Bsw4222/18 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Zöchling gg Österreich, Urteil vom 5.9.2023, Bsw. 4222/18.
Spruch
Art 8 EMRK - Haftung eines Medieninhabers für rechtswidrige Kommentare auf seinem Internet-Nachrichtenportal.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 2.000,– für immateriellen Schaden; € 5.800,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die »Medienvielfalt Verlags GmbH« (im Folgenden »das Unternehmen«) ist Medieninhaberin eines Internet-Nachrichtenportals (im Folgenden »das Portal«). Das Portal erlaubt jenen Nutzern, welche mit einer E-Mail-Adresse registriert sind, das Posten von Kommentaren zu den veröffentlichten Artikeln, ohne dass deren Inhalt vor oder nach der Veröffentlichung überprüft wird. Die Nutzer werden informiert, dass das Posten von gesetzwidrigen Kommentaren »nicht erwünscht« sei.
Am 11.9.2016 erschien auf dem Portal ein Artikel über die als Journalistin für ein bekanntes Nachrichtenmagazin tätige Bf mit einem Bild von ihr. Am 12.9.2016 postete ein Nutzer, er habe das Bild der Bf ausgedruckt und ihr erfolgreich ins Gesicht geschossen und lud andere ein, es ihm gleich zu tun. Ein weiterer Nutzer kommentierte, die Bf sei eine »Seuche«, eine »dumme Person« und eine »Larve« und dass er bedauere, dass es keine Gaskammern mehr gebe.
Am 23.9.2016 ersuchte die Bf das Unternehmen, die Kommentare zu löschen und ihr die Daten der Nutzer mitzuteilen. Binnen weniger Stunden löschte das Unternehmen die Kommentare und übermittelte am 29.9.2016 der Bf die E-Mail-Adressen der Nutzer. Die Kommentare waren auf dem Portal zwölf Tage lang sichtbar. Die jeweiligen Nutzer wurden blockiert. Der Bf gelang es in der Folge nicht, die Namen und Anschriften der Nutzer in Erfahrung zu bringen, da der E-Mail-Provider sich weigerte, diese preiszugeben.
Das LGS Wien gab einem Entschädigungsantrag der Bf gemäß § 6 Abs 1 MedienG statt. Es stellte fest, dass § 6 Abs 2 Z 3a MedienG Medieninhaber von der Haftung für Inhalte auf ihrer Website befreie, vorausgesetzt, der Medieninhaber selbst oder einer seiner Mitarbeiter oder Beauftragten hat die gebotene Sorgfalt nicht verletzt. § 16 ECG sehe vor, dass der Diensteanbieter nicht für die im Auftrag eines Nutzers gespeicherten Informationen verantwortlich ist, sofern der Anbieter von einer rechtswidrigen Information keine tatsächliche Kenntnis hatte oder, sobald er diese Kenntnis erhalten hatte, unverzüglich tätig wurde, um die Information zu entfernen oder den Zugang zu ihr zu sperren. Das Unternehmen habe die Kommentare sofort nach Verständigung durch die Bf gelöscht. Dessen ungeachtet beinhalte der Begriff der gebotenen Sorgfalt weitergehende Verpflichtungen als § 16 ECG. Ansonsten hätte der Gesetzgeber § 6 Abs 2 Z 3a MedienG in derselben Weise wie § 16 ECG verfasst. Unter Berücksichtigung unter anderem der Funktion des Unternehmens, des Inhalts des Artikels, welcher absichtlich Antipathien gegen die Bf stiftete, des Inhalts der Kommentare, die Aufforderungen zu Gewalt enthielten, sowie des Umstands, dass seit September 2015 unter Artikeln des Portals wiederholt beleidigende Kommentare über die Bf gepostet wurden, kam das Gericht zu dem Schluss, dass das Unternehmen die Voraussetzungen für die Befreiung von der Haftung in § 6 Abs 2 Z 3a MedienG nicht erfüllt habe.
Nach Berufung durch das Unternehmen hob das OLG Wien am 20.7.2017 das Urteil des LGS auf. Nach Auffassung des OLG verlange § 6 Abs 2 Z 3a MedienG – entsprechend § 16 ECG – von Medieninhabern, Äußerungen, die die Tatbestände in § 6 Abs 1 MedienG erfüllen, umgehend zu löschen, sobald sie Kenntnis davon erhalten. Medieninhaber hätten nicht die Verpflichtung, alle Kommentare, die auf ihrer Website gepostet werden, zu überwachen. Eine derartige Verpflichtung würde gegen § 18 ECG verstoßen. Das OLG kam zu dem Schluss, das Unternehmen habe mit der gebotenen Sorgfalt gemäß § 6 Abs 2 Z 3a MedienG gehandelt, indem es unverzüglich auf Ersuchen der Bf die besagten Kommentare gelöscht hatte. Aus diesem Grund sei das Unternehmen nicht haftbar.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behauptete eine Verletzung von auf Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
Die Bf brachte vor, der belangte Staat sei durch die Abweisung ihres Antrags auf Entschädigung seinen positiven Verpflichtungen zum Schutz ihres Privatlebens und guten Rufs nicht nachgekommen.
Zulässigkeit
(9) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch nicht aus einem sonstigen Grund zurückzuweisen ist. Die Beschwerde ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(10) Die allgemeinen Grundsätze betreffend die konkurrierenden Interessen in Art 8 und Art 10 EMRK wurden im Fall Delfi AS/EE, Rz 139, bereits zusammengefasst. Der GH hat zur Beurteilung der Haftung für Internet-Kommentare Dritter die folgenden Kriterien definiert: der Kontext der Kommentare, die von dem Unternehmen herangezogenen Mittel, um beleidigende Kommentare zu vermeiden oder zu entfernen, die Haftung der unmittelbaren Verfasser der Kommentare als Alternative zur Haftung der Mittelsperson und die Folgen des inländischen Verfahrens für das Unternehmen. Zur Schaffung eines fairen Ausgleichs zwischen dem Recht des Einzelnen auf Privatsphäre gemäß Art 8 EMRK und dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art 10 EMRK muss die Beschaffenheit des Kommentars berücksichtigt werden, um feststellen zu können, ob es sich um Hassrede oder Anstiftung zur Gewalt handelt.
(11) Die Regierung [...] kam zu dem Ergebnis, dass das OLG die behandelten Interessen fair gegeneinander abgewogen [...] habe. Aus folgenden Gründen kann der GH dieser Schlussfolgerung nicht zustimmen.
(12) In Bezug auf den Kontext der thematisierten Kommentare stimmt der GH der Regierung zu, dass [...] das gegenständliche Portal nicht das größte Nachrichtenportal Österreichs ist. Das OLG stellte [...] zwar fest, dass bei der Beurteilung der Pflichten des Medieninhabers sein oder ihr Verhalten, die Organisation des Nachrichtenportals und die Schwere der Rechtsverletzung zu berücksichtigen sei. Es hat daraufhin jedoch weder die Größe des Portals oder das Ausmaß des kommerziellen Interesses des Unternehmens an dem Posten der Kommentare untersucht, noch hat es die Auffassung des LGS Wien, dass der Artikel, unter dem die Kommentare veröffentlicht wurden, absichtlich zu Antipathien gegen die Bf aufgehetzt habe, thematisiert. Das OLG hat auch nicht auf den Inhalt der Kommentare Bezug genommen, obwohl es sich dabei eindeutig um Hassrede und Anstiftung zur Gewalt handelte.
(13) Bezüglich der Maßnahmen, die seitens des Unternehmens ergriffen wurden, um beleidigende Inhalte zu vermeiden oder zu entfernen, ist festzuhalten, dass die umstrittenen Kommentare gelöscht wurden, nachdem das Unternehmen durch die Bf darüber informiert wurde. Das OLG untersuchte nicht die Möglichkeit eines durch das Unternehmen betriebenen »Notice-and-Takedown-Systems«, welches ein nützliches Mittel zum Ausgleich der Rechte und Interessen aller Beteiligten hätte sein können. In Fällen wie dem vorliegenden, in dem Nutzerkommentare von Dritten Hassrede und direkte Drohungen gegen die körperliche Unversehrtheit eines Einzelnen enthielten, könnten die Rechte und Interessen anderer sowie jene der Gesellschaft als Ganzes den Staat dazu berechtigen, Internet-Nachrichtenportale zur Haftung heranzuziehen, ohne Art 10 EMRK zu verletzten, wenn diese – auch ohne Anzeige des mutmaßlichen Opfers oder Dritten – keine Maßnahmen zur unverzüglichen Entfernung eindeutig gesetzwidriger Kommentare ergriffen haben. In der kürzlich ergangenen Entscheidung im Fall Sanchez/FR, Rz 190, bekräftigte der GH, dass ein Mindestmaß an nachfolgender Kontrolle oder automatisierter Filterung wünschenswert wäre, um eindeutig gesetzeswidrige Kommentare so schnell wie möglich zu identifizieren und ihre Löschung innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu sichern, auch wenn keine Mitteilung des Geschädigten vorlag. Im gegenständlichen Fall zog das OLG keine potenziellen Maßnahmen für das Unternehmen zur Vermeidung beleidigender Inhalte auf seinem Portal oder zur Entfernung solchen Inhalts in Erwägung. Es berücksichtigte nicht die Auffassung des LGS, dass das Unternehmen weitere Verstöße vorhersehen hätte können, da seit 2015 wiederholt beleidigende Kommentare über die Bf unter Artikeln des Portals veröffentlicht wurden. Das OLG prüfte nicht, ob das Informieren der Nutzer, dass gesetzeswidrige Kommentare bloß »nicht erwünscht« seien, anstatt verboten, eine effektive Methode gegen Hassrede darstelle.
(14) Betreffend die Möglichkeit der Bf, Klage gegen die anonymen Verfasser der Kommentare zu erheben, bleibt unbestritten, dass ihr der Zugriff zu deren Daten durch deren E-Mail-Provider verweigert wurde.
(15) Der GH übersieht nicht, dass § 16 Abs 1 ECG Dienstanbieter von der Verantwortung für die im Auftrag von Dritten gespeicherten Informationen befreit und dass § 18 Abs 1 ECG eine Pflicht zur allgemeinen Überwachung gespeicherter Informationen ausschließt. Jedoch verlangt § 6 Abs 2 Z 3a MedienG in Bezug auf die für den Medieninhaber gebotene Sorgfalt einen gewissen Ausgleich zwischen den Interessen der Bf, welche Entschädigung gemäß § 6 Abs 1 MedienG geltend macht und sich daher auf Art 8 EMRK stützt, und den Interessen und Rechten des Medieninhabers nach Art 10 EMRK. Die Regierung räumt ein, dass ein Ausgleich dieser Art erforderlich war. Das OLG verwies explizit auf den Fall Delfi AS/EE, hat aber anschließend die relevanten Kriterien nicht angewendet.
(16) Der GH stellt fest, dass das OLG mangels jeglicher Abwägung der konkurrierenden Interessen seine prozeduralen Verpflichtungen zur Sicherung des Rechts der Bf auf Respekt für ihre Privatsphäre und ihren Ruf nicht erfüllt hat.
(17) Demnach hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 2.000,– für immateriellen Schaden; € 5.800,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Delfi AS/EE, 16.6.2015, 64569/09 (GK) = NLMR 2015, 232
Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete ua/HU, 2.2.2016, 22947/13 = NLMR 2016, 62
Høiness/NO, 19.3.2019, 43624/14
Standard Verlagsgesellschaft mbH/AT (Nr 3), 7.12.2021, 39378/15 = NLMR 2021, 552
Sanchez/FR, 15.5.2023, 45581/15 (GK) = NLMR 2023, 267
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.9.2023, Bsw. 4222/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 475) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.