JudikaturVwGH

88/02/0029 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
22. Juni 1988

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Dorner und Dr. Bernard als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hollinger, über die Beschwerde der A, vertreten durch B, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 7. Jänner 1988, Zl. MA 70-10/788/87/Str, betreffend Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 9.720,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Mit dem im Instanzenzug gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 ergangenen Bescheid der Wiener Landesregierung vom 7. Jänner 1988 wurde die Beschwerdeführerin einer Verwaltungsübertretung nach „§ 19 (4) in Verbindung mit § 19 (7)“ StVO 1960 schuldig erkannt und hiefür bestraft, weil sie am 19. August 1986 um 18.42 Uhr in Wien 3., Kreuzung Radetzkystraße-Hintere Zollamtsstraße als Lenkerin eines Triebwagens der Straßenbahnlinie N mit der Nr. 8 „das in der Radetzkystraße deutlich sichtbar angebrachte VZ gemäß § 52/23 StVO ‚Vorrang geben‘ nicht beachtet“ habe, indem sie, „ohne die Fahrgeschwindigkeit zu vermindern“, in die Kreuzung eingefahren sei, wodurch der Lenker eines Streifenkraftwagens zum unvermittelten Abbremsen genötigt worden sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin entspricht der (mit dem Spruch des angefochtenen Bescheides übernommene) Spruch des erstinstanzlichen Straferkenntnisses vom 10. März 1987 „dem Bestimmtheitserfordernis des § 44 a“ (vollständig: lit. a) VStG 1950. Wenn die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. April 1984, Zl. 81/30(richtig: 03)/0170, meint, es wäre „Voraussetzung für die Begehung des Deliktes nach § 19 Abs. 7 StVO gewesen“, daß „sich der Streifenkommandowagen überhaupt im Fließverkehr befand“, so ist ihr entgegenzuhalten, daß es sich im vorliegenden Beschwerdefall - anders als in dem dem erwähnten Erkenntnis zugrundeliegenden Beschwerdefall - nicht um die Verletzung des Vorranges (eines im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges durch ein von einer der näher angeführten Stellen kommendes Fahrzeug) nach § 19 Abs. 6 StVO 1960, sondern um eine solche nach § 19 Abs. 4 leg. cit. handelte, wobei die Anwendung dieser Bestimmung bereits das Vorhandensein zweier Fahrzeuge im fließenden Verkehr voraussetzt und daher dieser Umstand nicht mehr besonders zu betonen ist. Bei ihrer Rüge, daß gemäß § 19 Abs. 7 StVO 1960 der Wartepflichtige durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen Vorrangberechtigte nicht zu unvermitteltem Bremsen nötigen dürfe, im Spruch aber „von einem bloßen Einfahren in die Kreuzung“ gesprochen werde, „was keinem der genannten Tatbilder entspricht“, übersieht die Beschwerdeführerin, daß sie der Aktenlage nach die gegenständliche Kreuzung geradeaus übersetzt und dadurch, daß sie in die Kreuzung eingefahren ist, die vom Lenker des Streifenwagens benützte Fahrbahn „gekreuzt“ hat. Eine inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides liegt demnach nicht vor.

Die Beschwerdeführerin bestreitet, die ihr zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Damit bekämpft sie die Beweiswürdigung der belangten Behörde, welche aber der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nur soweit unterliegt, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die hiebei angestellten Erwägungen schlüssig sind, während der Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes die Überprüfung der Richtigkeit der Beweiswürdigung entzogen ist (vgl. u.a. das Erkenntnis eines verstärkten Senates des Verwaltungsgerichtshofes vom 3. Oktober 1985, Zl. 85/02/0053). Auf dem Boden dieser Rechtslage kann der belangten Behörde nicht entgegengetreten werden, wenn sie davon ausgegangen ist, daß die Beschwerdeführerin zur Tatzeit den Tatort befahren hat. Die vom (zu diesem Beweisthema als Zeuge vernommenen) Meldungsleger, der zugleich der Lenker des betreffenden Streifenwagens war, genannten beiden Umstände, daß der Triebwagen die Nr. 8 aufgewiesen habe und von einer Frau gelenkt worden sei, sprechen eindeutig gegen die gegenteilige Verantwortung der Beschwerdeführerin, die unbestrittenermaßen die Fahrerin dieses Triebwagens zur Tatzeit war. Damit scheidet die von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführte Version, daß der (ebenfalls als Zeuge vernommene) Fahrer des vorangegangenen Triebwagens (mit der Nr. 6) der Täter gewesen sei, aus, wozu noch kommt, daß sich aus der Aktenlage keine Verspätung dieses Triebwagens ergibt, die dieser gehabt haben müßte, um (erst) zur Tatzeit den Tatort zu erreichen. Auf die Rechtfertigung der Beschwerdeführerin, sie sei (planmäßig) um 18.27 Uhr vom Hochstädtplatz abgefahren und habe daher zur Tatzeit noch nicht am Tatort sein können, hat die belangte Behörde unter Bezugnahme auf eine Auskunft des Bahnhofes Brigittenau, wonach der Zeitplan eine Ankunft des von der Beschwerdeführerin geführten Triebwagens am Tatort um 18.45 Uhr vorsehe, erwidert, daß „also bloß eine Differenz von 3 Minuten“ bestanden habe, „ein Zeitraum, der die Angaben des Meldungslegers keineswegs relativiert, treten doch derart geringe Abweichungen bei im Straßenverkehr fahrenden Verkehrsmitteln ohne weiteres auf“. Der Verwaltungsgerichtshof vermag nicht zu erkennen, daß diese Be-gründung der belangten Behörde unschlüssig wäre, zumal der Beschwerdeführerin darin nicht gefolgt werden kann, daß es „auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung vollkommen auszuschließen“ sei, „daß ein Straßenbahnzug diesen Zeitplan zur Tatzeit auch nur mit wenigen Minuten unterschreitet“. Wenn die Beschwerdeführerin dies damit begründet, daß die „von den Betriebsbahnhöfen vorgegebenen Zeitpläne äußerst knapp kalkuliert“ seien und „daher gerade in Spitzenverkehrszeiten überschritten“ würden, so ist zu bemerken, daß die Tatzeit erfahrungsgemäß nicht mehr als „Spitzenverkehrszeit“ angesehen werden kann.

Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt ausgesprochen (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom 22. Oktober 1982, Zlen. 80/02/2243, und vom 23. März 1983, Zl. 82/03/0139), daß es bei Beurteilung der Frage, ob ein Verstoß gegen § 19 Abs. 7 StVO 1960 vorliegt, auf die konkrete Verkehrssituation ankommt, und ein solcher Verstoß nur dann angenommen werden kann, wenn sich die beteiligten Fahrzeuge im Zeitpunkt der Einleitung des unvermittelten Bremsmanövers oder des Ablenkens des Fahrzeuges durch den Vorrangberechtigten bereits in einer derart geringen Entfernung voneinander befanden, daß das Bremsen oder Ablenken des Fahrzeuges zur Vermeidung eines Unfalles objektiv erforderlich war. Das bedeutet, daß dem Vorrangberechtigten (außer der Verursachung eines Unfalles) keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand, als das von ihm gelenkte Fahrzeug unvermittelt abzubremsen oder abzulenken, was unabhängig davon, welches der beiden Fahrzeuge die in Betracht kommende Unfallstelle zuerst passiert, dann nicht der Fall wäre, wenn der Vorrangberechtigte anstandslos (d.h. ohne eines dieser Fahrmanöver) weiterfahren kann. Dabei ist allerdings der Maßstab eines sorgfältigen Lenkers anzulegen (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Oktober 1986, Zl. 86/02/0081). Für die Beurteilung ist im Zusammenhang mit der festzustellenden Entfernung aber auch nicht unerheblich, welche Geschwindigkeiten die beiden beteiligten Fahrzeuge eingehalten haben (vgl. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. März 1984, Zl. 83/02/0232, und vom 9. Juli 1987, Zl. 86/02/0147).

Demgegenüber hat sich die belangte Behörde hinsichtlich des Tatherganges auf die Angaben des Meldungslegers, er sei durch das Fahrverhalten der Beschwerdeführerin zu einem unvermittelten Bremsen genötigt worden, beschränkt und keine zusätzlichen Feststellungen getroffen, aus denen sich diese Schlußfolgerung ableiten ließe, obwohl die Beschwerdeführerin diesen Umstand im Verwaltungsstrafverfahren ausdrücklich in Abrede gestellt hat. Die belangte Behörde hat (ohne erkennbaren Bezug auf ein bestimmtes Beweisthema) erklärt, daß „im Hinblick auf die klaren und deutlichen Ausführungen des Meldungslegers von weiteren Ermittlungen abzusehen“ gewesen sei, „zumal die Verkehrssituation zur Tatzeit nicht mehr in allen Details wiederhergestellt werden kann“. Sollte sich dieser Passus auch auf den Tathergang selbst beziehen, so ist die belangte Behörde darauf aufmerksam zu machen, daß der Meldungsleger diesbezüglich (nämlich hinsichtlich der Geschwindigkeit des Streifenwagens und der Entfernung zum Straßenbahnzug, als er bemerkte, daß dessen Fahrerin vor der von ihm benützten Fahrbahn nicht anhalten wird) am 29. September 1987 dezidierte Angaben gemacht und die Beschwerdeführerin dazu in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 28. Oktober 1987 mit einer entsprechenden Begründung und dem Antrag auf Einholung eines (wohl kraftfahrtechnischen) Sachverständigengutachtens den Standpunkt vertreten hat, daß demnach „von einer Nötigung zu unvermitteltem Abbremsen durch die Beschuldigte keine Rede sein kann“. Da die Beschwerdeführerin diesen näheren Angaben des Meldungslegers nicht entgegengetreten ist - wobei es nur konsequent erscheint, daß sie insofern keine eigene Darstellung des Sachverhaltes gegeben hat, weil sie sich damit rechtfertigte, zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen zu sein -, war eine ergänzende Zeugenvernehmung des Meldungslegers hiezu entbehrlich. Die belangte Behörde wäre aber verpflichtet gewesen, sich mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin in ihrer Stellungnahme vom 28. Oktober 1987 auseinanderzusetzen und allenfalls - wie die Beschwerdeführerin mit Recht geltend macht - ein Sachverständigengutachten darüber einzuholen, ob der Meldungsleger unter Zugrundelegung seiner Angaben tatsächlich zum Abbremsen des Streifenwagens genötigt war. Diese Frage kann auf Grund der genannten Angaben des Meldungslegers in Verbindung mit dem aktenkundigen Umstand, daß die Beschwerdeführerin aus der vor der Kreuzung vorhandenen Haltestelle weggefahren ist, und damit, daß kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß ihre Behauptung, sie habe die dort befindliche Weiche verbotswidrig mit einer höheren Geschwindigkeit als 6 km/h überfahren, nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes ausreichend gelöst werden. Der Einwand der belangten Behörde in ihrer Gegenschrift, es gebe keine gesicherten Grundlagen, die der Sachverständige heranziehen könne, ist daher verfehlt.

Da somit der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung bedarf, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 22. Juni 1988

Rückverweise