Bsw64220/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich gg Österreich, Urteil vom 5.3.2024, Bsw. 64220/19.
Spruch
Art 6 Abs 1, Art 9 EMRK - Verweigerung der Eintragung als Religionsgemeinschaft.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 9 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 9 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden; € 20.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei der bf Vereinigung handelt es sich um die Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich, die seit 1998 als Verein besteht. Sie ist ein Dachverband mehrerer alevitischer Kulturvereine. Zwischen 2008 und 2009 beriet sich die bf Vereinigung mit dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, um einen Antrag auf Verleihung der Rechtspersönlichkeit als eingetragene Religionsgemeinschaft nach dem BekenntnisgemeinschaftenG (Anm: Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften (BekenntnisgemeinschaftenG), BGBl I 19/1998.) unter dem Namen »Alevitische Religionsgesellschaft in Österreich« vorzubereiten. Dazu wurde auch ein Entwurf der Statuten vorgelegt.
Im März 2009 stellte eines der Mitglieder der bf Vereinigung, der »Kulturverein der Aleviten in Wien«, einen Antrag auf Anerkennung als gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft nach dem AnerkennungsG (Anm: Gesetz vom 20.5.1874 betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, RGBl 68/1874.) unter dem Namen »Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich« (ALEVI). Die bf Vereinigung wusste nichts von diesem Antrag.
Die bf Vereinigung beantragte am 9.4.2009 die Anerkennung der »Alevitischen Religionsgesellschaft in Österreich« als religiöse Bekenntnisgemeinschaft nach dem BekenntnisgemeinschaftenG. Sie machte geltend, dass sie als Dachverband die Anhänger*innen des Alevitentums in Österreich vertrete. In den dem Antrag beigefügten Statuten wurde das Alevitentum als »eigenständiger und synkretischer Glaube mit besonderen Bezügen zum Islam« sowie als »unabhängige Einheit innerhalb des Islams« definiert. Als »Mitglied« wurde jede Person angesehen, die sich zum Alevitentum bekennt und ihren Hauptwohnsitz in Österreich hat.
Beide Anträge des Kulturvereins der Aleviten in Wien wurden abgelehnt. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) als gesetzlich anerkannte Vertretung der Anhänger*innen des Islams hatte sich negativ zu den Anträgen geäußert, da sie eine Einmischung in ihre internen Angelegenheiten darstellen würden. Gegen den Bescheid des Bundesministeriums wurde vom Kulturverein der Aleviten in Wien eine Beschwerde an den VfGH erhoben. Der angefochtene Bescheid wurde am 1.12.2010 vom VfGH (Anm: VfGH 1.10.2010, B 1214/09 = VfSlg 19.240/2010.) wegen Verletzung des Kulturvereins der Aleviten in Wien in seinem Recht auf Religionsfreiheit aufgehoben. Daraufhin wurde ALEVI mit Bescheid vom 16.12.2010 Rechtspersönlichkeit als religiöse Bekenntnisgemeinschaft zuerkannt. Am selben Tag wurde der Antrag der bf Vereinigung auf Anerkennung abgewiesen. Begründend verwies die Ministerin auf die Statuten, die beinahe wörtlich mit jenen von ALEVI übereinstimmten. Daher fehle es an einer ausreichend unterscheidbaren Glaubenslehre. Zudem sei die Mitgliedschaft zu unbestimmt. Der VfGH lehnte am 28.11.2011 die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde ab und trat sie an den VwGH zur Entscheidung ab. Der VwGH hob die Entscheidung der Bundesministerin als rechtswidrig auf. (Anm: VwGH 5.11.2014, 2012/10/0005.).
Am 11.5.2015 wies die Bundesministerin den Antrag der bf Vereinigung vom 9.4.2009 erneut ab und hielt in ihrer Begründung fest, dass sich ihre Lehre nicht hinreichend von jener der ALEVI unterscheide, die inzwischen eine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft nach dem Islamgesetz 2015 (Anm: Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse islamischer Religionsgesellschaften (Islamgesetz 2015), BGBl I 39/2015.) sei. Das VwG Wien bestätigte diese Entscheidung. Außerdem stützte sich das VwG Wien auf das Argument, die wiederholte Änderung der Statuten zeige, dass sich die bf Vereinigung nicht wirklich an diese gebunden fühle, sondern bloß als Mittel zum Zweck der Anerkennung betrachte. Die Revision an den VwGH wurde zurückgewiesen. (Anm: VwGH 28.5.2019, Ra 2019/10/0049.) Der VfGH lehnte am 11.6.2019 die Behandlung der Beschwerde ab. (Anm: VfGH 11.6.2019, E 900/2019.)
Am 14.3.2022 erklärte das Bundesministerium, dass die Frei-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich Rechtspersönlichkeit als eingetragene Religionsgemeinschaft nach dem BekenntnisgemeinschaftenG erlangt habe. Begründet wurde dies damit, dass der Name klar zuordenbar sei, die konsultierten Sachverständigen zu dem Schluss gekommen seien, dass die Lehre von jener der ALEVI unterscheidbar sei, und es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Lehre in der Praxis nicht existiere. Die Bestimmung über die Mitgliedschaft gab keinen Anlass zu Beanstandungen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die bf Vereinigung behauptete eine Verletzung von Art 6 Abs 1 (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und Art 9 EMRK (hier: Recht auf Religionsfreiheit) aufgrund der Weigerung, sie als Religionsgemeinschaft anzuerkennen.
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK
Zulässigkeit
(33) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(34) Die bf Vereinigung argumentierte, dass das Recht auf eine autonome Existenz eine Kerngarantie von Art 9 EMRK darstelle. Es sei das legitime Ziel der bf Vereinigung gewesen, sich als religiöse Bekenntnisgemeinschaft registrieren zu lassen, um die Voraussetzungen zu erfüllen, als Religionsgesellschaft mit bestimmten rechtlichen Vorteilen anerkannt zu werden. [...] Die Tatsache, dass die bf Vereinigung Rechtspersönlichkeit als Verein genossen habe, könne den langen Zeitraum, in dem sie keine Rechtspersönlichkeit als Religionsgemeinschaft erhalten habe, nicht ausgleichen.
(45) Der GH hält fest, dass es sich bei der [...] Religionsfreiheit um eine der Grundlagen einer »demokratischen Gesellschaft« iSd EMRK handelt. In ihrer religiösen Dimension ist diese Freiheit eines der wichtigsten Elemente, die die Identität der Gläubigen und ihre Lebensauffassung ausmachen, aber sie ist auch ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Pluralismus, der im Laufe der Jahrhunderte teuer errungen wurde, hängt von ihr ab. Diese Freiheit schließt unter anderem die Freiheit ein, religiöse Überzeugungen zu haben oder nicht zu haben und eine Religion zu praktizieren oder nicht zu praktizieren [...].
(47) Wenn Religionsgesellschaften nach innerstaatlichem Recht eine privilegierte Behandlung in einigen Bereichen genießen, bedeutet dies einen beträchtlichen Vorteil. Diese besondere Behandlung erleichtert es einer Religionsgesellschaft zweifellos, ihre religiösen Ziele zu verfolgen.
(49) [...] Das Recht [...] einer Religionsgemeinschaft auf eine autonome Existenz ist der Kern der Garantien des Art 9 EMRK [...].
(50) In demokratischen Gesellschaften, in denen mehrere Religionen innerhalb ein und derselben Bevölkerung koexistieren, kann es notwendig sein, die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, einzuschränken, um die Interessen der verschiedenen Gruppen in Einklang zu bringen und sicherzustellen, dass die Überzeugungen aller respektiert werden [...]. [...]
(51) Nach der stRsp des GH muss der Staat in demokratischen Gesellschaften keine Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Religionsgemeinschaften unter einer einheitlichen Führung bleiben oder unter diese gebracht werden. In diesem Zusammenhang würden staatliche Maßnahmen, die ein Oberhaupt einer gespaltenen Religionsgemeinschaft begünstigen oder mit dem Ziel ergriffen werden, die Gemeinschaft gegen ihren eigenen Willen zu zwingen, sich unter einer einzigen Führung zusammenzuschließen, ebenfalls einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen. Die Rolle der Behörden besteht in einem solchen Fall nicht darin, Maßnahmen zu ergreifen, die eine bestimmte Auslegung der Religion gegenüber einer anderen vorziehen [...] oder die Ursache der Spannungen durch die Abschaffung des Pluralismus zu beseitigen. Vielmehr haben die Behörden dafür zu sorgen, dass die konkurrierenden Gruppen einander tolerieren [...].
(53) Der GH hat festzustellen, ob aufgrund der Ablehnung der Eintragung der bf Vereinigung als Religionsgemeinschaft ein Eingriff in ihr Recht auf Religionsfreiheit vorliegt. [...] Wird vom Staat ein Rahmen zur Verleihung eines besonderen Status an religiöse Gruppen geschaffen, [...] so müssen alle religiösen Gruppen, die dies wünschen, eine faire Möglichkeit haben, einen solchen Status zu erlangen [...]. Eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften kommt ein besonderer Status zu, da das BekenntnisgemeinschaftenG die Erleichterung ihrer rechtlichen Anerkennung als Religionsgesellschaften vorsieht [...] und sie folglich einen Anspruch auf verschiedene Privilegien haben [...]. Die Weigerung, die bf Vereinigung als Religionsgemeinschaft einzutragen, stellte daher einen Eingriff in ihre Rechte nach Art 9 EMRK dar.
(54) Die nationalen Gerichte stützten ihre Entscheidung auf § 5 BekenntnisgemeinschaftenG, da die Statuten der bf Vereinigung nicht mit § 4 Abs 1 BekenntnisgemeinschaftenG übereinstimmten. Diese Norm verlange, dass die Statuten einer Religionsgemeinschaft die Darlegung einer religiösen Lehre, die sich von jenen der bereits eingetragenen Religionsgemeinschaften unterscheide (§ 4 Abs 1 Z 2), sowie Bestimmungen über den Beginn und die Beendigung der Mitgliedschaft (§ 4 Abs 1 Z 4) enthalte. Wie der VfGH in seiner Rsp festgestellt hat [...], ist § 4 Abs 1 Z 2 BekenntnisgemeinschaftenG verfassungskonform auszulegen und schließt den Pluralismus nicht aus. Der GH ist daher überzeugt, dass die betreffende Bestimmung im Einklang mit den Grundsätzen der EMRK angewandt werden kann. Das Gesetz war hinreichend zugänglich und in seinen Auswirkungen vorhersehbar [...]. Der GH erkennt daher an, dass der betreffende Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war.
(55) Die bf Vereinigung bestritt nicht, dass der beanstandete Eingriff ein legitimes Ziel nach Art 9 Abs 2 EMRK verfolgte, nämlich den Schutz der öffentlichen Ordnung und der Rechte anderer. Sie bestritt jedoch, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, um das verfolgte legitime Ziel zu erreichen. Wie bereits erwähnt, kann es in demokratischen Gesellschaften notwendig sein, die Freiheit der Religionsausübung einzuschränken, um die Interessen verschiedener Gruppen miteinander in Einklang zu bringen und sicherzustellen, dass die Überzeugungen aller respektiert werden [...]. Daher ist es grundsätzlich legitim, von einer religiösen Vereinigung, die eine Anerkennung beantragt, zu verlangen, dass sie sich von bereits bestehenden Vereinigungen unterscheidet, um in der Öffentlichkeit nicht für Verwirrung zu sorgen. Dies kann die Anforderung beinhalten, dass die Statuten einer religiösen Vereinigung ihre Überzeugungen und Rituale klar definieren, damit die Öffentlichkeit zwischen den verschiedenen Konfessionen unterscheiden kann und um Konfrontationen zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften zu vermeiden [...]. Dennoch haben die Staaten ein Recht auf Prüfung der Übereinstimmung der Ziele und Tätigkeiten einer religiösen Vereinigung mit den durch die Gesetzgebung aufgestellten Regeln, doch müssen sie dies in einer Weise tun, die mit ihren Verpflichtungen aus der EMRK vereinbar ist und der Kontrolle des GH unterliegt [...].
(56) [...] Während das VwG Wien in seiner Begründung zunächst feststellte, dass sich die Lehre der bf Vereinigung auf der Grundlage der Statuten vom 7.5.2015 nicht hinreichend von derjenigen von ALEVI unterscheide, warf es der bf Vereinigung anschließend mangelndes Engagement und mangelnde Glaubwürdigkeit vor, weil sie ihre Statuten wiederholt geändert hat [...]. Laut dem VwG Wien würden diese Änderungen zeigen, dass die bf Vereinigung ihre Statuten nur als Mittel zum Zweck, nämlich der Registrierung, betrachte. Sie würden auch keine klare religiöse Lehre erkennen lassen und die Frage aufwerfen, ob sie überhaupt von den Anhänger*innen der bf Vereinigung unterstützt würden. Das VwG Wien vertrat die Auffassung, dass die Vorlage der letzten Fassung der Statuten der bf Vereinigung vom 19.1.2019 nur durch den Wunsch motiviert war, ihre Statuten weiter von jenen von ALEVI zu unterscheiden. Dies bedeutete auch, dass die bf Vereinigung die Behörden getäuscht hätte, als sie ältere Fassungen ihrer Statuten als Ausdruck ihrer tatsächlichen religiösen Praxis vorlegte.
(57) Der GH hält diese Argumentation des VwG Wien für schwer nachvollziehbar. Erstens stellte das VwG in derselben Entscheidung fest, dass die religiöse Lehre der bf Vereinigung fast identisch mit derjenigen von ALEVI sei, während es gleichzeitig feststellte, dass die religiöse Lehre der bf Vereinigung aufgrund der häufigen Änderungen ihrer Statuten nicht festgestellt werden könne. Zweitens stellt der GH fest, dass die bf Vereinigung zwar die Namen zahlreicher Zeugen aus dem Kreis ihrer Anhänger*innen zur Befragung in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hatte [...], das VwG Wien es jedoch ablehnte, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, und in seiner Entscheidung dennoch infrage stellte, ob die Anhänger*innen die Statutenänderungen unterstützten.
(58) Der GH stellt drittens fest, dass der Antrag auf Anerkennung der bf Vereinigung unter besonderen Umständen gestellt wurde. Diese waren den Behörden während des gesamten Verfahrens bekannt und sie erklären die Notwendigkeit einiger der wiederholten Statutenänderungen. Dem Ministerium war zum Zeitpunkt des Erhalts des Erstantrags der bf Vereinigung bekannt, dass der Antrag auf Anerkennung bereits seit einiger Zeit in enger Absprache mit Vertreter*innen des Ministeriums vorbereitet worden war [...]. Ebenso wusste das Ministerium darüber Bescheid, dass in dieser Zeit eine der Mitgliedsvereinigungen der bf Vereinigung ohne deren vorherige Zustimmung oder Kenntnis die Eintragung von ALEVI als Religionsgemeinschaft beantragt hatte [...]. Der Grund für die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Vereinigungen lag in ihren unterschiedlichen Auffassungen über den Islam, denen die bf Vereinigung zunächst in der Formulierung ihrer Statuten Rechnung zu tragen versuchte [...]. Es scheint auch unbestritten gewesen zu sein, dass die bf Vereinigung, als sie vom Antrag auf Anerkennung von ALEVI erfuhr, [...] versuchte, sich vom Islam abzugrenzen, während ALEVI sich – zumindest anfangs – als zum Islam gehörig betrachtete und später eine rechtlich anerkannte Religionsgesellschaft nach dem Islamgesetz 2015 wurde. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten im Verwaltungsverfahren ist es für den GH schwer nachvollziehbar, warum das VwG Wien aus den häufigen Änderungen der Statuten der bf Vereinigung auf deren mangelndes Engagement und die Absicht, die Behörden zu täuschen, geschlossen hat. Die früheren Statutenänderungen waren durch den Wunsch motiviert, Formulierungen zu streichen, die eingeführt worden waren, um einer Mitgliedsvereinigung entgegenzukommen, von der sie sich später trennte [...]. Die späteren Änderungen wurden vorgenommen, um die Statuten mit den Bestimmungen des BekenntnisgemeinschaftenG in Einklang zu bringen, indem die Unterschiede zwischen ihr und einer bereits bestehenden
Religionsgemeinschaft, mit der die bf Vereinigung ursprünglich verflochten war, besser herausgearbeitet wurden [...]. Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass diese besonderen Umstände auch nicht im Beschluss der Bundesministerin vom 16.12.2010 erwähnt wurden, mit dem der Antrag der bf Vereinigung am selben Tag abgelehnt wurde, an dem ALEVI der Status einer Religionsgemeinschaft zuerkannt wurde. Sie wurden auch in der Entscheidung vom 11.5.2015 nicht erwähnt, in der das Bundesministerium feststellte, dass sich die religiöse Lehre der bf Vereinigung nicht ausreichend von derjenigen von ALEVI unterscheidet.
(59) Der GH übersieht viertens nicht, dass das VwG Wien, indem es zu dem Schluss gelangte, die Vorlage der geänderten Statuten der bf Vereinigung vom 19.1.2019 zeige, dass diese bloß als Mittel zur Anerkennung benutzt würden, die bf Vereinigung indirekt dafür zu verurteilen scheint, das vom BekenntnisgemeinschaftenG vorgesehene Ziel der Anerkennung zu verfolgen und ihre Statuten an die gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Der GH stellt insb fest, dass die bf Vereinigung offenbar während der mündlichen Verhandlung am 4.1.2019 erstmals die vollständigen Statuten von ALEVI erhalten hat, deren Ähnlichkeiten der Grund für die fortgesetzte Ablehnung ihres Anerkennungsantrags gewesen waren. Die bf Vereinigung hat daher in ihre Statuten vom 19.1.2019 eine Tabelle aufgenommen, die die Unterschiede zwischen ihren Statuten und jenen von ALEVI veranschaulicht. Der GH kann keine Gründe erkennen, warum das VwG Wien diese Version der Statuten nicht berücksichtigt [...], sondern die Tatsache ihrer Vorlage zum Nachteil der bf Vereinigung ausgelegt hat. Insgesamt kommt der GH zu dem Schluss, dass die Argumentation des VwG Wien in Bezug auf das Erfordernis einer eigenständigen religiösen Lehre seine Feststellungen nicht hinreichend rechtfertigen konnte.
(61) Der GH [...] ist nicht davon überzeugt, dass im Verfahren vor dem VwGH [...] etwaige Unzulänglichkeiten im Konzept der Mitgliedschaft der bf Vereinigung [...] ausreichten, um ihr den Status einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft zu verweigern. Erst fast zehn Jahre nach dem ursprünglichen Antrag äußerte die Bundesministerin diesbezügliche Bedenken, und die bf Vereinigung erklärte sich sofort bereit, die Statuten erforderlichenfalls zu ändern [...]. Zu keinem früheren Zeitpunkt hatten die inländischen Behörden die bf Vereinigung aufgefordert, ihr Konzept der Mitgliedschaft zu ändern [...]. Dennoch hat sich das VwG Wien nur fünf Tage, nachdem dieser Aspekt erstmals in der letzten mündlichen Verhandlung vorgebracht worden war, in der Begründung seiner Entscheidung auf dieses Argument gestützt, ohne der bf Vereinigung eine entsprechende Anpassung der Statuten zu ermöglichen [...]. In Anbetracht der Tatsache, dass § 4 Abs 1 Z 4 BekenntnisgemeinschaftenG nicht vorschreibt, wie detailliert die Bestimmungen über den Beginn und die Beendigung der Mitgliedschaft sein müssen, hätte der bf Vereinigung eine realistische Gelegenheit gegeben werden müssen, den angeblichen Mangel zu beheben [...]. Der GH stellt ferner fest, dass es bedauerlich ist, dass das Bundesministerium, dessen Vertreter*innen von der bf Vereinigung frühzeitig konsultiert wurden, die bf Vereinigung nicht auf einen diesbezüglichen Mangel hingewiesen hatte. In Anbetracht der besonders schwierigen Umstände, die bereits im Verwaltungsverfahren eingetreten waren, ist es umso bedauerlicher, dass der VwGH in weiterer Folge die Beschwerden der bf Vereinigung betreffend die Entscheidung des VwG Wien großteils mit der Begründung nicht geprüft hat, dass diese Entscheidung jedenfalls auf der tragfähigen Alternativbegründung betreffend die Mitgliedschaft beruhen könnte [...].
(62) [...] Als das VwG Wien am 29.1.2019 seine Entscheidung traf, hatte die bf Vereinigung bereits den Namen der Religionsgemeinschaft geändert, um jegliche Verwechslungsgefahr zu vermeiden [...]. Weder das VwG Wien noch der VwGH gingen in ihrer Begründung auf dieses Argument ein. Der VfGH hat es abgelehnt, sich mit der Beschwerde der bf Vereinigung zu befassen [...]. [...]
(63) Der GH kann nicht erkennen [...], dass die von den nationalen Behörden angeführten Gründe relevant und ausreichend waren, um den Eingriff in die Rechte der bf Vereinigung nach Art 9 EMRK zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder der Rechte anderer zu rechtfertigen. Die Art und Weise, in der die nationalen Behörden die Eintragung der bf Vereinigung als Religionsgemeinschaft verweigerten, kann nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden. Es liegt daher eine Verletzung von Art 9 EMRK vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Vehabović).
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK
(67) Der GH wiederholt, dass Art 6 Abs 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Teil nur dann anwendbar ist, wenn eine »Streitigkeit« [...] über ein »Recht« vorliegt, über das zumindest mit vertretbaren Gründen gesagt werden kann, dass es nach nationalem Recht anerkannt ist, unabhängig davon, ob es durch die EMRK geschützt ist. [...]
(68) Die Rsp des GH hat sich dahingehend geändert, dass der zivilrechtliche Teil von Art 6 EMRK auch auf Fälle angewandt wird, die auf den ersten Blick keinen zivilrechtlichen Anspruch zu betreffen scheinen, aber unmittelbare und erhebliche Auswirkungen auf ein das Privatleben betreffendes Recht haben können [...].
(69) In einem Fall [...], in dem die bf Religionsgemeinschaft keine Rechtspersönlichkeit besaß und nicht tätig werden konnte, stellte der GH fest, dass eines der Mittel zur Ausübung des Rechts auf freie Religionsausübung, insb für eine Religionsgemeinschaft in ihrer kollektiven Dimension, die Möglichkeit ist, gerichtlichen Schutz der Gemeinschaft, ihrer Mitglieder und ihres Vermögens zu gewährleisten, sodass Art 9 EMRK nicht nur im Lichte von Art 11 EMRK, sondern auch mit Blick auf Art 6 EMRK gesehen werden muss.
(71) Die bf Vereinigung besaß [...] Rechtspersönlichkeit und konnte tätig werden. [...] In Ermangelung jeglichen Vorbringens zur unmittelbaren Auswirkung des beanstandeten Verfahrens auf die zivilrechtliche Stellung der bf Vereinigung [...] stellt der GH nicht fest, dass die Anerkennung als Religionsgemeinschaft einen zivilrechtlichen Anspruch im Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 EMRK darstellt.
(72) Der GH ist daher der Ansicht, dass Art 6 EMRK nicht auf den Sachverhalt des vorliegenden Falls anwendbar ist. Folglich ist diese Beschwerde ratione materiae mit den Bestimmungen der EMRK unvereinbar und muss gemäß Art 35 Abs 3a und Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 10.000,– für immateriellen Schaden; € 20.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Vehabović).
Vom GH zitierte Judikatur:
Hasan und Chaush/BG, 26.10.2000, 30985/96 (GK) = NL 2000, 216
Metropolitan Church of Bessarabia ua/MD, 13.12.2001, 45701/99 = NL 2001, 250
Folgerø ua/NO, 29.6.2007, 15472/02 (GK) = NL 2007, 146
Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ua/AT, 31.7.2008, 40825/98 = NL 2008, 232 = ÖJZ 2008, 865
Leela Förderkreis e.V. ua/DE, 6.11.2008, 58911/00 = NL 2008, 323
Sindicatul »Păstorul cel Bun«/RO, 9.7.2013, 2330/09 (GK) = NLMR 2013, 236
İzzettin Doğan ua/TR, 26.4.2016, 62649/10 (GK) = NLMR 2016, 145
De Tommaso/IT, 23.2.2017, 43395/09 (GK) = NLMR 2017, 63
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.3.2024, Bsw. 64220/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 138) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.