Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schima und die Hofräte Mag. Onder und Dr. Zeizinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Müller über die Beschwerde des A in B, vertreten durch C, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 11. August 1983, Zl. St 185/83-A, betreffend Bestrafung wegen Übertretung nach Art. IX Abs. 1 Z. 2 und Z. 1 EGVG 1950, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 8.060,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
I.
1. Nachdem eine diesbezügliche Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck infolge eines rechtzeitig erhobenen Einspruches außer Kraft getreten war, richtete dieselbe Behörde an den nunmehrigen Beschwerdeführer ein mit 25. April 1983 datiertes Straferkenntnis, dessen Schuldspruch wie folgt lautet:
„Der Beschuldigte, wohnhaft in X, hat sich 1) am 19. 10. 1982 gegen 23.45 Uhr auf dem Gendarmerieposten ungeachtet vorausgegangener Abmahnungen gegenüber sich in rechtmäßiger Ausübung des Dienstes befindlichen Organen der öffentlichen Aufsicht ungestüm benommen, indem er die Beamten beschimpfte und ihnen drohte. 2) Durch dieses Verhalten hat er die Ordnung an öffentlichen Orten in ärgerniserregender Weise gestört und dadurch eine Übertretung nach Art. IX Abs. 1 Ziffer 2 EGVG zu 1) und nach Art. IX Abs. 1 Ziffer 1 EGVG zu 2) begangen.“
Gemäß Art. IX Abs. 1 leg. cit. wurden deshalb über den Beschwerdeführer Geldstrafen in der Höhe von zu 1) S 2.000,-- (Ersatzarrest zehn Tage) und zu 2) S 1.000,--(Ersatzarrest fünf Tage) verhängt. Ferner wurde er zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens und zum Ersatz der Kosten des Strafvollzuges verpflichtet.
Begründend führte die Erstinstanz im wesentlichen aus, der Sachverhalt des Schreiens, Schimpfens und Drohens des Beschwerdeführers auf dem Gendarmerieposten sei durch die Anzeige des Postenkommandos vom 29. Oktober 1982, die Einspruchsangaben des Beschwerdeführers vom 22. Dezember 1982, die Aussagen der Zeugen Revierinspektor B., Revierinspektor N. und Revierinspektor R. vom 7. März 1983 sowie die Aussage des Zeugen Rudolf R. vom 17. November 1983 vor dem Landesgericht Innsbruck erwiesen. Der massive psychische Druck, dem der Beschwerdeführer angeblich bei der Festnahme ausgesetzt gewesen sei, vermöge das ungestüme Benehmen nicht zu rechtfertigen. Der Tatbestand des Art. IX Abs. 1 Z. 2 EGVG 1950 sei als erfüllt anzusehen, da der Beschwerdeführer ein sowohl in der Sprache als auch in der Bewegung der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten an den Tag gelegt habe. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer die ihm zuzubilligende Abwehr vermeintlichen Unrechtes derart überschritten, daß diese Abwehr zufolge des Tones des Vorbringens sowie der zur Schau gestellten Gestik als ein aggressives Verhalten gedeutet werden müsse. Gemäß Art. IX Abs. 1 Z. 1 leg. cit. begehe eine Verwaltungsübertretung, wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet sei, die Ordnung an öffentlichen Orten störe.
2. Der dagegen rechtzeitig eingebrachten Berufung des Beschwerdeführers gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol (die belangte Behörde) mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid keine Folge und bestätigte das Straferkenntnis „zur Gänze“. Nach zusammengefaßter Wiedergabe des Berufungsvorbringens führte die belangte Behörde begründend aus, der Beschwerdeführer sei „im Stande der Schubhaft“ auf den Gendarmerieposten gebracht worden und habe im Dienstraum sofort zu schreien begonnen. Mehrmalige Abmahnungen hätten nichts gefruchtet, der Beschwerdeführer habe sich derart wild gebärdet, daß ihm Handschellen angelegt werden hätten müssen, zumal ein tätliches Vorgehen gegen die Beamten zu befürchten gewesen sei. Drohungen, wonach er die Beamten erschießen und den fremdenpolizeilichen Referenten der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck und dessen Familie umbringen werde, wenn er nach seiner Abschiebung wieder nach Österreich zurückgekehrt sein sollte, seien nicht einfach damit zu rechtfertigen, daß sich der Beschwerdeführer durch die bevorstehende Abschiebung in Furcht und Schrecken versetzt gefühlt habe. Die Gendarmeriebeamten hätten in Vollziehung einer behördlichen Weisung gehandelt und es könne unter keinen Umständen geduldet werden, daß Fremde, denen eine Abschiebung mehr oder weniger ungelegen komme oder gar rechtswidrig erscheine, mit Morddrohungen gegen Beamte, Schreien und wildem Gestikulieren eine Abschiebung zu vereiteln suchten. Die Erstbehörde habe durch die Vernehmung der Gendarmeriebeamten alle Beweise aufgenommen und richtig gewürdigt. Der frei von Zweifel festgestellte Sachverhalt, der vom Beschwerdeführer im wesentlichen nicht bestritten werde, sei den richtigen Gesetzesstellen subsumiert worden. Daß das Verhalten des Beschwerdeführers die Ordnung an einem öffentlichen Ort, wozu auch das Dienstzimmer eines Gendarmeriepostens zähle, in ärgerniserregender Weise gestört habe, bedürfe wohl keiner weiteren Begründung.
3. Der Beschwerdeführer erachtet sich durch diesen Bescheid seinem ganzen Beschwerdevorbringen zufolge in seinem Recht, bei der gegebenen Sach- und Rechtslage der ihm angelasteten Übertretungen nicht schuldig erkannt und ihretwegen auch nicht bestraft zu werden, verletzt. Er macht Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und begehrt deshalb die Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
4. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungs-strafverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1.1. Im Zentrum der Beschwerdeausführungen steht die Geltendmachung folgender Umstände: Der Beschwerdeführer gehöre einer aus der Türkei geflüchteten kurdischen Familie an; er habe für den Fall seiner zwangsweisen Verbringung in die Türkei lebensbedrohende Repressalien zu befürchten. Anläßlich der Festnehmung habe der Beschwerdeführer zunächst nur geweint und sei widerstandslos mit den Beamten mitgegangen. Es sei an der weiteren Behandlung und der Androhung, ihn ohne weiteres abzuschieben, gelegen gewesen, daß er sich bittend und schreiend zu wehren versucht habe. Unter den gegebenen Umständen habe eine andere Reaktion des Beschwerdeführers nicht erwartet werden können. Bei Abwägung der Güter - Festnahme und Schubhaft oder Nichtbefolgung einer Norm, die lediglich die Durchführung einer Amtshandlung betrifft - überwiege der persönliche und unwiederbringliche Nachteil des Beschwerdeführers derart, daß sein Verhalten gerechtfertigt gewesen sei. Diese Verantwortung hätte die belangte Behörde nicht übergehen dürfen. Der bekämpfte Bescheid beziehe sich zwar in der Begründung auf die Rechtfertigung des Beschwerdeführers, derzufolge er durch die Maßnahmen der Behörde in Furcht und Verwirrung gesetzt worden sei, gehe jedoch dann darüber hinweg, indem er sich bei der Beweiswürdigung allein auf die Angaben der Beamten stütze.
Mit diesem Vorbringen behauptet der Beschwerdeführer - ohne eine diesbezügliche rechtliche Qualifizierung vorzunehmen - der Sache nach jedenfalls das Vorliegen eines rechtfertigenden (übergesetzlichen) Notstandes; darüber hinaus aber auch - dies unter Bedachtnahme auf die Gesamtheit der Beschwerdeausführungen - das Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr, des Schuldausschließungsgrundes der Zurechnungsunfähigkeit, allenfalls des mildernden Umstandes erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit.
1.2. Was das Geltendmachen des in Lehre und Rechtsprechung anerkannten rechtfertigenden Notstandes (aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes vgl. etwa die Erkenntnisse vom 19. November 1964, Slg. Nr. 6496/A, und vom 3. März 1977, Zl. 641/76) anlangt, so vermag der Beschwerde-führer mit seinem diesbezüglichen Vorbringen schon deshalb nicht durchzudringen, weil Notstand in jeder Form, also sowohl als entschuldigender (§ 6 VStG 1950) wie auch als rechtfertigender, einen Angriff auf das Rechtsgut eines schuldlosen Dritten und nicht, wie im Beschwerdefall geschehen, die Abwehr eines Angriffes des Angreifers selbst zur Voraussetzung hat (vgl. die insoweit auch für das Verwaltungsstrafverfahren maßgebenden Ausführungen bei Leukauf-Steininger , Kommentar zum Strafgesetzbuch 2 , Eisenstadt 1979, RN 2 zu § 10). Richtet sich die Abwehrhandlung gegen den Angreifer selbst, so kommt nur Notwehr in Betracht. Dieser Rechtfertigungsgrund scheidet indes im vorliegenden Fall im Hinblick darauf aus, daß in der Vorgangsweise der Gendarmeriebeamten kein rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Gut (vgl. § 3 StGB) des Beschwerdeführers erblickt werden kann. Daß nämlich die betreffenden Beamten in abstracto mit der Befugnis ausgestattet sind, Festnehmungen zwecks Verhängung der Schubhaft nach den fremdenpolizeilichen Bestimmungen vorzunehmen, also ihrer Art nach für die in Rede stehende Amtshandlung zuständig waren, wird auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten.
1.3. Soweit aber das Vorbringen des Beschwerdeführers (auch) als Hinweis auf mangelnde (in hohem Grad verminderte) Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt anzusehen ist, kommt ihm insofern Berechtigung zu, als der angefochtene Bescheid eine hinreichende Auseinandersetzung mit dieser vom Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren mehrfach zur Sprache gebrachten und für die Entscheidung der belangten Behörde wesentlichen Frage vermissen läßt.
Gemäß § 3 Abs. 1 VStG 1950 ist nicht strafbar, wer zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln. War die Fähigkeit zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe in hohem Grade vermindert, so ist das gemäß § 3 Abs. 2 leg. cit. als mildernder Umstand bei Bemessung der Strafe zu berücksichtigen.
Bereits in der Beschuldigteneinvernahme des Beschwerdeführers vor dem Landesgericht Innsbruck am 17. November 1982 ist diese Bestimmung mit aller Deutlichkeit angesprochen worden, indem der Beschwerdeführer ausführte, er sei damals so aufgeregt gewesen, daß er nicht gewußt habe, was er sage. In seinem Einspruch vom 22. Dezember 1982 brachte er vor, der Umstand, daß gleich drei Beamte der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck die beiden die Amtshandlung ausführenden Beamten des Gendarmeriepostenkommandos begleitet hätten, habe ihn einem massiven psychischen Druck ausgesetzt, zumal die Festnehmung gegen Mitternacht und für ihn völlig überraschend geschehen sei. Schließlich wies der Beschwerdeführer in seiner Berufung vom 11. Mai 1983 darauf hin, daß etwaige laute Äußerungen und alle Handlungen, die ihm als ungestümes Verhalten vorgeworfen worden seien, infolge seiner Panikstimmung begreiflich und entschuldbar seien; es gehe nicht an, einen Menschen ohne Rechtfertigung in Furcht und Schrecken zu versetzen und ihn dann dafür zu bestrafen, daß er sich in dieser Situation laut und renitent benommen habe; es bedürfe keiner näheren Erläuterung, daß die dem Beschwerdeführer anläßlich seiner Festnehmung um Mitternacht angedrohte Abschiebung in die Türkei auf Grund der damit verbundenen Zerstörung seiner Familie und des Verlustes seiner wirtschaftlichen Existenz die Situation für ihn „geradezu lebensbedrohend“ habe erscheinen lassen.
Im Hinblick auf diesen Sachverhalt in Verbindung mit der dem Beschwerdeführer unmittelbar drohenden schweren Beeinträchtigung seiner Rechtssphäre lag der Verdacht einer die Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zur Tatzeit ausschließenden oder diese zumindest in hohem Grade vermindernden Bewußtseinsstörung (§ 3 VStG 1950) nahe. Ungeachtet dessen glaubte sich die belangte Behörde eine argumentative Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers unter Hinweis darauf ersparen zu können, daß Morddrohungen nicht durch Furcht und Schrecken angesichts der bevorstehenden Abschiebung zu rechtfertigen seien, und „unter keinen Umständen geduldet werden (könne), daß Fremde, denen eine Abschiebung mehr oder weniger ungelegen kommt oder gar rechtswidrig erscheint“, durch ungestümes Benehmen eine Abschiebung zu vereiteln suchten. Diese „Begründung“ zeigt, daß die belangte Behörde die Rechtslage verkannt hat. Aus diesem Grund unterblieb auch ein dem Gesetz gemäßes Ermittlungsverfahren. Die Frage, ob der Täter zur Zeit der Tat zurechnungsunfähig im Sinne des § 3 Abs. 1 VStG 1950 war oder seine Zurechnungsfähigkeit in hohem Grad vermindert war (§ 3 Abs. 2 VStG 1950 in Verbindung mit § 19 Abs. 2 leg.cit. und § 34 Z. 11 StGB), ist zwar eine Rechtsfrage. Sie ist allerdings von der Behörde mit Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen zu lösen (vgl. dazu etwa das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. November 1972, Zlen. 1317, 1318/72), wobei nach Auffassung des Gerichtshofes in der Regel die Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie erforderlich sein wird.
2. Da nach dem Gesagten der in Beschwerde gezogene Bescheid an inhaltlicher Rechtswidrigkeit leidet, war er gemäß § 42 Abs. 2 lit. a VwGG 1965 aufzuheben.
3. Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich noch zu folgender Bemerkung veranlaßt:
Wie der Beschwerdeführer in seiner Berufung vom 11. Mai 1983 zutreffend aufzeigte, fehlt es dem Bescheid der belangten Behörde an einer Begründung für die von ihr angenommene Verwirklichung des Tatbestandes der Störung der öffentlichen Ordnung durch das inkriminierte Verhalten des Beschwerdeführers. Die im bekämpften Bescheid geäußerte Meinung der belangten Behörde, es bedürfe „wohl keiner weiteren Begründung“, daß das Verhalten des Beschwerdeführers die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört habe, ist verfehlt, vermag sie doch in keiner Weise Feststellungen darüber zu ersetzen, ob die Handlungen des Beschwerdeführers (dem Spruch des vollinhaltlich bestätigten Straferkenntnisses zufolge: Schimpfen und Drohen am Gendarmerieposten) die Ordnung am genannten Ort tatsächlich gestört haben. Ermittlungen in dieser Richtung wären umsomehr geboten gewesen, als keiner der von diesem Vorfall unmittelbar „Betroffenen“ anläßlich der Vernehmung als Zeuge zum Ausdruck brachte, an dem besagten Verhalten des Beschwerdeführers (tatsächlich) Ärgernis genommen zu haben. Hatte im übrigen der Beschwerdeführer im Zustand einer Bewußtseinsstörung im Sinne des § 3 VStG 1950 gehandelt - was, wie erwähnt, aufklärungsbedürftig geblieben ist -, so war sein Verhalten auch nicht geeignet, Ärgernis zu erregen, weil von Zurechnungsunfähigen und Personen, deren Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert ist, gesetzte Handlungen von unbefangenen Dritten nicht als unerlaubt und schändlich empfunden werden.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 1 lit. b VwGG 1965 in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers vom 7. April 1981, BGBl. Nr. 221. Das Mehrbegehren war abzuweisen, da Barauslagen (S 48 Abs. 1 lit. a leg. cit.) im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht entstanden sind.
Wien, am 26. November 1984