % der Befragten haben Zugang zu Impfungen. Dies bezieht sich jedoch auf ein rein städtisches Publikum. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in städtischen Ballungszentren ist aufgrund einer umfangreicheren medizinischen Infrastruktur, nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen, der Verfügbarkeit von Ärzten und Krankenschwestern, der Beschäftigungsmöglichkeiten für Ärzte und medizinisches Hilfspersonal, sowie der höheren Entlohnung, deutlich besser ist als in ländlichen oder halbländlichen Gebieten des Landes (ATR/STDOK 18.1.2022).

Rückkehr

Letzte Änderung: 04.05.2022

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. NH 26.1.2021). Im Jahr 2021 wurden bis November 1.2 Mio. Rückkehrer verzeichnet, welche die Grenze aus dem Iran und Pakistan überquerten (USAID 28.2.2022).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018).

"Erfolglosen" Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des "Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.7.2021; vgl. SFH 26.3.2021). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 8.9.2021; vgl. IOM 19.8.2021).

Während IOM derzeit in allen 34 Provinzen Afghanistans tätig ist, konzentrieren sich ihre Hauptaktivitäten vor allem auf lebensrettende humanitäre Hilfe für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, wie z.B. die Bereitstellung von Non-Food-Items (NFIs), Bargeldhilfe sowie Gesundheits- und Schutzleistungen. Aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 und der daraus resultierenden Sicherheitsbedenken hat IOM mit Wirkung vom 16.8.2021 eine vollständige Aussetzung aller unterstützten freiwilligen Rückkehr- und Wiedereingliederungsmaßnahmen (AVRR) nach Afghanistan verfügt. Daher wurde seither keine Unterstützung für die freiwillige Rückkehr im Rahmen des Projekts RESTART III mehr geleistet. Projektteilnehmer, die vor dem 16.8.2021 nach Afghanistan zurückkehrten, wurden mit Beratung und Geld- bzw. Sachleistungen bis zur Höhe des ausstehenden förderfähigen Betrags unterstützt. Darüber hinaus sah sich IOM gezwungen, die Aktivitäten im Bereich der Soforthilfe bei der Aufnahme einzustellen, da die Flüge nach Afghanistan eingestellt wurden (IOM 12.4.2022).

Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Zum Umgang der Taliban mit Rückkehrern [Anm.: aus Europa] liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021).

Am 30.8.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihulla Mujahid ein Interview. Laut Mujahid seien viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist, und die Taliban seien nicht glücklich darüber, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylbewerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgelegt würden (KrZ 30.8.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen hatten (EASO 1.2022).

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen sie nicht einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die "Eliten" die das Land verließen. Sie würden nicht als "Afghanen", sondern als korrupte "Marionetten" der "Besatzung" angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein "guter Muslim" nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht "gut genug als Muslime" seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität, beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als "die richtige Art von Mensch" bzw. nicht als "gute Muslime" wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die Tradition der paschtunischen Männer, die ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten, was eine lange Tradition hat, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht "der richtige Weg" sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, auch wenn es sich nur um Personen mit westlichen Kontakten handelt (EASO 1.2022).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung: 03.05.2022

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.6.2020; vgl. BBC 27.2.2020, Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres ersten Regimes [Anm.: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019).

Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen (IWPR 8.3.2021). Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in der Periode März 2020 - März 2021 mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum gemeldet wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Schutzeinrichtungen untergebracht (RSF 11.3.2021; vgl. CPAWJ 7.3.2021).

Die Grundrechte und -freiheiten afghanischer Frauen und Mädchen wurden trotz der Zusagen der Taliban, die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia zu schützen, einschließlich des Rechts auf Bildung, stark beschnitten (UNGASC 28.1.2022). Nach Angaben einer Gruppe von UN-Menschenrechtsexperten hat die Taliban-Führung in Afghanistan in großem Umfang und systematisch geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung institutionalisiert (UNOCHA 17.1.2022).

In den Wochen nach der Machtübernahme durch die Taliban verkündeten die Taliban-Behörden einen stetigen Strom von Maßnahmen und Verordnungen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen einschränken (HRW 13.1.2022; vgl. UNOCHA 17.1.2022), darunter den Zugang zu Beschäftigung und Bildung und das Recht auf friedliche Versammlung. Die Taliban suchten auch hochrangige Frauen auf und verwehrten ihnen die Bewegungsfreiheit außerhalb ihrer Häuser (HRW 13.1.2022). Der Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen ist bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig, es zeichnen sich aber deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Berichte über unterschiedlich ausgeprägte Repressionen und Einschränkungen für Frauen betreffen Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern (AA 21.10.2021). Bei der Ernennung der Übergangsregierung wurde das unter der Vorgängerregierung vorhandene Frauenministerium nicht berücksichtigt. Am 17.9.2021 wurde der ehemalige Sitz des Frauenministeriums in den Sitz des neuen „Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“ umgewandelt. Diese Institution hatte bereits im ersten Talibanregime Verstöße gegen die Einhaltung religiöser Vorschriften verfolgt (AA 21.10.2021; vgl. BBC 17.9.2021; HRW 13.1.2022).

Experten äußerten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen (UNOCHA 17.1.2022). Eine afghanische Richterin beschreibt, wie sie von Männern gejagt wurde, die sie einst inhaftiert hatte und die nun von den Taliban-Kämpfern freigelassen wurden (REU 3.9.2021) und es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 6.9.2021; vgl. BBC 5.9.2021). Anfang November wurden bis zu vier Frauen in Mazar-e Sharif getötet, darunter eine Frauenrechtsaktivistin. Berichten zufolge hätten die Frauen einen Anruf erhalten, den sie für eine Einladung zu einem Evakuierungsflug hielten. Sie wurden später tot aufgefunden (France 24 6.11.2021; vgl. TG 5.11.2021). Es gibt weitere Berichte, dass afghanische Frauen aus ihren Häusern geholt und verhaftet wurden, nachdem sie an Protesten teilgenommen hatten (BBC 21.1.2022; vgl. RFE/RL 22.1.2022, HRW 24.1.2022). Wochen später wurden verhaftete Frauen wieder freigelassen (BBC 14.2.2022; vgl. AJ 13.2.2022).

Es gibt Berichte wonach die Taliban weibliche Angestellte einiger Banken aufgefordert hätten, nicht an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren (AJ 16.8.2021). Einige Frauen konnten ihre Arbeit fortsetzen, andere wurden von Taliban-Kämpfern am Betreten ihres Arbeitsplatzes physisch gehindert; viele andere sind vorsichtshalber zu Hause geblieben (AI 9.2021; vgl. AA 21.10.2021). Frauen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban in der Regierung waren, sind größtenteils aus dem Land geflohen. Allerdings gab es bereits mehrere Fälle von Repressalien gegen ihre Mitarbeiter, Kollegen und Familienmitglieder, die in Afghanistan geblieben sind (AI 9.2021; vgl. TG 20.8.2021). Ein Erlass der Regierung vom 17.9.2021, dessen Authentizität bisher nicht bestätigt werden konnte, soll die öffentliche Verwaltung anweisen, männlichen Kandidaten prioritär Zugang zu bestimmten Laufbahnen im öffentlichen Dienst zu gewähren. Frauen werden aufgefordert, ihre Kündigung einzureichen (AA 21.10.2021). Die Auswirkungen auf die Beschäftigung von Frauen sind auch Ende des Jahres 2021 gravierend. Die Beschäftigung von Frauen ging im dritten Quartal 2021 um schätzungsweise 16 % zurück und es wird geschätzt, dass bei einer unveränderten Politik, die Verluste bei der Beschäftigung von Frauen bis Mitte 2022 voraussichtlich auf 21 % ansteigen werden (ILO 1.2022). Die meisten von Frauen geführten Unternehmen haben ihre Tätigkeit aufgrund der anhaltenden Liquiditätskrise und aus Angst vor Verstößen gegen die Erlasse der Taliban gegen Frauen auf dem Markt eingestellt (USDOS 12.4.2022).

Seit September 2021 kam es in mehreren Städten, darunter Kabul und Herat, immer wieder zu Protesten von Frauen gegen die Taliban (AP 3.9.2021; vgl. WP 7.9.2021; AI 9.2021). Es gibt Berichte wonach solche Proteste durch die Taliban teils gewaltsam aufgelöst wurden (UNGASC 28.1.2022), indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten sowie Tränengas und Pfefferspray (BBC 7.9.2021) bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzten (CNN 8.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021). Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Anti-Taliban-Proteste verschärft und haben alle nicht offiziell genehmigten Demonstrationen verboten, und zwar sowohl die Versammlung selbst, als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“, sollte man sich nicht daran halten (TG 8.9.2021). Am 11.9.2021 kam es zu einem Pro-Taliban-Protest durch einige Hundert komplett verschleierte Frauen. Die Taliban erklärten, die Demonstration an der Shaheed Rabbani Education University sei von Dozentinnen und Studentinnen der Universität organisiert worden (NYT 11.9.2021; vgl. France 24 11.9.2021). Zwischen Oktober und Dezember 2021 ebbten die Proteste weitgehend ab. Frauengruppen griffen zunehmend darauf zurück, friedliche Versammlungen hinter verschlossenen Türen abzuhalten und ihre Botschaften über soziale Medien zu verbreiten (UNGASC 28.1.2022). Mehrere Dutzend Personen haben Ende März in Kabul gegen die Entscheidung der Taliban protestiert, Mädchen den Besuch weiterführender Schulen zu verwehren (NZZ 26.3.2022).

Einige öffentliche Universitäten in Afghanistan wurden im Februar 2022 wiedereröffnet, nachdem sie seit der Machtübernahme der Taliban geschlossen waren, und auch einige Studentinnen nahmen den Unterricht auf (TG 3.2.2022; vgl. AJ 26.2.2022, TN 26.2.2022). Andere Universitäten, beispielsweise in Zabul, Uruzgan (TG 3.2.2022) und in Panjshir, blieben geschlossen (AJ 26.2.2022). Berichten zufolge ist der Unterricht für männliche und weibliche Studenten getrennt und findet in verschiedenen Schichten statt (TN 26.2.2022; vgl. AJ 26.2.2022). Frauen müssen sich an die islamische Kleiderordnung halten, d. h. eine Burka und eine schwarze Abaya im arabischen Stil tragen (TG 3.2.2022; vgl. AJ 26.2.2022). Mehrere Studentinnen erschienen jedoch nicht anders gekleidet als vor der Machtübernahme durch die Taliban, mit einem einfachen Schal, der ihren Kopf bedeckte (AJ 26.2.2022). Studenten der Universität Kabul sagten, die Trennung von männlichen und weiblichen Klassen habe sich auf die Lehrmethoden ausgewirkt. Ein weiteres Problem, mit dem die Studentinnen zu kämpfen haben, ist der Mangel an Lehrkräften, um zu zwei verschiedenen Zeiten unterrichten zu können (TN 26.2.2022), sowie finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der allgemeinen Wirtschaftskrise und der Tatsache, dass viele Frauen nicht mehr arbeiten dürfen (REU 25.2.2022). Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben werden, „bis die Schuluniformen im Einklang mit den afghanischen Bräuchen, der Kultur und der Scharia gestaltet sind“. Die Mädchen mussten die Schulen daraufhin wieder verlassen (AI 28.3.2022; vgl. HRW 25.3.2022, IPS 24.3.2022).

Am 19.9.2021 drangen bewaffnete Taliban gewaltsam in ein Frauenhaus in Kabul ein, verhörten das Personal und die Bewohnerinnen mehrere Stunden lang und zwangen die Leiterin des Frauenhauses, einen Brief zu unterschreiben, in dem sie versprach, die Bewohnerinnen nicht ohne Erlaubnis der Taliban gehen zu lassen. Die Taliban teilten dem Betreiber des Frauenhauses mit, dass sie die verheirateten Bewohnerinnen des Frauenhauses zu ihren Peinigern zurückbringen und die ledigen Bewohnerinnen mit Taliban-Soldaten verheiraten würden. Darüber hinaus berichteten Quellen im September 2022, dass die Taliban „Überprüfungen“ von Frauenhäusern und Frauenrechtsorganisationen, einschließlich solcher, die Schutzdienste anbieten, durchführten. Diese Überprüfungen wurden mit Einschüchterung durch das Schwenken von Waffen und Androhung von Gewalt durchgesetzt. Ausrüstungsgegenstände, darunter Computer, Akten und andere Unterlagen, wurden beschlagnahmt, und die Mitarbeiter berichteten, dass sie aggressiv zu ihren Aktivitäten und möglichen Verbindungen zu den Vereinigten Staaten befragt wurden. Wesentliche Dienstleistungsanbieter reduzierten ihre Dienste oder stellten sie ganz ein, da sie befürchteten, misshandelte Frauen, die ohnehin schon gefährdet sind, einem größeren Risiko von Gewalt und Schaden auszusetzen (USDOS 12.4.2022).

Ende Oktober berichtete Human Rights Watch (HRW), dass die Taliban strengere Tugendregeln aufstellen, als zunächst öffentlich angekündigt. In vielen Provinzen gelten per Gesetz die Regeln eines „Tugendhandbuches“, welches z. B. vorgibt, welche Frauen als Anstandsdamen für andere Frauen gelten dürfen und Partys mit Musik sowie Ehebruch und gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet (HRW 29.10.2021; vgl. BAMF 8.11.2021, RFE/RL 29.10.2021). Zusätzlich gibt es Berichte wonach in den meisten Provinzen Entwicklungshelferinnen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert würden (HRW 4.11.2021; vgl. BAMF 8.11.2021).

Im November wiesen die Taliban Fernsehsender in Afghanistan an, keine Seifenopern oder andere Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, in denen Frauen auftreten (AJ 25.11.2021; vgl. VOA 21.11.2021). Des Weiteren wurde erklärt, dass Journalistinnen einen Hijab tragen müssen (AJ 25.11.2021).

Anfang Dezember verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister der Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären (ABC News 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021). Währenddessen sind weiterhin Tausende Mädchen vom Besuch der siebenten bis zwölften Schulstufe ausgeschlossen und der Großteil der Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt (ABC News 3.12.2021). UN-Menschenrechtsexperten wiesen auf das erhöhte Risiko der Ausbeutung von Frauen und Mädchen hin, einschließlich des Handels zum Zwecke der Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung und der Zwangsarbeit (UNOCHA 17.1.2022).

Die Religionspolizei der Taliban affichierte in der afghanischen Hauptstadt Kabul im Januar 2022 Plakate, auf denen Frauen aufgefordert werden, sich zu verschleiern (VOA 7.1.2022; vgl. Dawn 8.1.2022).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den allgemeinen Feststellungen:

Soweit Feststellungen zur Identität von BF1 und BF2 getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung der Person im Asylverfahren, da keine geeigneten Dokumente betreffend die Identität vorgelegt wurden.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu seiner Abstammung, Sprachkenntnissen, der Berufserfahrung beruhen auf der Aktenlage und den Angaben in der VH. Soweit BF1 in der Verhandlung relativiert, dass sie Schiitin sei, weil ihre Eltern das bestimmt haben, so wird festgehalten, dass sie weder religionsfeindlich auftritt noch den Eindruck erweckte, dass sie sich mit der islamischen Religion auseinandergesetzt hat und diese ablehnt, zumal sie dies lediglich im Kontext, dass sie kein Kopftuch mehr tragen wolle, erwähnte.

Der Gesundheitszustand ergibt sich aus den Angaben in der Verhandlung und den im Verfahren vorgelegten Unterlagen.

Die Unbescholtenheit aufgrund der Strafregisterabfrage.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen:

BF1 und BF2 gehören als schiitischer Hazara einer ethnischen und religiösen Minderheit an, wurden deshalb in Afghanistan jedoch persönlich nicht verfolgt.

BF1 und BF2 konnten keine Verfolgung durch die Taliban im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan glaubhaft machen:

Eine konkrete persönliche Bedrohung durch die Taliban hat der BF2 im Verfahren ursprünglich nicht vorgebracht. In der Erstbefragung gab der BF2 als Fluchtgrund an: In unserer Gegend herrschte Unsicherheit. Die Taliban ist jetzt dort. Nachts kann man die Häuser nicht verlassen. Es sind welche mitgenommen worden. Die sind nach wie vor verschwunden, man weiß nicht wo sie hingebracht wurden. Deshalb sind wir geflüchtet. Im Falle seiner Rückkehr bestehe durch die Unsicherheit besteht die Angst, dass jemanden was passiert (VwAkt BF2 S. 11, Erstbefragung S. 6). Dieses Vorbringen ist sehr vage gehalten und stellt insbesondere auf die damalige Sicherheitslage und die daraus resultierenden Befürchtungen ab. Auch bei der Befragung durch das BFA verneinte BF2 eine konkrete Bedrohung durch die Taliban (VwAkt BF2 S. 67, Niederschrift BFA S. 6).

BF2 brachte erstmals bei der Befragung durch das BFA den Tod einem namentlich genannten Paschtunen und Neffe des örtlichen Kommandanten und Dorfältesten als Grund für seine Flucht vor. Nach seiner Schilderung soll der Cousin des BF2 diese Person im Zuge eines Streits über die Bewässerung getötet haben und BF2 werde dieser Tat nun verdächtigt. (VwAkt BF2 S. 65 f., Niederschrift BFA S. 5 f.). In der Verhandlung beim BVwG gab der BF2 an, er glaube der Name dieses Mannes sei XXXX gewesen (BVwG BF2 OZ 17 S. 14). Es scheint lebensfremd, dass der erwachsene BF2 den Namen dieses Nachbarn welcher die Felder in unmittelbarer Nähe zu den vom BF2 betreuten gehabt haben soll und dessen Onkel ein einflussreicher Mann gewesen sein soll, nicht kennt. Darüber hinaus fällt auf, dass die BF1 ihrerseits im Widerspruch angab, dass es sich bei der einflussreichen Person um den Vater des Getöteten gehandelt habe (VwAkt BF1 S. 53, Niederschrift BFA S. 6) bzw. in der Verhandlung den XXXX anders als BF2 (BVwG BF1 34Z S. 16) als Feind ihres Vaters angab (BVwG BF1 34Z S. 22).

Darüber hinaus fällt auf, dass BF1 bei ihrer Erstbefragung folgenden Fluchtgrund angeführt hat: „Wegen den Talibans. Sie haben uns kein Leben mehr ermöglicht. Mein Vater wurde von denen verschleppt und umgebracht. Ich schätze es muss vor ca. 2 Jahren gewesen sein. Auch mein mit uns mitgereister Bruder […] wurde von den Taliban misshandelt. Deshalb sind wir geflüchtet.“ Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat? „Ich habe Angst vor den Taliban. Ich habe Angst, dass auch mir oder uns das gleiche passiert als meinem Vater und Bruder.“ (VwAkt BF1 S. 11, Erstbefragung BF1 S. 6). Somit hat BF1 anders als BF2 eine Verfolgung durch einen konkreten Angriff der Taliban auf ihren Vater und Bruder geltend gemacht, den Vorfall mit dem Nachbarn erwähnte sie hingegen nicht. Beim BFA gab BF1 an, es habe eine Feindschaft mit den Taliban gegeben, weil ihr Vater seinerzeit gegen die Taliban gekämpft habe, zu einer Hazara Partei namens Wahdat gehört und einen namentlich genannten Kommandanten der Afghanen getötet habe. Die Nachkommen des Getöteten hätten ihren Vater und Bruder gefoltert, ihr Vater sei deshalb verstorben. (VwAkt BF1 S. 51, Einvernahme BFA S. 5) In der Verhandlung war bis zur Rückübersetzung XXXX der Verfolger (beispielsweise OZ 34 S.22). Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen Angaben kann auch das Vorbringen, ihr Vater hätte vor Jahren einer Hazara-Partei angehört und habe einen Talib getötet, nicht überzeugen, zumal die angeführte nicht glaubhaft gemachte Verfolgung vor einigen Jahren auf diesem Vorbringen aufbaut.

BF1 lebt NICHT im Widerspruch zu den afghanischen Werten. Dem Länderinformationsblatt Version 7 ist zu entnehmen, dass die Taliban die Freiheiten der Frauen seit ihrer Machtergreifung verringert haben. Die Angaben der BF1, warum sie in Afghanistan das Haus nicht habe verlassen dürfen, sind widersprüchlich. Einerseits gibt sie der konservativen Gesellschaft die Schuld (beispielsweise BF1 OZ 34 S. 22 f.), andererseits gibt sie als Grund dafür die jahrelange Verfolgung durch den Feind ihrer Familie an (beispielsweise BF1 OZ 34 S. 20 f.). Wobei auch nicht ersichtlich ist, wieso sie einerseits jahrelang das Haus bzw. den Garten nicht verlassen haben will (BF1 OZ 34 S. 20), andererseits allerdings vom Onkel ms geschickt worden sei, um nach Vater und Bruder zu sehen (VwAkt BF1 S. 51, Einvernahme BFA S. 5) und hatte nach eigener Aussage keinerlei Angaben dazu, wo das besagte Grundstück liegt (BF1 OZ 34 S. 20). Darüber hinaus war es der BF1 trotz mehrmaliger Nachfrage nicht möglich nähere Angaben zu jenen Männern zu machen, welche im gleichen Haus gelebt haben und ihren Schutz in Afghanistan im Haus sichergestellt haben sollen (BF1 OZ 34 S. 21). In der Zeit, in welcher die BF1 in AFG lebte, war Arbeit für Frauen außerhalb des Hauses möglich. Auch zum Zeitpunkt der Verkündung ist die Arbeit von Frauen in bestimmten Bereichen möglich, so z.B. auch im TV, wenn die geforderten Bekleidungsvorschriften eingehalten werden.

Das Leben von BF1 in Österreich ist nicht geeignet, sie zu exponieren und einer asylrelevanten Verfolgung auszusetzen. Ihre Sorge für den gesundheitlich beeinträchtigten Bruder entspricht der Rollenzuschreibung der afghanischen Gesellschaft an Frauen, ebenso wie ihr angestrebtes Berufsziel als Krankenpflegerin. Wobei ihre diesbezügliche Motivation auch ihre Sozialisierung betreffend Rollenzuschreibungen von Frauen erkennen lässt (BF1 OZ 17 S. 6: „RI: Was wollen Sie arbeiten? BF[1]: Im Pflegeheim. RI: Wissen Sie, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um als Krankenpflegerin tätig zu sein? BF[1]: Ich weiß, dass ich bis zum Niveau B1 Deutsch können muss. Ich möchte gerne als Heimhelferin arbeiten und dafür muss ich nur gut Deutsch können. RI: Warum wollen Sie arbeiten? BF[1]: Ich möchte gerne hilfsbedürftigen alten Menschen helfen. Ich habe meine Eltern sehr früh verloren und hatte nicht die Möglichkeit, sie zu pflegen. Ich möchte auch finanziell unabhängig sein und möchte nicht darauf warten, bis mir mein Mann Geld hilft oder ich staatliche Hilfe bekomme. Ich möchte in der Lage sein, mein eigenes Geld für mich auszugeben. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, in meine Heimat zurückzukehren, damit würde ich alle meine Freiheiten verlieren. Ich ersuche Sie, mir meine Freiheit nicht wegzunehmen“).

Nicht nachvollziehbar ist die Angabe von BF1, wonach sich ihr Ehemann den gesellschaftlichen Verhältnissen in Österreich angepasst habe und im Falle einer Rückkehr automatisch in die dortigen konservativen Vorstellungen zurückfallen würde. Auch wenn der gesellschaftliche Druck auf Männer sowohl in Österreich als auch in Afghanistan in bestimmten Bereichen nicht verkannt wird, so spricht auch bei einer Fortsetzung der Beziehung in AFG nichts gegen einen respektvollen Umgang im internen Verhältnis zwischen BF1 und BF2, zumal BF1 angegeben hat, dass dies auch in Österreich der Fall ist. (BF1 OZ 34 S. 12 und 14)

Soweit BF1 das Kopftuchtragen anspricht, so wird festgehalten, dass in muslimischen Ländern strengere Bekleidungsvorschriften gelten. BF1 hat sich bei der Befragung durch das BFA fast zwei Jahre nach der Einreise nach Österreich noch verschleiert und traditionell muslimische Bekleidung getragen (VwAkt BF1 S. 57, Einvernahme BFA S. 8). Die BF1 konnte keine überzeugenden Gründe dafür angeben, wieso sie mittlerweile das Kopftuch nicht mehr trägt (BF1 OZ 17 S. 9 f. und OZ 34Z S. 22 f.). Vielmehr macht es den Eindruck, dass sich die BF1 den Verhältnissen in Österreich anpassen möchte und daher die Möglichkeit kein Kopftuch zu tragen mittlerweile nutzt. Die Angabe der BF1 in der Verhandlung dazu, dass sie bereits in Afghanistan kein Kopftuch tragen wollte ist vor dem Hintergrund nicht glaubhaft, dass die BF1 in Österreich mindestens zwei Jahre gebraucht hat, um das Kopftuch abzulegen (BF1 OZ 34 S. 23). Die Tatsache, dass sie derzeit kein Kopftuch trägt, belegt für sich allein keine Ablehnung des islamischen Glaubens.

Betreffend ihren Berufswunsch Krankenpflegerin ist zwar erkennbar, dass die BF1 sich sehr um die Erlangung der diesbezüglichen Voraussetzungen bemüht und dafür auch durch ihren österreichischen Freundeskreis unterstützt wird. Allerdings lebt die BF1 derzeit bereits 6,5 Jahre in Österreich und hat bis dato noch keine ausreichenden Sprachkenntnisse nachgewiesen, welche diesen Berufswunsch in absehbarer Zeit realistisch scheinen lassen. Dabei wird nicht verkannt, dass sie sich intensiv auch um ihren erkrankten Bruder kümmert, psychische Probleme der BF1 zuletzt XXXX dokumentiert sind und diese von einen Analphabetenlevel starten musste. Dem steht allerdings die von BF1 angegebene umfassende Unterstützung durch Ihren Ehemann im Haushalt gegenüber (BF1 OZ 34 S. 14: „RI an BF1: Wie verbringen Sie den Tag in Österreich? BF1 (auf Deutsch): Ich stehe um 6 Uhr auf und ich dusche mich und ich schminke mich. Meine Mann macht das Frühstück und ich wecke meinen Bruder auf und zusammen wir frühstücken und ich gebe die Tablette meine Bruder und 6:30 Uhr fahre zum Deutschkur mit dem Bus und die Deutschkurs beginnt um 8 Uhr bis 13 Uhr und zurückkommen nach Hause und zusammen essen und dann mit meinem Bruder eine Stunde spazieren und nach dem Spazieren kommen nach Hause und meine Hausaufgabe machen und Deutsch lernen und nach dem Deutsch lernen mit meinem Mann ich koche mit meinem Mann. Um 19 Uhr wir essen zusammen. Um 22 gehen wir schlafen.“), sowie durch Freund*innen in Österreich. Sie hat auch schon Fortschritte gemacht, allerdings scheinen diese für eine selbstbestimmte Lebensführung nach eigenen Vorstellungen derzeit noch nicht ausreichend zu sein.

Sportausübung (BF1 gibt Radfahren an) ist nach der Rechtsprechung nicht geeignet die westliche Orientierung im Sinne der Rechtsprechung zu begründen (vergleiche VwGH Ra 2017/18/0301, 23.01.2018).

Da die von BF1 und BF2 jeweils individuell vorgebrachten Bedrohungsszenarien nicht glaubhaft waren, geht von diesen auch keine Gefährdung des jeweils anderen aus.

Weitere individuelle aktuelle Bedrohungsszenarien wurden von BF1 und BF2 nicht vorgebracht und sind auch nicht ersichtlich.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation in Afghanistan:

Der Entscheidung wurden außer dem Parteivorbringen und den vorgelegten Unterlagen auch die folgenden Quellen zur Feststellung zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt:

Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan aus dem COI-CMS Version 7 vom 04.05.2022

EASO Country Guidance: Afghanistan, November 2021

EUAA (ehemals: EASO), Afghanistan Country Focus - Country of Origin Information Report, January 2022

EUAA, Guidance Note: Afghanistan, April 2022

EASO, Afghanistan Security situation update, September 2021

UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021,

Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af

UNHCR, Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Die zugrunde gelegten Länderinformationen wurden ins Verfahren eingebracht, die Parteien sind ihnen nicht bzw. nicht substantiiert entgegengetreten. Es wurden Auszüge aus dem angeführten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation als Feststellungen wiedergegeben, welche weder durch die älteren noch durch die datumsmäßig aktuelleren angeführten Unterlagen relativiert wurden.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten

3.1.1. Relevante Bestimmungen des Asylgesetz 2005

Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Flüchtling im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Dabei ist auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 zu beachten, die auf Artikel 9 der Statusrichtlinie verweist.

3.1.2. Judikatur

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet.

Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Die Voraussetzung der „wohlbegründeten Furcht“ vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265 mwN).

Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Flüchtlingskonvention. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. hiezu VwGH 21.01.1999, 98/18/0394; 19.10.2000, 98/20/0233 mwH). Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden (vgl. VwGH 17.06.1993, 92/01/1081; 14.03.1995, 94/20/0798).

3.1.3. Für die Beschwerdefälle bedeutet das:

Auch wenn die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 und EASO Country Guidance von 2018, 2019 und 2020 sowie von November 2021 Risikoprofile aufzählen, fordern sie die Durchführung einer individuellen Einzelfallprüfung (vergleiche beispielsweise VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0405).

Diese Einzelfallprüfung wurde in den Beschwerdefällen durchgeführt. Wie oben in der Beweiswürdigung ausgeführt wurde, ist es BF1 und BF2 nicht gelungen, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft zu machen.

Dem Länderinformationsblatt Version 7 ist zu entnehmen, dass es Anschläge der ISKP gibt, welche sich gegen die Hazara richten. Es kommt in verschiedenen Bereichen des Landes auch zu Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen. Allerdings gehören auch zwei Hazara der Regierung an und die Taliban schützen schiitische Glaubenseinrichtungen gegen ISKP. Es ergaben sich daher keine konkrete Anhaltspunkte dafür, dass alle schiitischen Hazara aktuell alleine ihrer Volksgruppenzugehörigkeit und/oder Glaubensrichtung (schiitischer Islam) in Afghanistan bzw. in der Herkunftsprovinz von BF1 und BF2 einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre.

Eine Gruppenverfolgung von Rückkehrer*innen aus dem Ausland – gegebenenfalls wegen unterstellter „westlicherer Orientierung“ – lässt sich den Länderinformationen aktuell nicht entnehmen.

Eine Gruppenverfolgung aller Frauen lässt sich aktuell aus den Länderinformationen ebenfalls nicht ableiten.

Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich für BF1 und BF2 kein Status von Asylberechtigten ableiten (siehe dazu die Judikatur des VwGH dass eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation dafür nicht ausreicht, etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0798, und wirtschaftliche Benachteiligungen nur dann asylrelevant sein können, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen, etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161, wobei diesfalls dieser Entzug mit einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Anknüpfungspunkt zusammenhängen müsste, was im Beschwerdefall zu verneinen wäre).

Im Verfahren haben sich auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände von BF1 und BF2 auch sonst keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen im Herkunftsstaat maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen.

Die Beschwerde von BF1 und BF2 gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide war daher gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen.

3.2. Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten

3.2.1. Relevante Bestimmungen des Asylgesetz 2005

Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

(5) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.

(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.

(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.

Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 9. (1) […]

(2) Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Abs. 1 abzuerkennen, so hat eine Aberkennung auch dann zu erfolgen, wenn

1. einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegt;

2. der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder

3. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.

In diesen Fällen ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(3) bis (4) […]

Innerstaatliche Fluchtalternative

§ 11. (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

Es ist somit vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

3.2.2. Judikatur

Die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 MRK setzt eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 MRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH vom 8. September 2016, Ra 2016/20/0063, mit weiteren Nachweisen). (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137)

Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 MRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479, und vom 23. September 2009, 2007/01/0515, jeweils mit weiteren Nachweisen). (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137)

Der EGMR erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 MRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 MRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217). (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137)

Nach der Rechtsprechung sowohl des EGMR (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich, sowie EGMR vom 23. August 2016, Nr. 59166/12, J.K. u.a. gegen Schweden) als auch des EuGH (vgl. EuGH vom 17. Februar 2009, C-465/07, Elgafaji, und vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakité) ist von einem realen Risiko einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 MRK garantierten Rechte einerseits oder von einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts andererseits auszugehen, wenn stichhaltige Gründe für eine derartige Gefährdung sprechen. (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137)

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 MRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen. (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137)

§ 11 AsylG 2005 unterscheidet nach seinem Wortlaut zwei getrennte und selbständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Zum anderen setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann. Die Zumutbarkeit des Aufenthaltes ist daher von der Frage der Schutzgewährung in diesem Gebiet zu trennen. Im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung ist das Kriterium der "Zumutbarkeit" nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001-5).

3.2.3. Für die Beschwerdefälle bedeutet das:

Bei BF1 und BF2 handelt es sich um volljährige, junge, anpassungs- und arbeitsfähige Menschen.

Eine Rückkehr nach Afghanistan, wie beispielsweise die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, ist ihnen aktuell aber nicht möglich. Die bisherige Einschätzung betreffend eine innerstaatliche Fluchtalternative (interne Schutzalternative) für junge, arbeitsfähige Männer ohne Sorgepflichten bzw. Ehepaare ohne Kinder in afghanischen Großstädten (beispielsweise Mazar-e Sharif und Herat) aufgrund der damaligen Länderinformationen sowie der UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und der EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 ist aufgrund der jüngsten Veränderungen in Afghanistan, insbesondere der Machtergreifung der Taliban und der Beendigung des Abzugs der internationalen Truppen, nicht mehr aktuell.

Aus dem oben wiedergegeben Länderinformationsblatt (Version 7) ergibt sich betreffend die Sicherheits- und Versorgungssituation in Afghanistan im Wesentlichen:

Allgemeine Sicherheitslage:

Seit der Machtübernahme der Taliban ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern (UNGASC 28.1.2022) und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen (USDOS 12.4.2022). Seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangarhar und Kunar sowie in Kabul (DIS 12.2021; vgl. AA 21.10.2021, UNGASC 28.1.2022). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung.

Grundversorgung und Wirtschaft:

Zu Beginn des Frühjahrs 2022 gibt es Berichte über schwere Regenfälle und Sturzfluten in Nangarhar (XI 20.3.2022; vgl. ANI 20.3.2022).

Armut und Lebensmittelunsicherheit: Afghanistan kämpft weiterhin mit den Auswirkungen einer Dürre, der Aussicht auf eine weitere schlechte Ernte in diesem Jahr, einer Banken- und Finanzkrise, die so schwerwiegend ist, dass mehr als 80 % der Bevölkerung verschuldet sind, und einem Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise (UNOCHA 15.3.2022). Es ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2021; AF 2018). Im März 2022 sind nach Angaben der Vereinten Nationen 23 Millionen Afghanen von akutem Hunger betroffen, gegenüber 14 Millionen im Juli 2021 (UNOCHA 15.3.2022; vgl. IPS 24.3.2022). 95 % der Bevölkerung haben nicht genug zu essen, wobei dieser Prozentsatz bei Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand auf fast 100 % steigt (UNOCHA 15.3.2022; vgl. IPS 24.3.2022, WFP 2.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mit März 2022 die Krankenhäuser voll mit Kindern die an Unterernährung leiden (UNOCHA 15.3.2022).

Arbeitsmarkt:

Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Million Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vgl. RA KBL 8.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vgl. IPC 10.2021). Viele Unternehmen und NGOs haben ihre Arbeit eingestellt oder ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert. Tagesarbeit ist meist nur für zwei Tage in der Woche zu finden. Es ist schwierig geworden, Tagesarbeit zu finden, da viele, die zuvor für Unternehmen, NGOs oder die Regierung gearbeitet haben, jetzt nach Tagesarbeit suchen, um die Einkommensverluste auszugleichen (IOM 12.4.2022)

Rückkehr:

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden.

Vor diesem Hintergrund sind aktuell die Sicherheits- und humanitäre Lage und deren Entwicklung nicht abschätzbar.

In Anbetracht der Unbeständigkeit der Situation in ganz Afghanistan hält es UNHCR nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verweigern (UNHCR, Leitlinien zu Afghanistan, Februar 2022, Rz 7).

EASO hielt in der Guidance note November 2021 noch fest, dass zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichtes davon ausgegangen wird, dass bereits aufgrund der prekären Sicherheitslage in ganz Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe. Diese wird nunmehr von EUAA (ehemals EASO) Guidance note: Afghanistan, April 2022, ersetzt. EUAA geht nunmehr davon aus, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative im Allgemeinen in Afghanistan nicht gegeben ist (S. 40). Es müsse die Unsicherheit der aktuellen Situation und der fehlende Schutz, der die Anforderungen von Artikel 7 Qualifikationsrichtlinie erfüllt, berücksichtigt werden, ebenso wie die aktuelle humanitäre Lage in Afghanistan, welche sich auf das Kriterium der Angemessenheit im Rahmen der Bewertung nach Artikel 8 Qualifikationsrichtlinie auswirke und dazu führe, dass das eine innerstaatliche Fluchtalternative generell nicht angemessen sei. (S. 39 f.)

Auch vor dem Hintergrund der aktuellen, höchstgerichtlichen Judikatur ist von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen, sodass aktuell eine Situation angenommen werden muss, die den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK aussetzt (vgl. beispielsweise VfGH 01.03.2022, E 189/2022 betreffend einen Paschtunen sunnitischen Glaubens aus Nangarhar).

Eine Rückkehr nach Afghanistan in ihre Heimatprovinz ist für BF1 und BF2 daher derzeit nicht möglich, eine IFA in den Großstädten Afghanistans besteht im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr.

Die Rückverbringung von BF1 und BF2 nach Afghanistan steht daher aktuell im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005.

Es ist allerdings zu prüfen, ob ein Ausschlussgrund nach § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. BF1 und BF2 sind unbescholten. Auch sonst sind im Verfahren keine Hinweise auf einen Ausschlussgrund hervorgekommen.

Daher war BF1 und BF2 jeweils subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

3.2. Erteilung von befristeten Aufenthaltsberechtigungen

§ 8 Absatz 4 AsylG 2005 bestimmt:

„Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.“

BF1 und BF2 war gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres zu erteilen.

3.3. Ersatzlose Behebung der Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide

Da durch die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten die rechtliche Voraussetzung für die übrigen Spruchpunkte der angefochtenen Bescheide wegfällt, sind diese zu beheben (vergleiche VwGH 29.04.2015, Fr 2014/20/0047; 28.01.2015, Ra 2014/20/0121; 08.09.2015 Ra 2015/18/0134, je mwN).

Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision

3.4. Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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