Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Bayer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, in der Revisionssache der C R in V, vertreten durch Dr. Michael Konzett, Rechtsanwalt in 6700 Bludenz, Fohrenburgstraße 4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom 14. Dezember 2021, LVwG 318 45/2021 R11, betreffend Einwendungen gegen eine Baubewilligung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Bludenz; mitbeteiligte Partei: M GmbH), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg (im Folgenden: Verwaltungsgericht) wurde der Beschwerde der Revisionswerberin gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 23. April 2021, mit welchem dem Rechtsvorgänger der Mitbeteiligten unter anderem die Baubewilligung gemäß den §§ 28 und 29 Baugesetz (BauG) für die Errichtung eines näher bezeichneten Nebengebäudes unter Auflagen unter gleichzeitiger Zulassung einer Ausnahme gemäß § 7 Abs. 1 lit. g BauG hinsichtlich der Abstände und Abstandsflächen sowie unter Zulassung einer Ausnahme hinsichtlich der Raumhöhen gemäß § 49 Abs. 1 Bautechnikverordnung erteilt worden war, keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid bestätigt. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig sei.
2 Begründend hielt das Verwaltungsgericht fest, dass der Rechtsvorgänger der Mitbeteiligten ein Bauvorhaben nicht entsprechend der ihm erteilten Baubewilligung ausgeführt habe. Statt Personalwohnungen seien Ferienappartements gebaut worden. Dafür habe der Rechtsvorgänger der Mitbeteiligten gemäß § 28 BauG nachträglich eine Baubewilligung beantragt. Die Abstandsflächen des Bauvorhabens lägen auf dem Nachbargrundstück der Revisionswerberin. Eine Abstandsnachsicht sei nicht erteilt worden. Im Zeitraum von zehn Jahren ab der Vollendung des Bauvorhabens (spätestens am 9. August 1994) habe kein Nachbar die Unterschreitung der Abstandsflächen oder Mindestabstände schriftlich beanstandet. Daher sei der Ausnahmetatbestand des § 7 Abs. 1 lit. g BauG erfüllt. Da es keine Hinweise darauf gebe, dass die Interessen der Sicherheit, der Gesundheit und des Schutzes des Orts- und Landschaftsbildes beeinträchtigt worden seien, dürfe die belangte Behörde die Abstandsnachsicht und die Baubewilligung erteilen.
3 Dagegen erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH), der deren Behandlung mit Beschluss vom 1. Dezember 2022, E 227/2022 13, ablehnte und sie gemäß Art. 144 Abs. 3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Begründend führte der VfGH unter anderem aus:
„Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als die Rechtswidrigkeit der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschrift des § 7 Abs. 1 lit. g Vorarlberger Baugesetz idF LGBl. 64/2019 behauptet wird, lässt ihr Vorbringen vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat:
Es liegt im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, wenn er eine Abstandsnachsicht für bereits ausgeführte Bauvorhaben unter der Voraussetzung ermöglicht, dass die Interessen der Sicherheit, der Gesundheit sowie des Schutzes des Orts- und Landschaftsbildes nicht beeinträchtigt werden und die Unterschreitung der Abstandsflächen oder Mindestabstände während eines Zeitraumes von zehn Jahren ab Vollendung des Bauvorhabens nicht von den betroffenen Nachbarn gegenüber der Behörde beanstandet worden ist.“
4 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, es bestehe keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob die Ausnahmebestimmung des § 7 Abs. 1 lit. g BauG auf Bauvorhaben anzuwenden sei, die vor Inkrafttreten der Ausnahmebestimmung konsenswidrig errichtet und fertiggestellt worden seien, sowie, ob diese Ausnahmebestimmung in Bauverfahren anzuwenden sei, die wegen Abweichen des Bestandes vom Genehmigungsbescheid durch Aufforderung der Baubehörde, die erforderlichen Unterlagen für die Durchführung eines bau- und gewerberechtlichen Verfahrens einzubringen, vor Inkrafttreten der Ausnahmebestimmung eingeleitet worden seien, auch wenn der Antrag auf Baubewilligung erst nach Inkrafttreten der Ausnahmebestimmung eingereicht worden sei, und, ob die Ausnahmebestimmung anzuwenden sei, obwohl die mangelnde Abstandsnachsicht der Behörde vor Inkrafttreten der Bestimmung aufgrund von nicht näher konkretisierten „Reklamationen“ von Nachbarn bereits bekannt geworden wäre.
8 Dem ist zu entgegnen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Baubehörden im Baubewilligungsverfahren im Allgemeinen jene Rechts- und Sachlage maßgeblich ist, die im Zeitpunkt der Erlassung ihres Bescheides gegeben ist. Eine andere Betrachtungsweise wäre dann geboten, wenn etwa der Gesetzgeber in einer Übergangsbestimmung zum Ausdruck bringt, dass auf anhängige Verfahren noch das bisher geltende Gesetz anzuwenden ist. Weiters wird eine andere Betrachtungsweise auch dann Platz zu greifen haben, wenn darüber abzusprechen ist, was an einem bestimmten Stichtag oder in einem konkreten Zeitraum rechtens war (vgl. zum Ganzen VwGH 24.1.2022, Ra 2021/06/0231, mwN). Eine derartige Sonderregelung besteht im vorliegenden Fall nicht.
9 Auch das Verwaltungsgericht hat mit den oben für die Verwaltungsbehörden genannten Ausnahmen seiner Entscheidung die im Zeitpunkt der Erlassung seines Erkenntnisses (oder Beschlusses) geltende Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen (vgl. etwa VwGH 1.10.2021, Ra 2018/06/0210 und 0211, mwN). Die Revisionswerberin vermag mit ihrem Vorbringen daher insoweit keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.
10 Darüber hinaus liegt dann, wenn die Rechtslage nach den in Betracht kommenden Normen klar und eindeutig ist, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht vor, und zwar selbst dann nicht, wenn zu einer der anzuwendenden Normen noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergangen ist (vgl. etwa VwGH 1.8.2019, Ra 2019/06/0130 und 0131, mwN).
11 Dies ist hier der Fall: Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, es bestehe keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob die Ausnahmebestimmung anzuwenden sei, obwohl die mangelnde Abstandsnachsicht der Behörde vor Inkrafttreten der Bestimmung aufgrund von nicht näher konkretisierten „Reklamationen“ von Nachbarn bereits bekannt geworden wäre. Nach dem klaren Wortlaut des § 7 Abs. 1 lit. g BauG kann die Behörde bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eine Abstandsnachsicht „für ein bereits ausgeführtes Bauvorhaben“ zulassen, „sofern die Unterschreitung der Abstandsflächen oder Mindestabstände während eines Zeitraumes von zehn Jahren ab Vollendung des Bauvorhabens nicht von den betroffenen Nachbarn gegenüber der Behörde schriftlich beanstandet worden ist“.
12 Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 lit. g BauG ist somit von den betroffenen Nachbarn eine schriftliche Beanstandung der Unterschreitung der Abstandsflächen oder der Mindestabstände in einem Zeitraum von zehn Jahren ab Vollendung des Bauvorhabens erforderlich.
Den unbestrittenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts zufolge liegt keine derartige schriftliche Beanstandung der Revisionswerberin vor. Die von der Revisionswerberin offenbar vertretene Rechtsansicht, wonach es ausreiche, dass der Behörde vor Inkrafttreten der Bestimmung aufgrund von „Reklamationen“ von Nachbarn die nicht in Form einer schriftlichen Beanstandung der Unterschreitung der Abstandsflächen oder der Mindestabstände erfolgt sind eine Unterschreitung der Abstände bereits bekannt geworden war, findet im Gesetzeswortlaut keine Deckung.
13 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 7. März 2024