Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger, Hofrat Dr. Mayr, Hofrätin Mag. Hainz Sator sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Vonier, über die Revision der Ö AG in W, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Schottenring 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. Mai 2022, Zl. W108 2246273 1/10E, betreffend Datenschutzbeschwerde wegen Verletzung im Recht auf Geheimhaltung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Datenschutzbehörde in 1030 Wien, Barichgasse 40 42; mitbeteiligte Partei: Dipl. Ing. E S in W), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 1. Der Mitbeteiligte erhob am 26. November 2019 eine gegen die Revisionswerberin als Beschwerdegegnerin gerichtete Datenschutzbeschwerde wegen Verletzung im Grundrecht auf Geheimhaltung gemäß § 1 Abs. 1 Datenschutzgesetz (DSG).
2 2. Mit Bescheid vom 6. August 2021 gab die Datenschutzbehörde (belangte Behörde) dieser Datenschutzbeschwerde teilweise statt und stellte fest, die Revisionswerberin habe den Mitbeteiligten in seinem Recht auf Geheimhaltung verletzt, indem sie zumindest bis zum 2. April 2019 näher beschriebene Daten betreffend Parteiaffinitäten (Spruchpunkt 1.a) und bis zum 13. November 2019 näher beschriebene Daten betreffend (so genannte) Sinus Geo Milieus (Spruchpunkt 1.b) verarbeitet habe. Im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
3 Die belangte Behörde stellte zunächst den Inhalt der Auskunft der Revisionswerberin aufgrund des Auskunftsersuchens des Mitbeteiligten dar. Die Revisionswerberin habe so die belangte Behörde die Datensätze betreffend die Sinus Geo Milieus im Rahmen ihrer Gewerbeberechtigung als Adressverlag vom Datenlieferant A GmbH bezogen und dem Mitbeteiligten die Sinus Geo Milieus samt ausgedrückter Zustimmungsraten zugeordnet. Seit dem 13. November 2019 würden diese Daten von der Revisionswerberin nicht mehr verarbeitet. Weiters gab die belangte Behörde die aus einem von Amts wegen gegen die A GmbH geführten Verfahren stammenden Ermittlungsergebnisse zu den Sinus Geo Milieus wieder. Demnach handle es sich bei Geo Milieus um eine anerkannte marketingtechnische statistische Berechnungsmethode, die keine konkreten Aussagen über Einzelpersonen enthalte; es handle sich dabei um den Versuch, möglichst homogene Zielgruppen für Marketingaktivitäten abzubilden.
4 In ihrer rechtlichen Beurteilung ging die belangte Behörde zunächst von einer entsprechenden Feststellungskompetenz aus. Sie hielt mit jeweils näherer Begründung fest, dass es sich bei den Parteiaffinitäten und den Sinus Geo Milieus um personenbezogene Daten, und zwar um Daten besonderer Kategorien im Sinn des Art. 9 Datenschutz Grundverordnung (DSGVO), handle, weil sie weltanschauliche Überzeugungen zum Ausdruck brächten. Da kein Erlaubnistatbestand vorliege, seien die Daten unrechtmäßig verarbeitet worden. Soweit der Mitbeteiligte die Zuordnung der Daten zu seinem Konsumverhalten rüge, handle es sich zwar auch um personenbezogene Daten, allerdings um keine Daten besonderer Kategorien gemäß Art. 9 DSGVO. Die belangte Behörde sah den Rechtfertigungsgrund des überwiegenden berechtigten Interesses des Verantwortlichen gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO als gegeben an und wies die Beschwerde insoweit ab.
5 3. Die Revisionswerberin erhob gegen Spruchpunkt 1 dieses Bescheides Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der sie gemäß § 24 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. In der Beschwerde verneinte sie im Hinblick auf die physische Löschung der Daten zunächst einen Feststellungsanspruch des Mitbeteiligten.
6 Hinsichtlich der Sinus Geo Milieus wurde eine unrichtige Feststellung der Tatsachen moniert; die belangte Behörde habe zu Unrecht festgestellt, dass die Revisionswerberin die Sinus Geo Milieus samt prozentuell ausgedrückter Zustimmungsraten dem Mitbeteiligten zugeordnet hätte. Die Revisionswerberin habe vielmehr sowohl die Adressdaten als auch die Sinus Geo Milieus von der A GmbH bezogen und die Sinus Geo Milieus somit weder selbst erstellt, noch berechnet oder zugeordnet. Selbst wenn die verfahrensgegenständliche Datenverarbeitung unzulässig sein sollte, wäre dafür die A GmbH verantwortlich. Weiters habe die belangte Behörde mehrfach amtswegig gegen die A GmbH geführte Verfahren hinsichtlich deren Datenverarbeitung (und damit auch hinsichtlich der Sinus Geo Milieus) eingestellt; wenn aber die Quelle der Daten rechtens sei, könne deren Empfang nicht rechtswidrig sein.
7 Darüber hinaus bestritt die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde, dass es sich bei den Sinus Geo Milieus um personenbezogene Daten handle, weil die Daten auf Gebäudeebene (somit adressbezogen) erhoben würden. Als Beweis dafür (zur Entstehung und zum Aussagegehalt der Sinus Geo Milieus) wurde die Einvernahme eines namhaft gemachten sachverständigen Zeugen beantragt. Ziel der Sinus Geo Milieus sei es, die Bevölkerung in einem Raster entlang der sozialen Lage und der konsumbezogenen Grundorientierung zu segmentieren; auf weltanschauliche Überzeugungen werde dabei nicht abgestellt. Aus der Umschreibung des Sinus Geo Milieus mit der im vorliegenden Fall dominanten Wahrscheinlichkeit („Performer“ mit 30,13%) lasse sich keine weltanschauliche Überzeugung ableiten. Es fehle jegliches Substrat für die Annahme, dass sich aus den Sinus Geo Milieus die weltanschauliche Überzeugung einer Person erkennen ließe. Der Beschwerde wurde als Beilage eine Broschüre der I GmbH betreffend eine Beschreibung der Sinus Milieus beigefügt.
8 4. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. Mai 2022 wies das BVwG diese Beschwerde der Revisionswerberin, soweit sie sich gegen Spruchpunkt 1.b des angefochtenen Bescheides der belangten Behörde richtete, als unbegründet ab. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig erklärt. Unter einem wurde das Verfahren über die gegen Spruchpunkt 1.a des Bescheides der belangten Behörde gerichtete Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG infolge Zurückziehung der diesbezüglichen Beschwerde mit Beschluss eingestellt.
9 4.1. Das Verwaltungsgericht hielt zunächst fest, es werde von den Feststellungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid ausgegangen. Insbesondere stehe Folgendes fest: Die Revisionswerberin verarbeite im Zuge der Ausübung des Gewerbes „Adressverlag und Direktwerbeunternehmen“ Marketingklassifikationen, nämlich Sinus Geo Milieus, bei denen eine auf einer Wahrscheinlichkeitsrechnung basierende Einstufung erfolge. Die Daten seien aus einer Verknüpfung repräsentativer Befragungsdaten mit Adressdaten entwickelt worden. Mittels mathematisch statistischer Verfahren würden Wahrscheinlichkeitswerte für an bestimmten Adressen befindliche Gebäude errechnet und diesen zugeordnet. Sinus Geo Milieus würden eine Wahrscheinlichkeitsaussage über eine bestimmte Lebensauffassung und Lebensweise bilden, welche eine lange Liste von Alltagsbereichen, darunter Gesundheit, Tradition, Politik, Vorlieben, Religion, Ethik und Interessen umfassten. Es gehe um die Ermittlung grundlegender Wertorientierungen; diese würden in Kontext mit demografischen Eigenschaften wie Bildung, Beruf oder Einkommen gestellt. Sinus Geo Milieus würden die Gesellschaft in drei Schichten gliedern, diesen Schichten würden zehn (im Einzelnen näher beschriebene) Milieus zugeordnet. Die Revisionswerberin habe die Sinus Geo Milieus von der A GmbH bezogen und in ihren Datenbanken verarbeitet. Die Verwendung der Sinus Geo Milieus habe den Zweck, Streuverluste in der Werbung zu verringern. Eine Zustimmung der Personen, denen Wahrscheinlichkeitswerte zugeordnet worden seien, sei nicht eingeholt werden. Abschließend stellte das BVwG die dem Mitbeteiligten zugeordneten Wahrscheinlichkeitswerte für die zehn Milieus dar. Sämtliche Sinus Geo Milieus seien spätestens zum 13. November 2019 physisch gelöscht worden.
10 In seiner Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass sich die Feststellungen aus dem Akteninhalt und insbesondere dem angefochtenen Bescheid ergäben. Diesem Sachverhalt sei die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde bzw. der im Verfahren ergangenen Stellungnahme nicht bzw. bloß unsubstantiiert entgegengetreten.
11 4.2. In seiner rechtlichen Beurteilung bejahte das BVwG zunächst den ungeachtet der Löschung der Daten bestehenden Rechtsanspruch des Mitbeteiligten auf Feststellung der (in der Vergangenheit erfolgten) Verletzung im Recht auf Geheimhaltung.
12 Weiters führte das BVwG aus, dass die vom Verwaltungsgerichtshof (VwGH 14.12.2021, Ro 2021/04/0007) sowie vom Obersten Gerichtshof (OGH 18.2.2021, 6 Ob 127/20z; 15.4.2021, 6 Ob 35/21x) zur Verarbeitung von Parteiaffinitäten angestellten Überlegungen auf den hier gegenständlichen Fall betreffend Sinus Geo Milieus übertragen werden könnten. Sinus Geo Milieus seien daher von der belangten Behörde zu Recht als personenbezogene Daten eingestuft worden; sie seien dem Betroffenen direkt zugeordnet und enthielten eine Wahrscheinlichkeitsaussage über bestimmte Interessen und Vorlieben. Die Revisionswerberin verarbeite Daten, welche die Person des Mitbeteiligten mit der Wahrscheinlichkeit verknüpfe, mit der dieser eine bestimmte Lebensauffassung bzw. Lebensweise habe und damit einem bestimmten Sinus Geo Milieu angehöre.
13 Als unzutreffend erachtete das BVwG die Argumentation der Revisionswerberin, wonach es sich bei Sinus Geo Milieus um anonyme Gruppendaten auf Gebäudeebene handle. Der angefochtene Bescheid richte sich nicht gegen die Ermittlung von Zusammenhängen zwischen geografischen Elementen und dem Interesse an einer bestimmten Werbung, sondern gegen die Anwendung dieser Zusammenhänge auf den Mitbeteiligten. Selbst wenn die Revisionswerberin die Daten rechtmäßig von der A GmbH bezogen habe, habe sie die Daten in ihrem System verarbeitet und müsse daher die Grundsätze der DSGVO einhalten. Soweit sich die Revisionswerberin auf die genehmigten Verhaltensregelungen im Sinn des Art. 40 DSGVO berufe, sei dem entgegenzuhalten, dass ein solches Instrument der Selbstbindung die Rechte des Betroffenen aus der DSGVO nicht beschneiden könne. Die Einhaltung der genehmigten Verhaltensregeln könne eine fehlende Einwilligung der betroffenen Personen nicht ersetzen. Auch resultiere aus der Einstellung des amtswegigen Verfahrens gegen die A GmbH keine Bindungswirkung für den vorliegenden Fall.
14 Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin gelange auch das in Art. 9 Abs. 1 DSGVO normierte Verarbeitungsverbot zur Anwendung. Aus dem Schutzzweck des Art. 9 DSGVO, betroffene Personen vor Diskriminierungen auf Grund einer (unterstellten) religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung zu schützen, folge im vorliegenden Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Hervorgehens der weltanschaulichen Überzeugung. Der Mitbeteiligte sei mit der deutlich dominanten Wahrscheinlichkeit von 30,13% dem Milieu „Performer“ zugeordnet worden; alle anderen Milieus wiesen einen Wahrscheinlichkeitswert von deutlich unter 20% auf. Der Mitbeteiligte sei daher in der Oberschicht der „modernen Elite“ zugeordnet, wobei (nach der entsprechenden Zuschreibung) „Effizienz, Eigenverantwortung und individueller Erfolg“ bei ihm oberste Priorität hätten. Zudem lasse sich eine hohe „Business und IT Kompetenz“ attestieren. Aus dieser Beschreibung lasse sich sehr wohl eine (wahrscheinliche) weltanschauliche Überzeugung des Mitbeteiligten ableiten. Zudem werde dem Mitbeteiligten eine „global orientierte“ Haltung zugeschrieben; dem Mitbeteiligten werde somit eine hohe Affinität zu technischem Fortschritt und zu Innovationen in Kommunikations- und Transporttechnologien unterstellt. Diese Positionen könnten auch eindeutig von anderen Überzeugungen bzw. Milieus abgegrenzt werden. Zwischen der (wahrscheinlichen) Lebensweise des Mitbeteiligten, einem diesbezüglichen Interesse an bestimmter Werbung und damit an einer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung bestehe ein relevanter Zusammenhang.
15 Sinus Geo Milieus würden sich auf grundlegende Wertorientierungen und Einstellungen zu verschiedensten Lebensbereichen, wie Arbeit und Freizeit, Familie, Konsum und Politik, beziehen; sie klassifizierten eine ganzheitliche Wahrnehmung der Menschen in Relation zu allem, was für das Leben der Menschen Bedeutung habe. Da für die Erstellung der Sinus Geo Milieus ein möglichst umfassendes Spektrum von Alltagsbereichen (insbesondere Politik, Religion, Ethik, etc.) herangezogen werde, könnten „Gruppen Gleichgesinnter“ erstellt werden. Die Einteilung in verschiedene Grundorientierungen entspreche der (näher dargestellten) Definition des OGH, der in seiner Definition der Weltanschauung von Leitauffassungen vom Leben spreche. Weil zur Erstellung der Sinus Geo Milieus derart viele Lebensbereiche erfasst würden, hätten die zusammengetragenen Einstellungen einen umfassenden Einfluss auf das Handeln der Menschen sowie ein hohes Maß an Treffsicherheit. Da der Anspruch der Sinus Geo Milieus in der Unterteilung der Menschen anhand einer ganzheitlichen Wahrnehmung vom Leben und von der Welt liege, seien die Sinus Geo Milieus als weltanschauliche Überzeugung einzustufen. Die Angabe des Sinus Geo Milieus sei daher geeignet, einem Dritten hinreichend deutlich eine weltanschauliche Haltung des Mitbeteiligten zu vermitteln. Das Gefahrenpotentiell liege nicht bloß in der „Nichtzustellung“ von Werbung, sondern in der Benachteiligung aufgrund der vermuteten weltanschaulichen Überzeugung. Da in die Erstellung der Sinus Geo Milieus auch Einstellungen zu Politik, Ethik und Religion einfließen würden, seien nicht nur wie die Revisionswerberin behaupte das Konsumverhalten, der Lebensstil oder das Wohnumfeld betroffen. Es handle sich daher bei den Sinus Geo Milieus um eine besondere Kategorie personenbezogener Daten gemäß Art. 9 DSGVO.
16 Schließlich legte das BVwG noch dar, dass kein Ausnahmetatbestand des Art. 9 Abs. 2 DSGVO verwirklicht sei, weshalb die Verarbeitung der Daten rechtswidrig gewesen sei.
17 4.3. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe nach Ansicht des BVwG gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG entfallen können. Der Sachverhalt sei geklärt, eine weitere Klärung der Rechtssache durch eine mündliche Erörterung sei nicht zu erwarten und die Notwendigkeit der Durchführung einer Verhandlung sei auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 GRC nicht ersichtlich.
18 5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
19 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Zurückweisung, in eventu Abweisung der Revision beantragt.
20 Der Mitbeteiligte erstattete eine Stellungnahme, in der er angab, sein Vorbringen vor der Datenschutzbehörde vollinhaltlich aufrecht zu erhalten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
21 6. Die Revisionswerberin bringt in ihrer Zulässigkeitsbegründung ua. vor, das BVwG sei mit dem Entfall der mündlichen Verhandlung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
22 Die Revision erweist sich bereits aus diesem Grund als zulässig und auch begründet.
23 7. Soweit die Revisionswerberin die fehlende Feststellungskompetenz der belangten Behörde in einer Konstellation wie der vorliegenden (zwischenzeitige Löschung der entsprechenden Daten) ins Treffen führt, genügt es, gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, VwGH Ro 2022/04/0001, Rn. 16 ff, zu verweisen.
24 8.1. Die Revisionswerberin bringt vor, das BVwG habe festgestellt, dass die Sinus Geo Milieus „eine Wahrscheinlichkeitsaussage über eine bestimmte Lebensauffassung bzw. Lebensweise [bildeten], welche eine lange Liste von Alltagsbereichen“ (darunter ua. Gesundheit, Tradition, Politik, Status, Familie, Vorlieben, Religion, Ethik) umfasse. Dieser Sachverhalt finde im Akteninhalt keine Deckung. Das BVwG stütze sich offenbar auf eine von der Revisionswerberin vorgelegte Beilage, auf der allerdings nicht die Aussage der Sinus Geo Milieus beschrieben werde, sondern der Ausgangspunkt der Berechnung der Sinus Milieus. Da das BVwG seine Begründung, der zufolge die Sinus Geo Milieus Daten über weltanschauliche Überzeugungen seien, auf diese aktenwidrige Feststellung stütze, hätte es ohne diese Feststellung zu einer anderslautenden Entscheidung kommen können. Es sei auch nicht richtig, dass die Revisionswerberin die Sinus Geo Milieus nutze, um Streuverluste in der Werbung gering zu halten. Nicht die Revisionswerberin selbst, sondern ihre Kunden würden diese Daten nutzen, um Streuverluste in der Werbung gering zu halten; da die Daten des Mitbeteiligten aber nicht weitergegeben worden seien, seien sie auch von werbetreibenden Unternehmen nicht für diesen Zweck verwendet worden.
25 Die Revisionswerberin verweist darauf, dass sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Einvernahme eines sachverständigen Zeugen beantragt habe. Die aufgezeigte aktenwidrige Feststellung des BVwG hätte in einer mündlichen Verhandlung erörtert werden müssen und das BVwG hätte infolge dessen zu einem anderen Ergebnis gelangen können. Angesichts der aktenwidrigen Feststellung sei auch offensichtlich, dass für die rechtliche Qualifizierung der Sinus Geo Milieus weitere Ermittlungen erforderlich gewesen wären. Dazu habe die Revisionswerberin die Einvernahme eines sachverständigen Zeugen, nämlich des Geschäftsführers des „Herstellers“ der Sinus Geo Milieus in Österreich, der I GmbH, angeboten. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Einvernahme des Zeugen hätten ua. ergeben, dass Sinus Milieus und Sinus Geo Milieus nicht identisch seien, die verfügbaren Informationen nur allgemeine soziodemografische, räumlich strukturelle Merkmale oder Ausstattungsmerkmale der Wohnumgebung seien und keine sensiblen Variablen (wie politische Affinitäten) verwendet würden und dass das zur Anwendung kommende Verfahren zu einer enormen Verwässerung der Ausgangsinformationen führe. Im angefochtenen Bescheid und in der von der Revisionswerberin vorgelegten Beilage würden die Sinus Milieus umschrieben; diese Beschreibung sei hinsichtlich der Sinus Geo Milieus aber irreführend. Sinus Geo Milieus entstünden, indem Sinus Milieus in den geografischen Raum umgelegt würden. Sie würden aber auf Gebäude, und nicht auf natürliche Personen, angewendet.
26 Schließlich moniert die Revisionswerberin, dass ihr die Sachverhaltsannahme des BVwG (betreffend die Aussagen der Sinus Geo Milieus) nicht vorgehalten und damit ihr Parteigehör verletzt worden sei.
27 8.2. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.
28 Der Verwaltungsgerichtshof hat in Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG bereits wiederholt festgehalten, dass als Zweck der mündlichen Verhandlung die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Verwaltungsgericht vor Augen stand. Ferner kommt eine ergänzende Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung in Frage. Bei maßgeblichem sachverhaltsbezogenen Vorbringen einer beschwerdeführenden Partei ist ebenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. zu allem VwGH 9.6.2022, Ra 2021/05/0109, Rn. 15, mwN).
29 Eine mündliche Verhandlung hat der Verwaltungsgerichtshof unter Bedachtnahme auf Rechtsprechung des EGMR dann nicht für erforderlich erachtet, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt geklärt ist und die Rechtsfragen durch die bisherige Rechtsprechung beantwortet sind und in der Beschwerde keine Rechts- oder Tatfragen von einer solchen Art aufgeworfen wurden, deren Lösung eine mündliche Verhandlung erfordert hätte (vgl. VwGH 12.4.2021, Ra 2021/03/0016, Rn. 21, mwN).
30 Nach der Judikatur des EGMR kann zudem das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ein Absehen von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung rechtfertigen. Demnach kann der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung im Anwendungsbereich des VwGVG etwa in Fällen gerechtfertigt sein, in denen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden (vgl. VwGH 21.12.2021, Ra 2020/10/0077, Rn. 15, mwN).
31 8.3. Der Verwaltungsgerichtshof vermag die Auffassung des BVwG, die Revisionswerberin habe den Sachverhalt vorliegend nicht bzw. bloß unsubstantiiert bestritten, im Hinblick auf das (oben verkürzt wiedergegebene) Beschwerdevorbringen der Revisionswerberin nicht zu teilen. Vielmehr hat die Revisionswerberin zu den Sinus Geo Milieus auch Tatsachenfragen aufgeworfen, die einer Erörterung in einer mündlichen Verhandlung bedurft hätten. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Ausführungen des BVwG dazu, dass die im Erkenntnis VwGH 14.12.2021, Ro 2021/04/0007, zu den Parteiaffinitäten getroffenen Aussagen (infolge der Vergleichbarkeit) auf die Sinus Geo Milieus übertragen werden können und dass die Sinus Geo Milieus als weltanschauliche Überzeugung einzustufen seien, als für den Verwaltungsgerichtshof letztlich nicht überprüfbar dar.
32 Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, dass das BVwG auch nicht ausdrücklich begründet hat, weshalb es von der beantragten Einvernahme des sachverständigen Zeugen Abstand genommen bzw. eine solche nicht als erforderlich angesehen hat.
33 Im Hinblick auf das oben Gesagte hätte das Verwaltungsgericht nicht davon ausgehen dürfen, dass in der Beschwerde keine Rechts- oder Tatfragen aufgeworfen worden seien, die eine mündliche Verhandlung erfordert hätten, bzw. dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten habe lassen. Demnach hätte das BVwG nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Indem das Verwaltungsgericht dies verkannte, belastete es sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
34 Eine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels ist bei einem rechtswidrigen Unterlassen einer nach Art. 47 GRC erforderlichen mündlichen Verhandlung nicht vorzunehmen (vgl. VwGH 16.6.2020, Ra 2018/04/0151, Rn. 12, mwN).
35 9. Ausgehend davon war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
36 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
37 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Oktober 2022