JudikaturVwGH

Ra 2021/18/0207 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des S M in W, vertreten durch Mag. Manuela Prohaska, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Invalidenstraße 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. April 2021, W195 2230392 1/38E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

1 Der Revisionswerber, Staatsangehöriger von Bangladesch und sunnitischer Moslem, stellte am 8. November 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, seine Eltern wie er selbst Angehörige der Volksgruppe der Rohingya seien aus Myanmar nach Bangladesch geflohen, wo er in einem Flüchtlingslager geboren worden sei. Er sei seit seinem zehnten Lebensjahr als Straßenverkäufer tätig gewesen und habe als Straßenkind mehrere Übergriffe über sich ergehen lassen müssen. Er habe Schutzgeld an die Polizei zahlen müssen, um als Rohingya nicht abgeschoben zu werden. Im Jahr 2016 sei er im Zuge einer Razzia festgenommen, misshandelt und abermals aufgefordert worden, Schutzgeld zu bezahlen bzw. als Attentäter auf politischen Kundgebungen zu fungieren, damit es so aussehe, als würde eine Oppositionspartei die Kundgebung der Regierungspartei angreifen. Daraufhin sei er geflohen.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 20. März 2020 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 17. August 2020 als unbegründet ab.

4 Der Verfassungsgerichtshof hob dieses Erkenntnis mit dem Erkenntnis vom 23. Februar 2021, E 3215/2020 20, wegen Verletzung des Rechts des Revisionswerbers auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Abs. 1 BVG BGBl. Nr. 390/1973) auf, weil das BVwG Willkür geübt habe.

5 Zur näheren Begründung führte der Verfassungsgerichtshof aus, das BVwG habe zunächst das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers, auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Rohingya von der Polizei misshandelt und erpresst worden zu sein, für unglaubwürdig erachtet, sich aber weder näher mit der Frage der Zugehörigkeit des Revisionswerbers zu dieser Volksgruppe noch mit den vorgebrachten Misshandlungen und Erpressungen auseinandergesetzt. Das BVwG habe es insbesondere auch unterlassen, sich mit den Länderberichten zur Situation von (aus Myanmar geflüchteten) Angehörigen der Volksgruppe der Rohingya sowie von ihnen bereits in Bangladesch geborenen Kindern auseinanderzusetzen. Der pauschale Hinweis des BVwG in der rechtlichen Beurteilung, dass „nicht von einer generellen Schutzunfähigkeit des Staates oder einer flächendeckenden Inhaftierung oder Benachteiligung von Rohingyas (lediglich aufgrund ihrer Zugehörigkeit) auszugehen ist“, greife jedenfalls zu kurz, weil er keine Deckung in den Länderberichten finde und damit im Widerspruch zur maßgeblichen Aktenlage stehe. Das BVwG werde sich im fortgesetzten Verfahren nicht nur mit der Frage zu befassen haben, inwieweit dem Revisionswerber eine individuelle Verfolgung im Zusammenhang mit einer etwaigen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Rohingya drohe, sondern auch mit der Frage, ob die Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe für sich genommen bereits Asylrelevanz habe (Gruppenverfolgung; Hinweis auf VwGH 25.9.2020, Ra 2019/19/0407, und auf VwGH 29.4.2015, Ra 2014/20/0151).

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid des BFA vom 20. März 2020 hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten erneut als unbegründet ab. Im Übrigen gab das BVwG der Beschwerde statt, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Bangladesch zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

7 Das BVwG stellte fest, der Revisionswerber sei als Sohn aus Myanmar geflüchteter Rohingyas in Bangladesch geboren und selbst Rohingya. Er sei im Zuge einer Razzia in einem Botanischen Garten, wo er Nüsse verkauft habe, von der Polizei aufgegriffen und aufgefordert worden, Schutzgeld zu bezahlen oder als fingierter Demonstrant gegen die Regierung tätig zu sein, um damit Unruhen zu fördern und Repressionen gegen die Opposition zu rechtfertigen. Er sei jedoch ohne Zahlung von Schutzgeld und ohne Teilnahme an einer Demonstration wieder freigekommen.

8 Außerdem stellte das BVwG fest, der Revisionswerber werde im Falle einer Rückkehr nach Bangladesch einer „unmittelbaren Bedrohung bzw. Belästigung durch staatliche Autoritäten wegen seiner Zugehörigkeit zu den Rohingya“ ausgesetzt sein.

9 In der „Beweiswürdigung“ hielt das BVwG fest, es sei dem Revisionswerber nicht gelungen, eine persönliche, individuelle Verfolgung allein auf Grund der Tatsache, dass er der Volksgruppe der Rohingya zugehörig sei, glaubhaft zu machen. Ob die „unwürdige Behandlung“ des Revisionswerbers durch die Polizei im Zusammenhang mit der Razzia im Botanischen Garten daher gerührt hätte, dass er als illegaler Verkäufer aufgegriffen worden sei, oder ob „die Schilderung des [Revisionswerbers] von ihm subjektiv mit seiner Abstammung als Rohingya verbrämt wurde“, sei „schlichtweg objektiv nicht feststellbar“. Eine über die (allgemein gesellschaftliche) Verachtung der durchschnittlichen Bevölkerung gegenüber den Rohingya hinausgehende persönliche Verfolgung habe der Revisionswerber nicht vorgebracht. Seine Stellung innerhalb der Volksgruppe der Rohingya sei nicht herausragend gewesen. Die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe sei für sich genommen noch kein Asylgrund, es bedürfe einer individuellen Verfolgung. Der Revisionswerber habe letztlich den Eindruck vermittelt, eine Verfolgungsgefährdung seiner Person auf der Grundlage „eines in Bangladesch vorherrschenden Spannungsverhältnisses zu einer Minderheit konstruieren zu wollen“.

10 In der „rechtlichen Beurteilung“ führte das BVwG aus, dem Revisionswerber sei der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen gewesen, weil es ihm nicht gelungen sei, eine in seinem Herkunftsstaat bestehende persönliche konkrete Bedrohungssituation glaubhaft zu machen. Allerdings sei ihm subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen, weil es ihm als Angehörigem der Volksgruppe der Rohingya im konkreten Einzelfall gelungen sei, „ein ‚ real risk ‘ einer Verletzung seiner Rechte“ im Falle einer Rückführung nach Bangladesch aufzuzeigen. Dem Vorbringen des Revisionswerbers, in Bangladesch „aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Rohingyas einer faktischen Verfolgung durch die Mehrheitsbevölkerung bzw. durch Ignoranz der inländischen Behörden einer Verfolgung ausgesetzt zu sein“, könne unter Zugrundelegung der aktuellen Länderberichte nicht entgegengetreten werden. Zwar sei auch wenn das politische und rechtsstaatliche System Bangladeschs nicht mitteleuropäischen Standards entspreche nicht von einer generellen Schutzunfähigkeit des Staates auszugehen. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine flächendeckende (zwangsweise) Umsiedlung von Rohingyas stattfinde und von einer Benachteiligung lediglich aufgrund der Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe auszugehen sei. Da sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat des Revisionswerbers als Angehöriger der Volksgruppe der Rohingya als problematisch darstelle, könne festgestellt werden, dass der Revisionswerber von einem unter § 8 AsylG 2005 subsumierbaren Sachverhalt betroffen wäre.

11 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gruppenverfolgung abgewichen.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision nach Einleitung des Vorverfahrens das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 Die Revision ist zulässig und begründet.

14 Wenn der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde stattgegeben hat, sind nach § 87 Abs. 2 VfGG die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Auf Grundlage der im § 87 Abs. 2 VfGG statuierten Bindungswirkung ist das Verwaltungsgericht verhalten, im fortgesetzten Verfahren entsprechend der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes vorzugehen. Da § 87 Abs. 2 VfGG kein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht einräumt, hat der Verwaltungsgerichtshof zu prüfen, ob die vom Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren erlassene Entscheidung dem gemäß § 87 Abs. 2 VfGG erteilten Auftrag entspricht (vgl. VwGH 28.3.2023, Ra 2021/18/0122, mwN).

15 Der Verfassungsgerichtshof hat das Erkenntnis des BVwG vom 17. August 2020 mit der Begründung aufgehoben, das BVwG habe Willkür geübt. Es habe sich weder näher mit der Frage der Zugehörigkeit des Revisionswerbers zur Volksgruppe der Rohingya noch mit den vorgebrachten Misshandlungen und Erpressungen auseinandergesetzt. Insbesondere habe es sich nicht mit den Länderberichten zur Situation von (aus Myanmar geflüchteten) Angehörigen der Volksgruppe der Rohingya sowie von ihnen bereits in Bangladesch geborenen Kindern auseinandergesetzt. Im fortgesetzten Verfahren werde sich das BVwG nicht nur mit der Frage zu befassen haben, inwieweit dem Revisionswerber eine individuelle Verfolgung im Zusammenhang mit einer etwaigen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Rohingya drohe, sondern auch mit der Frage, ob die Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe für sich genommen bereits Asylrelevanz habe („Gruppenverfolgung“).

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat in der vom Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit diesem Auftrag an das BVwG zitierten Rechtsprechung Leitlinien aufgestellt, nach denen die Asylrelevanz einer sogenannten „Gruppenverfolgung“ zu prüfen ist. Danach kann die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende Gruppenverfolgung, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. etwa VwGH 25.1.2022, Ra 2021/19/0109, mwN).

17 Das BVwG hat im angefochtenen Erkenntnis zwar festgestellt, dass der Revisionswerber der Volksgruppe der Rohingya angehört und wegen dieser Volksgruppenzugehörigkeit im Falle einer Rückkehr nach Bangladesch einer „unmittelbaren Bedrohung bzw. Belästigung durch staatliche Autoritäten“ ausgesetzt wäre. Weiters hat es (in der rechtlichen Würdigung) festgehalten, dem Vorbringen des Revisionswerbers, in Bangladesch „aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Rohingyas einer faktischen Verfolgung durch die Mehrheitsbevölkerung bzw. durch Ignoranz der inländischen Behörden einer Verfolgung ausgesetzt zu sein“, könne unter Zugrundelegung der aktuellen Länderberichte nicht entgegengetreten werden. Mit seiner Rechtsansicht, die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe sei für sich genommen noch kein Asylgrund, sondern es bedürfe einer individuellen Verfolgung, weshalb dem Revisionswerber nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen sei, hat das BVwG jedoch die oben genannten Leitlinien zur Prüfung der Asylrelevanz einer „Gruppenverfolgung“ nicht richtig angewandt. Denn im Falle einer vom BVwG offenbar angenommenen Verfolgung der ganzen Volksgruppe der Rohingya hätte jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten, und würde für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe genügen.

18 Weil das BVwG dies verkannte (und damit auch dem Auftrag des Verfassungsgerichtshofes anlässlich der Aufhebung der Entscheidung im ersten Rechtsgang nicht gerecht wurde) war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

19 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Die gesondert begehrte Umsatzsteuer ist in den Pauschalbeträgen nach den genannten Vorschriften bereits enthalten, sodass das diesbezügliche Mehrbegehren abzuweisen war (vgl. VwGH 14.2.2022, Ra 2020/10/0118, 0119). Die Eingabengebühr war nicht zuzusprechen, weil dem Revisionswerber diesbezüglich mit Beschluss vom 18. Juni 2021 Verfahrenshilfe gewährt wurde. Über den Antrag auf Ersatz der Dolmetschkosten ergeht ein gesonderter Beschluss, nämlich aus dem Titel des Ersatzes der Barauslagen der Verfahrenshelferin.

Wien, am 3. Juli 2023

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