JudikaturBFG

RV/7100852/2024 – BFG Entscheidung

Entscheidung
27. Mai 2025

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom 2. August 2022 gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom 20. Juli 2022 betreffend Familienbeihilfe 04.2022-06.2022 zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Mit Bescheid vom 20. Juli 2022 forderte die belangte Behörde (bB) die den beiden Töchtern der Beschwerdeführerin (Bf) gemäß VO (EG) Nr. 883/2004 gewährte Differenzzahlung iHv 236,40 € und den den Töchtern der Bf gewährten Kinderabsetzbetrag iHv 229,50 € für den Zeit-raum April bis Juni 2022 zurück. Dagegen erhob die Bf am 2. August 2022 Bescheidbeschwerde nach § 243 BAO, in der sie vorbrachte, dass der Kindsvater vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien einen Anspruch auf Rehabilitationsgeld geltend gemacht habe. Die bB wies die Beschwer-de mit Beschwerdevorentscheidung vom 16. Mai 2023 ab. Dagegen brachte die Bf am 23. Mai 2023 einen Vorlageantrag ein, in dem sie vorbrachte, dass das sozialgerichtliche Verfahren hin-sichtlich des vom Kindsvater geltend gemachten Anspruchs auf Rehabilitationsgeld immer noch nicht beendet worden sei.

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt

Die mit ihren beiden Töchtern in der Tschechei wohnhafte tschechische Bf war im streitgegen-ständlichen Zeitraum April bis Juni 2022 weder in Österreich beschäftigt noch übte sie in Öster-reich eine selbständige Erwerbstätigkeit aus. Der tschechische Kindsvater bezog vom 1. August 2019 bis zum 31. März 2022 von der Österreichischen Gesundheitskasse Rehabilitationsgeld. Gegen den Entzug des Rehabilitationsgelds mit Ablauf des 31. März 2022 klagte der Kindsvater vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien, das einen Anspruch des Kindsvaters auf (weiteren) Bezug von Rehabilitationsgeld bis zum 31. Dezember 2023 feststellte.

2. Beweiswürdigung

Die Bf ist unstreitig tschechische Staatsbürgerin und mit ihren beiden Töchtern in der Tsche-chei wohnhaft. Dass sie im streitgegenständlichen Zeitraum keiner Beschäftigung in Österreich nachging, geht aus der Beantwortung des an sie gerichteten Auskunftsersuchens vom 10. Juni 2022 und einer Abfrage der Sozialversicherungsdaten vom 29. Februar 2024 hervor. Aus einer Abfrage der Sozialversicherungsdaten vom 2. Jänner 2024 ist ersichtlich, dass der Kindsvater bis zum 31. März 2022 Rehabilitationsgeld bezogen hat. Sein Anspruch auf (weiteren) Bezug von Rehabilitationsgeld bis zum 31. Dezember 2023 ergibt sich aus dem Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 22. Mai 2024.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zu Spruchpunkt I. (Stattgabe)

Bezüglich Familienleistungen ist auf Bürger der Europäischen Union (EU) - Bf und Kindsvater -die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (hinfort: VO [EG]) anwendbar (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 3 Abs. 1 lit. j VO [EG]). Familienleistungen sind nach Art. 1 lit. z VO (EG) alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhalts-vorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I der VO (EG). Die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag sind Familienleistungen iSd VO (EG).

Die VO (EG) regelt bezüglich Familienleistungen im Wesentlichen, welcher Staat bei Sachver-halten, die zwei oder mehrere Vertragsstaaten (EU, EWR und Schweiz) betreffen, für die Er-bringung von Familienleistungen vorrangig zuständig, nachrangig zuständig oder unzuständig ist.

Die VO (EG) vermittelt keinen originären Anspruch auf nationale - in casu: österreichische - Familienleistungen. Wer von den unionsrechtlich grundsätzlich als anspruchsberechtigte Per-sonen zu betrachtenden Familienangehörigen einen Anspruch auf österreichische Familien-leistungen hat, ist nach österreichischem Recht zu beurteilen. Nach § 2 Abs. 2 Familienlasten-ausgleichsgesetz (FLAG) hat die Bf, zu deren Haushalt die beiden Töchter gehören, einen - un-bestrittenen - primären Anspruch auf (österreichische) Familienbeihilfe. Darüber hinaus steht ihr ein monatlicher Kinderabsetzbetrag für jedes Kind zu (§ 33 Abs. 3 Einkommensteuergesetz [EStG]).

Nach Art. 11 Abs. 3 lit. e VO (EG) unterliegt die Bf den Rechtsvorschriften des Wohnmitglied-staats (Tschechei): Insbesondere war sie im streitgegenständlichen Zeitraum April bis Juni 2022 weder in Österreich beschäftigt noch übte sie in Österreich eine selbständige Erwerbstätigkeit aus (vgl Art. 11 Abs. 3 lit. a VO [EG]). Im Gegensatz dazu bezog der Kindsvater vom 1. August 2019 bis zum 31. Dezember 2023 von der Österreichischen Gesundheitskasse Rehabilitations-geld, weswegen er im streitgegenständlichen Zeitraum April bis Juni 2022 als in Österreich be-schäftigt galt (Art. 11 Abs. 2 iVm Abs. 3 lit. a VO [EG]). Die Fiktion des Art. 11 Abs. 2 VO (EG) be-wirkt, dass auch während vorübergehenden Bezugs von Geldleistungen der sozialen Sicherheit - in casu: Rehabilitationsgeld - von der Ausübung einer Beschäftigung auszugehen ist (BFG 13.9.2023, RV/7100586/2023). Denn der Begriff "Beschäftigung" iSd Art. 11 VO (EG) ist ent-sprechend dem Begriff "Beschäftigung" iSd Art. 68 VO (EG) zu interpretieren, und der Begriff "Beschäftigung" iSd Art. 68 VO (EG) wurde von der Verwaltungskommission für die Koordinie-rung der Systeme der sozialen Sicherheit mit dem Beschluss Nr. F1 vom 12. Juni 2009 zur Aus-legung des Artikels 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Prioritätsregeln beim Zusammentreffen von Familienleistungen kon-kretisiert. Ausweislich der Z. 1 lit. b sublit. i des genannten Beschlusses gelten Ansprüche auf Familienleistungen insbesondere dann als "durch eine Beschäftigung ausgelöst" (Art. 68 VO [EG]), wenn sie während Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung einer tatsächlichen Be-schäftigung wegen Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Berufskrankheit oder Arbeitslosig-keit erworben wurden, solange Arbeitsentgelt oder andere Leistungen als Renten in Zusam-menhang mit diesen Versicherungsfällen zu zahlen sind.

Nach der VO (EG) unterliegt der Kindsvater - anders als die Bf - den österreichischen Rechts-vorschriften. Gemäß Art. 67 VO (EG) hat er auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den österreichischen Rechtsvor-schriften, als ob die Familienangehörigen in Österreich wohnen würden. Es ist zu fingieren, dass sowohl die Voraussetzung des inländischen Wohnsitzes bzw des gewöhnlichen Aufent-halts (§ 2 Abs. 1 FLAG) als auch die Voraussetzung des inländischen Mittelpunkts der Lebensin-teressen (§ 2 Abs. 8 FLAG) bei sämtlichen Familienangehörigen vorliegen. Nichtsdestotrotz kommt dem Kindsvater kein Anspruch auf Familienbeihilfe zu, weil seine beiden Töchter nicht zu seinem Haushalt gehören (§ 2 Abs. 2 FLAG); die Töchter gehören wie ausgeführt zum Haus-halt der Bf.

Allerdings räumt Art. 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durch-führung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit iVm Art. 67 VO (EG) iVm § 2 Abs. 2 FLAG der nicht im zur Gewährung der Familien-leistungen verpflichteten Mitgliedstaat (Österreich) wohnhaften Bf die Möglichkeit ein, in Ös-terreich Familienleistungen zu beantragen. Mit anderen Worten: Die mit ihren beiden Töchtern in der Tschechei wohnhafte Bf hat im streitgegenständlichen Zeitraum April bis Juni 2022 einen vom in Österreich beschäftigten Kindsvater abgeleiteten Anspruch auf österreichische Famili-enleistungen (Differenzzahlung und Kinderabsetzbetrag) für ihre ihrem Haushalt zugehörigen Töchter. Daher hat die bB die Differenzzahlung und den Kinderabsetzbetrag für den Zeitraum April bis Juni 2022 zu Unrecht zurückgefordert.

3.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Eine solche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liegt im gegenständlichen Fall nicht vor. Im vorliegenden Fall ist ei-ne Tatsachenfrage streitig: Zur Klärung von Tatsachenfragen ist eine Revision grundsätzlich nicht vorgesehen.

Salzburg, am 27. Mai 2025