Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident DDr. Heller und die Hofräte Dr. Liska, Dr. Knell, Dr. Puck und Dr. Sauberer als Richter, im Beisein des Schriftführers Rat Dr. Novak, über die Beschwerde der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten in Wien, vertreten durch Dr. A, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 5. November 1986, Zl. MA 14-L 16/82, betreffend Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei: B, vertreten durch C, Rechtsanwalt), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Die Beschwerdeführerin hat dem Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) Aufwendungen in der Höhe von S 2.760,-- und der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von S 9.270,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren der mitbeteiligten Partei wird abgewiesen.
Mit Bescheid vom 8. Juli 1981 lehnte die beschwerdeführende Partei die von der mitbeteiligten Partei gemäß §§ 500 ff ASVG beantragte Begünstigung für die Zeit vom 13. März 1938 bis 31. März 1959 ab, weil die durchgeführten Erhebungen keinen Nachweis „über eine politische Schädigung“ erbracht hätten.
Dem gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch der mitbeteiligten Partei wurde mit dem angefochtenen Bescheid Folge gegeben und der erstinstanzliche Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 dahin abgeändert, daß gemäß §§ 413 und 414 in Verbindung mit § 355 ASVG festgestellt werde, daß für die mitbeteiligte Partei die Zeit vom 13. März 1938 bis 31. März 1959 aufgrund von § 502 Abs. 4 in der Pensionsversicherung der Angestellten beitragspflichtig begünstigt anzurechnen sei. Nach der Begründung sei die mitbeteiligte Partei einfaches Mitglied der ehemaligen „sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ sowie bei den „Roten Falken“ und den „Kinderfreunden“ tätig gewesen. Nach ihrer Matura im Jahre 1933 habe sie eine Maturareise nach Palästina unternommen, die ursprünglich drei Monate dauern sollte. In Briefen sei sie durch ihre Eltern überredet worden, ihren Aufenthalt in Palästina zu verlängern, bis sich die Lage der Juden in Wien gebessert habe. Die mitbeteiligte Partei habe sich daraufhin entschlossen, in Palästina zu bleiben und dort zu studieren. Sie habe bei einem Cousin in Haifa gewohnt, der sie auch finanziell unterstützt habe. In der Folge sei sie nicht mehr nach Österreich zurückgekehrt und habe ihr Studium im Jahr 1939 beendet. Nach der Aktenlage sei davon auszugehen, daß die mitbeteiligte Partei nicht aus politischen Gründen ausgewandert sei. Sie habe nämlich anfangs immer wieder angegeben, der ursprüngliche Grund für ihre Reise nach Palästina im Jahr 1933 sei eine auf drei Monate geplante Maturareise gewesen. Ihrem Versuch, im späteren Lauf des Verfahrens dieser Reise politische Gründe zu unterstellen, könne nicht gefolgt werden. Laut eigener Aussage sei die mitbeteiligte Partei lediglich einfaches Mitglied der ehemaligen „sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ gewesen, wobei nicht hervorgekommen sei, daß sie sich derart politisch exponiert hätte, um „besonders politisch gefährdet“ gewesen zu sein. Eine konkrete Gefahr einer politischen Verfolgung habe daher für sie nicht bestanden, sodaß sie wohl nicht aus politischen Gründen zur Auswanderung gezwungen bzw. aus diesen Gründen an einer Rückkehr nach Österreich verhindert gewesen sei. Es stelle sich jedoch die Frage, ob die mitbeteiligte Partei aus Gründen der Abstammung - die mitbeteiligte Partei ist jüdischer Abstammung - durch die Ereignisse des 13. März 1938 an einer Rückkehr nach Österreich gehindert gewesen sei und dadurch einen Begünstigungstatbestand aufzuweisen habe. Sie habe nachgewiesen, vom Studienjahr 1935/36 bis zum Studienjahr 1938/39 an der Technion, Israel Institute of Technology, in Haifa Architektur studiert zu haben. Im Laufe des Verfahrens habe sie immer wieder betont, daß sie als Studentin weiterhin ihren Wohnsitz bei ihren Eltern in Wien, aufrechterhalten habe. Eine Abmeldung sei von ihr nicht durchgeführt worden. Bis zum Ende ihres Studiums in Palästina sei es außerdem immer ihr Wunsch gewesen, zu ihren Eltern nach Österreich zurückzukehren.
Auch die Zeugin S habe angegeben, daß es Absicht der mitbeteiligten Partei gewesen sei, wieder in die Heimat zurückzukehren. Aus all dem ergebe sich, daß die mitbeteiligte Partei in der Zeit zwischen 1933 und 1939 keinen ordentlichen Wohnsitz in Palästina begründet habe, da nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit einem Auslandsstudium nicht automatisch auch der ordentliche Wohnsitz in das Ausland verlegt werde. Die belangte Behörde sei vielmehr zu dem Schluß gekommen, daß die mitbeteiligte Partei im erwähnten Zeitraum weiter ihren Aufenthalt bei ihren Eltern in Wien aufrechterhalten habe. Damit sei sie aber durch die Ereignisse des März 1938 und seine Folgen aufgrund ihrer Abstammung an einer Rückkehr an den ordentlichen Wohnsitz in Österreich gehindert gewesen. Da unbestritten sei, daß die mitbeteiligte Partei aufgrund des Besuches einer höheren Schule von 1924 bis 1933 die für eine begünstigte Anrechnung von Versicherungszeiten nach § 502 Abs. 4 ASVG erforderlichen Vorversicherungszeiten gemäß § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG in Verbindung mit § 227 Z. 1 leg. cit. erworben und sohin alle notwendigen Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Begünstigung aufzuweisen habe, sei ihrem Einspruch Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete ebenso wie die mitbeteiligte Partei eine Gegenschrift, in der die Abweisung der Beschwerde beantragt wurde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Beschwerdeführerin weist zutreffend darauf hin, daß von einer Auswanderung aus Gründen der Abstammung in der Erscheinungsform der verhinderten Rückkehr im Sinne des § 502 Abs. 4 ASVG in Verbindung mit § 500 leg. cit. nur gesprochen werden kann, wenn die Verhinderung der (ansonsten möglichen und beabsichtigten) Rückkehr an den österreichischen Wohnsitz ausschließlich in den nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich am 13. März 1938 gelegenen Verfolgungstatbeständen des § 500 ASVG ihren Grund hat. Deklariert ein Begünstigungswerber ausdrücklich oder ergibt sich dies aus den Umständen, daß er schon vor dem 13. März 1938 aus Gründen der Abstammung wegen der von ihm auch für Österreich erwarteten und befürchteten zukünftigen Entwicklung nicht mehr habe zurückkehren wollen, dann trifft auf ihn das Tatbestandselement des § 502 Abs. 4 ASVG, aus einem der im § 500 ASVG angeführten Gründe in seinen versicherungsrechtlichen Verhältnissen einen Nachteil erlitten zu haben, nicht zu. Eine Auswanderung aus dem subjektiven Grund der Abstammung vor dem 13. März 1938 kann nicht die sozialversicherungsrechtlichen Begünstigungen der §§ 500 ff ASVG zur Folge haben (vgl. u.a. das hg. Erkenntnis vom 27. Oktober 1983, Zl. 08/3497/80, sowie aus neuerer Zeit das hg. Erkenntnis vom 13. November 1986, Zl. 83/08/0165).
Im Beschwerdefall sei die mitbeteiligte Partei, so führt die Beschwerdeführerin aus, nach Beendigung ihrer Maturareise in Israel geblieben, um „die politische und gesellschaftliche Lage für Juden in Wien“ abzuwarten. Da zu diesem Zeitpunkt (1933) eine Verfolgung aus Gründen der Abstammung in Österreich nicht habe eintreten können und die Gefahr einer politischen Verfolgung auch nach Ansicht der belangten Behörde nicht gedroht habe, sei der Begünstigungstatbestand der „verhinderten Rückkehr“ zu Unrecht als gegeben angenommen worden.
Dieses Argument geht insoferne fehl, als es bei der begünstigungsfähigen Auswanderung in Form der verhinderten Rückkehr nicht darauf ankommt, ob der Begünstigungswerber zum Zeitpunkt der Abreise aus Österreich - im Beschwerdefall also im Jahr 1933 - der Gefahr einer Verfolgung aus den im § 500 ASVG angeführten Gründen ausgesetzt war. Entscheidend ist vielmehr, ob er sich zunächst mit der Absicht eines nur vorübergehenden Aufenthaltes in das Ausland begeben und seinen Wohnsitz in Österreich beibehalten hat, jedoch nach dem 13. März 1938 im Hinblick auf die wegen der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus aus politischen oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung zu gewärtigende Verfolgung seinen ständigen Wohnsitz im Ausland genommen hat. Hat er jedoch bereits vor dem 13. März 1938 seinen Wohnsitz in Österreich aufgegeben und ins Ausland verlegt, dann liegt eine nicht begünstigungstaugliche Frühemigration vor (vgl. u.a. die von der Beschwerdeführerin zitierten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Februar 1983, Zl. 81/08/0038 und vom 27. Oktober 1983, Zl. 08/3497/80).
Für den Begriff des „Wohnsitzes“ ist auch im Zusammenhang mit dem Begünstigungstatbestand des § 502 Abs. 4 ASVG die Bestimmung des § 66 JN heranzuziehen (vgl. neben dem schon genannten Erkenntnis vom 17. Februar 1983, Zl. 81/08/0038, unter anderem auch die Erkenntnisse vom 26. März 1982, Zl. 08/3539/80, und vom 12. April 1984, Z1. 82/08/0009). Nach den somit für den Wohnsitzbegriff maßgebenden Bestimmungen der Jurisdiktionsnorm können - unter anderem - minderjährige Kinder nicht selbständig einen Wohnsitz begründen, da ihnen die rechtliche Verfügungsfähigkeit darüber mangelt, welchen Ort sie zum Mittelpunkt ihres Lebens wählen (vgl. Fasching, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts, Randzahl 273). Sie teilen gemäß § 71 JN in der ab 1. Jänner 1978 geltenden Fassung des BGBl. Nr. 403/1977 den allgemeinen Gerichtsstand ihres gesetzlichen Vertreters. In der bis 31. Dezember 1977 geltenden Fassung sah diese Bestimmung vor, daß den allgemeinen Gerichtsstand des Vaters die seiner väterlichen Gewalt unterworfenen ehelich geborenen, legitimierten oder adoptierten Kinder teilen und diesem Gerichtsstande auch nach dem Erlöschen oder Unwirksamwerden der väterlichen Gewalt solange unterworfen bleiben, als sie das Recht zur freien Vermögensverwaltung nicht erlangt haben. Die genannten Personen leiteten daher ihren Wohnsitz vom Vater ab und waren, solange sie nicht das Recht zur freien Vermögensverwaltung erlangt hatten, außerstande, selbständig einen Wohnsitz zu begründen (vgl. Fasching, Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen, 1. Band, Seite 381; Neumann, Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen, I. Band, Seite 181).
Diese Rechtslage verkennt die Beschwerdeführerin, wenn sie meint, daß die mitbeteiligte Partei im Jahre 1933 in Israel einen Wohnsitz begründet habe. Zu diesem Zeitpunkt war nämlich die am 15. Juni 1914 geborene mitbeteiligte Partei, da sie das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, gemäß § 21 ABGB in der Fassung vor der Änderung durch das BGBl. Nr. 108/1973 noch minderjährig und teilte somit trotz ihres Aufenthaltes im Ausland weiterhin den inländischen Wohnsitz ihres Vaters. Erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres (15. Juni 1935) war die mitbeteiligte Partei rechtlich imstande, selbständig über ihren Wohnsitz zu disponieren. Schon aus diesem Grunde kann entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin „aus dem ununterbrochenen Auslandsaufenthalt von 1933 bis 1935 (ohne Möglichkeit zum Studium)“ nicht auf eine Aufgabe des inländischen Wohnsitzes der mitbeteiligten Partei geschlossen werden.
Für die Beurteilung, ob die mitbeteiligte Partei ihren Wohnsitz nach Palästina verlegt hat, kann demnach erst die Zeit nach der Vollendung ihres 21. Lebensjahres herangezogen werden. Kurz nach diesem Zeitpunkt begann die mitbeteiligte Partei aber bereits ihr Architekturstudium in Haifa. Wenn die belangte Behörde der auch durch Zeugenaussagen bestätigten Aussage der mitbeteiligten Partei, sie habe beabsichtigt, nach Beendigung ihres Studiums wieder zu ihren Eltern nach Österreich zurückzukehren, Glauben schenkte, weil nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit einem Auslandsstudium nicht automatisch auch der ordentliche Wohnsitz in das Ausland verlegt werde, so setzte sie einen Akt der freien Beweiswürdigung. Diese unterliegt der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle jedoch nur dahin, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind (vgl. u.a. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Mai 1974, Slg. Nr. 8619/A). Daß der belangten Behörde in dieser Richtung Mängel unterlaufen wären, vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht zu erkennen, läßt doch der Umstand, daß die Eltern der mitbeteiligten Partei weiterhin in Wien lebten, den Schluß auf das Weiterbestehen einer der Annahme der Aufgabe des bisherigen Wohnsitzes in Wien entgegenstehenden starken Bindung an diesen Wohnsitz gerechtfertigt erscheinen.
Wenn die belangte Behörde bei diesem Sachverhalt davon ausging, daß die mitbeteiligte Partei bis zur Beendigung ihres Studiums den Wohnsitz bei den Eltern in Wien aufrechterhalten hat, und dem entsprechend eine Verlegung des Wohnsitzes nach Palästina verneinte, dann handelte sie nicht rechtswidrig. Sie setzte sich damit auch nicht zu dem von der Beschwerdeführerin zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. April 1984, Z1. 82/08/0009, in Widerspruch, zumal diesem Erkenntnis ein anders gelagerter Sachverhalt zugrundelag.
Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §S 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 243/1985, wobei der mitbeteiligten Partei an Schriftsatz-aufwand nur der in Art. I C Z. 7 dieser Verordnung angeführte Pauschalbetrag zugesprochen werden konnte.
Wien, am 8. Mai 1987