W200 2254339-1/5E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Scherz als Vorsitzende und durch den Richter Dr. Kuzminski sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Halbauer als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien (SMS), vom 07.03.2022, OB: 21082990600045, beschlossen:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Begründung:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin ist im Besitz eines Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 Prozent.
Am 05.11.2021 stellte sie unter Vorlage von medizinischen Unterlagen einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b Straßenverkehrsordnung 1960 (Parkausweis) sowie auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass.
Das vom Sozialministeriumservice (im Folgenden: SMS; belangte Behörde) eingeholte Gutachten eines Allgemeinmediziners vom 18.01.2022, basierend auf einer Untersuchung der Beschwerdeführerin am 18.01.2022, gestaltet sich wie folgt:
„Anamnese:
Letzte hierortige Einstufung 2021-10 mit 50% (degenerative Wirbelsäulenveränderungen 40, Crohn 30, linkes Knie 10, chron. Sinusitis 10)
TE, Nasennebenhöhlenoperation
Nieren- und Lebercysten seien in Beobachtung, in der Brust habe sie gutartige Veränderungen
Derzeitige Beschwerden:
Die Antragswerberin klagt „über Schmerzen in den Bandscheiben, Gelenken, Knochen und Darm bei Morbus Crohn, sie habe immer wieder Schübe mit gehäuftem Stuhlgang, Durchfällen“
Keine spezifizierte Allergie bekannt
Anderwärtige schwere Krankheiten, Operationen oder Spitalsaufenthalte werden negiert.
Lt. eigenen Angaben mit öffentlichen VM zur ho. Untersuchung gekommen.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel: Pentasa, Novalgin Celecoxib
Sozialanamnese:
In Serbien geboren, 1988 nach Österreich gekommen
seit ca. 4 Jahren AMS, als Postangestellte, verheiratet seit ca. 2010, keine Kinder, wohnt in einer Genossenschaftswohnung im 5. Stock mit Lift, 10 Stufen sind zu überwinden.
Kein Pflegegeld
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
2021-12 mitgebrachter Befund, MRT LWS: keine signifikante Befundänderung zum Vorbefund 6/2021, kein Prolaps
2021-10 Franziskus Spital GmbH, Innere: BS-Protusion L5/S1 mit Wurzeltangierung mit Knochenmarksödem (08.10.2021)
Morbus Crohn
Osteopenie
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand: 38 jährige AW in gutem AZ kommt alleine zur Untersuchung, Rechtshänderin,
Ernährungszustand: gut
Größe: 160,00 cm Gewicht: 61,00 kg Blutdruck: 120/80
Klinischer Status – Fachstatus:
(…)
Abdomen: Bauchdecken im Thoraxniveau, Hepar nicht vergrößert, Lien nicht palpabel, keine pathologischen Resistenzen tastbar, indolent,
NL bds. frei
Extremitäten:
OE: Tonus, Trophik und grobe Kraft altersentsprechend unauffällig.
Nacken und Schürzengriff gut möglich,
in den Gelenken aktiv und passiv altersentsprechend frei beweglich, Faustschluß beidseits unauffällig,
eine Sensibilitätsstörung wird nicht angegeben
Feinmotorik und Fingerfertigkeit ungestört.
UE: Tonus, Trophik und grobe Kraft altersentsprechend unauffällig. Hüftbeugung beidseits nur bis 80 cm zugelassen, im Sitzen, beim Aus- und Ankleiden Beugung über 90°, sonst in den Gelenken altersentsprechend frei beweglich, Bandstabilität,
keine Sensibilitätsausfälle, selbständige Hebung beider Beine von der Unterlage möglich, Grobe Kraft an beiden Beinen seitengleich normal.
Fußpulse tastbar, verstärkte Venenzeichnung keine Ödeme
PSR: seitengleich unauffällig, Nervenstämme: frei, Lasegue: nicht überprüfbar
Wirbelsäule: In der Aufsicht gerade, weitgehend im Lot, in der Seitenansicht gering verstärkte Brustkyphose, FBA: 50 cm durchgeführt, Aufrichten frei,
mäßiger Klopfschmerz,
endgradig eingeschränkte Seitneigung und Seitdrehung der LWS, altersentsprechend
freie Beweglichkeit der HWS, Kinn-Brustabstand: 1 cm,
Hartspann der paravertebralen Muskulatur,
Gesamtmobilität - Gangbild:
kommt mit Halbschuhen und 2 Stützkrücken, ohne diese frei gehend mit unauffälliger Abrollbewegung, Zehenballen- und Fersengang sowie Einbeinstand beidseits möglich. Die tiefe Hocke wird nicht durchgeführt. Vermag sich selbständig aus- und wieder anzuziehen
Status Psychicus:
Bewußtsein klar.
gut kontaktfähig, Allseits orientiert, Gedanken in Form und Inhalt geordnet, psychomotorisch ausgeglichen, Merk- und Konzentrationsfähigkeit erhalten;
keine produktive oder psychotische Symptomatik,
Antrieb unauffällig, Affekt: dysthym
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
keine maßgebliche Änderung
[…] Dauerzustand
[…]
1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
Keine. Bedingt durch die degenerativen Wirbelsäulenveränderungen liegt eine moderate Gangablaufstörung vor, welche jedoch das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, (300-400m), sowie das Ein-und Aussteigen und Mitfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erheblich erschwert. Darüber hinaus führt auch das Zusammenwirken mit dem Morbus Crohn nicht zu einer maßgeblichen Behinderung der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel, ist eine höhergradige, anhaltende Stuhlinkontinenz ist nicht dokumentiert.
2. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Liegt ein Immundefekt vor im Rahmen dessen trotz Therapie erhöhte Infektanfälligkeit und wiederholt außergewöhnliche Infekte wie atypische Pneumonien auftreten?
nein
Gutachterliche Stellungnahme:
Darüber hinaus ist eine behinderungsbedingte Erfordernis der hierortig benützten 2 Stützkrücken, unter Berücksichtigung der objektivierbaren Gesundheitsschäden, nicht begründbar“
Im gewährten Parteiengehör zu diesem Gutachten legte die Beschwerdeführerin einen Befund eines Orthopäden vom 16.02.2022 vor, der u.a. auch das Leiden an chronisch rezidivierenden Schmerzen beinhaltete. Laut Befund sollte die Beschwerdeführerin aus orthopädischer Sicht die Schultern nicht langfristig über die Horizontale heben und halten sowie nicht längere Stunden sitzen, stehen oder gehen, nichts Schweres tragen oder heben. Das Bücken, Knien oder Hocken sowie Besteigen von Leitern und Gerüsten unter Vermeidung von Kälte und Nässe sei nicht zumutbar. Alltägliche Bewegungsabläufe des Stütz- und Bewegungsapparates wären eingeschränkt. Es sei festzustellen, dass die Krankheiten der Beschwerdeführerin zunehmend therapieresistent werden würden und die Schmerzen immer schlechter unter Kontrolle zu bringen seien.
In einer Stellungnahme vom 04.03.2022 führte der befasste Allgemeinmediziner dazu Folgendes aus:
„Die Antragswerberin gab im Rahmen des Parteiengehörs […] an, daß sie mit dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens nicht einverstanden sei..
Nachgereicht wurde ein Befund von Dr. XXXX , FA für Orthopädie, der ein CVS mit Myogelosen der Mm.trapezii bds., Schulter-Arm Syndrom re., PHS mit Tendinitis M.levator scapulae re. mit Impingement - Zeichen, S-förmige skoliotische Fehlhaltung der BWS und LWS, Spondylarthrosis der BWS et LWS, Gonalgie li, Chondropathia genu sin., Femuropatellargelenksarthrosis bds., Osteochondrose mit KMÖ und BS-Protrusion L5/S1 mit Wurzeltangierung, Einengung der Neuro foramens L5/Sl, Lumboischialgie bei multisegmentaler Osteochondrose L2-L5, BS-Protrusion L3/L4 mit Wurzeltangierung, Z.n.Ilomedintherapie (08.10.2021), Arthrosis interspinalis L4/L5 und ausgedehnte Rippenknorpelverkalkungen beschreibt und festhält, daß „das Nutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln für die Patientin nicht mehr lange alleine zu bewältigen ist“.
Ein weiterer aktueller Befund wurde bisher nicht vorgelegt.
Die von der Antragstellerin beim Antrag und bei der Untersuchung vorgebrachten Leiden wurden von allgemeinmedizinischer Seite, insbesondere auch unter Beachtung der von der Antragstellerin zur Verfügung gestellten Befunde zur Kenntnis genommen und einer Einschätzung gemäß der geltenden EVO unterzogen.
Der neu vorgelegte Befund zeigt keine neuen Erkenntnisse auf und bestätigt die getroffene Einschätzung. Ein Schulterarmsyndrom ist in Pos. 1 mitberücksichtigt.
Insgesamt beinhalten die nachgereichten Einwendungen daher keine ausreichend relevanten Sachverhalte, welche eine Änderung des Gutachtens bewirken würden, sodaß daran festgehalten wird, insbesondere konnte aber in der hierortigen Begutachtung eine derartige Beeinträchtigung der Gangfähigkeit, welche eine erhebliche Erschwernis des Zurücklegens einer kurzen Wegstrecke, des Ein- und Aussteigens und des sicheren Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln bewirken könnte, gerade eben nicht objektiviert werden.“
Mit Bescheid vom 07.03.2022 wurde der Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass abgewiesen. Begründend wurde auf das eingeholte Gutachten samt Stellungnahme verwiesen.
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde. Der Beschwerde angeschlossen war erneut der Befund des Orthopäden vom 16.02.2022.
Am 25.04.2022 legte das SMS dem BVwG die eingebrachte Beschwerde und den gegenständlichen Akt vor. Das SMS führte aus, dass keine neuen Aspekte vorlägen, welche eine Beschwerdevorentscheidung rechtfertigen würden.
Nachdem das SMS dem BVwG die Beschwerde vorgelegt hatte, übermittelte die Beschwerdeführerin dem BVwG einen Befund des „Diagnosezentrum Brigittenau“ vom 21.04.2022. Die Beschwerdeführerin führte in der Begleit-E-Mail aus, dass sie nun an Osteoporose leide.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zu A)
Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt hervorgehoben (vgl etwa das hg. Erkenntnis vom 10. September 2014, Ra 2014/08/0005), dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind.
Der Umstand, dass gegebenenfalls (punktuelle) ergänzende Einvernahmen durchzuführen wären, rechtfertigt nicht die Zurückverweisung; vielmehr wären diese Einvernahmen, sollten sie wirklich erforderlich sein, vom Verwaltungsgericht – zweckmäßigerweise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung – durchzuführen. (Ra 2015/08/0178 vom 27.01.2016)
In § 28 VwGVG 2014 ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs 3 zweiter Satz leg cit vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (Hinweis E vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN). Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Hinweis E vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0087, mwN). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (Hinweis E vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, mwN). (Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016)
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG), BGBl 283/1990, zuletzt geändert durch BGBl I 100/2018, lauten:
„§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
[…]“
§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl II 495/2013, zuletzt geändert durch BGBl II 263/2016, lautet auszugsweise:
Gemäß § 1 Abs. 4 Z 3 ist auf Antrag des Menschen mit Behinderung jedenfalls einzutragen:
„die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
– erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
– […]
vorliegen.“
In den Erläuterungen zur Stammfassung dieser Verordnung wird betreffend § 1 Abs. 2 Z 3 (in der geltenden Fassung geregelt in § 1 Abs. 4 Z 3) unter anderem ausgeführt:
Unter erheblicher Einschränkung der Funktionen der unteren Extremitäten sind ungeachtet der Ursache eingeschränkte Gelenksfunktionen, Funktionseinschränkungen durch Erkrankungen von Knochen, Knorpeln, Sehnen, Bändern, Muskeln, Nerven, Gefäßen, durch Narbenzüge, Missbildungen und Traumen zu verstehen. Zusätzlich vorliegende Beeinträchtigungen der oberen Extremitäten und eingeschränkte Kompensationsmöglichkeiten sind zu berücksichtigen. Eine erhebliche Funktionseinschränkung wird in der Regel ab einer Beinverkürzung von 8 cm vorliegen.
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH 17.06.2013, 2010/11/0021, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 23.02.2011, 2007/11/0142, und vom 25.05.2012, 2008/11/0128, jeweils mwN.).
Ein solches Sachverständigengutachten muss sich mit der Frage befassen, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).
Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:
Die belangte Behörde legt dem gegenständlichen Verfahren ein allgemeinmedizinisches Sachverständigengutachten basierend auf einer Untersuchung samt Stellungnahme zu Grunde.
Auf die von der Beschwerdeführerin im Rahmen der Untersuchung geäußerten Schmerzen („Schmerzen in den Bandscheiben, Gelenken, Knochen und Darm bei Morbus Crohn“) und die im ärztlichen Entlassungsbericht des „Franziskus Spital“ vom Oktober 2021 festgehaltenen Schmerzen („Sie gibt starke Schmerzen va. in der linken Seite des Gesäßes und im linken Bein an. Seit einiger Zeit schmerzt jedoch auch die rechte Seite. Die Schmerzen sind spontan aufgetreten und seit 4 Jahren bestehend.“) sowie die im mit ihrer Stellungnahme zum Gutachten vorgelegten Befund beschriebenen Schmerzen (16.02.2022, Befund Dr. XXXX , Orthopädie und orthopädische Chirurgie, die Beschwerdeführerin befinde sich bei ihm „wegen chron. rezid. Schmerzen in Behandlung“) wird betreffend die beantragte Zusatzeintragung vom Allgemeinmediziner im Gutachten vom 18.01.2022 und seiner Stellungnahme vom 04.03.2022 – wie im Verfahrensgang wiedergegeben – nicht eingegangen.
Zusammenfassend fehlt es im angefochtenen Bescheid an einer nachvollziehbaren und schlüssigen Begründung für die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführerin sei die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar.
Die Auswirkungen der Gesundheitsschädigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurden nicht in nachvollziehbarer Weise dargestellt. Zu prüfen ist die konkrete Fähigkeit öffentliche Verkehrsmittel zu benützen. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere die zu überwindenden Niveauunterschiede beim Ein- und Aussteigen, Schwierigkeiten beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche sowie bei der Fortbewegung der Verkehrsmittel während der Fahrt. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen dabei laut ständiger VwGH-Judikatur die durch die Gesundheitsschädigungen entstehenden Schmerzen.
Die Beschwerdeführerin hat explizit ausgeführt, dass sie an Schmerzen leide. Die belangte Behörde hat sich damit im gegenständlichen Fall nicht bzw. nicht ausreichend auseinandergesetzt.
Die belangte Behörde hat im gegenständlichen Fall notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen und erweist sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ aufgrund der nur zu kurz gegriffenen Ermittlungen im verwaltungsbehördlichen Verfahren als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich sind. Im Beschwerdefall hat das Sozialministeriumservice im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den maßgeblichen Sachverhalt bloß ansatzweise ermittelt.
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde ein Sachverständigengutachten nach einer neuerlichen Untersuchung zu den unten dargelegten Fragestellungen einzuholen und die Ergebnisse unter Einbeziehung der vorgelegten medizinischen Beweismittel bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben.
Die belangte Behörde wird daher insbesondere auch folgende konkrete Fragen an die Gutachterin/den Gutachter zu stellen haben, um die Auswirkungen der festgestellten Gesundheitsschädigungen nach Art und Schwere für die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einschätzen zu können:
1. Liegen erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten (und oberen Extremitäten) bzw. liegt eine erhebliche Einschränkung der Mobilität vor? Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 23.05.2012, Zl. 2008/11/0128, 20.10.2011, Zl. 2009/11/0032, 27.01.2015, Zl. 2012/11/0186) sind auch die Art und das Ausmaß der von der Beschwerdeführerin angegebenen Schmerzen sowie deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zu klären.
2. Mit welchen Schmerzen (Art und Ausmaß) ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel, insbesondere beim Ein- und Aussteigen, beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche sowie bei der Fortbewegung der Verkehrsmittel, bei der Beschwerdeführerin verbunden?
3. Lassen die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel zu oder nicht zu bzw. warum?
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist – angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes – nicht ersichtlich.
Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auch darauf, dass das SMS wiederholt in seinen Entscheidungen betreffend die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ auf die Frage der Schmerzen nicht eingegangen ist und wiederholt das BVwG aus diesem Grund Entscheidungen gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG gefällt hat (W200 2234563-1/3E vom 20.10.2020, W200 2234023-1/4E vom 25.08.2020, W200 2225758-1/3E vom 11.02.2020, W200 2224399-1/3E vom 27.01.2020, W200 2239875-1/4E vom 07.04.2021, W200 2242308-1/3E vom 09.06.2021, W200 2240819-1 vom 14.07.2021, W200 2246522-1/3E vom 02.12.2021, W200 2251615-1/5E vom 24.03.2022). Der erkennende Senat ist daher der Ansicht, dass dem SMS bewusst war, dass es im gegenständlichen Fall unzureichende Ermittlungen getätigt hat.
Von den vollständigen Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein. Anschließend wird sich die belangte Behörde unter Berücksichtigung der oben dargelegten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausführlicher mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen haben, ob der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.
Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben.
Hinsichtlich des Befundes des „Diagnosezentrum Brigittenau“ vom 21.04.2022, der von der Beschwerdeführerin beim BVwG eingebracht wurde, nachdem die Beschwerde dem BVwG am 25.04.2022 vorgelegt worden war, ist auf Folgendes hinzuweisen: Gemäß § 46 BBG dürfen in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
In den rechtlichen Ausführungen zu Punkt A) wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren vor der belangten Behörde gravierende Ermittlungslücken bestehen sowie die Judikatur zu den Anforderungen an ein Sachverständigengutachten für die behördliche Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im Lichte von § 42 Abs. 1 BBG dargestellt. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG wurde auf die aktuelle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063) Bezug genommen.
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