JudikaturAUSL EGMR

Bsw22060/20 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
13. Juni 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Sperisen gg die Schweiz, Urteil vom 13.6.2023, Bsw. 22060/20.

Spruch

Art. 3, 5 Abs 3 EMRK, Art 6 Abs 1 EMRK - Fehlende Unparteilichkeit einer Richterin, die sowohl als Untersuchungs- als auch als Rechtsmittelinstanz agierte.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 6 Abs 1 EMRK, was die von der Präsidentin der Strafkammer des Genfer Strafgerichts zweiter Instanz in ihrer Stellungnahme vom 3.10.2017 verwendete Wortwahl, "die Beweislast gegen den Bf ist ausreichend groß, um die Aussicht auf eine Verurteilung wahrscheinlich zu machen", betrifft (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 6 Abs 1 EMRK betreffend die verwendete Wortwahl im Ablehnungsbeschluss der Präsidentin der Strafkammer des Genfer Strafgerichts zweiter Instanz vom 18.7.2017 wegen fehlender Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 3 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 5 Abs 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK stellt bereits für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf behaupteten immateriellen Schaden dar. € 15.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf ist Staatsangehöriger der Schweiz und Guatemalas und war in der Zeit von Juli 2004 bis März 2007 Generaldirektor der guatemaltekischen Kriminalpolizei. Während dieser Zeit fanden mehrere Polizeioperationen unter seiner Leitung statt, die zum Ziel hatten, entflohene Häftlinge wieder einzufangen bzw Gefängnisrevolten niederzuschlagen. Im April 2007 verließ er Guatemala, um sich in der Schweiz niederzulassen.

In der Folge erhoben mehrere NGOs Strafanzeige gegen den Bf, in der sie ihm vorwarfen, im Zuge der Polizeioperationen mehrere Verbrechen begangen zu haben. Nach seiner Verhaftung auf Anordnung der Genfer Staatsanwaltschaft wurde am 3.9.2012 die Untersuchungshaft über ihn verhängt.

Anfang 2014 wurde Anklage gegen den Bf wegen willkürlicher Erschießung mehrerer Häftlinge erhoben. Am 6.6.2014 sprach ihn das Strafgericht Genf des Mordes schuldig. Mit Urteil vom 12.7.2015 wurde ein dagegen erhobenes Rechtsmittel des Bf von der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz, welches in einer Zusammensetzung von sieben Richtern tagte, bei der Richterin A. C. F.-B. den Vorsitz führte, zurückgewiesen und er neuerlich des Mordes schuldig gesprochen. Er wandte sich daraufhin an das Bundesgericht. Am 29.6.2017 hob Letzteres das Urteil wegen Vorliegens von Verfahrensmängeln auf und verwies es an die zweite Instanz zurück.

Am 12.7.2017 beantragte der Bf seine Freilassung aus der Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 18.7.2017 wies Richterin A. C. F.-B., die dieses Mal als Untersuchungsrichterin fungierte, den Antrag mit der Begründung zurück, es lägen ausreichende Verdachtsmomente vor, welche die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft rechtfertigen würden. Am 20.9.2017 gab das Bundesgericht einer dagegen eingelegten Beschwerde des Bf teilweise statt. Es hob den genannten Beschluss auf und wies A. C. F.-B. an, den Bf unverzüglich aus der Untersuchungshaft unter Anordnung allfälliger Sicherungsmaßnahmen zu entlassen.

Am 22.9.2017 ordnete Letztere an, den Bf zu entlassen und ihm eine elektronische Fußfessel anzulegen.

In der Folge erhob der Bf einen Ablehnungsantrag gegen A. C. F.-B., da sie in ihrem Beschluss vom 18.7.2017 ihm gegenüber eine voreingenommene Haltung an den Tag gelegt habe. Letztere erklärte die Rüge mit Stellungnahme vom 3.10.2017 wegen verspäteter Einbringung für unzulässig, abgesehen davon wäre diese ohnehin als unbegründet zurückzuweisen: Der Bf werfe ihr konkret vor, in dem genannten Beschluss geäußert zu haben, dass eine strafrechtliche Verurteilung wahrscheinlich sei. Nun sei es aber so, dass ein Richter, der über einen Antrag auf Freilassung aus der Haft während des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden hätte, der Frage der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung schwerlich aus dem Weg gehen könne. Das Bundesgericht sei übrigens zu einem ähnlichen Schluss wie sie gekommen, nämlich dass »die Fakten zugunsten einer Täterschaft des Bf sprächen«. Es habe die Freilassung lediglich deswegen angeordnet, weil angesichts der mehr als fünfjährigen Dauer der Untersuchungshaft keine ausreichenden Fakten

existierten, um einen Verbleib des Bf in der Haft aus Sicherheitserwägungen zu rechtfertigen.

Eine weiterer Ablehnungsantrag gegen A. C. F.-B. wurde von der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz als unbegründet abgewiesen. Der Bf erhob daraufhin eine Beschwerde an das Bundesgericht, welches diese am 30.1.2018 mit der Begründung abwies, die von A. C. F.-B. verwendete Wortwahl – nämlich, dass der Strafakt ausreichende strafrechtliche Vorwürfe enthalte, die eine Verurteilung als wahrscheinlich erwarten ließen und die zugunsten einer Täterschaft des Bf sprechen würden – sei der Anwendung der Bestimmungen über die Untersuchungshaft immanent, sehe doch Art 221 StPO als Voraussetzung für die Anordnung der Untersuchungshaft vor, dass die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt sei. Zudem habe es selbst in seiner Rsp von der Notwendigkeit »ernster Hinweise für eine Täterschaft bzw Schuld« oder »von der Aussicht auf eine Verurteilung, die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ergeben sollte« gesprochen. Zu keiner Zeit habe A. C. F.-B. eine endgültige Meinung über die Schuld des Bf abgegeben, sondern lediglich Vermutungen über die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung und über Umstände, die zugunsten eines Schuldspruchs sprächen, getätigt.

Mit Urteil vom 27.4.2018 sprach die Strafkammer des Genfer Strafgerichts zweiter Instanz in einer siebenköpfigen Besetzung unter Vorsitz von A. C. F.-B. den Bf im nunmehr zweiten Rechtsgang von der Anklage des Mordes frei, verurteilte ihn hingegen wegen Mittäterschaft hinsichtlich der Ermordung von sechs Häftlingen zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe.

Mit Urteil vom 14.11.2019 bestätigte das vom Bf angerufene Bundesgericht dessen Verurteilung. Einen neuerlichen Ablehnungsantrag gegen A. C. F.-B. wegen Voreingenommenheit wies es wegen verspäteter Einbringung und wegen res iudicata als unzulässig zurück.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht) wegen fehlender Unparteilichkeit der Präsidentin der Strafkammer des Genfer Strafgerichts zweiter Instanz aufgrund der von ihr in ihrem Beschluss vom 18.7.2017 und in ihrer Stellungnahme vom 3.10.2017 verwendeten Wortwahl, »die Beweislast gegen den Bf ist ausreichend groß, um die Aussicht auf eine Verurteilung wahrscheinlich zu machen«.

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK

Zulässigkeit

(34) Die Regierung legt dar, der Ablehnungsantrag [...] sei vom Bundesgericht mit rechtskräftigem Urteil vom 30.1.2018 zurückgewiesen worden. Der Bf habe aber erst am 27.5.2020 Beschwerde an den GH erhoben. Die Beschwerde sei folglich wegen Nichtbeachtung der Sechs-Monats-Frist für unzulässig zu erklären.

(45) Was den Beschluss vom 18.7.2017 angeht, wirft der Bf Richterin A. C. F.-B. fehlende Unparteilichkeit vor, wobei er sich in dieser Hinsicht auf die von ihr insb in ihrem Beschluss vom 18.7.2017 verwendete Wortwahl stützt. Der GH möchte dazu anmerken, dass Art 58 StPO (»Ausstandsgesuch« einer Partei) dem Bf insofern einen Rechtsbehelf in der Form verschaffte, indem er »ohne Verzug« einen Antrag auf Ablehnung einer in einer Strafbehörde tätigen Person stellen konnte, sobald er vom Ablehnungsgrund Kenntnis erlangt hatte. Nun war aber das Bundesgericht sowohl in seinem Urteil vom 30.1.2018 als auch in seinem Urteil vom 14.11.2019 zu der Ansicht gelangt, dass der Bf eben diese Voraussetzung nicht erfüllt hatte, indem er seinen Ablehnungsantrag erst mehrere Monate nachdem er von dem betreffenden Beschluss Kenntnis erlangt hatte stellte. Der GH vermag nichts willkürliches in der Art und Weise zu erkennen, wie das Bundesgericht die relevanten Fakten ergründet und wie es Art 58 StPO unter den Umständen des vorliegenden Falles angewendet hat. Aus der vom Bundesgericht vorgenommenen Auslegung des innerstaatlichen Rechts geht hervor, dass der Bf die einschlägigen Regelungen nicht beachtet hat, was jedoch eine der zu erfüllenden Bedingungen ist, um dem von Art 35 Abs 1 EMRK gestellten Erfordernis der Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe Genüge zu tun.

(46) Daraus folgt, dass der Beschwerdepunkt unter Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich fehlender Unparteilichkeit der Richterin A. C. F.-B. aufgrund der von ihr in ihrem Beschluss vom 18.7.2017 verwendeten Wortwahl wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig zu erklären und gemäß Art 35 Abs 1 und Abs 4 EMRK zurückzuweisen ist (einstimmig).

(47) Zu der von Richterin A. C. F.-B. getätigten Stellungsnahme vom 3.10.2017 ist zu sagen, dass sich der zweite Ablehnungsantrag des Bf auf die von ihr darin verwendete Wortwahl stützte [...]. Wie auch der erste Ablehnungsantrag wurde auch dieser zweite vom Genfer Strafgericht zweiter Instanz mit »Anlassurteil« vom 31.10.2017 abgewiesen. Der Bf focht dieses Urteil gemäß Art 92 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht an, welcher »gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über Ausstandsbegehren« einen speziellen Beschwerdeweg eröffnet. Das Bundesgericht kam zu der Ansicht, dass der zweite Ablehnungsantrag für zulässig zu erklären und daher in der Sache zu untersuchen sei. Der GH erinnert daran, dass Art 35 Abs 1 EMRK den Gebrauch jedweder Rechtsbehelfe verlangt, die eine Verletzung der Konvention hintanzuhalten vermögen. Wäre vom Bf nicht Art 92 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht in Anspruch genommen worden, hätte er letztlich das Urteil des Bundesgerichts vom 31.10.2017 nicht anfechten können.

(48) Selbst wenn nun die Frage der fehlenden Unparteilichkeit von Richterin A. C. F.-B. aufgrund der von ihr in ihrer Stellungsnahme vom 3.10.2017 verwendeten Wortwahl vom Bundesgericht in seinem Urteil vom 30.1.2018 aufgegriffen worden wäre, vermag sich der GH dem Vorbringen der Regierung, wonach ihn der Bf innerhalb von sechs Monaten nach Verabschiedung dieses Urteils anrufen hätte sollen, nicht anzuschließen. Tatsächlich wurde die Frage der Wohlbegründetheit der dem Bf zur Last gelegten strafrechtlichen Vorwürfe am 14.11.2019 rechtskräftig entschieden – an diesem Tag hatte nämlich das Bundesgericht die von der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz in seinem Urteil vom 27.4.2018 ausgesprochene Verurteilung des Bf bestätigt. Vom Bf die Einbringung zweier Beschwerden zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu verlangen, um dieser spezifischen Gegebenheit des innerstaatlichen Rechts Rechnung zu tragen, würde nach Ansicht des GH auf eine zu formalistische Auslegung der Sechs-Monats-Frist hinauslaufen.

Im Übrigen sei vermerkt, dass in Ermangelung besonderer Umstände ein unter Art 6 Abs 1 EMRK erhobener Beschwerdepunkt wegen vorzeitiger Einbringung vom GH für unzulässig zu erklären wäre, wenn es sich um ein noch anhängiges Strafverfahren vor den nationalen Gerichten handelt.

(49) Im vorliegenden Fall rief der Bf den GH am 27.5.2020 an, somit innerhalb von sechs Monaten nach dem Datum der Verständigung vom Ergang des Urteils des Bundesgerichts vom 14.11.2019, das ist der 29.11.2019. Der GH ist daher der Ansicht, dass dieser Beschwerdepunkt [...] nicht verspätet ist.

(50) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(52) Der GH erinnert daran, dass die Tatsache allein, dass ein Richter erster oder zweiter Instanz bereits an Entscheidungen vor dem eigentlichen Strafprozess – insb was das Thema der Untersuchungshaft angeht – mitgewirkt hat, als solche nicht das Unbehagen eines Bf, dem betreffenden Richter könnte es an Unparteilichkeit mangeln, rechtfertigen kann. Was zählt, ist die Tragweite und die Natur der getroffenen Maßnahmen.

(53) In seinem Urteil im Fall Hauschildt/DK (Rz 51–52) hob der GH iZm der Verlängerung der Untersuchungshaft hervor, dass die Mitglieder des Gerichts zweiter Instanz sich ausdrücklich auf eine Rechtsvorschrift über die Rechtspflege gestützt hatten, die von ihnen verlangte, sich von der Existenz »besonders starker Verdachtsmomente« zu vergewissern, was die Begehung der dem Bf zur Last gelegten Delikte betraf, was [...] darauf hinauslief, dass die Richter von einer »sehr klaren« Schuld [des Bf] überzeugt sein mussten. Der GH kam zu dem Schluss, dass »der Abstand zwischen der Lösung der Frage, ob man auf diese Rechtsvorschrift zurückgreifen darf, und das am Ende des Prozesses zu lösende Problem sehr gering wurde« und »dass die Unparteilichkeit der zuständigen Gerichte in dieser Hinsicht Fragen aufwirft«.

(54) In den Rechtssachen Nortier/NL (Rz 35) und Saraiva de Carvalho/PT (Rz 38) vertrat der GH die Ansicht, dass – im Gegensatz zur Situation im Fall Hauschildt/DK– sich die nationalen Richter in diesem Fall bemüht hatten, nicht nur »besonders starke Verdachtsmomente«, sondern auch »ernste Anhaltspunkte« ausfindig zu machen, indem sie von vornherein prüften, »ob die vom Staatsanwalt herangetragenen Anschuldigungen auf einer gültigen Grundlage« oder »hinreichenden Indizien« beruhten, sodass man bei einer summarischen Einschätzung der vorhandenen Elemente nicht gleich zu einer »förmlichen Feststellung der Schuld« gelangen würde.

(55) In den Angelegenheiten Cardona Serrat/ES (Rz 35) und Alony Kate/ES (Rz 56) kam der GH zu der Auffassung, dass die Schlussfolgerungen der [...] als Untersuchungsrichter handelnden Beamten, es lägen »ausreichende Hinweise vor, um zu dem Schluss zu gelangen, dass es zur Begehung einer Straftat gekommen ist« und »dass die Bf für die Begehung der betreffenden Straftat strafrechtlich verantwortlich« sind, Zeugnis dafür belegten, dass die betreffenden Richter »eine vorgefasste Meinung hinsichtlich von Fragen hatten, über die sie sich letztlich [auch] als Mitglieder eines gerichtlichen Spruchkörpers zu äußern hatten«.

(56) Schließlich kam der GH in der Beschwerdesache Ionut-Laurentiu Tudor/RO (Rz 84) zu der Ansicht, dass die Schlussfolgerung der nationalen Richter, wonach gegen den Bf »ernste Anhaltspunkte« vorliegen würden, die den Schluss erlaubten, dass der Betroffene »die Taten wahrscheinlich begangen hat, derer er beschuldigt wird«, nicht aus einer summarischen Betrachtung der vorhandenen Elemente mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Haft resultieren dürfe und dass dies »eine sorgfältigere Prüfung der vorgelegten Unterlagen voraussetzt, um zur Feststellung einer Schuld des Bf zu gelangen«. Der GH kam daher zu dem Schluss, »dass der Abstand zwischen der Einschätzung, ob ein Anlass zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gegeben sei, und der Feststellung der Schuld am Ende des Prozesses minimal geworden war«.

(57) Der GH wird sich nun dem vorliegenden Fall zuwenden. Zuerst einmal möchte er festhalten, dass er dem Akt keinerlei Anhaltspunkte entnehmen kann, wonach Richterin A. C. F.-B. aus persönlichen Gründen eine feindselige oder böswillige Haltung gegenüber dem Bf an den Tag gelegt hätte [sog subjektiver Test]. Der GH wird daher den objektiven Test heranziehen und prüfen, ob es berechtigte Gründe gab, eine fehlende Unparteilichkeit auf ihrer Seite zu befürchten.

(58) Dazu ist zu sagen, dass Richterin A. C. F.-B. in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz, die zur Prüfung der gegen den Bf geführten Strafsache im Rechtsmittelweg aufgerufen war, auch als Untersuchungsrichterin aktiv wurde. In Erwiderung auf einen vom Bf gestellten Ablehnungsantrag gegen ihre Person nach Aufhebung des Beschlusses [vom 18.7.2017] über die Verlängerung der Untersuchungshaft [durch das Bundesgericht] wiederholte sie in ihrer Stellungnahme vom 3.10.2017 ihre Ansicht, dass hinsichtlich des Bf »ausreichende Belastungen« existierten, welche die Aussicht auf eine Verurteilung »wahrscheinlich« machten, und dass die Unterlagen des Strafakts »nach wie vor zugunsten einer Schuld sprechen« würden.

(59) Ferner ist anzumerken, dass Art 221 StPO zufolge die Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter der Voraussetzung angeordnet werden kann, dass die beschuldigte Person »eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist«. In seinem Urteil vom 30.1.2018 hat das Bundesgericht darauf hingewiesen, dass die Schweizer Gerichte diese Voraussetzung dahingehend zu interpretieren hätten, dass dies in der Praxis die Existenz »ernster Anhaltspunkte für eine Schuld« oder die Aussicht auf »eine mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgende Verurteilung« erfordere. Laut dem Bundesgericht wäre der Gebrauch einer derartigen Wortwahl der »Anwendung der Bestimmungen über die Untersuchungshaft vor Ergang des Urteils immanent«. Und weiter: »Mit dem Gebrauch der strittigen Begriffe hat sich die [der Parteilichkeit] beschuldigte Richterin lediglich auf die Verwendung gefestigter Ausdrucksweisen der Lehre und der Rsp auf dem Gebiet der Haftkontrolle beschränkt«.

(60) Der GH ist der Ansicht, dass die Schlussfolgerung von Richterin A. C. F.-B. hinsichtlich »der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung« und der Existenz von Elementen im Strafakt, die nach wie vor »zugunsten eines Schuldspruchs sprechen würden«, nicht einfach Gegenstand einer summarischen Einschätzung der zu diesem Zeitpunkt für die Aufrechterhaltung der Haft verfügbaren Hinweise sein durfte, sondern dass diese eine gründlichere Prüfung der zu Tage gekommenen Elemente erfordert hätte, um sich eine Meinung über die Schuld des Bf zu bilden. Der GH legt in dieser Hinsicht Wert auf die Feststellung, dass besagte Richterin sich über die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der über den Bf verhängten Untersuchungshaft nicht zu Beginn der ihn betreffenden strafrechtlichen Untersuchung, sondern zu einem Zeitpunkt äußerte, zu dem der Untersuchungsakt betreits komplett und abgeschlossen war. Der GH muss auch die Tatsache berücksichtigen, dass A. C. F.-B. der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz vorsaß, die den Bf im Rechtsmittelweg am 12.7.2015 verurteilte, bevor die Angelegenheit vom Bundesgericht an dieselbe Instanz zurückverwiesen wurde. Zwar hat sich die betreffende Richterin in ihrer Stellungnahme vom 3.10.2017 einer standardisierten Ausdrucksweise bedient, jedoch ging diese in den Augen des GH über die Äußerung eines bloßen Verdachts hinaus. Mit anderen Worten wurde die Spanne zwischen der Einschätzung, ob der Bf in Untersuchungshaft verbleiben sollte [oder nicht], und der Feststellung seiner Schuld am Ende des Prozesses sehr dünn (vgl Hauschildt/DK, Rz 52; Ionut-Laurentiu Tudor/RO, Rz 84).

(61) Der Bf durfte somit vernünftigerweise befürchten, dass Richterin A. C. F.-B. eine vorgefasste Meinung hinsichtlich der Frage seiner Schuld hatte, als sie einige Monate später dazu aufgerufen war, als Mitglied der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz über seinen Fall zu entscheiden und er mit Urteil vom 27.4.2018 zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der GH möchte nochmals darauf hinweisen, dass Richterin A. C. F.-B. der Richterbank vorsaß.

(62) Er möchte auch in Erinnerung rufen, dass die Existenz nationaler Prozeduren zur Gewährleistung der Unparteilichkeit und insb Regelungen, dass sich Richter für befangen erklären können, ein relevanter Faktor bei der Einschätzung ist, ob ein Tribunal unparteiisch ist (vgl Micallef/MT, Rz 99). Mag auch die schweizerische StPO ein eigenes Verfahren betreffend die Befangenheit bzw Ablehnung von Strafrichtern vorsehen, so kann der GH nur feststellen, dass der Gebrauch dieser Prozedur durch den Bf es nicht zuließ, dass seine Zweifel hinsichtlich der Unparteilichkeit von Richterin A. C. F.-B. zerstreut werden konnten.

(63) Die Tatsache, dass Richterin A. C. F.-B. im Kreise einer erweiterten Kammer von sieben Richtern Stellung nehmen musste, kann hinsichtlich der Frage der unter dem Blickwinkel des Art 6 Abs 1 EMRK untersuchten objektiven Unparteilichkeit nicht entscheidend sein, gestattete doch der [Grundsatz des] Beratungsgeheimnisses es dem Bf nicht, Einblick in den tatsächlichen Einfluss zu bekommen, den die Genannte auf ihre Kolleg*innen [im Zuge der Beratungen] haben konnte.

(64) Mit Blick auf die Gesamtheit dieser Elemente ist der GH der Ansicht, dass die Befürchtungen des Bf hinsichtlich der [fehlenden] Unparteilichkeit von Richterin A. C. F.-B. objektiv gerechtfertigt waren. Das Rechtsmittelgericht, genauer gesagt die Richterbank der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz unter dem Vorsitz von Richterin A. C. F.-B., die über die Begründetheit der gegen den Bf gerichteten strafrechtlichen Anschuldigungen absprach, garantierte somit nicht die von Art 6 Abs 1 EMRK geforderte Gewährleistung der Unparteilichkeit.

(65) Folglich ist eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK festzustellen, insoweit dieser das Recht auf ein unparteiisches Gericht garantiert (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Grozev).

Zu den anderen behaupteten Verletzungen von Art 6 EMRK

(66) [...] Der Bf beklagt sich über mehrere weitere Verletzungen seines Rechts auf ein faires Verfahren und über eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Der GH erinnert daran, dass ein Gericht, von dem feststeht, dass es weder unabhängig noch unparteiisch agiert hat, in keinem wie immer gearteten Fall den seiner Jurisdiktion unterworfenen Personen ein faires Verfahren garantieren kann. Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK, zu welcher der GH in Rz 65 gekommen ist, hält er bezüglich der anderen, auf diese Konventionsbestimmung gegründeten Rügen eine gesonderte Prüfung der Zulässigkeit und in der Sache nicht für notwendig (einstimmig).

Zu den weiteren behaupteten Konventionsverletzungen

(67) Der Bf ist der Ansicht, die Anhaltebedingungen im Gefängnis von Champ-Dollon hätten ihn einer erniedrigen Behandlung entgegen Art 3 EMRK unterworfen.

(68) Die Regierung wendet ein, der Bf habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft, da er sich bei dem Kantonsgericht nicht über unrechtmäßige Haftbedingungen beschwert und in dieser Hinsicht auch keine Beschwerde beim Bundesgericht wegen Rechtsverweigerung eingelegt habe. [...]

(69) Wie auch die Regierung stellt der GH fest, dass der Bf bei der Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz keine Rüge hinsichtlich seiner Anhaltebedingungen eingebracht hat. [...] Dieser Beschwerdepunkt ist daher wegen fehlender Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig zu erklären und muss gemäß Art 35 Abs 1 und Abs 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).

(70) Der Bf beklagt sich letztendlich über die seiner Ansicht nach unangemessene Dauer der Untersuchungshaft, seiner Sicherheitshaft wie auch der Anordnung des Hausarrests [nach seiner Freilassung aus der Haft]. Er beruft sich auf Art 5 Abs 3 EMRK (Recht auf Aburteilung binnen angemessener Frist).

(72) Die für Art 5 Abs 3 EMRK maßgebliche Zeitspanne beginnt, wenn eine Person festgenommen oder ihr die Freiheit entzogen wird. Sie endet, wenn die betreffende Person aus der Haft entlassen und/oder über die gegen sie erhobene Anklage, mag diese auch durch ein erstinstanzliches Gericht erfolgen, entschieden wird. Im vorliegenden Fall endete diese Periode am 27.4.2018, dem Tag, an dem die Strafkammer des Genfer Gerichts zweiter Instanz den Bf nach neuerlicher Entscheidung über die Strafsache im Rechtsmittelweg verurteilte. Der Bf hat nun aber Beschwerde in Straßburg erst am 27.5.2020 erhoben, also weit außerhalb der Sechs-Monats-Frist, die mit der Neuentscheidung über seinen Fall zu laufen begann. Der auf Art 5 Abs 3 EMRK gründende Beschwerdepunkt wurde daher verspätet eingebracht und ist somit [als unzulässig] gemäß Art 35 Abs 1 und Abs 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK stellt bereits für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf behaupteten immateriellen Schaden dar. € 15.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Grozev).

Vom GH zitierte Judikatur:

Hauschildt/DK, 24.5.1989, 10486/83 = ÖJZ 1990, 188 = EuGRZ 1993, 122

Nortier/NL, 24.8.1993, 13924/88 = NL 1993/5, 19 = ÖJZ 1994, 213

Saraiva de Carvalho/PT, 22.4.1994, 15651/89 = NL 1994, 180 = ÖJZ 1995, 36

Micallef/MT, 15.10.2009, 17056/06 (GK) = NL 2009, 294

Cardona Serrat/ES, 26.10.2010, 38715/06

Alony Kate/ES, 17.1.2012, 5612/08

Ionut-Laurentiu Tudor/RO, 24.6.2014, 34013/05

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.6.2023, Bsw. 22060/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 230) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.