JudikaturAUSL EGMR

Bsw36705/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Datenschutzrecht
20. Juni 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Margari gg Griechenland, Urteil vom 20.6.2023, Bsw. 36705/16.

Spruch

Art. 8 EMRK - Veröffentlichung von Fotos Angeklagter zur Warnung der Bevölkerung und Ermittlung weiterer Opfer.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Verletzung von Art 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf wurde am 16.11.2015 mit sechs weiteren Personen wegen des Verdachts verhaftet, im Rahmen einer kriminellen Organisation bei Immobilientransaktionen betrogen zu haben. Ihnen wurde vorgeworfen, sich als Immobilienmakler ausgegeben und den Kaufinteressenten unter Verwendung gefälschter Dokumente Anzahlungen herausgelockt zu haben. Der vermutete Schaden betrug mindestens € 700.000,–. Drei Tage nach ihrer Verhaftung wurde die Bf auf freien Fuß gesetzt, durfte jedoch das Land nicht verlassen.

Auf Antrag der Polizeibehörde genehmigte der Staatsanwalt des Athener Strafgerichts erster Instanz am 25.11.2015 die Veröffentlichung der personenbezogenen Daten und Fotos der sieben Beschuldigten durch sämtliche Medien für einen Zeitraum von sechs Monaten ab dem 2.12.2015. Diese Anordnung wurde von der Oberstaatsanwaltschaft bestätigt. Die Veröffentlichung diente gemäß den gesetzlichen Voraussetzungen dazu, die Bevölkerung vor weiteren, ähnlichen Straftaten zu schützen, und zu ermitteln, ob die Angeklagten an weiteren Straftaten beteiligt waren. (Anm: Gemäß Art 2 lit b des griechischen Datenschutzgesetzes [Nr 2472/1997] kann die Staatsanwaltschaft im Kontext eines Strafverfahrens die Veröffentlichung personenbezogener Daten von Angeklagten anordnen, wenn dies dem Zweck des Schutzes der Gesellschaft, von Minderjährigen oder verletzlichen oder benachteiligten Bevölkerungsgruppen dient und die Erfüllung der staatlichen Aufgabe erleichtert, bestimmte Straftaten zu ahnden. Die relevanten Tatbestände werden in Art 3 Abs 2 lit b leg cit genannt.)

Die Anordnung wurde am 16.12.2015 auf der Website der griechischen Polizei kundgemacht. Sie verwies auf »Mitglieder einer kriminellen Organisation, die in [den Bezirken Attikas] Psychiko und Voula Betrug zu Lasten von Liegenschaftseigentümern begangen hatten« und denen »gemeinschaftlich begangene Betrugsdelikte, Urkundenfälschung und Verwendung gefälschter Urkunden, Ausstellung falscher Bestätigungen, Erhebung einer wissentlich falschen Anzeige sowie Verstöße gegen das Verbot der Geldwäsche« vorgeworfen würden.

Die Bf erfuhr durch Freunde am 26.12.2015 davon, dass ihre persönlichen Daten von einigen Medien und Websites wiedergegeben wurden. Daraufhin beantragte sie die Ausfolgung einer Kopie der Anordnung des Staatsanwalts. In dieser wurden die Straftaten spezifisch den einzelnen Beschuldigten zugeordnet.

Am 22.6.2017 wurde die Bf ohne bedingte Nachsicht zu elf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Sie erhob dagegen Berufung, erschien jedoch nicht vor dem Rechtsmittelgericht. Sie ist nach wie vor flüchtig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die Veröffentlichung ihres Fotos und ihrer persönlichen Daten in den Medien.

Zur Fortsetzung der Prüfung der Beschwerde

(19) Der Vertreter der Bf [...] gab an, zwar bis 2022 in sporadischem Kontakt zu dieser gestanden zu sein, sie jedoch nicht erreicht zu haben, nachdem er Briefe von der Kanzlei des GH erhalten hatte. [...]

(20) Der GH erachtet es daher zunächst als erforderlich, im Licht der Kriterien des Art 37 EMRK zu prüfen, ob die Fortsetzung der Prüfung der Beschwerde gerechtfertigt ist. [...]

(22) Das Schreiben des Vertreters der Bf wirft Zweifel daran auf, ob er seit 2022 noch in Kontakt zu ihr steht und sie beabsichtigt, die Beschwerde weiter zu verfolgen. Ungeachtet dessen kann der GH selbst in Fällen, deren Umstände zum Schluss führen, dass ein*e Bf die Beschwerde nicht weiter verfolgen will, seine Prüfung fortsetzen, »wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert«. Umstände [...], die eine fortgesetzte Prüfung der Beschwerde erfordern, bestehen, wenn eine solche Prüfung dazu beiträgt, die Schutzstandards der EMRK zu verdeutlichen, abzusichern oder weiterzuentwickeln.

(23) Nach Ansicht des GH betrifft der Gegenstand der vorliegenden Beschwerde – die Veröffentlichung persönlicher Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Kontext eines anhängigen Strafverfahrens – eine wichtige Frage von allgemeinem Interesse nicht nur für Griechenland, sondern auch für andere Konventionsstaaten. Daher liegen besondere Umstände betreffend die Achtung der Menschenrechte [...] vor, die eine Fortsetzung der Prüfung der Beschwerde in der Sache erfordern.

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(24) Die Bf brachte vor, sie sei durch die Veröffentlichung ihrer persönlichen Daten und ihres Fotos in der Presse [...] in ihrem Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt worden [...].

Zulässigkeit

(31) [...] Es ist unbestritten, dass die Verbreitung des Fotos der Bf und von Details der gegen sie erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe das erforderliche Maß an Schwere erreichte, um den Schutz von Art 8 EMRK nach sich zu ziehen [...].

(34) [...] Der von der Regierung genannte Rechtsbehelf [den die Bf ihrer Ansicht nach zu erschöpfen verabsäumte] wäre unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht effektiv gewesen, weshalb die Bf keinen Gebrauch davon machen musste.

(35) Der GH stellt weiters fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Roosma und Zünd).

In der Sache

(50) [...] Es ist unbestritten, dass ein Eingriff in das Recht der Bf auf Achtung ihres Privatlebens stattgefunden hat. Es bleibt daher zu prüfen, ob der Eingriff nach Art 8 Abs 2 EMRK gerechtfertigt war. [...]

(51) [...] Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen. Insb gestattete Art 2 lit b [des Datenschutzgesetzes] in der damals geltenden Fassung dem Staatsanwalt unter bestimmten Voraussetzungen die Veröffentlichung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit bestimmten [...] Straftaten [...]. Der GH akzeptiert daher, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war.

(52) Zur Frage, ob die Veröffentlichung eines der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten legitimen Ziele verfolgte, bemerkt der GH, dass solche Veröffentlichungen nach den oben genannten innerstaatlichen Bestimmungen dem Schutz der Gesellschaft, insb von Minderjährigen und verletzlichen oder benachteiligten Bevölkerungsgruppen, dienten und die Erfüllung der staatlichen Aufgabe erleichterten, die [im Gesetz genannten] Straftaten zu bestrafen. Der Staatsanwalt rechtfertigte die Veröffentlichung des Fotos und der Daten in seiner Entscheidung [...] mit dem Verweis auf die Notwendigkeit, die Gesellschaft zu schützen und die Sammlung weiterer Informationen in Bezug auf die [der Bf vorgeworfenen] oder weitere Straftaten. Der GH gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die Veröffentlichung stattfand, um die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen und somit ein legitimes Ziel iSv Art 8 Abs 2 EMRK verfolgte.

(53) Somit bleibt zu prüfen, ob die Veröffentlichung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, um die genannten Ziele zu erreichen. [...] In Fällen, die sich auf die Offenlegung personenbezogener Daten bezogen, anerkannte der GH, dass den zuständigen nationalen Behörden bei der Herstellung eines Ausgleichs zwischen den widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen ein weiter Ermessensspielraum zuzugestehen ist. Dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen Kontrolle und sein Umfang hängt von Faktoren ab wie der Art und Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Interessen sowie der Schwere des Eingriffs.

(54) Im vorliegenden Fall wurde die Bf wegen bestimmter Straftaten angeklagt. Der Staatsanwalt machte von seiner gesetzlichen Befugnis Gebrauch, die Veröffentlichung von Fotos der Angeklagten sowie von Angaben über die ihnen vorgeworfenen Delikte anzuordnen, wobei er dies und die Dauer der Veröffentlichung [...] näher begründete. In diesem Zusammenhang anerkennt der GH, dass Strafverfahren besondere Merkmale aufweisen, die zu berücksichtigen sind. [...] Insb kann die Notwendigkeit der Wahrung der Vertraulichkeit gewisser Arten von personenbezogenen Daten manchmal hinter das Interesse an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten sowie an der Öffentlichkeit von Strafverfahren zurücktreten. Die Tatsache, in einem Strafverfahren angeklagt zu sein, beschneidet allerdings nicht den Umfang des weiteren Schutzes ihres Privatlebens, den die Bf als »gewöhnliche Person« genießt.

(55) [...] Der Staatsanwalt verwies auf die Notwendigkeit, mehr Informationen über andere mögliche Straftaten zu sammeln, die möglicherweise von der Bf begangen worden sein konnten, und den Schutz der Gesellschaft [...]. Zudem enthielt seine Anordnung nur jene Angaben, die unbedingt notwendig waren, um diese Ziele zu erreichen, nämlich das Foto und die Angabe der Straftaten, die der Bf vorgeworfen wurden. Es gab darin keine weitere Aussage, die als möglicher Verstoß gegen die Unschuldsvermutung angesehen werden könnte. [...] Die Bf befand sich nicht in Haft und es war nach Ansicht des GH legitim, dass die Behörden um Unterstützung der Bevölkerung warben, um zu ermitteln, ob es irgendwelche weiteren Straftaten gab, an denen die Bf und ihre Mitangeklagten beteiligt gewesen sein könnten.

(56) Wie der GH bereits festgestellt hat, kann die objektive Nützlichkeit von Fotos, die von den Behörden nach der Festnahme einer Person, die der Begehung einer Straftat verdächtigt wird, aufgenommen wurden, deren Speicherung für Zwecke der Verbrechensbekämpfung »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« machen. Dieselben Überlegungen gelten im Kontext der Veröffentlichung des Fotos der Bf zusammen mit Informationen über die gegen sie erhobenen Anklagen: Die objektive Nützlichkeit der Veröffentlichung des umstrittenen Materials diente unter den herrschenden Umständen und unter Berücksichtigung der zeitlichen Befristung auf sechs Monate einem ausreichend dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis.

(57) Was die Einschätzung der Verhältnismäßigkeit der Veröffentlichung und das Vorbringen relevanter und ausreichender Gründe dafür durch die Behörden betrifft, stellt der GH fest, dass das griechische Recht gewisse Sicherungen vorsieht, wenn der Staatsanwalt im Kontext eines anhängigen Strafverfahrens die Veröffentlichung personenbezogener Daten und Fotos anordnet, wie etwa die Vorabverständigung des Angeklagten und ein Recht auf ein Rechtsmittel. Allerdings gelten diese Sicherungen nicht im speziellen Fall der [...] Beteiligung an einer kriminellen Organisation. Insb wurde die Bf weder davor noch danach amtlich von der Veröffentlichung ihres Fotos und ihrer personenbezogenen Daten verständigt [...]. Dieser Aspekt des innerstaatlichen Rechts ist nach Ansicht des GH zu kritisieren. Insb stellte er in Fällen, in denen Fotos einer angeklagten Person ohne ihre Zustimmung an die Presse weitergegeben wurden, bereits eine Verletzung von Art 8 EMRK fest, wenn es dafür keine Grundlage im innerstaatlichen Recht gab

oder wenn der Eingriff nicht gerechtfertigt war. Obwohl eine rechtlich bindende Verpflichtung, vor der Veröffentlichung des Fotos einer angeklagten Person [...] deren Einwilligung einzuholen, dem Zweck des Gesetzes widersprechen könnte, ist der GH doch der Ansicht, dass die Bf vor der Verbreitung ihres Fotos und der Angaben über die Anklage zumindest verständigt hätte werden müssen [...].

(58) Zudem stand der Bf kein Rechtsmittel gegen die Anordnung des Staatsanwalts [...] zur Verfügung. Wie das Gesetz für bestimmte Kategorien von Straftaten vorsah, trat die Anordnung sofort in Kraft. Sie war von der Oberstaatsanwaltschaft zu bestätigen, ohne dass jedoch die Kriterien dafür festgelegt wurden. Selbst wenn Art 8 EMRK keine expliziten prozeduralen Anforderungen enthält, ist es für den effektiven Genuss der von dieser Bestimmung garantierten Rechte wichtig, dass der sich darauf beziehende Entscheidungsprozess fair und so gestaltet ist, dass er eine angemessene Achtung der geschützten Interessen bietet. [...] Im vorliegenden Fall hatte die Bf jedoch weder Gelegenheit, vor der Entscheidung angehört zu werden, noch konnte sie eine Überprüfung beantragen und nach der Entscheidung ihre Argumente vorbringen.

(59) Zuletzt nimmt der GH das Argument der Bf zur Kenntnis, sie wäre nur wegen des Vergehens der Beteiligung an einer kriminellen Organisation nach Art 187 Abs 5 des Strafgesetzbuchs angeklagt gewesen und nicht wegen der in Art 187 Abs 1 definierten schwereren Form dieser Straftat. Während die Anordnung des Staatsanwalts die genauen Straftaten, die der Bf vorgeworfen wurden, mit ausreichender Klarheit beschrieb, traf die in Umsetzung dieser Anordnung ergangene Kundmachung der Polizei keine Unterscheidung zwischen den einzelnen Angeklagten [...]. Diese polizeiliche Kundmachung wurde später in den Medien veröffentlicht. Die Verarbeitung personenbezogener Daten, die sich auf strafrechtliche Anklagen beziehen, erfordert nach Ansicht des GH aufgrund ihrer besonderen Sensibilität erhöhten Schutz. Es ist daher von größter Wichtigkeit, dass sensible Daten, wenn sie im Kontext eines anhängigen Strafverfahrens oder laufender Ermittlungen veröffentlicht werden, die Situation und die gegen eine angeklagte Person

erhobenen Vorwürfe genau wiedergeben und auch die Unschuldsvermutung beachtet wird.

(60) Die vorstehenden Überlegungen reichen für den GH aus um zu dem Schluss zu gelangen, dass der durch die Anordnung des Staatsanwalts und die Kundmachung der Polizei begründete Eingriff in das Recht der Bf auf Achtung ihres Privatlebens unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht ausreichend gerechtfertigt und trotz des den nationalen Gerichten in solchen Angelegenheiten zukommenden weiten Ermessensspielraums unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel war. Folglich hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (4:3 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Roosma und Zünd).

Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK

(62) Angesichts der Feststellungen zu Art 8 EMRK [...] erachtet es der GH [...] nicht als notwendig, die Beschwerde gesondert unter Art 13 EMRK zu prüfen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides).

Vom GH zitierte Judikatur:

Z./FI, 25.2.1997, 22009/93 = NL 1997, 54 = ÖJZ 1998, 152

Khuzhin ua/RU, 23.10.2008, 13470/02

Avilkina ua/RU, 6.6.2013, 1585/09 = NLMR 2013, 187

Vicent del Campo/ES, 6.11.2018, 25527/13 = NLMR 2018, 533

L. B./HU, 9.3.2023, 36345/16 (GK) = NLMR 2023, 135

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.6.2023, Bsw. 36705/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 247) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.